»Die da?«, schreit Lala zu mir herüber.

»Neee ... aber bestimmt später!«, schreie ich zurück. Als ich mich wieder zu Marcia drehe, ist sie verschwunden. Einfach so. Ohne ein Wort zu sagen. Das war fix. Sie wird schon wiederkommen. Wir hören Neues Land, Die Stadt, die es nicht gibt und Millionen Legionen. Von Marcia ist weit und breit immer noch nichts zu sehen. Ich überlege mir, ob mich das noch stört, so komisch wie alles bisher war, komme aber zu keinem Ergebnis. Wenigstens hat Lala ihren Spaß. Sie hopst inzwischen mit tausend anderen zum Picknicker und lacht immer wieder auffordernd zu mir herüber. Aber ich will nicht mithopsen. Ich will wissen, was hier los ist. Als die ersten Takte von Tag am Meer erklingen, sage ich Lala, dass ich auf Toilette muss. Mit steigender Ruppigkeit remple ich mich durch die Menge nach hinten. Ich muss daran denken, wie ich das Lied vor Marcias Fenster gehört habe und wie glücklich ich in dieser Nacht war. Ich schlucke und kämpfe gegen das Feuchte in meinen Augen.

Dann entdecke ich Marcia. Sie steht an der Sektbar. Neben ihr zwei riesige, muskulöse Typen in knallengen Muscleshirts. Einer von ihnen hat die Hand auf ihrem Hintern. Jetzt verstehe ich gar nix mehr. Ich will weitergehen, doch ich kann nicht. Kann nicht aufhören, in Marcias Richtung zu starren. Dann treffen sich unsere Blicke für eine Sekunde. Eine einzige Sekunde. Dann schaut sie weg. Einfach so.

Alles klar.

Was für eine blöde Kuh!

Mit allem hätte ich gerechnet, aber damit nicht. Wenn sie mich schon im Starbucks hätte abblitzen lassen: Kein Problem. Wenn sie meine Konzertkarte in den Milchschaum getunkt hätte: auch egal. Aber die Nummer? Für wie bekloppt hält mich diese arrogante Dummtusse eigentlich? Ich könnte kotzen um jede einzelne Träne, die ich wegen ihr vergeudet habe, und jedes Bier, das ich nicht getrunken habe wegen irgendwelcher beschissenen Bauchmuskeln, die sie sowieso einen Scheiß interessieren. Wütend stampfe ich in ihre Richtung. Mann, bin ich geladen! Ein einziger ungeschickter Rempler von einem bräsigen Fanta-Vier-Fan, und ich haue ihm so auf die Zwölf, dass er nicht mal mehr weiß, welches Autokennzeichen Stuttgart hat. Unter Hochspannung bestelle ich drei Bier, zwei für mich und eins für Lala. Ich zahle und wühle mich ein paar Schritte zur Seite, sodass ich direkt neben Marcia und den beiden hirnlosen Himbeertonis stehe. Dann drehe ich mich zu ihr.

»Viel Spaß noch!«, schreie ich Marcia an.

»Dir auch! Und grüß deine Putze!«, brüllt sie zurück. Die Himbeertonis lachen sich tot.

Es ist ein Reflex, gegen den man gar nicht viel machen kann. Und so landet der Inhalt meiner Bierbecher – und wir reden hier insgesamt von über einem ganzen Liter Kölsch – in Marcias Playmate-Januar-bis-Dezember-Gesicht. Sie ist so entsetzt, dass sie kein Wort herausbringt. Ihre beiden Primaten schon. Ich will wegrennen, aber es ist zu spät.

»Das war ein Reflex!«, rufe ich noch, da habe ich auch schon eine Faust im Magen, dann noch eine, und dann verteilen sich die Schläge auf diverse Körperteile, von denen ich schon bald nicht mehr so genau sagen kann, wo sie so genau liegen. Ich bekomme keine Luft mehr. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich habe keine Chance. Jeder der beiden ist größer und stärker als ich. Das Ganze mag eine knappe Minute gehen oder zwei, ich weiß es nicht. Irgendwann werfen sich zwei Security-Leute dazwischen, die noch größer sind als meine Widersacher. Die Himbeertonis fliegen raus, so viel bekomme ich noch mit. Dann humple ich schwer atmend zurück zum Bierstand. Ein junges Mädchen mit Brille und Zahnspange starrt mich entsetzt an, sagt was in die Richtung »Ach du lieber Himmel« und zerrt einen Ordner zu mir. Der Ordner nimmt mir das Bier wieder ab, das ich gerade bestellt habe, und fragt, wie ich mich fühle. Ich sage, dass alles ganz wunderbar sei und dass ich jetzt aber wieder vor zur Bühne müsse zu meiner Putzfrau, und mit der Liebe, da hätte ich mich getäuscht, Oliver Geissen wäre so was nicht passiert in seiner Talk-show, und das mit dem »schwarzen Herz«, das wär schon so, und ob ich mein Bier zurückhaben könne, ich hätte nämlich ziemlichen Durst. Dann werde ich weggebracht.

IM SPARE DER HORIZONTALEN VERKEILUNGEN

Das Konzert ist längst zu Ende, als mich der Psychologe Dr. Wegener schulterklopfend aus dem Rotkreuzraum entlässt. »Und machen Sie einfach mal Urlaub!«, rät er mir noch.

»Mach ich!«, verspreche ich ihm und schleiche durch das spärlich beleuchtete Foyer in Richtung Ausgang. »Und grüßen Sie Lala von mir!«, höre ich ihn rufen, doch ich hebe nur noch die Hand als Zeichen, dass ich ihn verstanden habe. Ganz schön schwer, so eine Hand.

Ich taste nach meinem Handy und wähle die Nummer von Paula. Verbindung mit Paula wird hergestellt steht auf meinem Display. Ich lege wieder auf. Was soll ich ihr groß sagen? Es ist nicht ihre Schuld, dass alles in die Hose gegangen ist. Im Grunde genommen hat sie's gewusst. Sie hat es schon an unserem Saunatag gewusst. Sie wollte mich nur nicht verletzen. Das haben Marcias bekloppte Himbeertonis erledigt. Stattdessen rufe ich Flik an. Er ist sogar zu Hause, und wir verabreden uns für das de-lite, eine Cocktailbar mit DJ. Flik freut sich, als ich anrufe. Wenigstens einer. Ich drücke die große, schwere Eisentür zur Straße auf und knalle gegen eine Wand aus eiskalter Luft. Mein Arm tut weh. Und mein Kiefer auch. Nach einer halben Stunde bekomme ich endlich ein Taxi. Der Fahrer begrüßt mich mit »Ach du lieber Himmel!«.

Flik hat zwar keine auf die Fresse bekommen, aber er sieht genauso fertig aus wie ich. Wir umarmen uns und betreten das übervolle de-lite. Das zu erwartende »Wie siehst du denn aus?« kommentiere ich mit »Später!«. Ich bahne mir den Weg zur Bar und bestelle zwei Beck's. Flik bleibt ein wenig ratlos an einer Säule stehen. Mir fällt auf, dass die Gäste fast ausnahmslos jünger sind als wir. Auch Flik wirkt reichlich desorientiert und neben der Spur. Nichts ist mehr zu sehen von seinen kleinen Verwandlungen ins Positive, die mich in den vergangenen Tagen so überrascht haben. Flik trägt wieder seine alte, viel zu kurze Stoffhose und ein Karohemd aus schlankeren Zeiten, das sich nun spack über sein Bäuchlein legt. Trotz der Kälte hat er an diesem Abend nicht mal die Mode-Todsünde Collegeslipper ausgelassen. Zwei gelangweilte Studentinnen räumen ihre Hocker an der Bar, die wir uns unter den Nagel reißen. Als wir uns setzen, entdecke ich den Grund ihrer Langeweile: zwei kleine Fläschchen Bionade. Schlimm so was. Mit der Jugend geht es wirklich steil bergab. Ich proste Flik zu und ziehe mit einem Schluck die Hälfte meines Beck's-Glaszwerges weg. Flik nippt lediglich daran. »Zu kalt für meinen Magen«, entschuldigt er sich. Ich will gerade ansetzen, Flik meine Konzert-Katastrophe in den buntesten Farben zu schildern, da platzt es aus ihm heraus.

»Daniela hat Schluss gemacht!«

Wortlos starre ich Flik an. Das nenne ich mal eine Ge-sprächseröffnung!

