II Mintgrün - Zwei Monate zuvor

Als ich zum Feierabend die Tür zur Umkleide öffnete, schlug mir eine betäubende Wolke aus Haarspray und Parfum entgegen. Alles war leer. Die anderen Zimmermädchen waren schon weg, ich war die letzte aus der Tagesschicht.

Ich ging quer durch den Raum und öffnete das Fenster. Es war ein deprimierender Apriltag. Der Hotelportier lief neu ankommenden Gästen mit einem Schirm entgegen. Seit morgens regnete es ununterbrochen.

Ich wendete mich ab und knöpfte das mintgrüne Kleid auf. Bevor ich es in den Sack für die Wäscherei warf, nahm ich das weiße Schildchen ab, auf dem Mila stand. In dem daneben stehenden Sack waren saubere Kleider, und ich suchte eins in Größe S heraus, heftete das Schildchen wieder an und hängte das Kleid in den Spind. Wenn man erst am Morgen dazu kam, nach einem Kleid zu suchen, konnte es passieren, dass es keins mehr in der richtigen Größe gab, und man lief den ganzen Tag in einem mintgrünen Sack herum. Was unsere ohnehin schon groteske Kostümierung noch verschlimmerte.

Die Kleider reichten bis zum Knie und wurden vorn mit einer Reihe weißer Plastikknöpfe geschlossen. Es war ein weißes Schürzchen angenäht, das keinerlei Funktion hatte. Es sah nur drollig aus. Puffärmel und ein runder, weißer Kinderkragen – kein Wunder, dass keiner uns Mädchen ernst nahm.

Dabei war unsere Arbeit elementar. Elementarer sogar als die der Hostessen, die uns wie Fußvolk behandelten, sich in der Kantine niemals zu uns setzten und kein Wort an uns richteten, außer wenn sie eine Kippe wollten.

Die Hostessen trugen Tiefrot. Knöchellange, enge Röcke, Hackenschuhe in demselben Farbton, ehrfurchtgebietend weiße Blusen, tiefrote Fliegen. Tiefrot ist eine Farbe, die man nie belächeln würde. Wenn man etwas Tiefrotes von Weitem auf sich zukommen sieht, strafft man sich innerlich.

Die Liftboys trugen Dunkelblau, die Portiers Schwarz und Silber, der Zimmerservice ein diskretes, beflissenes Ocker. Mintgrün hingegen war eine Farbe wie Zuckerwatte, alle Mädchen leuchteten darin weithin, und bis wir in jemandes unmittelbare Nähe kamen, hatte derjenige genug Zeit, seine Gesichtszüge ins Verächtliche oder Anzügliche rutschen zu lassen.

Ich griff nach meinen Sachen vom Morgen. Sie waren immer noch klamm, und ich fröstelte, als ich die Jeans anzog. Am Personaleingang lächelte mir der Pförtner hinter seinem Glasfenster entgegen. Ich gab ihm meine Tasche durch, und er warf nur einen kurzen Blick hinein und schob sie dann zurück. „Bis morgen.“ Ich nickte kurz, wie die anderen Mädchen, die alle kaum Deutsch sprachen. Und ich lächelte, weil alle Mädchen die Pförtner anlächeln.

Als ich die Tür aufstieß, sprühte mir der Regen ins Gesicht. Ich zögerte kurz und blieb stehen, doch dann spürte ich den aufmerksamen Blick des Pförtners im Rücken und trat hinaus. Dieses Zögern, dachte ich, musst du dir endlich abgewöhnen.

Die Pförtner wussten, dass alle Mädchen nach Feierabend über den Boulevard nach Hause schlenderten. Also spannte ich den Schirm auf und schlenderte über den Boulevard. Ich zwang mich, langsam zu laufen und hielt das Lächeln straff. Passte mich dem Gondeln der Touristen an. Schaute in die Schaufensterauslagen. Blieb hin und wieder stehen. Wie alle.

Ich wäre schneller zu Hause, wenn ich den direkten Weg an der Hauptverkehrsstraße entlang nehmen würde, aber es wäre zu einfach, mir zu folgen. Ich hatte mir einen anderen Weg ausgearbeitet.

Nach einer Weile auf dem Boulevard kam ich bei den Arkaden an, glitt aus den Reihen der Flanierenden in eins der Glasmäuler, durchquerte eilig, aber nicht hastig mehrere miteinander verbundene Boutiquen und schlüpfte durch den Westausgang wieder ins Freie. Ich befand mich nun in einer Parallelstraße, die ausschließlich aus Cafés bestand. Fünf davon ließ ich hinter mir, um die Tür zum Café Endlos zu öffnen. Ging durch den Raum in den Hofgarten, an den Bierbänken vorbei, über den Rasen. Zum Hinterausgang. Man kommt überall durch die Liefereingänge hinein oder heraus, man darf nur nicht zögern, auf keinen Fall suchend hin- und herblicken, man muss einfach nur geradeaus gehen, sonst wird das Personal aufmerksam.

Hinter dem Endlos lag eine ruhige Straße mit restaurierten Altbauten und hohen Akazien, die zum Eingang des Stadtparks führte. Dort stand eine Litfasssäule, an der ich schnell vorüber ging. An der Säule klebte ein Plakat mit Pollys Gesicht und ihrer Personenbeschreibung. Ihr schwarzes Haar war damals noch lang. Sie lächelt. Als das Foto gemacht wurde, war die Sache mit Vincent noch nicht passiert.

Wegen dieses Plakats wusste ich, dass sie meine Wohnung durchwühlt hatten, denn das Foto hatte einmal mir gehört. Sie mussten es gefunden haben, zwischen den anderen Sachen, die ich ebenfalls liegengelassen hatte, als wir so überstürzt weg mussten.

Ich nahm die Hauptallee und bog dann in einen der weniger betretenen Nebenwege ein. An einer Gruppe Grauerlen schaute ich aufmerksam nach links und rechts, schob die herunterhängenden Zweige zur Seite und schlüpfte in die Öffnung. Hinter mir schlossen sich die Zweige wieder, und ich befand mich auf einem der alten Parkpfade.

Der Pfad wurde nicht mehr benutzt, zumindest nicht von den Oberstädtern. Die Büsche links und rechts wucherten vor sich hin – eine kraftstrotzende, dunkelgrüne Verwahrlosung. Den Gärtnern schien die Existenz dieses Pfads entgangen zu sein. Dabei war er provozierend sichtbar.

Wenn man von oben schaute, sah der Park adrett und fügsam aus – sein Angebot an Baumgrüppchen, Springbrunnen und kleinen Grotten war in einer das Auge erfreuenden Weise arrangiert –, dennoch wirkte er seltsam blass, geradezu anämisch. Abgesehen von diesem Pfad, eine fast unanständig pralle Ader, die sich durch die aufgeräumte und gestutzte Artigkeit der gesamten Anlage schlängelte. Diese vegetative Hemmungslosigkeit, dieser Lebenswille, der durch nichts gebändigt wurde – jeder Blinde, hatte ich vom zehnten Stock des Hotels aus gedacht, musste das sehen.

Vielleicht aber war dieser Pfad beim Übertragen des alten Parkgrundrisses in einen neuen vom Zeichner einfach vergessen worden. Und was nicht in einem Plan verzeichnet war, wurde auch nicht gesehen, egal wie sehr es in die Augen wucherte.