»Scheiße!«, ist das Einzige, was mir auf die Schnelle einfällt. Achselzuckend greife ich nach meinem Bier, und wir stoßen ein weiteres Mal an. Kling! Der arme Kerl! Soll ich's ihm sagen, dass ich mit Daniela aus war? Vielleicht hat sie ihm ja schon was erzählt, und er ahnt irgendwas. Die nächste Frage, die nach Aussagen wie »XY hat Schluss gemacht« normalerweise ansteht, lautet: »Und warum?«

Ich hab eine Heidenangst, sie zu stellen. Flik sieht müde aus. Offenbar nimmt es ihn richtig mit. Kein Wunder. Daniela war seine erste Affäre seit Jahren. Und ich Arschloch muss mich dazwischendrängen. Ich stürze das Bier herunter und bestelle einen Wodka Tonic.

Dann wage ich es.

»Und warum?«

Flik hat auf die Frage gewartet, die Antwort kommt schnell.

»Sie ist halt nicht verliebt. Sie mag mich total gern, aber es hat nicht gefunkt«, gesteht er mit schwacher Stimme.

»Toll, die gute alte Kumpelnummer!«, stöhne ich.

Flik gönnt sich ein weiteres Spatzenschlückchen Beck's. Ich bekomme meinen Wodka Tonic, werfe den Strohhalm in die Spüle vor uns und klopfe Flik tröstend auf die Schulter.

»Kann man nix machen! Bei der Nächsten wird's besser!«

»Ach ja ...«, seufzt er. »Ich kann sie ja verstehen. Wenn ich 'ne Frau wäre, die so aussieht wie Daniela, würde ich auch nicht mit so 'nem Typen wie mir gehen! Mit einem wie dir vielleicht ... aber ...«

Au Mann. Die arme Wurst. Was der Gute da eben in seine halb leere Flasche gejammert hat, bedeutet eigentlich zehn Sitzungen Verhaltenstherapie. Wenn ich ihm jetzt noch sage, dass ich gestern mit Daniela unterwegs war, legt die Krankenkasse vielleicht noch zehn Sitzungen drauf.

Einen Teufel werde ich tun. Was mein Freund jetzt braucht, ist Trost und Ablenkung! Ermutigende Worte von jemandem, der ihn versteht und aufbaut. Von mir.

»Jetzt mach aber mal 'n Punkt! Soooooo scheiße siehst du nun auch wieder nicht aus!«

Vielleicht hätte ich es noch ein klein wenig positiver formulieren können.

»Danke!«

»Ja, mein Gott. Kauf dir halt mal ein paar vernünftige Klamotten und nimm zehn Kilo ab. Das isses doch schon. Du siehst echt nicht scheiße aus, Flik! «

Ich denke, das war schon besser.

»Und das ist dann alles?«, krächzt Flik und haut seine Bierflasche auf den Tresen. Fast sieht es so aus, als wäre sie wieder einen Tacken voller geworden.

»Nein! Du müsstest AUCH zum Friseur, und 'ne neue Brille brauchst du auch! Das meint auch die Paula! DAS ist alles!«

So. Jetzt weiß er's. Vielleicht bringt ihm die Info ja was fürs weitere Leben. Im Augenblick jedenfalls starrt er einfach nur in das sich prächtig amüsierende Studentenpack. Hat er mich überhaupt gehört?

»Nimmst du mich mal mit in dein Fitnessstudio?«

Er hat mich gehört.

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Weil die dann alle denken, wir wären auch schwul. Du weißt doch, wo ich trainiere!«

Flik muss grinsen. Na endlich.

»Aber ein bisschen shoppen gehen könnten wir doch, oder? 'ne neue Jeans oder ein paar Hemden?«

»Das können wir gerne machen! «

Flik nickt zufrieden. »Das ist gut!«

Ich bin erleichtert. So erleichtert, dass ich ihm nach einer Weile meine Geschichte erzähle. »Wenn du glaubst, du hättest Pech gehabt heute: Mich haben die heute so richtig gefickt! «

»Echt? Wieso?«

Ich erzähle ihm alles, angefangen vom Paula-Date im Café über die Verbrühnummer bis hin zu Lala, Marcia und dem Zwischenfall mit Marcias stumpfen Prügeltonis.

»Und das alles an einem Tag?«, schmunzelt Flick.

»Und das alles an einem Tag!«, ächze ich, leere meinen Wodka Tonic und winke dem Barkeeper, um noch einen zu bekommen. Auch Fliks chronische Magenverkrampfung scheint sich für eine Sekunde zu lösen, denn er bestellt den ersten Mai Thai seines Lebens.

»Im Vergleich dazu hatte ich ja einen voll langweiligen Tag. Ich meine, bei mir hat einfach nur 'ne Frau Schluss gemacht! «

»Fast schon belanglos«, ergänze ich.

Der DJ spielt einen Remix der Titelmelodie aus der Zeichentrickserie Captain Future. Musik nicht nur aus den 80ern, sondern vor allem aus der vierten Dimension.

»Geil!«, sagt Flik und nickt im Takt.

»Jo!«, sage ich. Captain Future hab ich immer gerne gesehen, weil ich Kimba, der weiße Löwe was für Weicheier und Mädchen fand. Erst sehr viel später wurde mir klar, dass sämtliche Zeichentrickserien was für Mädchen sind, aber das war egal, weil da schaute ich schon richtige Männerserien wie Ein Colt für alle Fälle und Ein Trio mit vier Fäusten.

»Warum hieß das eigentlich Ein Trio mit vier Fäusten?«, will ich von Flik wissen, der gerade eine beeindruckende Glasschale Mai Thai in Empfang nimmt.

»Weil ... hu ... ist der riesig! Weil der eine doch nicht hauen konnte, weil er den Daumen immer in die Faust genommen hat. So ein Computerexperte war das.«

»Stimmt. Jetzt, wo du's sagst! Klar, der Typ mit der Brille! «

Es ist schon bizarr. Da schaut man jahrelang seine Lieb-lingsfernsehserie, und erst zwei Jahrzehnte später erschließt sich einem der Sinn des Titels. Drei Leute, vier Fäuste, weil einer nicht hauen kann. Is doch klar! Bin ich beknackt! Flik kämpft weiterhin tapfer mit seinem Mai Thai, ich bleibe bei Wodka Tonic. Es dauert gar nicht lange, da haben wir uns beide ordentlich den Helm verdreht. Aus Angst, dieser wunderbare Zustand könne sich urplötzlich wieder in Luft auflösen, bestellen wir eine weitere Runde Giggelwasser und reden totalen Mist, selbstverständlich unter strengster Vermeidung der Worte »Marcia« und »Daniela«. Es gibt eben für alles seine Zeit. Kurz nach ein Uhr frage ich Flik, ob wir noch woanders hinwollen.

»Und wohin?«

»Ich hab da 'ne Idee! Genau das Richtige für uns!«

Flik ist einverstanden. Ich bin erstaunt, wie betrunken ich bin, als ich mich zum ersten Mal vom Barhocker erhebe. Auch egal. Der Abend läuft ohnehin schon auf Autopilot. Die Dinge passieren jetzt, wie sie passieren.

Vor den beiden Kölner Groß-Puffs ist die Hölle los. Fast so, als wären heute zehntausend Männer gleichzeitig von ihren Ehefrauen verlassen worden. Würde man sich an albernen Wortspielen erfreuen, die es schon Dutzende Male gegeben hat, würde man zu dem Auflauf »Stoßzeit« sagen und sich beömmeln über diesen ach so tollen Witz. Ich beiße mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge, denn mit unserem Taxifahrer ist nicht zu spaßen, das kann man schon am verblichenen gelben Ausweis mit dem grimmigen Foto in der Mitte des Armaturenbretts sehen. Jupp Kreuzfeld steht da nämlich. Fehlt nur noch der Warnhinweis »Achtung, kölsches Original!«.

Im Schneckentempo rollen wir ans Ende einer Taxi-Warteschlange. Ich bin dankbar, dass sich unser kölsches Original bisher in keinster Weise abfällig über unser Fahrziel geäußert hat.

»Können Sie irgendwie diskret hier halten?«, frage ich. »Dat sin die zwei größten Puffs in NRW. Hier kamma nit diskret halten. 13 Euro 60!«

Da hat Jupp Recht. Ich gebe ihm fünfzehn, quäle mich aus dem Wagen und stelle mich neben Flik, der mit weit aufgerissenen Augen und hochrotem Kopf die Umgebung mustert.

»Das ist ja der Wahnsinn!«, keucht er. »Das is ja wie auf dem Rummel! «

»Ganz schön was los, wie?«, bestätige ich ihm weltmännisch, als wäre ich jede Woche hier. Tatsache ist, dass ich bisher ein einziges Mal hier war. Voll wie ein Eimer habe ich damals 50 Mark dafür hingeblättert, keinen hochzukriegen, um mich kurz darauf von einer angewiderten Taxifahrerin nach Hause bringen zu lassen. Das ist allerdings Jahre her. Heute ist meine zweite Chance. Flik hat sich offenbar bereits für eines der beiden Bordelle entschieden und schaut auf ein weißes Plastikbanner mit der Aufschrift All you can fuck! 99 Euro.