Zweige krochen über meine Arme, tasteten nach meinem Haar, alles strömte den scharfen Waldgeruch von Wachstum und Zerfall aus, das gefiel mir. Mir gefiel auch das Knacken alter Eicheln unter meinen Füßen. Ich erreichte die Brücke, die über den Fluss führte, der die zwei Teile der Stadt voneinander trennte. Am Ende der Brücke befand sich ein Eisentor, auf dessen Zacken Bierdosen gespießt waren. Ich schob das Tor hinter mir zu und war in der Unterstadt angekommen.

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Seit anderthalb Jahren waren Polly und ich unterwegs. Seit der Sache mit Vincent. Von einer Stadt in die nächste, wir wechselten die Koordinaten wie andere Leute ihre Kleidung, und jedes Mal zogen wir uns tiefer zurück.

Die Unterstadt war ein Labyrinth aus Straßen, die wie Laufmaschen irgendwo anfingen, dünner wurden und zerfaserten. Halbfertige Gebäude hier und da, ausgehobene Fundamente und herumliegende Steinhaufen zeugten von engagierten Bauvorhaben, die jedoch mitten im Prozess abgebrochen worden waren. Als hätten die Architekten dieses Teils der Stadt erst nach Baubeginn bemerkt, dass sie den Plan falsch herum hielten, dass es der Plan einer ganz anderen Stadt oder überhaupt kein Plan war. Sondern die von verwirrend feinen Linien durchzogene, stark vergrößerte Fotografie einer Handfläche vielleicht.

So hatte Polly mir die Unterstadt erklärt.

Polly hatte die Wohnung für uns aufgespürt. Wie jedes Mal. Sie schien Antennen für Signale aus gerade jenen Gegenden zu besitzen, die kein Tourist je zu Gesicht bekam. Gegenden, die die Stadtverwaltung am liebsten vergessen wollte. Die Wohnung lag im Dachgeschoss eines fünfstöckigen Mietshauses in der Rolandsgasse.

Busse oder Straßenbahnen fuhren nicht hierher. Nichts fuhr bis zur Rolandsgasse. Und selbst wenn es Öffentliche gegeben hätte – ich wäre trotzdem jeden Tag zu Fuß gegangen. Zu Fuß konnte ich besser kontrollieren, ob mir jemand folgte.

Das alte Mietshaus hatte etwas Schlossähnliches.

Als wir bei der ersten Besichtigung das schwere Haustor hinter uns geschlossen hatten und unten in der düsteren Eingangshalle standen, hatte ich den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen aufgerissen.

„Und?“, hatte Polly gefragt.

„Na ja, es ist nicht gerade das Starlight“, hatte ich schockiert geantwortet.

„Ja, krass, oder? Hier könnte man glatt die zweiten Teile von Die Nacht der lebenden Toten oder Castaway drehen.“

Unsere Stimmen klangen hohl in dem Gebäude. Polly drehte sich um ihre eigene Achse und sah nach oben. „Haaallo“, rief sie, und auch das Echo klang verzerrt. Als würde das Haus seine Schatten um alles Lebendige schlingen, und wäre es nur eine Stimme.

Über steile Treppen ging es zu den Stockwerken, durch deren feuchte Dunkelheit sich Gänge gruben. Wir hatten mit der Taschenlampe hineingeleuchtet, und die Gänge hatten in dem dünnen Licht geschwankt. Manche Wohnungstüren fehlten, und die schwarzen Öffnungen schienen nach dem Licht zu schnappen. Sie strömten einen dumpfen, undefinierbaren Geruch aus. Ein böser Kindertraum von Schloss. Kein Laut darin. Nichts. Das Haus war von Anfang an so still gewesen, als läge es im Sterben. Doch der Tod hauste nur in den unteren Etagen. Wir wohnten oben.

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Ich hatte das Mietshaus erreicht, schaute zu unserem Fenster, das dunkel war, und öffnete dann das Tor. Im Treppenhaus legte ich den Arm vors Gesicht und begann den Aufstieg. Ich ging schnell.

Über die Wände zog sich eine Wolkenlandschaft aus Schimmel, die jetzt, im beginnenden Frühling, eine lebhafte, hellgrüne Färbung annahm. Im Winter, als es noch fror, hatte der Pilz grau und tot ausgesehen, doch nun schien er Kraft aus der ersten, vorsichtigen Wärme zu saugen, tastete sich vorwärts und entfaltete sich zu einem großflächigen Kunstwerk aus Gift.

Im obersten Stockwerk hörte der Schimmel auf. Oben gab es immer frische Luft. Hier reichte der Tod nicht hin, und ich nahm den Arm von Nase und Mund. Der Schlüssel lag in meiner Hand, daumengroßes Metall, schwer und beruhigend, das in der Handfläche warm geworden war.

Ein Schwarm Spatzen flog vor mir auf, so unerwartet, dass ich mich kurz an der Wand festhalten musste. Wenn man in einem Haus ist, und Vögel fliegen vor einem auf, gerät etwas im Kopf ins Wanken. Mein Blick raste den Vögeln hinterher, ins Dachgestühl, das dem Himmel nachgab. Ein Dach, über lange Strecken löchrig wie Spitzenbesatz. Es zerrieselte Tag für Tag in eine immer porösere Schönheit. Unsere Wohnung lag jedoch am Ende des Gangs, dort, wo das Dach noch intakt war. Ich schloss die Tür auf.

„Na endlich“, rief Polly verschlafen aus dem Zimmer, das wir Wohnzimmer nannten. „Ich dachte schon, du hast dich für heute im Starlight eingemietet …“

„Nein, nein. Es gab Ärger mit Rosa“, rief ich zurück und fummelte die Kette vor die Tür. Dann lehnte ich mich dagegen. Zu Hause. Irgendwie.

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Die Dunkelheit in der Wohnung. Kugelsicher, da kam nichts durch. Das Dach hielt. Der Tag war draußen.

Polly gähnte, dann rief sie: „Ich hab was Neues gekocht.“

Ich stieß mich von der Tür ab und knöpfte die Jacke auf. „Ich hatte eigentlich vor, noch ein paar Jahre zu leben“, sagte ich. Da ich die Garderobe im Dunkeln nicht gleich fand, ließ ich die Jacke einfach fallen. Dann streifte ich die Schuhe ab. „Mach doch mal ’ne Kerze an, Polly!“

„Du hast doch gesagt, wir müssen Kerzen sparen“, gab Polly zurück.

„Ja, aber doch nicht so!“

„Also, hör zu“, rief Polly, ohne sich weiter um das Lichtproblem zu kümmern. „Es besteht aus Paprika und Schalotten! Ich hab sie in heißes Öl gelegt, Knoblauch reingetan, mit Muskat gewürzt, einen Schuss Weißwein dazugegeben und Zucker drübergestreut.“

„Gnade …“, stöhnte ich, während ich mich bis zur Kommode vortastete, wo die Taschenlampe liegen musste.

„Dann Milch, Sahne, Pfeffer und Salz“, rief Polly. „Estragon und Pimpinelle. Und Anis! Wie findest du das?“

„Das willst du nicht wirklich wissen.“

Wenn ich arbeiten war, verbrachte Polly den Tag in der Wohnung. Nur Vincent war bei ihr. Die Stunden vertrieb sie sich mit irgendwas, zurzeit mit Kochen.