»Simon!«, ruft er. »Komm doch mal!«

Warum sollte ich? Das Banner ist groß genug. Man muss nicht näher kommen, um es besser zu lesen. »Jaha ...!«, lalle ich und stelle mich neben Flik.

»Was heißt das denn?«, fragt er ungläubig.

»Ich denke mal, dass die das so meinen, wie die das schreiben! «

»Echt?«

»Glaub schon!«

Kichernd wie thailändische Cocktailkellner torkeln wir rein. Seltsam. Ich hätte schwören können, dass ich mindestens eine halbe Stunde brauchen würde, um Flik zu überreden. Jetzt geht er sogar vor. Ein bulliger Türsteher mit Knopf im Ohr hält uns die Tür auf. Drinnen ist es stickig, der Teppich erstrahlt erwartungsgemäß in einem puffigen Rot. An der Kasse kann ich mich kaum konzentrieren, weil ein paar Meter dahinter schon das erste Mädchen auf einem Barhocker sitzt – in weißen Dessous! Wir zahlen beide 99 Euro und bekommen ein gelbes Plastikbändchen um die Hand. Ich lege meinen Arm um Fliks Schulter, was ihn aus dem Gleichgewicht bringt. Fast fallen wir gegen die Wand. Das Mädchen auf dem Barhocker kichert, der Türriese schaut uns ein weiteres Mal prüfend an. Wir wagen uns ein paar Meter weiter, vorbei an halb nackten Mädchen, von denen aber nur eine gut aussieht. Die Mädchen mustern uns, ja, sie ziehen uns fast aus mit ihren Blicken. Das ist doch männerfeindlich, oder nicht? Irgendwie hab ich plötzlich gewaltigen Bammel, ja fast Schiss. Ich ziehe Flik in eine kleine Bar, in der exakt drei Männer und drei Mädchen sitzen. Hinter dem Tresen raucht eine alte Barkeeperin einen Zigarillo. Aus billigen Baumarkt-Lautsprechern quäkt Nik Kershaws Wouldn't it be good. Nein, wäre es nicht!

»Erst mal 'ne Pause!«, schnaufe ich, als wäre ich gerade mit hundert Touristen die Treppen zum Kölner Dom hochgestiegen.

»Aber wir haben doch noch gar nix gemacht!«, protestiert Flik.

»Trotzdem! Lass uns erst mal ankommen!«

»Von mir aus ...«

Da sitze ich nun im Warteraum zur Grenze meiner eigenen Coolness. Die Papiere sind vorhanden, der Grenzübertritt wäre theoretisch jede Sekunde möglich, und doch habe ich einen gehörigen Respekt vor heimtückisch erkauftem Geschlechtsverkehr mit fremden Frauen. Es ist keine schöne Sache, wenn man besoffen feststellt, dass nicht mal das Image stimmt, das man von sich selbst hat. Nicht mal Simon Peters nimmt sich mal eben so ein Taxi in den Puff und pikst drei Minuten später auf einer schäbigen Leih-Blondine herum.

Ich bestelle zwei Bier und zahle 16 Euro. Ich reiche Flik sein Glas und ziehe meines in zwei gigantischen Schlucken weg. Mir wird klar, dass ich, den Eintritt mitgerechnet, bisher 107 Euro für ein Kölsch bezahlt habe. Mir bleibt also sowieso keine andere Wahl als Angriff. Ich klopfe Flik auf die Schulter.

»Die hamuns heute ganschöngefickt, was, Flik?«

Ich merke, dass sich die Beck's, Wodka Tonics und Kölschs gegen mein Sprachzentrum verbündet haben. Sagen wir so: Die Tagesthemen dürfte ich jetzt nicht mehr vorlesen.

»Das kannstelautsagen!«, bestätigt Flik.

Flik übrigens auch nicht.

»Aber nichmituns!«, lalle ich.

»Nich miuns!«

»Wir ficken zurück!«

»Eswirdsurückgefickt! «

Unter den skeptischen Blicken der abgehalfterten Bardame stoßen wir an. Als ich mich ein wenig nach links drehe, steht eine Schwarze neben mir und lächelt mich an. Huch – nicht, dass die das mit dem Ficken mitbekommen hat. Gerade noch rechtzeitig vor einer Entschuldigung für schludrige Wortwahl fällt mir ein, wo ich hier sitze: in einem Puff! Und in einem Puff darf man Ficken sagen. Also erwidere ich einfach nur ihr Lächeln. Als ich Flik zuzwinkern will, unterhält der sich schon mit einer kleinen Thaifrau in weißen Leggins.

»Wanna have some fun?«, fragt mich die Schwarze. Sie sieht gar nicht schlecht aus, Mitte 40, tippe ich, gepflegt, aber nicht gerade schlank. Wenn ich meine sieben Bier und drei Wodka Tonic abziehe, dann sieht sie allerdings schon schlecht aus. Auf der anderen Seite sehe ich ja heute auch schlecht aus. Leider weiß ich nicht, ob die Leihdame afro-amerikanischer Herkunft noch ein wenig schöner wird, wenn ich weitersaufe.

»Where d'you come from?«, frage ich aus reiner Höflichkeit und bemerke zu meinem Entsetzen, dass Flik Hand in Hand mit der Thaimaus abdampft. Ja, sieht die denn nicht, dass der zu dick ist und College-Slipper trägt? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Kein Wunder, dass man Prostituierten immer nachsagt, sie hätten gar keinen Geschmack.

»Dominican Republic. My name is Wanda ...«, haucht die Schwarze und greift mir einfach so an den Sack. Ich kralle mich an meinem leeren Kölschglas fest und hoffe, dass es nicht zerspringt. Nein, ich will nicht mit der Erstbesten abdampfen ins Séparée der horizontalen Verkeilungen. Wenn ich nicht höllisch aufpasse, dann hat mich die karibische Dame in exakt fünf Minuten in der Kiste. Flik ist auch nicht mehr da. Dafür massieren Wandas Finger inzwischen kräftig meine hilflosen Geschlechtsorgane. Ich will das gar nicht. Aber: Kann man einer Dame so was sagen? Verlöre sie dann nicht ihr Gesicht? Irgendwas sollte ich natürlich sagen. So was wie: >Entschuldigung, aber das ist mein Sack<?

Nicht so toll. Während ich gegen eine Erektion kämpfe, krault die Gute, was sie zwischen ihre langen Finger bekommt. Bitte, bitte, jetzt keine Erektion! Ich könnte an den Wiener Platz in Köln-Mülheim denken. Der ist so hässlich, mit dem bekomme ich sonst jeden Orgasmus um Stunden hinausgeschoben.

»You like it?«, fragt mich Wanda.

»Yes, not bad«, sage ich, denn nach zwei Minuten ohne Alkohol wirkt die Dame eher wie Mitte fünfzig.

»I make everything you want. I give you a blowjob you will never forget!«

Das glaube ich, dass ich den nicht vergesse, mein Liebchen! Die alte Barkeeperin hinter dem Tresen lächelt mir zu, als wolle sie sagen »Mach nur, min Jong, soll dein Schaden nit sin!«.

Aber ich kann nicht. Stattdessen stelle ich die dümmste Frage, die man einer dominikanischen Prostituierten stellen kann, die gerade ihre Finger an deinem Sack hat.

»The Dominican Republic«, frage ich. »I always wanted to know what political system you have got there ... democracy?«

Offenbar nicht, denn in diesem Augenblick nimmt mich Mamma Bacardi an der Hand und führt mich weg. Einfach so. Da haben wir's! Die Dominikanische Republik ist eine Diktatur. Wir erreichen ein kleines Zimmer mit einem großen Bett. Wanda schließt die Tür und zieht mich aus. Ich wehre mich nicht. Das wäre auch alles andere als ratsam in Diktaturen, denn dort zählt der Wille des Einzelnen rein gar nichts. Nur wer sich stumm unterordnet, dem passiert nichts. Als ich nur noch meine bunten Boxershorts anhabe, schubst Wanda mich aufs Bett, macht aber keine Anstalten, sich selbst auszuziehen. Ist das normalerweise nicht andersherum? Innerhalb von Sekunden rollt sie meinem kleinen Simon einen Pariser über. Das sind halt Profis, denke ich mir. Das machen die schon toll.