„Es könnte Paprikotten heißen. Oder klingt das zu sehr nach Kotelett?“

„Es klingt nach Zotten.“

„Na, dann eben Schalottrika.“

Polly erfand Rezepte. Allerdings hatten wir keinen Herd. Polly kochte stattdessen im Kopf.

Die Taschenlampe lag nicht auf der Kommode, und ich tastete jetzt auf dem Boden herum. Mein Rücken schmerzte. Es zog vom Steiß über die Wirbelsäule bis zu den Halssehnen hoch. „Wo ist die verdammte Taschenlampe hin?“

„Keine Ahnung. Vielleicht im Regal?“

„Du kannst doch nicht die ganze Zeit im Dustern hocken!“

„Glaub mir, die Wohnung ist erträglicher, wenn man sie nicht sehen muss“, sagte Polly. „Außerdem kann ich so Orientierung üben. Für den Fall, dass ich mal erblinde.“

Ich stand auf und stieß mir den Kopf an der Garderobe, die die erstaunliche Eigenschaft zu besitzen schien, im Finstern zu wandern. „Toll, gibst du mir Nachhilfe?“ Mit ausgestreckten Armen ging ich ins stockfinstere Wohnzimmer, um das Regal abzutasten.

„Klar, wenn du anrufst!“, rief Polly.

„Wen soll ich anrufen?“

„Jetzt tu doch nicht so …“

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Acht Zimmer pro Schicht waren im Starlight das Soll. Ich hatte dreizehn übernommen. Wegen des Geldes. Dreizehn Zimmer mit Bad und Kochnische, und sobald die Gäste merkten, dass wir Mädchen auch das Geschirr machten, rührten sie den Abwasch nicht mehr an.

Es gab zwei fünfzig pro Zimmer, aber weil der Hotelmanager keine Fragen stellte und mich am Ende der Woche bar auszahlte, hatte ich nicht gefeilscht. Nur mein Rücken machte langsam Probleme. Die Gäste zahlten ein Vermögen für sanfte Nächte, und je teurer der Schlaf ist, desto schwerer sind die Matratzen.

Wenn alles normal lief, schaffte man ein Zimmer in fünfundzwanzig Minuten. Wenn man bestimmte Tricks kannte, reichte sogar eine Viertelstunde. Hatte eine von uns aber Pech, weil sie beim Tricksen erwischt wurde, dann wurde sie überwacht und brauchte eine Stunde.

Zwei fünfzig, und seit zwei Wochen unterschlugen sie mir bei der Abrechnung jedes Mal ein paar Zimmer. Doch ich wusste, dass Rosa dahintersteckte und schwieg.

Rosa. Der Name passte zu ihr wie ein Schleifchen zu einer Viper, und mir war klar, dass sie den Moment herbeisehnte, an dem ich meuterte. Sie stand beim Abrechnen vor mir und sah mich mit schmalen Augen an.

Es hatte angefangen, als Mariza nicht mehr kam, da stand Rosa eines Morgens in der Tür zur Umkleide und sah auf mich. Von allen Mädchen im Raum nur auf mich, und ich dachte: Scheiße.

Wenn sie ein Auge auf dich werfen, weil ihnen irgendwas an dir nicht passt, wenn sie beginnen, Geschmack daran zu finden, dich zu quälen, ist es vorbei. Dann können sie nicht mehr zurück, selbst wenn sie es wollten, keine Ahnung, warum, vielleicht ist das wie bei Kampfhunden, die verbeißen sich in etwas Lebendiges und lassen dann nicht mehr los, du kannst sie anschreien und wegzerren, wie du willst, am Ende hört es auf zu zucken und fällt schlaff zu Boden.

Noch war es nicht so weit.

Noch war Zeit, aber nicht mehr lange. Ich wusste, wie solche Sachen anfingen, und wie es dann weiterging. Wenn ich mich klug verhielt, konnte ich Rosa noch ein wenig hinhalten. Ein paar Tage. Vielleicht sogar ein paar Wochen. Wenn man den Job braucht, lernt man zu pokern. Aber man darf nie den Moment versäumen, an dem man noch passen kann.

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Ich hatte die Taschenlampe gefunden und seufzte erleichtert.

„Also, rufst du nun an oder nicht?“ Polly schien es ernst zu meinen.

„Ich hab keine Ahnung, wovon du redest“, sagte ich leichthin, um sie abzulenken.

Im dünnen Strahl der Lampe kontrollierte ich die Fenster. Die Pappe war fest, nichts hatte sich gelöst, keine Ritze, die klaffte. Ich zündete die Kerzen an.

Die schrägen Wände kamen zum Vorschein. Mein Blick ging zur Wand, an der ein Spiegel lehnte. Die Kerzen spiegelten sich darin und verdoppelten das Licht. Ich hatte ihn, wie die Plastikstühle in der Küche, auf dem Dachboden gefunden. Bis auf eine abgeplatzte Ecke und einen kaum sichtbaren Sprung quer durchs Glas war er völlig in Ordnung. Er hatte einen schönen Rahmen, und nahm man es nicht so genau, verlieh er unserem Zuhause sogar einen Hauch Eleganz.

Der Dachboden. Blitzlichthaft sah ich wieder das winzige, feindselige Gesicht, die glitzernden Augen im Schein der Taschenlampe. Dieses eilige, leise Geräusch, so erschreckend nah an meinen Händen. Eine Art Schleifen. Krallen, die übers Holz strichen. Das Wegtauchen ins Dunkel. Ich wischte mir übers Gesicht, wischte die Erinnerung weg.

Polly schwang die Beine vom Sessel, stand auf und streckte sich. „Wie geht’s Vincent?“, flüsterte ich, dabei war er im Nebenzimmer und konnte uns gar nicht hören.

„Es wird nicht besser“, antwortete Polly genauso leise. „Er schläft den ganzen Tag.“

Dann lief sie an mir vorbei in den Korridor und schnappte sich meine Tasche. Plastikfläschchen fielen auf den Boden, als sie mein Portemonnaie hervorzog. „Hier“, sagte sie und hielt mir einen Zettel hin. „Ruf an.“

Es war kalt im Zimmer, die Heizung ging nicht, meine Zehen krümmten sich auf dem nackten Boden. Im Februar hatten wir einen Gasheizer benutzt, ich hatte ihn billig auf dem Flohmarkt erstanden, aber irgendwas stimmte nicht damit, denn er verlor Gas, während er brannte, und einmal, als er schon seit Stunden lief, wären wir beinah davor eingeschlafen. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr angemacht, lieber fror ich mir die Füße blau.

Ich legte den Zettel auf den Tisch und strich ihn glatt. Heftig. Seit Monaten, genau gesagt seit dem dritten August vor einem halben Jahr, an dem ich mich das erste Mal geweigert hatte anzurufen, löcherte Polly mich. Aus irgendeinem Grund war ich wütend.

„Was soll das bringen, Polly?“

„Gewissheit!“

„Wir können nicht dorthin. Das Haus ist garantiert verkauft. Und selbst wenn nicht … ich meine, selbst, wenn alles beim Alten wäre … wir können doch nicht dahin zurückgehen, wo wir … Was, wenn uns jemand erkennt?“

„Feigling. Wer soll uns denn erkennen? Du willst also hier bleiben und verrotten! Zwei Wochen, hast du am Anfang gesagt! Zwei Wochen! Wie lange sind wir schon hier? Über zwei Monate!“ Polly warf sich wieder auf den riesigen Sessel. Die Leute, die einmal hier gewohnt hatten, hatten das Monster wahrscheinlich zurückgelassen, weil man einen Kran gebraucht hätte, um es von der Stelle zu bewegen. Er war hässlich, hatte die Farbe von alter Mettwurst, aber er war intakt und das Einzige in diesem Loch, was bequem war. „Ich fühle mich wie ein Kellerpilz! Fehlt nur noch, dass ich grün werde und Sporen bekomme! – Und Vincent? Denkst du auch an ihn? In der Wohnung hier stirbt er!“

Ich hob den Blick und sah Polly an. „Du würdest also zurückgehen und mit einer Leiche im Keller leben?“

„Im Anbau, nicht im Keller! Und wir müssten nicht in den Anbau gehen.“ Sie sank im Sessel zusammen. „Außerdem hast du das Haus geliebt“, flüsterte sie. „Weißt du das nicht mehr?“

Mein Herz zog sich zusammen. Schnell und leicht wie eine Möwe zog das Bild des Hauses vorbei: die Mauern von Sternmoos bewachsen, die Dielen, an denen man sich so schnell Splitter einzog, die Sonne, die durch alle Räume wanderte, und wir darin. Vielleicht könnte Vincent dort wieder gesund werden.

Ich betrachtete Polly. Ihre Haut sah bleich aus, und irgendwas war mit ihren Augen, sie wirkten zu schwarz, als ob sie zu tief lägen, vielleicht war es diese Wohnung. Polly und Vincent hielten sich den ganzen Tag hier auf. Ohne frische Luft. Ich spürte eine jähe, fast schmerzhafte Reue und ging zu ihr hin. Ich hockte mich vor den Sessel und sagte leise: „Okay, ich rufe an. – Aber was, wenn wieder niemand abhebt, wenn wie immer die automatische Stimme kommt?“

Sie griff nach meiner Hand. „Dann ist das Haus frei. Dann fahren wir zurück.“

Aber so einfach war es nicht.

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In der Küche kramte ich ein paar Tassenportionen Hotel-Kaffee aus meiner Handtasche, machte den kleinen Gaskocher an und stellte den Kessel darauf. Mit Bedauern dachte ich daran, dass Rosa bald meine Tasche zum Feierabend durchsuchen würde. Bei Mariza hatte es auch so angefangen.

Dabei machten es alle Mädchen. Es war normal, die Tütchen aus den Zimmern mitzunehmen. Die meisten Gäste ignorierten sie, genau wie die Duschpröbchen auf der Badkonsole und das arrangierte Obst auf dem Nussholztischchen, und irgendwer musste die Sachen ja verbrauchen. Polly und mir half es, Geld zu sparen. Alle Mädchen taten es, und die Pförtner, die uns am Ausgang kontrollierten, verloren kein Wort darüber. Offiziell aber war es verboten. Was Rosa sehr wohl wusste. Und was Marizas Pech gewesen war.

Es war wie ein Gesetz: Eine war immer dran. Und keine half, wenn es passierte, alle Mädchen senkten den Blick. Ich war genauso gewesen. Ich hatte wie alle anderen geschwiegen, als Mariza nicht mehr kam. Danach hatte ich die Hälfte ihrer Zimmer übernommen.

„Willst du auch Kaffee?“, fragte ich.

„Ja. Mit Rum“, sagte Polly und kam in die Küche. Sie rieb die Hände aneinander. „Mann, ist das kalt! – Na ja, wenigstens sparen wir uns den Kühlschrank.“

Ich füllte das kochende Wasser in zwei Tassen und verrührte das Pulver. Goss je einen Schluck Rum auf, während Polly sich zu mir setzte und ihre Tasse heranzog.

Meine Hände lagen auf dem weißen Plastiktisch, der sich kalt und sauber anfühlte. In die Oberfläche war ein regelmäßiges Muster aus Kreisen geprägt. Ich ließ den Blick schweifen. Ein langer Spalt zog sich durch die Wand, den ich mit Mull zugestopft hatte. Zumindest kostete uns das Ganze keinen Cent.

Immer ging es um Geld. Jeder Cent Trinkgeld, den Rosa übersehen hatte, weil er unter dem Kopfkissen versteckt lag, war ein Zentimeter fort von hier.

Ja, auch ich wollte weg. Ich wollte es genauso sehr wie Polly. Aber in einer anderen Stadt wäre es wieder dasselbe, und das höhlte mich aus. Als wir vor anderthalb Jahren aufgebrochen waren, hatte ich geglaubt, zu irgendeiner späteren Stunde, in irgendeiner ferneren Stadt zu unserem vertrauten Leben zurückkehren zu können. Unser Leben mit einer richtigen Wohnung für Polly und mich. Ich hatte geglaubt, dass wir nur geduldig sein mussten, dass die Misere, in der wir lebten, ein Übergang zu unserem echten Leben war, den wir durchstehen müssten. Und an dieses Bild hatte ich mich geklammert. Aber die Städte wechseln, die Zeit vergeht, das Leben versickert wie Wasser im Ausguss, und plötzlich wird einem klar, dass man einem Phantom nachläuft. Dass das altes Leben nirgends auf einen wartet. Dass es einfach nicht mehr da ist.

Der Übergang war unser Leben. Wechselnde Wohnungen, die ich in Dunkelheit tunkte, um von außen nicht aufzufallen, ein ewiges Flüstern und Verstummen, wechselnde Rosas. Es gab keine Ruhe mehr; es gab nicht einmal eine Atempause. Unser Leben hieß: möglichst schnell einen Job finden, sobald wir in einer anderen Stadt waren. Möglichst viel Geld zur Seite legen. Sich überlegen, wie das Minimum an Dingen aussieht, das man zum Überleben braucht. Es hieß: mit allen Mitteln vermeiden, jemanden kennenzulernen. Sobald sich jemand für uns zu interessieren begann, sich womöglich verliebte, zogen wir weiter. Und Vincent zog mit.

Man kann nicht lange so leben, und anderthalb Jahre sind lange. Man beginnt irgendwann, sich zu oft auf der Straße umzudrehen, man gibt jedem zufälligen Blick eine Bedeutung. Wenn jemand eine Weile hinter einem läuft, ist das ein schlechtes Zeichen. Wenn keiner eine Weile hinter einem läuft, weil die Menschen ständig wechseln, ist das um so verdächtiger, weil er vielleicht nur die Klamotten verändert hat, die Haarfarbe, das Gesicht. Es spielt keine Rolle, ob man allein auf der Straße ist oder nicht, man fängt zwangsläufig an, sich verfolgt zu fühlen. Und wenn man alle Kräfte dafür verbraucht, Menschen nicht auf sich aufmerksam zu machen, durch ihre Wahrnehmung hindurchzugleiten wie Luft durch ein Gazefenster, beginnt man eines Tages, an der eigenen Existenz zu zweifeln. Eine merkwürdige Angst hatte mich seit Längerem im Griff: dass die Unsichtbarkeit, die Polly und ich uns tagtäglich umlegten, uns irgendwann infizieren könnte. Dass wir einfach verschwinden würden. Diese Vorstellung saß in meinem Kopf, und im Hotel sah ich in jeden Spiegel, um mich zu vergewissern, dass ich noch da war.