»Tolltoll!«, sage ich laut. Dann wird es plötzlich warm im Schritt. Ich hebe meinen Kopf und sehe etwas, was man landläufig als Oralverkehr bezeichnen würde. Den Unterschied zu handelsüblichen Pornofilmen mache ich auch schnell aus: Ich bin dabei! Wie schön, denke ich mir noch, dass ich da mal dabei bin. Dann komme ich auch schon. Nichts Besonderes eigentlich, ich sage nicht mal »Ahhh« oder »Huuuh«, so wie die anderen in den Pornofilmen, ich komme einfach nur. Dann schneidet mir Wanda einen Teil meines gelben Armbändchens ab und steckt es weg. Ahhh ..., so wird das verrechnet, denke ich mir. Aus dem kleinen Bad höre ich Wasser rauschen. Ich finde es seltsam, dass sie sich die Hände wäscht, wo sie mich doch gar nicht berührt hat, also nicht so richtig. Ich bemerke, dass ich noch immer wie ein Erschossener nackt auf Wandas Bett liege. Gibt es etwas Entwürdigenderes als einen besoffenen, nackten Mann mit schlaffem Pariser und bunten Boxershorts im Bett einer Nutte?

»Had some fun?«, fragt mich Wanda und schmeißt mir meine Klamotten aufs Bett. Komisch. War die nicht eben noch netter?

»Yes! Thank you!«, sage ich und will mich noch entschuldigen, dass ich so früh gekommen bin, aber sie beachtet mich gar nicht mehr. Dann ziehe ich mich an, so schnell ich kann, und trotte nach draußen. Über mir weht das All you can fuck-Banner. Na, Weltklasse! Denen hab ich's ja gezeigt. Es wird zurückgefickt! Hahahaha. Ich setze mich auf eine Mauer und zünde mir eine Kippe an. Sie schmeckt scheußlich. Was Flik wohl macht? Wird Zeit, dass er rauskommt.

Ich bin halb erfroren, als ich Flik endlich sehe. Er verlässt das Bordell triumphierend wie ein Feldherr nach einer gewonnenen Schlacht. Ein Gesichtschirurg bräuchte zwei Wochen, um das beknackte Lächeln aus seinem Gesicht zu fräsen.

»Siiimmmonnnnnn!«, brüllt er, wie Besoffene nun mal brüllen, und umarmt mich. »Das war ja sooo geil!«

»Was war geil?«, frage ich angepisst.

»Ich hab die voll verarscht, ich hab mit sieben Frauen gepennt! Sieben!«

Ich starre Flik an wie ein Koala eine brennende Eukalyptusplantage.

»Siiiieben? Du hast keine sieben Frauen gevögelt, so besoffen, wie du bist!«

»Doch! Ich sag ja, ich hab die voll verarscht. Ich bin einfach nur bei der Letzten gekommen!«

Ich verstehe gar nix mehr.

»Und vorher? Da biste nicht gekommen, oder was?«

»Ich hab so getan! Geil, oder? Also konnte ich Weitervögeln! Du hast doch gesagt, jetzt wird zurückgefickt!«

Erst jetzt wird mir das ganze Ausmaß des Flik'schen Plans klar.

»Sekunde mal, Flik. Willst du mir gerade erzählen, du hast soeben sechs Nutten einen Orgasmus vorgetäuscht?«

»Wahnsinn, oder? Ich hab eben mit mehr Frauen geschlafen als in meinem ganzen Leben davor!«

Respekt. DAS ist Chef. Das muss man ihm lassen. Dass ich da nicht drauf gekommen bin. Der dicke Flik hat echt jeden Cent aus dieser Bruchbude rausgevögelt.

»Und bei dir?«

»War auch klasse. Ich hatte 'ne Schwedin. Ging fast 'ne Stunde!«, lüge ich.

»Dann bin ich ja froh, dass du nicht die fette Schwarze aus der Bar hattest!«, beömmelt sich Flik. »Wie hieß die Alte? Wabbel?«

Ich weiß nicht, warum ich es sage, es kommt einfach so über mich. Womöglich hat es damit zu tun, dass Flik mich provoziert hat, mit seiner Sieben-Frauen-Nummer.

»Ich war mit Daniela aus!«, sage ich ruhig.

»Was?« Flik bepisst sich noch immer über seine Aktion.

»Ich sagte, ich war mit Daniela aus!«

Schlagartig wird es still um Flik.

»Daniela? Mit meiner Daniela?«

»Es war nix. Ich hab nix gemacht. Sie hat sich halt leider trotzdem verknallt in mich.«

In genau dieser Sekunde wünschte ich, ich hätte es nie gesagt. Flik blickt mich nur stumm an.

»Es tut mir Leid!«, sage ich.

Flik ringt nach Luft. Ich kann nur ahnen, wie er sich fühlt.

»Wann?«

»Ich bin zu Spanisch gegangen, ich ... wollte nur gucken, wie sie ist, deine Daniela!«

»Gestern!«, seufzt Flik und setzt sich auf die Mauer neben mich.

»Deswegen war die so komisch am Telefon!«

Mir wäre lieber, er würde mir ordentlich eine aufs Maul hauen.

Stattdessen sitzt er nur da wie ein Häufchen Elend und starrt auf den Puffeingang.

»Es ist ganz und gar nix passiert, Flik. Wir waren nur was trinken, und irgendwie fand sie mich halt gut und ... na ja ... ich hab wirklich nix gemacht und ... ist echt besser für dich!«

Ich biete Flik eine Zigarette an. Er nimmt sie, raucht sie aber nicht. Stumm sitzen wir da. Ich rauche, er guckt. Ich könnte mir echt in den Arsch treten. Was muss er mich auch so provozieren! Egal. A lies, was ich jetzt noch sage, macht die Sache noch schlimmer. Als ich aufgeraucht habe, steht er auf und sagt einen Satz, der mir vermutlich noch bis ans Lebensende in meinem Kopf herumspuken wird. Er sagt ihn deutlich, und er meint jede verschissene Silbe exakt so, wie er sie sagt.

»Ich fände es besser, wenn wir keine Freunde mehr sind, Simon! «

»Wären«, verbessere ich ihn.

Dann geht Flik.

WENN SIE EINE ZITRONE HABEN

Der Mann, der mir an diesem eiskalten Montagmorgen keinen Millimeter von der Seite weicht, ist klein, trägt einen grauen Anzug und eine schwarze Aktentasche. Der Mann, der mich nicht eine Sekunde aus den Augen lässt hat keine Ahnung davon, wie mir nach diesem schrecklichsten aller Wochenenden zumute sein könnte. Dieser Mann kommt im Auftrag der Leute, denen ich Geld für Strom und Gas schulde. Und er hat gesagt, dass er nur dieses eine Mal eine Ausnahme macht. Die Ausnahme sieht so aus, dass er mich zum Geldautomaten begleitet, damit ich ihm die 561 Euro bar in die Hand drücken kann. Warum ich mir um neun Uhr morgens so was antue? Ganz einfach: Ich habe keine Wahl. Angeblich wäre ich mehrfach angemahnt worden, die Summe zu zahlen. Ich habe den kleinen Mann gefragt, wie ich das denn wissen sollte mit den Mahnungen, wo ich doch nie Zeit habe, die ganzen Briefe aufzumachen. Da hat er gelacht, der kleine Mann, und hat gesagt, wenn ich so wenig Zeit hätte, dann würde ich ja sicherlich viel arbeiten und wäre also ziemlich reich, und dann könnte ich ihm ja gleich die 561 Euro geben. Das war der Punkt, an dem ich anfing, den kleinen Mann zu hassen.

»Bei welcher Bank sind Sie denn?«, fragt der kleine Mann mit ernster Miene, als wir nach zehn Minuten immer noch nicht am Automaten angekommen sind.

»Stadtsparkasse Köln«, sage ich.

»Aha!«, antwortet er, als sei allein der Name schon ein schlechtes Zeichen. Wobei er auch Recht haben könnte. Sobald man dort auch nur einmal den Hauch eines Problems hat, den Dispo zurückzuzahlen, ist es vorbei mit Kalendern, Kugelschreibern und Kulanz.

»Ich komme mit Ihnen rein!«, sagt der kleine Mann, als wir das Foyer meiner ungeliebten Sparkassenfiliale erreichen.

»Wie Sie wollen«, sage ich, stecke meine EC-Karte in den Schlitz des Automaten und bete, dass mein pinker Arbeitgeber schon überwiesen hat. Während ich meine PIN eintippe, informiert sich der kleine Mann an einem großen Ständer mit Bankbroschüren über Altersvorsorge.