Ich hob den Blick. Die Wände standen so eng, sie drückten mir die Luft ab. War jemand mir gefolgt? In unsere Gasse? In diesen blinden, ausgetrunkenen Fleck auf der Stadtkarte? Stand jemand im Hausflur? Jemand, der schon die Fäuste ballte, bis die Knöchel weiß heraustraten?

Ich presste die Hände auf die Schläfen.

Ich musste aufpassen.

Wie lange war es her, dass ich durchgeschlafen hatte? Selbst der Schlaf war brutal geworden. Ich schlief nicht mehr ein – ich brach zusammen. Dann war ich weg. Blind und ausgeschaltet. Bis ich träumte, dass es Morgen wurde. Dass Sonne durch die Fenster kam. Dass ich die Augen öffnete und nicht hier, sondern im Jungbusch war. Dass ich Geräusche aus der Nachbarswohnung hörte. Den Radiowecker, der quäkend ansprang, dann den Wasserhahn. Und da wusste ich, dass alles nie passiert war: die Flucht, die Rosas überall und das, was in der Nachbarwohnung im Jungbusch passiert war. Und in eine ungeheure Erleichterung sinkend, wachte ich auf. Öffnete die Augen und war hier. Im Mietshaus. Es gab keine Sonne. Es war immer noch Nacht.

- - -

Die Unterstadt war die hässliche Schwester der Oberstadt, hinter den Fluss verstoßen, voll gestopft mit Fabriken und Wohnsilos, Kneipen, Videotheken und Waschsalons. Sie hatte Gegenden, die grell und laut waren. Gegenden, in denen Tag und Nacht Musik lief, wo ständig Alarmanlagen brüllten und die Nächte erst mittags endeten. Wo Geschrei aus den Fenstern quoll und wo immer irgendwo eine Schlägerei stattfand. Und es gab schwarze Löcher. Wo alle Bewegung erstorben war. Die Rolandsgasse gehörte dazu.

Sie war aufgegeben worden. Die Stadt hatte kein Geld, die Häuser abzureißen, und jetzt zogen sich der Schimmel und die Ratten hierhin zurück.

Und Leute wie wir. Ich fragte mich, ob es noch mehr heimliche Bewohner gab.

Die Stadtreinigung tat nichts mehr hier. Der Müll trieb langsam durch die Rolandsgasse. Plakate schuppten von den Wänden. Die Reste lagen auf dem Boden und warben für Schaumpartys und Karaokenächte, die Jahre zurücklagen.

Kam ein Sturm auf, rannten Polly und ich auf die Straße und beobachteten, wie der Müll sich hochschwang und wegflatterte, über die Giebel und Schornsteine hinweg, bis in die bewohnten Straßen hinüber. Vincent war zu schwach, um mitzukommen. Der Sturm verband alles, und wir klammerten uns aneinander und lachten aus Leibeskräften und stellten uns vor, wie es auch unser Lachen hinüberriss.

Nachts zogen hin und wieder Horden randalierender Jugendlicher durch. Sie zerschlugen die Fenster, die noch übrig waren. Doch da niemand sie davon abhielt, da nicht einmal ein Licht irgendwo an- oder ausging, langweilten sie sich schnell und liefen weiter.

Seit wir so lebten, seit anderthalb Jahren, wollte ich, dass es aufhörte. Die Jobs wurden von Stadt zu Stadt schlechter, weil ich es nicht mehr wagte, aufzumucken. Ich hielt den Mund, ich beschwerte mich nie. Jeden Tag ging ich pünktlich ins Hotel, ich trug unauffällige Kleidung und schminkte mich nicht, um den Blick nicht unnötig auf mich zu lenken.

Ich trank einen Schluck Kaffee und spürte den Rum. Auch Polly trank, Vincent gab einen leisen Laut von sich, und plötzlich musste ich weinen.

„He …“, sagte Polly und legte die Hand auf meine. „Es wird alles gut.“

Vielleicht hat sie recht, dachte ich. Vielleicht hat sie recht, und wir sollten zurückfahren. Zurück nach Schweden. In das vom Knöterich verschlungene Haus. Vielleicht war das tatsächlich die Lösung. Wir mussten ja nicht in den Anbau gehen.

„Komm“, sagte ich und stellte die Tasse mit einem Ruck auf dem Tisch ab. „Wir gehen jetzt anrufen.“

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Die Telefonzelle stand ein paar Häuser weiter. Stets erwartete ich, dass sie verschwunden wäre, über Nacht abgebaut und weggebracht. Wer sollte hier auch telefonieren? Niemand war zu sehen. Bis auf den Asia-Imbiss in der Ferne. Der Wagen stand an dem einzigen Fleck, wo noch Menschen waren. Wo eine lebendige Straße diese erloschene Gegend berührte. Jeden Tag stand er dort, am Ende der Gasse, und bot heldenhaft seine Reispfannen an.

Die Wände der Telefonzelle waren von innen mit alten Anzeigen beklebt. Ich zog meinen Ärmel über die Hand, um den Hörer nicht mit nackter Haut zu berühren. Dann tippte ich die Nummer.

Es klackerte an meinem Ohr, als tippte ein Männchen im Innern des Telefons die Zahlen noch einmal ein, dann rauschte es, ein langes Rauschen, das sich von dieser Zelle nach Norden, über die Ostsee, aufs schwedische Festland und weiter nach Nästeviken spannte. Während ich auf das Freizeichen wartete, zog mein Blick über die prallen Busen und offenen Münder sündiger Studentinnen und verdorbener Hausfrauen, all die Flyer, die in Augenhöhe an der Scheibe hingen. Ich sah hoch zur Zellendecke, die zwar schmutzig, aber der einzig unbeklebte Fleck war, und stellte mir das Haus in Nästeviken vor, die Bäume im Garten, die Kiepe vor der Haustür und unter dem Holz, am Boden der Kiepe: den Schlüssel.

The number you have dialed is not available. Please try again.“

Ich legte auf und wählte noch einmal. „… not available … try again …“

Als ich aus der Zelle trat, zählte Polly die alten Kippen auf dem Boden: „Wir fahren zurück … wir fahren nicht zurück …“ Filter verrotten nicht. Alles Mögliche zerfällt und wird wieder zu Erde: alte Lappen, Bananenschalen, sogar Joghurtbecher. Zigarettenfilter nicht. Sie werden auch in einer Million Jahren noch da liegen, dachte ich. Das Einzige, was von uns übrig geblieben sein wird. Ausgeblichen und vollkommen intakt. „… fahren zurück … nicht zurück … wir fahren zurück! Siehst du!“

„Sobald es mit Rosa gar nicht mehr geht“, sagte ich. „Aber bis dahin will … muss ich noch arbeiten. Nur noch bis dahin. Wir brauchen …“

„… das Geld. Wir könnten doch trampen!“

„Mit ’ner Fähre? Tolle Idee“, sagte ich. „Außerdem – wenn wir da sind, müssen wir von irgendwas leben.“

„Tee kann man aus Scharfgarbe machen, Salat aus Löwenzahn. Es gibt einen Garten, und Obstbäume stehen hinterm Haus, das weißt du genau. Da wachsen auch Kürbisse und Kartoffeln. Um satt zu werden, brauchen wir keinen Cent.“

„Polly, ich …“

„Du hast einfach Schiss zu fahren! Das ist alles.“

„Woher willst du eigentlich so genau wissen, dass das Haus frei ist?“

„Es geht niemand ans Telefon“, sagte Polly ruhig.

„Man geht nicht dahin zurück, wo man …“, setzte ich an und brach ab. „Ich finde es einfach riskant … verstehst du?“

„Es war auch riskant von den Urmenschen, Feuersteine aneinander zu schlagen und aus ihrer Höhle zu kriechen“, sagte Polly.

„Findest du es wirklich so schlecht hier?“ Ich merkte im selben Augenblick, was für eine blöde Frage das war.

„Ach was“, sagte Polly. „Davon kann keine Rede sein. – Ich liebe die Wohnung. Sie ist voll gemütlich. Und überhaupt – diese Gegend hier.“ Sie schrieb einen großen Bogen in die Luft, umfasste die schimmelnden Häuser damit, die Ratten, den Dreck. „Es ist doch schön hier. Der ideale Ort, wenn man ein Buch über interessante Todesarten schreiben möchte.“

„Ist ja gut“, sagte ich.

Wir gingen durch die Gasse zurück zum Haus. Es tropfte von den Bäumen. Die Rinnsteine waren verstopft, und was darin lag, rottete ungestört vor sich hin – jene Sorte Gasse, die nicht mal bei strahlendem Sonnenschein einladend wirkt.

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Noch vor anderthalb Jahren hatten wir Zentralheizung und geweißte Wände. Einmal war ich mit Polly für ein Wochenende in München in einem Hotel. Wir hatten Urlaub gemacht. Wie alle anderen hatte ich durch die Zimmermädchen hindurchgeschaut. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich einmal zu ihnen gehören würde. Dass ich mir den Rücken für zwei fünfzig pro Zimmer ruinieren würde.

Wenn ich früher das Wort Zimmermädchen hörte, hatte ich so eine romantische Vorstellung von lächelnden Mädchen in hübschen Trachten mit gestärkter Bluse, ich dachte an hellblaue Staubwedel und einmal mit dem Sauger über den Teppich, kurz das Bett aufklopfen und fertig. Leichtverdientes Geld. Aber das stimmt nicht. In jedem Hotel sind die Zimmermädchen das letzte Glied in der Kette. Und überall gibt es eine Rosa.

Rosa hassten alle, und sie wusste es, doch die meisten von uns arbeiteten schwarz, und wir schwiegen, wenn sie die Abreisezimmer aufschloss, noch bevor wir selbst hinein durften, und sich unsere Trinkgelder aus den Aschenbechern nahm.

Rosa war an dem Tag auf mich aufmerksam geworden, als ich mit Mariza auf demselben Gang arbeitete. Es war Mittagspause, ich hatte meinen Trolley in die Ecke geschoben und wollte Mariza zur Kantine mitnehmen.

Als ich ins Zimmer hineinsah, konnte ich sie nicht entdecken. Dafür sah ich Rosa und wusste Bescheid. Ich weiß nicht, warum ich nicht schleunigst wieder gegangen bin.

Jetzt, im Nachhinein, bin ich mir sicher, dass es Rosas Absicht gewesen war. Sie wusste, dass wir uns gegenseitig zu den Pausen abholten. Sie wusste also, dass Punkt zwölf Uhr jemand kommen würde. Manchmal tragen Zufall und Pech dasselbe Gesicht. Und der Zufall wollte, dass ich ins Zimmer trat.

Das schwere Doppelbett stand in der Mitte des Raums, Mariza musste es von der Zimmerecke bis dahin geschoben haben. Zweifellos, weil Rosa ihr zeigen wollte, dass der Teppich unter dem Bett nicht wie geleckt aussah. Rosa saß in einem schicken Kostüm im Sessel, mit ausgestreckten Beinen, ihre Nylons glänzten. Mariza lag unter dem Bett.

Mariza lag unter dem Bett auf dem Rücken, und hin und wieder sah ich ihre Hand hervorkommen und einen Schwamm in den Eimer mit Seifenwasser tauchen, um dann wieder unter dem Bett zu verschwinden. „Jede einzelne, Mariza. Und danach wischst du sie alle mit einem weichen Lappen trocken.“

Mariza putzte die Metallfedern unter dem Bett!

In diesem Moment drehte Rosa den Kopf zu mir, und das Blut schoss mir ins Gesicht. Ohne den Tonfall zu ändern, sprach sie weiter mit Mariza. „Nicht nur Herr Konrad hat sich über Staub im Zimmer beschwert. Ich habe mich entschuldigt. Für dich hab ich mich entschuldigt, hörst du?“

„Ja, Frau Mailand.“

„Ich weiß ja nicht, wie es bei dir zu Hause aussieht, Mariza, aber ein Hotelzimmer ist kein Saustall.“

Sie sah mich immer noch an. Ihr Blick ging langsam über mein Schürzenkleid. Über die Strumpfhose, und dann weiteten sich ihre Augen. Mir fiel siedendheiß die Laufmasche ein, und schnell wich ich in den Gang zurück.

Bevor ich in die Kantine ging, zog ich für zwei Euro eine neue Strumpfhose aus dem Automaten in der Umkleide. Der Automat war nur für uns Mädchen angebracht. Korrekte Kleidung gehörte zu den Regeln. Aber ich ahnte, dass es schon nichts mehr nützen würde.

Wenn sie dich zum Quälen aussuchen, dann passiert bei ihnen etwas Ähnliches wie beim Verlieben. Sie zeigen dieselben Symptome. Sie senden bestimmte Signale aus, und je länger du sie nicht beantwortest, desto größer wird ihre Faszination.

Nachdem Mariza plötzlich nicht mehr kam, hatte Rosa an der Tür zur Umkleide gestanden und auf mich geschaut. Ich schaute nicht zurück und war bemüht, mich weder schneller noch langsamer als sonst umzuziehen. Ich hatte das Schürzenkleid zugeknöpft, die Turnschuhe geschnürt, mein Haar kontrolliert und mich dann an Rosa vorbei auf den Gang geschoben. Ich hatte mich in die mintgrüne Schlange der Zimmermädchen eingereiht, die vor dem Lager anstanden, um die Trolleys aufzufüllen. Rosa war gar nicht da. Es gab keine Rosa.

Dummerweise ist Ignoranz nur eine kurzfristige Lösung.

Ignoranz führt dazu, dass sie dich für arrogant halten. Und da es nur sehr wenig wirklich arrogante Menschen gibt, erzeugt Arroganz den Eindruck von Schönheit. Schönheit macht für eine Weile stumm. Noch schwieg Rosa, aber ich hatte ihren Blick in meinem Nacken brennen spüren. Ich wusste: Kaum etwas strahlte eine solche Faszination aus wie der Gedanke, etwas Schönes zu ramponieren.