Ich bin sehr nervös, denn selbst für mich ist mein Kontostand ein absolutes Geheimnis. Monatelang habe ich es für sicherer gehalten, die böse Zahl gar nicht erst zu wissen. Ich musste sie auch nicht sehen, beim Abheben, denn ich bin zu groß, um sie zu sehen. Der Bildschirm ist nämlich so angebracht, dass alle Kunden über 1,80 m in die Knie gehen müssen, um die rechte obere Ecke der Anzeige einzusehen. Meiner Meinung nach ist das die Rache des kleinen Mannes. Die kleinen Männer wollen nämlich, dass sich die großen Männer unwissentlich verschulden und so weder Haus noch Frau halten können. Und dann schlagen sie zu, die kleinen Männer, und bieten überteuerte Kredite an, und alles wird noch schlimmer, und dann übernehmen sie dein Haus und deine Frau und holen deine Kinder in teuren Luxuslimousinen vom Kindergarten ab. So sieht das aus mit den kleinen Männern. Sie wollen, dass jeder über 1,80 m spätestens mit dreißig in der Gosse landet.

Ganz vorsichtig gehe ich in die Knie.

10 678,98 Euro Soll. Das kann nicht sein!

»Alles klar?«, fragt der kleine Mann.

»Aber logo!«, huste ich und versuche, mit meinem Fingernagel das Minus vor der Summe wegzurubbeln. Es müsste schon ein Wunder geschehen, wenn mir diese Dreckskiste bei dem Kontostand noch was ausspuckt. Ich berühre das Feld »Andere Beträge« und fordere 600 Euro an. Aus dem Inneren der Maschine höre ich ein Fiepen und Rattern, dann scheint irgendetwas gedruckt zu werden, und schließlich lese ich auf dem Bildschirm: Bitte setzen Sie sich mit Ihrem Bankberater in Verbindung.

Mein letztes Fünkchen Hoffnung auf eine Rückgabe meiner Karte erlischt, als der Automat Sekunden später den nächsten Kunden auffordert, seine Karte einzuführen. Der nächste Kunde wäre wieder ich, aber das weiß so eine bekloppte Kiste natürlich nicht. Und natürlich werde ich mich nicht mit meinem Bankberater in Verbindung setzen, weil ich den nicht mag, seit ich keine Kalender mehr bekomme. Bestenfalls werde ich ihm ein aus Beton gegossenes Minus an seine rahmengenähten Lederschuhe binden und ihn dann in einem idyllischen, kleinen Baggersee versenken.

»Gibt es ein Problem?«, fragt der kleine Mann und versucht, mit seinen kleinen Augen einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen.

»Ja«, sage ich und stecke mein Portemonnaie wieder ein.

»Ein großes Problem?«

»Sagen wir, größer als Sie!«

Das hätte ich mal besser nicht gesagt.

»Das reicht. Wir gehen zurück zu Ihrer Wohnung!«, sagt der kleine Mann wütend.

»Und dann?«

»Stelle ich Ihnen Strom und Gas ab!«

»Es ist Winter!«

»Das können Sie ja später dem zuständigen Sozialamt erzählen.«

»Ich habe 'ne Freundin beim Express, die macht da 'ne Riesenstory draus!«, drohe ich ihm.

»Da war ich gestern, die zahlen auch nicht!«, antwortet er ruhig und geht aus dem Foyer der Bank, wie kleine Männer nun mal aus Foyers gehen.

»Das war nicht so gemeint!«, sage ich, als wir draußen sind.

»Was war nicht so gemeint?«, fragt mich der kleine Mann, macht dabei aber keine Anstalten, stehen zu bleiben.

»Na, dass ich das gesagt habe! Wenn Sie noch zehn Minuten haben, dann besorge ich mir das Geld von einem Kollegen! «

Der kleine Mann sagt nicht »ja, prima«, aber immerhin bleibt er schon mal stehen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal jemandem so in den Arsch gekrochen bin. Womöglich gefällt dem kleinen Mann ja so was. Vermutlich ist das sogar der Grund, warum er genau so einen Job macht.

»Was ist das für ein Kollege, welche Firma, wie weit?«, will er wissen.

»Um die Ecke, ein Verkäufer, T-Punkt!«

»Mein Handyakku spinnt in letzter Zeit!«, sagt der kleine Mann. »Läuft nur noch eine Stunde, obwohl er ganz neu ist!«

»Ich kümmere mich drum!«

Der kleine Mann schaut in einen großen Terminkalender und ist einverstanden, da sein nächster Termin ohnehin in der Nähe sei.

Letztendlich ist es mein bebrillter Kollege Volker, der zähneknirschend vor den Augen des kleinen Mannes eine Online-Überweisung über 561 Euro ausfüllt.

»Na, hätten wir das ja doch noch hingekriegt«, sagt der kleine Mann, steckt seinen fabrikneuen Handyakku ein und mir seine Visitenkarte zu.

»Wenn Sie mal ein besonderes Angebot haben für diese Handy-Organizer, dann können Sie mich anrufen. Die sollen ja sehr praktisch sein!«

»Das mache ich gerne«, lüge ich, halte ihm überfreundlich die Ladentür auf und speichere die Nummer in meinem Handy, um ihn fortan jede Nacht gegen zwei Uhr mit anonymen Anrufen zu belästigen. Ich gehe zum Wasserspender und fülle mir einen halben Tropfen Quellwasser in ein Papierhütchen. Von meinem Kollegen Volker strahlt eine gewisse Nervosität aus, die bis zu meinem Wasser-spender herüberreicht. Irgendetwas ist passiert, da gibt's kein Vertun, es liegt was in der Luft, ich kann es spüren.

»Geh mal zur Chefin hoch, Simon!«, zischte er gepresst, als ich mein Hütchen in den Abfall befördere.

»Was ist denn?«, flüstere ich.

»Da sind Leute bei ihr, die dich sprechen wollen!«

»Oh! Und wo ist Flik?«, flüstere ich.

»Ist krank, kommt später«, lautet die knappe Antwort.

Gott sei Dank. Ich muss erst mal meine eigene Birne sortieren, bevor ich ihm gegenübertrete. Wird sicher nicht leicht, die Zusammenarbeit mit Flik, nach dem ganzen Mist. Ich werfe meine Tasche hinter den Verkaufstresen, als mir Volker ein weiteres Mal zuflüstert, dass ich zur Eule soll. Mehr kann er nicht sagen, denn der erste Kunde, ein pubertierender Schulschwänzer mit einer dicken, weißen Plastikjacke, ist in den Laden gekommen und überprüft nun das Gewicht unserer funktionsuntüchtigen Handymodelle. Er wäre nicht der Erste, der so debil ist, eines davon zu klauen.

»Ach, Simon?«, wiederholt Volker gespielt freundlich.

»Ja?«

»Schaust du gerade mal zur Chefin hoch?«

»Sehr gerne«, sage ich und zeige ihm meinen Mittelfinger. Der schwach begabte Schulschwänzer muss grinsen.

Stöhnend schleiche ich mich die zwei Treppen hoch, allerdings nicht zu meiner Chefin, sondern in unseren Aufenthaltsraum. Ich schiebe die Tür auf und taste nach dem Lichtschalter. Flackernd springen die Neonröhren an. Es riecht nach schimmelndem Müll und kaltem Rauch. Seltsam, hier war auch noch keiner. Ich stelle das Fenster auf Kipp, gieße mir eine Tasse Kaffee ein und lasse mich in einen Korbstuhl fallen.

Gerade als ich mein Handy auf den fleckigen Tisch lege, klingelt es. Paula steht auf dem Display. Ich gehe nicht ran. Ich nehme einen Schluck Kaffee und spucke ihn sofort wieder aus, weil er wie ein albanischer Kaninchenfurz schmeckt. Wahrscheinlich von Samstag! Ich stelle die Kanne weg, atme dreimal tief durch und schleppe mich hoch ins Eulenbüro. Die Tür ist nur angelehnt, und ich höre Stimmen. Oha! Die Eule hat Herrenbesuch! Seltsamerweise kommen mir die Stimmen sogar bekannt vor. Ich atme noch mal tief durch, setze mein unverbindliches Verkäuferlächeln auf und drücke die Tür auf. Als ich sehe, wer da ist, zieht es mir sämtliche Stockwerke des Gebäudes unter meinen ungeputzten Adidas-Sneakern weg. Vor der Eule sitzen die beiden Betonpullover aus dem Spanischkurs. Diesmal allerdings in Polizei-Uniform.

»Ah!«, sagt Malte.

»Ha!«, grinst Broder.

»Oh!«, sage ich.

Meine Chefin sagt nichts.

Ich taste nach einem Stuhl, um mich zu setzen, denn mir wird ein wenig schummrig ums Gemüt. Irgendetwas Matschiges macht sich um meine Knie breit, und auch im Kopf summt es plötzlich wie in einem Elektrizitätswerk. Ist das schon dieser Tinnitus, von dem alle reden? Ich setze mich vorsichtig.

»Na? Nach dem Kurs noch ein bisschen Spaß gehabt, Nils?«, fragt mich Malte.

Die Eule schaut auf und zieht ihre Stirn in Falten. »Nils?«, fragt sie.