- - -

„Milana, komm her!“

Ich stand mit einem Kissenbezug in der Hand vor dem Bett und hob den Kopf. Im gedimmten Licht der Wandlampe sah die cremefarbene Samttapete aus wie Gold. Sie war mit einem filigranen Rankengeflecht überwachsen. Wenn man den Blickwinkel änderte, schienen die Ranken zu zittern und sich wellenartig vorwärtszubewegen. Ich schob das Kissen lautlos in seine Hülle.

Es gab keine Rosa.

Ich legte das Kissen auf das Bett neben die anderen beiden und fuhr über den kühlen Damast.

Rosa war gar nicht da.

„Milana! Bist du taub, oder was?“

Ich straffte mich, zog mein Kleid glatt und schwor mir, nicht zu widersprechen. Was auch passierte: nicht widersprechen.

Ich ging in den Gang. Rosa lehnte an der Tür des Zimmers, das ich kurz zuvor gemacht hatte. Sie sah mich über eine Strecke blauen Teppichs an. Sie trug eine erschütternd weiße Bluse zu einer schwarzen Bügelfaltenhose, und instinktiv ahnte ich, dass sie sich für mich so angezogen hatte. Ihr schwarzes Haar war straff zurückgekämmt und hochgesteckt, was die Zartheit ihres Kinns betonte. Ihr Mund sah röter und verletzbarer aus als sonst, oder es war dieser unglaublich weiße Blusenstoff. Sie schien von innen zu glühen.

„Ich hab Sie gehört, Frau Mailand.“

Sie wischte sich kurz über das Haar, als hätte sich eine Nadel gelöst. „Mach die Tür von deinem Zimmer zu, wir haben hier noch zu tun. Und bring deinen Eimer mit.“

Ich griff nach dem Eimer, und als ich das Wandlicht ausknipste, verschwanden die Ranken. Eine glatte Fläche Wand blieb zurück. Ich zog die Tür heran und wünschte mir, ich wäre dort, wo jetzt die Ranken waren.

„Mein Gott, geht das immer so langsam bei dir?“

Ich schwieg. Alle Mädchen hatten sich angewöhnt, nur dann mit Rosa zu sprechen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Reden war gefährlich. Eine Einigung, das hatte jede von uns schnell begriffen, war von vornherein ausgeschlossen, wenn sie dich duzen, während du sie siezt. Rosa hingegen liebte es, mit uns zu reden.

„Was hast du hierzu zu sagen?“ Sie schob mich ins Bad. Die Fliesen, die Armaturen, die Spiegel blinkten. Die Duschfläschchen lagen säuberlich auf einem weißen Lappen. Die Handtücher hingen hübsch gefaltet. Auch das Toilettenpapier war zu einem makellosen Dreieck umgeschlagen. Mir fiel nichts auf.

„Ich weiß nicht.“

„Und das hier?“

Sie ging vor dem Waschbecken in die Hocke und tippte auf Seifenspuren auf der Unterseite. „Das hab ich übersehen …“, murmelte ich.

„Ach so“, sagte Rosa und erhob sich. „Und das hier, hast du das auch übersehen?“

Sie schraubte den Deckel vom Toilettenspülkasten und hob ihn hoch.

„Aber wir haben doch gar keine Schraubenzieher dafür.“

„Und warum fragst du mich dann nicht? Nimm diesen. Und jetzt mach das sauber. – Wo willst du hin?“

„Meine Handschuhe holen.“

„Milana, bitte!“ Sie seufzte. „Du machst den ganzen Tag Dreck weg, jetzt erzähl mir nicht, dass dir das hier irgendwas ausmacht.“

Sie lehnte sich an die Wand, während ich den Schwamm in den Spülkasten tunkte und anfing, den bräunlichen Wasserrand von den Innenwänden zu schrubben.

„Bis ganz runter. Nicht so zimperlich.“ Sie betrachtete ihre Nägel.

Im Zimmer nebenan piepte ein Wecker. Es war neun Uhr. Rosa sah mir eine Weile zu, verließ dann das Bad und ging in den Wohnraum. Als ich ihr schließlich folgte, stand sie vor dem geöffneten Fenster und winkte mich zu sich. „Fällt dir was auf?“

Ich sah über die Stadt: Dächer, die vom morgendlichen Regen glitzerten, in den Straßen bewegten sich Schwärme farbiger Regenschirme. Rosa hielt sich am Fensterkreuz fest und lehnte sich weit hinaus. „Hier!“ Sie wies auf die Fensterbretter und Fensterrahmen. „Dreck, Mila.“

„Aber die Fensterputzer …“ Ich biss mir auf die Lippen. Nicht widersprechen!

„Du bist also eine von den Bequemen? Bloß keinen Handgriff zuviel?“ Sie setzte sich auf das frisch gemachte Bett. „Nimm deinen Schwamm.“

Ich sah auf das offene Fenster und dann zu Rosa, wieder zu dem Fenster, und dann verlor ich den Mut. „Frau Mailand.“ Ich senkte den Blick. „Ich hab Höhenangst.“

Als ich aufsah, lag auf ein Schimmer auf Rosas Gesicht, als hätte ihr jemand ein Kompliment gemacht. „Fang an.“

- - -

Und man fängt immer an. Es gibt keinen Ausweg. Aber jede von uns wusste, wie es endete: Das Mädchen war erledigt. Manchmal ging es von selbst, es kam einfach nicht mehr wieder, so wie Mariza. Rosa bevorzugte es jedoch, die Mädchen eigenhändig zu feuern. Das erforderte Zeit und Fingerspitzengefühl. Sie wollte die Ritzen in der Seele finden. Je versteckter sie waren, desto interessanter wurde es. Finden. Und hineinstechen.

„Vielleicht bist du wirklich nicht geeignet, Milana. Das geht einfach zu langsam. Das Ganze noch einmal. Und zügiger!“ Diese Stimme. Von kränkender Beiläufigkeit.

Es war jetzt eine Woche her, seit Rosa begonnen hatte, mich aufzubrauchen. Sie saß in meinem Rücken auf dem Sessel.

Die Haare klebten mir auf der Stirn. Mein Gesicht fühlte sich verbrannt an. Die Tür stand halboffen, und auf dem Gang hörte ich Lins Trolley über den Teppich rollen, ihre leichten Schritte, ich hörte sie an eine Zimmertür klopfen und dann in ihrem hellen Akzent „Guten Morgen“ rufen.

Das vierte Mal zog ich das gemachte Bett wieder ab und legte ein frisches Laken über die große Matratze. Wieder hielt ich es in beiden Händen und riss die Arme auseinander, um es faltenfrei auszubreiten und dann straff festzuspannen. Rosa räusperte sich hinter mir.

Du bist stark, Rosa, dachte ich wütend, aber du kannst mir nichts anhaben, denn du kennst mich nicht. Niemand kennt mich! Mein Herz pochte wild. Ich stemmte die steinschwere Matratze hoch und presste das Fußende der Decke darunter. Meine Arme zitterten auffällig. Kein Wort fiel. Aber ich spürte Rosas Blick im Rücken, zwischen den Schulterblättern, wo sicher Schweiß durch den Stoff getreten war.

Dieselben Symptome wie beim Verlieben.