Ich kann nicht glauben, dass ich im Spanischkurs letzte Woche den halben Abend neben zwei Bullen gesessen habe. Ich werde diesen Soyjulián verklagen, weil er keine Berufe mit uns durchgenommen hat!

»Sie wissen, warum wir hier sind?«, fragt mich Malte.

»Hausaufgaben abschreiben vielleicht?«, feixe ich.

Die beiden schütteln den Kopf.

»Vielleicht eine andere, noch pfiffigere Idee?«, fragt mich Broder.

»DSL-Anschluss funktioniert nicht?«, tippe ich.

»Das mit dem Telefon ist gar nicht so schlecht!«, konstatiert Broder, während die Eule wieder auf ihren Schreibtisch starrt und auf einem Block herumkritzelt.

»Ich weiß es nicht!«, gebe ich zu, weil das offenbar das ist, was die beiden Schwachköpfe hören wollen. Durch die Bürojalousie sehe ich Marcia in ihrer Starbucks-Uniform.

Sie schäumt wie immer Milch, nur diesmal scheint sie weiter weg als sonst, fast wie in einer anderen Dimension. Ein Fall für Captain Future? Die Eule legt ihren Stift weg und steht auf. Huh! Jetzt wird's unangenehm!

»Simon, als ich gesagt habe, du sollst dich um den Handyvertrag mit der Achtjährigen kümmern, da hab ich nicht gemeint, dass du in das Haus einsteigst, sondern dass du mit den Eltern redest!«

Daher weht der Wind. Ich hatte die Sache komplett vergessen.

»Ich hab die Sache eben auf meine Weise geregelt«, verteidige ich mich.

»Ich muss Sie darauf hinweisen«, unterbricht mich Betonbulle Malte, »dass Sie Beschuldigter in einem Strafverfahren sind und sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht zum Tathergang äußern müssen! Personalausweis, bitte.«

Was ist das denn für eine Wortwahl? Beschuldigter in einem Strafverfahren? Kein Wunder, dass der solche Schwierigkeiten mit Spanisch hat. Sein Deutsch versteht ja schon keiner! Irritiert ziehe ich mein Portemonnaie aus meiner Hose und durchwühle es nach meinem Perso. Ich finde ihn hinter meinen vier Videotheken-Mitgliedskarten und einem Friseur-Rabattheft und gebe ihn an Malte weiter.

»Haben Sie einen Anwalt?«, fragt er mich.

»Was will ich denn mit einem Anwalt? Ich kann auch ohne fremde Hilfe reden! «

»Dann tun Sie das doch mal«, raunzt er mich an und hält meinen Perso direkt vor seine speckige Kassenbrille. »Seit drei Jahren abgelaufen, aber eindeutig Simon Peters!«, lacht er. Hahahaha! Das ist dann wohl so eine Art Bullenhumor. Ich stelle mir die Frage, was denn so schrecklich komisch daran ist, wenn ein Ausweis abgelaufen ist.

Ich hab das dringende Bedürfnis, ein paar Sachen klarzustellen. Weil ich aber immer noch ein bisschen durcheinander bin, kriege ich nur ein »Ich ...« heraus. Dafür sage ich das Wort so lange hintereinander auf, bis mir Bulle Broder ins Wort fällt.

»Fangen wir doch mal ganz einfach an. Wo waren Sie heute Morgen?«

»Zu Hause!«

»Wir waren auch bei Ihnen. Warum haben Sie nicht aufgemacht?«

»Ich dachte, Sie wären die Müllabfuhr!«

»Vorsichtig! «

»Was genau ist denn jetzt das Problem? Ich weiß gar nicht ...«

»Das hier ist das Problem!«, grinst Betonbulle Malte und schiebt eine Kassette in den Bürovideorecorder der Eule.

Ich stelle die komplett unnötige Frage »Was ist das?«, denn nach einigen Streifen und Schnee auf dem Bildschirm weiß ich, was es ist: ein Video von mir, das eine Überwachungskamera im Flur des Hauses aufgenommen hat, in dem ich mir den Vertrag und das Handy gemopst habe. Das Bild ist grün und erinnert mich an die CNN-Bombenbilder aus dem ersten Irakkrieg. Leider ist die Qualität besser. Vier Augenpaare starren auf den Bildschirm, als ich besoffen im Flur zur polyphonen Handymelodie von Ricky Martin singe und tanze. Die beiden Betonbullen machen sich nicht mal die Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Die Eule schaut betröppelt aus dem Fenster. Offenbar kennt sie das Video schon.

»Netter Hüftschwung!«, sagt der Betonbeamte Broder. »Das ist das erste Beweismittel, das wir auch noch als Salsakurs nutzen können!«, scherzt sein Kollege.

Ich lache mich tot, du Arsch.

»Schauen Sie doch mal hin, Herr Peters, jetzt kommt die beste Stelle!«

An der »besten Stelle« stehe ich, mit meinem Handy im Anschlag, neben der Tür zum Arbeitszimmer, rufe »FBI! Freeze you mother-fuckers!« und kicke mit großer Geste die Tür auf.

»Müssen wir das unbedingt zu Ende gucken?«, winsle ich.

»Also, wir und die Kollegen, wir sehen das immer wieder gerne!«, freut sich Broder.

Ich hätte die beiden Volldeppen im Kurs doch noch mehr verarschen sollen.

»Ach Simon!«, seufzt meine Chefin. »Was machst du denn immer so einen Mist?«

»Ich konnte ja nicht wissen, dass die mich auf Video aufnehmen!«, wehre ich mich. Die Eule steht auf. Ihre sonst so weißen Bäckchen strahlen jetzt in einem hellen Rojo.

»Du kannst doch nicht nachts in das Haus eines Kunden einsteigen und ein Handy klauen!«

»Ich hab nix geklaut. Ich habe es zurückgekauft! Da muss ein Euro auf dem Tisch gelegen haben!«

»Und wenn Sie 1000 Euro hingelegt hätten«, schaltet sich Broder ein, »Einbruch bleibt Einbruch!«

»Das war kein Einbruch. Die Tür war offen«, protestiere ich. »Und wie kommen Sie überhaupt darauf, dass ich hier arbeite, im T-Punkt?«

Stöhnend verdreht Broder die Augen.

»Erstens haben Sie an diesem Abend >Telekom, die machen das< auf den Anrufbeantworter gerülpst, dann haben wir das Band der kleinen Ulrike vorgespielt, die hat Sie auch erkannt, und dann haben wir Sie letzte Woche auch noch im Jonny Turista gesehen.«

Einmal erkannt hätte gereicht. Aber ich Depp muss mich ja dreimal erkennen lassen.

Betonbulle Broder drückt auf Stopp und entnimmt die Videokassette. »Wie auch immer«, sagt er, »ich denke, die restlichen Fragen stellen wir auf der Wache!«

»Wie ... Wache?« Jetzt rutscht mir endgültig das Herz in die Jeans.

Das mit der Wache scheint für alle im Raum so selbstverständlich zu sein, dass mir keiner antwortet. Oder bin ich plötzlich unsichtbar? Gibt es mich vielleicht schon gar nicht mehr? Ich beiße mir in den Arm, was sehr wehtut, mich aber ungemein erleichtert, denn offenbar gibt es mich noch. Aber Wache? Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht auf einer Wache. Komme ich ins Gefängnis? Wenn ja, wie lange? Vor ein paar Wochen hab ich einen Bericht über ein Gefängnis bei stern-TV gesehen, das hat mir gar nicht gefallen. Das Klo in der Zelle hatte nämlich keinen Deckel, und so was macht mich wahnsinnig. Broder und Malte stehen auf, und ich bin sehr froh, dass mir keiner der beiden Handschellen anlegt.

»Was passiert jetzt?«, fragt die Eule.

Gute Frage. Das würde ich auch gerne wissen.

»Wir bringen ihn zur Wache, nehmen alles zu Protokoll, und wenn alles glatt läuft, haben Sie ihn am Nachmittag wieder.«

Die Eule nickt stumm und schaut aus dem Fenster. Irgendwie tut sie mir Leid. Dann gehe ich mit Broder und Malte aus dem Büro. Als wir die Treppe runtergehen, kommt uns Flik entgegen. Er kriegt seinen Mund gar nicht mehr zu, als er mich zusammen mit Malte und Broder in Uniform sieht.

»Alles klar, Flik?«, sagt Malte.

»Was ...?«, fragt Flik.

»Hast deinen Kollegen bald wieder, Amigo«, lacht Malte und klopft Flik jovial auf die Schulter. Muy bien! Ich habe selten so eine gute Parodie einer Salzsäule gesehen wie in dieser Sekunde von Flik.