Wenn du aufgibst, bist du gefeuert. Und wenn du nicht auf ihre Provokationen reagierst, ahnen sie, dass etwas tiefer liegt. Etwas, das sich ihnen hartnäckig widersetzt. Es ist eine Sackgasse. Denn solange man keine klare Antwort gibt, bekommt die Beziehung keine Umrisse. Nur die Distanz wird spürbar. Dieser Umstand setzt sie unter Strom.

Als ich die Matratze herabließ, flatterten meine Muskeln, und ich wehrte mich gegen den Impuls, mich ebenfalls sinken zu lassen. Mit geradem Rücken ging ich nach vorn und faltete am Kopfende einen kunstvollen Einstieg ins Bett. Geometrisch exakt, ein gestochen sauberer Knick. Die Kissen lagen genau zwei Zentimeter darüber. Dann sah ich zur Tagesdecke, die auf dem Sofa lag. Der Anblick deprimierte mich. Die Decke war zu schwer, zu groß und zu wenig nachgiebig. Ich war erschöpft.

Das Licht im Zimmer war gelb und warm, Regen schlug leise gegen die Scheiben, Lin hatte das Radio im Nachbarzimmer angedreht. Mit einem Ruck hob ich die bleischwere Decke an und warf sie auf das gemachte Bett. Der Stoff war so störrisch, dass man ihn nur unter äußerster Kraftanstrengung in die korrekte Lage ziehen konnte. Währenddessen musste man aufpassen, dass das kunstvolle Kissen- und Deckenensemble darunter keinen Schaden nahm. Ich zwang die Decke am Kopfende mit einem Handkantenschlag in eine anmutige Falte. In die Falte meißelte ich die darunterliegenden Kissen ein. Formvollendet. Ich atmete jetzt heftig.

Es war ein Morgen im April, und Lin und ich arbeiteten auf demselben Gang. Es gab nur den Morgen und uns beide.

Und ein Ding, das hinter mir im Sessel saß und das, wenn ich mich umdrehte, wie eine Frau aussehen würde.

Ich bettete zwei Pralinen auf die Kissen, drehte mich um und sah auf den Boden. Schweißtropfen rannen zwischen meinen Brüsten zum Bauch. Ich brauchte dringend eine Pause. Rosa sagte: „Noch mal, Milana.“

Ich presste die Nägel in die Handballen. Es war immer dasselbe. Dabei ist dein Zusammenbruch nicht wirklich ihr Ziel. Sie wollen sich danach sehnen. Dein Wert besteht in dem Ausmaß der Sehnsucht, das du ihnen geben kannst. Vergiss das nicht, dachte ich. Dieses Grau da draußen im Himmel. Deine Empörung. Und vergiss nie die Scham.

„Hast du gehört?“

Als ich den Kopf hob und Rosa ansah, stellte ich mir Rosas Sehnsucht als Seil vor. Geflochten. Sechs Millimeter dick. Ein Seil um ihren Körper und die Gelenke, dessen Enden ich in ihrem Rücken verknotete. Ausbruchsicher. Ich stellte mir vor, wie ich dann das Licht ausmachte.

Und wie ich wegging.

- - -

Ich ging drei Tage später.

Wäre Polly nicht gewesen, wäre es vielleicht später passiert. Aber passiert wäre es sowieso. Dinge, die einmal angefangen haben, kann ich nicht einfach abbrechen. Konnte ich noch nie. Und Polly war an diesem Tag ins Hotel gekommen.

Sie hat mich auf dem Kieker … haha. Ich hab gemerkt, dass da etwas nicht stimmte“, sagte sie später. „Du hast mich angelogen, Mila.“

„Hab ich nicht. Ich hab nur nicht alles gesagt.“

„Mann, sie hätte dich …“

Aufgefressen, dachte ich.

Sie hätte mich ausgeweidet wie alle vor mir, solange, bis nichts mehr übrig gewesen wäre, und dann wäre ich ersetzt worden. Die alte Geschichte.

Polly hatte das Zimmer betreten, als Rosa auf der Klappleiter stand, sich am Fensterkreuz festhielt und mit einem Tuch über die Außenjalousien wischte, um mir Vogelscheiße nachzuweisen. Ich stand mit weißen Händen und fliegendem Herz daneben und wusste, dass ich gleich da rauf musste. Auf die Leiter, neun Stockwerke über der Erde.

Seit Rosa wusste, dass ich Höhenangst hatte, legte sie besonderen Wert auf die Fenster. Sie teilte mich nur noch im neunten Stock ein. Ab dem zehnten Stock waren die Fenster blockiert, zum Schutz der Gäste. Ich hatte mich von Anfang an über diese seltsame Grenze gewundert. Als wären neun Stockwerke ungefährlich.

„Du Schwein!“, schrie Polly und rannte zu uns rüber. „Du mieses Schwein!“

Rosa fuhr herum, da warf Polly sich schon gegen die Leiter.

- - -

„Mila, Mila, was …“ Lin stand auf einmal auf der Schwelle. Ich wusste nicht, wie lange schon. Sie stand und war ganz weiß und starrte Polly an.

„Rosa ist …“ Ich brach ab. Ich sah nur hinüber zum Fenster. Ich spürte, wie kalt mein Gesicht war, meine Finger, meine Füße.

Lin war plötzlich am Fenster. Es war wie ein Schnitt im Film. Eben war sie noch auf der Schwelle, jetzt am Fenster. Sie sah hinunter, und als sie dann anfing zu schreien, waren Polly und ich schon draußen. Rannten die Treppen hinunter, stürzten aus dem Nebenausgang. Die Pförtnerloge war leer. Als wir vom Boulevard in die erste Nebenstraße einbogen, hörten wir die Sirenen kommen.

Wir wurden langsamer. Sahen uns um. Folgte uns jemand? Wir bogen wieder ab. Vor einem Laden mit dem Namen Haar-Vision blieben wir stehen. Atmeten durch.

Als ich die Tür öffnete, hatte ich kurz das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben. Ich trat an die Theke, schob Polly vor mich hin. Wie vor anderthalb Jahren in einer anderen Stadt.

Damals hatte ich gesagt: „Bis zum Ohr, bitte. Und blond färben.“ Eine Schere hatte das schwarze, lange Haar dann mit einem Schnitt vom Kopf getrennt.

Jetzt sagte ich: „Drei Millimeter. Bitte färben Sie es rot.“

Am selben Nachmittag standen wir an Deck. Die Finger um die Reling und die Gesichter nach vorn, Richtung Schweden. Der Wind zog über die Fähre. Sie hieß Stena Line, genau wie beim ersten Mal vor sechs Jahren. Ich sah auf die Möwen. Sie zogen um das Schiff. Sie zogen in langsamen, weiten Bahnen; ihre Schnäbel standen wie Dolche gegen das Licht.

Wäre nicht der Geruch der Färbung gewesen, dieser chemische Geruch von Angst, den der Wind mir von Pollys raspelkurzem, rotem Schopf in die Nase trieb, hätte ich vielleicht aufgeatmet.

Dennoch hatte ich das seltsame Gefühl, das Starlight, Rosas Tod und das alte Mietshaus in der Rolandsgasse lägen schon seit Monaten hinter uns, irgendwo in einer Vergangenheit, die mir bereits so fremd war, als wäre sie nicht uns, sondern jemand anderem passiert.