Ich darf, zum ersten Mal in meinem Leben, auf der Rückbank eines Streifenwagens Platz nehmen. Keiner sagt ein Wort, lediglich der Polizeifunk quäkt ab und an. Ein graues, fast irreales Köln zieht am Seitenfenster vorbei. An einer Kreuzung überquert ein lachendes Pärchen mit einem Adventskranz die Straße. Ganz bestimmt werden sie ihn in ihre gemeinsame Wohnung tragen, und dann werden sie auf den ersten Advent warten und eine Kerze anzünden und so was sagen wie: >Oh ... schon wieder erster Advent, das Jahr ging ja schnell vorbei.< Zum Kotzen ist so was! Der Streifenwagen bleibt sehr lange stehen an dieser Ampel, aber die Stadt zieht weiter vorbei, immer weiter, mit all ihren hässlichen Nachkriegsbauten und langweiligen Modeketten, die es in jeder Stadt gibt, und mit all ihren gehetzten Menschen, die es auch in jeder Stadt gibt und die immer irgendwohin müssen, statt mal eine Sekunde irgendwo zu bleiben. All dies zieht vorbei wie in einem bizarren Traum, in dem ich gar nicht mehr vorkomme. Irgendjemand hat mich rausgenommen aus dem Society-Monopoly, und jetzt muss ich entweder eine Runde aussetzen, oder ich bleibe draußen, bis ich zufällig drei Mal eine Sechs würfle. Ich hab aber keine Würfel. Kopf oder Zahl? Wenn ich gewinne, darf ich nach Hause, und alles wird gut. Wenn ich verliere, muss ich in den Knast. Bitte gehen Sie direkt dorthin! Ob Lala auch im Gefängnis putzt? Vielleicht komme ich ja auch endlich aus dem Vertrag mit meinem Schwulen-Fitnessstudio, wenn ich im Knast sitze.

Wir biegen in eine Hofeinfahrt, und dann hält der Wagen neben vielen anderen Polizeiwagen, und ich muss wieder Treppen steigen. Die Treppen sehen genauso aus wie im Laden, und dann werde ich vor einen schlecht gelaunten, dicken Mann mit einer großen Brille gesetzt, der alle Sachen, die ich sage, in einen schmutzigen Computer tippt und mich dabei nur zwei Mal anschaut. Ich beantworte alle Fragen wie unter Hypnose. Dann sagt der dicke Mann irgendwas mit Staatsanwaltschaft und Anklage erheben und dass ich vorgeladen würde und mit einer Geldstrafe zu rechnen hätte. Ich frage, ob ich jetzt ins Gefängnis komme, und er sagt, dass das unwahrscheinlich wäre. Ich sage »Das ist schön«, und ein paar Fragen später darf ich gehen, und ich sage »Auf Wiedersehen«.

Ich brauche eine knappe Stunde zurück zum T-Punkt-Laden, weil ich zu Fuß gehe. Eine knappe Stunde, nur um zu erfahren, dass ich nicht mehr im T-Punkt arbeiten werde.

»Es tut mir Leid«, seufzt die Eule, und ich habe den Eindruck, dass die Geschichte sie schlimmer trifft als mich.

»Das war nicht meine Entscheidung, Simon. Ich kann da im Moment echt nichts für dich machen.«

»Ich weiß«, sage ich, und »es tut mir auch Leid«.

»Du musst dich um dich kümmern«, beschwört mich die Eule.

»Mach mal Urlaub, entspann dich, denk nach.«

»Ich komm doch gerade aus dem Urlaub!«, sage ich.

»Dann fahr zu deiner Schwester ins Krankenhaus, die braucht dich jetzt!«

»Stimmt!«, sage ich. »Da könnte ich wohl mal hinfahren ...«

»Ach Simon«, seufzt die Eule, »wir bleiben in Kontakt, ja?«

Natürlich.

Ich stehe auf und sage »Na, dann ...«

Die Eule erhebt sich auch. Sie lächelt mich sogar an. Leicht fällt es ihr nicht.

Dann sagt sie auch »Na, dann ...«.

Ich frage mich, ob ich sie zurück in den Stuhl schubsen oder umarmen soll. Ich tue keines von beiden. Ich gehe nur.

Leise, wie ein Einbrecher, schleiche ich mich die Treppen zum Hinterausgang hinunter. Nicht, dass ich auch noch Flik in die Arme laufe. Ich will nur nach Hause.

Ich drücke auf Simon Peters, als ich vor den Klingeln meines Apartmentblocks stehe. Ich klingle zwei Mal, drei Mal, doch es ist keiner da. Enttäuscht gehe ich weiter und überlege, was ich solange machen soll, bis ich zurück bin.

Nach ein paar Metern bleibe ich stehen und halte die Luft an. ICH bin Simon Peters. Vielleicht sollte ich ja tatsächlich sofort wieder in den Urlaub. Nachdenklich gehe ich zurück, schließe die Eingangstüre auf und fahre hoch in den vierten Stock. Ich stehe im wahrsten Sinne des Wortes neben mir, kann mich selbst sehen, wie ich meinen Schlüssel ins Schloss stecke, die Tür öffne und eintrete. Hallo? Bin ich das? Ich zwicke mich wieder, und wieder tut es weh. Also bin ich ich. Aber war ich es auch, der mich gezwickt hat? Alles, was ich tue, kommt mir seltsam gedämpft vor, fast so, als hätte mich jemand in einen großen Fernsehkarton mit viel Blubberfolie gepackt. Ganz vorsichtig lasse ich meine Tasche zu Boden gleiten. Ich müsste meine Händewaschen und dringend auf die Toilette. Aber ich habe keine Kraft dazu. Stattdessen setze ich mich langsam auf meinen Jennylund-Sessel. Neben mir liegt Sorge dich nicht, lebe. Ich greife nach dem Buch und schlage es an irgendeiner Stelle auf.

Wenn Sie eine Zitrone haben, machen Sie Zitronenlimonade daraus.

Mensch! Wenn ich das zwei Tage früher gewusst hätte, dann wäre das alles nicht passiert! Ich schmeiße das Zitronenbuch in Richtung Plasmafernseher und zünde mir eine Kippe an.

DIE GLÜHWÜRMCHENSEILBAHN

Das ist La Dolce Vita für zu Hause! steht auf der Verpackungsrückseite meiner Prosciutto-Rucola-Pesto-Pizza. Ich lese weiter. Genießen Sie die sorgfältige Auswahl bester Zutaten auf einem Boden, dem das einzigartige Aromabackverfahren spezielle Frische und Knusprigkeit verleiht.

Fast habe ich ein schlechtes Gewissen wegen der Pizza. Darf ich so etwas sensationell Einzigartiges überhaupt kaufen, geschweige denn aufessen? Ganz alleine? Hat der Hersteller nicht das Recht, seine Kunden ein wenig auszusieben, wenn er sich schon so eine unglaubliche Mühe macht mit der Auswahl der Zutaten und diesem einzigartigen Aromabackverfahren? Womöglich hat er wochenlang nicht geschlafen, weil sein neues Aromabackverfahren dem Boden noch keine spezielle Frische und Knusprigkeit verliehen hat. Und dann komme ich! Nichts ahnend und unwürdig schlurfe ich in den Supermarkt, packe gleich den gesamten Vorrat dieser kulinarischen Revolution in meinen Einkaufswagen und schaffe ihn klammheimlich in meine Wohnung, um ihn ganz alleine in mich hineinzustopfen.

»Es tut mir Leid!«, sage ich laut.

Dann packe ich die restlichen sechs Prosciutto-Rucola-Pesto-Pizzas in den Gefrierschrank und stelle die zweite Einkaufstüte auf meine Küchenablage. Sieben Mal Schlemmerfilet Blattspinat. Vorsichtig schließe ich die Tür. Dann falte ich die beiden Einkaufstüten sorgfältig zusammen und lege sie zu den anderen in die dritte Schublade von unten. Die Zitrone lege ich in den Obstkorb. Außerdem habe ich gekauft: H-Milch und zwei Packungen Cornflakes. Angeb-lich mit Überraschungen drin. Da bin ich ja mal gespannt. Ich knipse das Licht in der Küche aus und gehe ins dunkle Wohnzimmer. Kurz nach fünf und schon dunkel. Nichts Ungewöhnliches für Anfang Dezember. Am Fenster ziehe ich die Lamellen meiner Alujalousien auseinander, sodass ich auf die Straße schauen kann. Aufgeregte Passanten wuseln kreuz und quer, mit und ohne Taschen. Ein blondes Mädchen in einem roten Mantel steht rauchend vor der Bäckerei und telefoniert. Vielleicht verabredet sie sich gerade mit einem netten Jungen aus ihrer Klasse, wer weiß? Ich bekomme Lust, auch eine zu rauchen, ziehe meine Finger aus der Jalousie und taste nach der Packung. Dann lasse ich mich behutsam in meinen Sessel sinken und ziehe an meiner Zigarette.

Selbst verordnete Sozialquarantäne. So könnte man bezeichnen, wozu ich mich entschlossen habe. Bis auf weiteres werde ich diese Wohnung nicht mehr verlassen. Es hat ja ohnehin keinen Zweck. Den Job bin ich los, meine Freunde sind sauer, und pleite bin ich sowieso. Das Handy hab ich ausgestellt, das Telefonkabel ausgesteckt. Nicht einmal die Müllabfuhr kann noch Kontakt zu mir aufnehmen, wenn sie die Tonnen in den Hinterhof stellen will, denn die Türklingel ist auch abgeklemmt. Ich brauche Ruhe. Viel Ruhe. Ich muss nachdenken. Nein, ich muss erst mal in einen Zustand kommen, in dem ich nachdenken kann. Ich habe genug zu essen gekauft und genug Zigaretten, das Wichtigste überhaupt. Ich muss schmunzeln über das, was ich da denke. Zigaretten sind das Wichtigste überhaupt? Vermutlich ja wohl nicht. Was ist das Wichtigste? Ich? Der Weltfrieden? Oder das spezielle Aromabackverfahren, das den Pizzaböden diese einzigartige Knusprigkeit verleiht?

Ich drücke meine Zigarette aus und gehe in die Küche. Es ist kurz vor sechs. Um sechs werde ich den Ofen vorheizen und meine erste Pizza zubereiten. Erst dann, das habe ich mit mir so vereinbart, darf ich eine Flasche Rotwein aufmachen. Es wird von nun an jeden Tag das Gleiche sein: morgens Cornflakes, mittags Schlemmerfilet, abends Pizza. So werde ich wenigstens nicht abgelenkt durch unnütze Gedanken, wie »Ohh ... was koch ich mir denn heute?«.

Jetzt ist es 18 Uhr. Ich freue mich, denn das heißt, dass ich den Ofen vorheizen darf. Eine knappe Stunde später esse ich die Pizza. Sie schmeckt gut, und der Teig ist tatsächlich knusprig, vermutlich wegen des Aromabackverfahrens. Ich räume den verbröselten Teller in die Küche und mache mir eine Flasche Rotwein auf. Ich kann sie nicht zu Ende trinken. Schon nach der halben Flasche überfällt mich eine bleischwere Müdigkeit und zwingt mich ins Bett. Ich hab die Decke noch nicht ganz bis zu meinem Kopf hochgezogen, da schlafe ich auch schon.

Ich träume, dass ich mit der Glühwürmchenseilbahn auf eine Insel mit dem Namen Sombrero fahre. Ich soll dort meinen neuen Job antreten. Wie eine endlose Weihnachtslichterkette zieht sich die Glühwürmchenseilbahn über das dunkle Meer. Die Gondeln schaukeln hin und her, und ich habe große Angst, mitsamt meiner kleinen Kabine abzustürzen. An Schlaf ist nicht zu denken, weil die Glühwürmchen viel zu viel Licht machen. Dafür kann ich sehen, wer in den Gondeln hinter mir und vor mir sitzt. Hinter mir sitzt Flik. Er hat einen blauen Schalke-Fanschal aus seiner Gondel hängen und schläft. Vor mir telefoniert Paula. Ich winke ihr, doch sie ist zu beschäftigt. Ich hätte auch gerne ein Telefon. Dann könnte ich Flik anrufen und mich entschuldigen, für die Sache mit Daniela. Oder Paula fragen, wie lange die Fahrt noch geht, das weiß die bestimmt. Ich müsste nämlich dringend mal. Außerdem würde ich gerne wissen, ob man die Gondel essen kann. Das Material sieht fast so aus wie dieser Pizzateig. Ich breche ein Stückchen ab und beiße hinein. Er ist sehr knusprig. Wusste ich's doch!

Ich wache auf, weil ich auf die Toilette muss. Es ist gerade mal sechs Uhr morgens. Als ich mich wieder ins Bett lege, kann ich nicht mehr einschlafen. Schade, ich wäre gerne noch ein wenig in der Glühwürmchenseilbahn gefahren und hätte an meiner Gondel geknuspert. Gegen sieben Uhr stehe ich schließlich auf und setze mich in meinen Single-Sessel. Das Frühstück habe ich für acht Uhr angesetzt, ich habe also noch Zeit. Ich zünde mir meine erste Zigarette an und schaue mich im Zimmer um. Nicht wirklich gemütlich eingerichtet, stelle ich fest, sondern eher gleichgültig. Wie von jemandem, der sich nicht dafür interessiert. Das stimmt. ICH habe das Wohnzimmer eingerichtet, und es hat mich wirklich nicht interessiert. Es ist das erste Mal, dass ich das Zimmer bewusst anschaue. Den silbernen Deckenfluter. Hässlich, eigentlich. Und die zwei beige-farbenen Ledercouchen, die viel besser in das Foyer einer Werbeagentur passen als in ein Wohnzimmer. Die Wände erstrahlen in kaltem Arztweiß, nach einer Pflanze sucht man vergebens. Poster oder Bilder: Fehlanzeige. Ist mir wahrscheinlich bisher gar nicht aufgefallen, weil mein riesiger Flachbildschirm immer lief. Diese Wohnung sagt nichts aus, sie ist unpersönlich und kalt wie ein möbliertes Cityapartment, in das sich japanische Messebesucher für fünf Tage einmieten und dann wieder gehen. Nur dass ich seit drei Jahren hier wohne. Und einen Japaner hatte ich auch nie hier.

In der Ecke, neben meinem Riesenfernseher, steht noch immer das Total-Gym-Paket, das ich auf Phils Karte bestellt habe. Komisch. Der hat sich auch nicht mehr gerührt die letzten Tage. Vielleicht hat er mich ja aufgegeben. Das wäre so schlecht nicht, dann müsste ich ihm die Kohle nicht zurückzahlen. Ich rauche zu Ende, gehe in die Küche und hole ein Messer. Damit öffne ich vorsichtig den Total-Gym-Karton und lege alle Teile sorgfältig nebeneinander. Die Anleitung lege ich daneben. Dann fange ich an. Einmal schraube ich Teil 24C versehentlich mit 11A zusammen, ärgere mich aber nicht, sondern trenne die beiden Stahlrohre einfach wieder und schaue noch mal in die Anleitung. Bei einem Bauteil mit der Bezeichnung 30 C bekomme ich einen kleinen Wutanfall, weil ich nun die Ikea-Regalnummer meines Sessels wieder weiß. Nach fast zwei Stunden bin ich fertig. Das Total Gym ist kleiner, als ich dachte. Womöglich, weil es der winzige Chuck Norris im Fernsehspot so groß hat wirken lassen. Ich binde die Verpackungsreste zusammen und lege sie auf meinen Balkon. Dann erst frühstücke ich. Ich esse eine kleine Schüssel Cornflakes. Während ich esse, suche ich die ganze Packung nach der Überraschung ab. Es gibt keine. Nicht mal eine winzige Überraschung haben sie reingepackt. So was macht mich wütend! Wenn sie keine Überraschung reintun, dann dürfen sie auch nicht draufschreiben, es sei eine drin. Die Überraschung wegzulassen ist vermutlich nur der erste Schritt eines gigantischen Plans der Frühstücksflocken-Mafia, unmündige Konsumenten zu unterjochen. Irgendwann packen sie dann nicht mal mehr Cornflakes rein, sondern Glaswolle oder Stroh, und trotzdem sagt kein Mensch etwas. Ich ärgere mich so sehr, dass ich den Küchentisch verlasse und wieder ins Wohnzimmer gehe.

Ich weiß nicht recht, was ich machen soll. Zum Nachdenken bin ich noch viel zu durcheinander. Also schaue ich aus dem Fenster runter auf die Einkaufsstraße. Ein großer, brauner UPS-Lastwagen steht zwischen der Bäckerei und dem Levi's-Store. Bringt er Jeans oder Mehl? Der Laster fährt weg, ohne dass ich erkennen konnte, was er gebracht hat. Ich setze mich in meinen Sessel und überlege, ob ich traurig bin.

Ich weiß es nicht.

Jeans. Er hat bestimmt Jeans gebracht. Mehl schickt man nicht mit UPS. Ich stehe auf und schaue noch mal aus dem Fenster und tatsächlich: Eine Verkäuferin sortiert neue Jeans ein. Ich nicke zufrieden und setze mich wieder.

Die Zeit bis zum Mittagessen überbrücke ich damit, dass ich mein Bücherregal aufräume und nach Themen ordne. Mein Sorge-dich-nicht-lebe-Buch lasse ich, an der Zitronenstelle aufgeklappt, neben dem Sessel liegen. Mir fällt auf, dass ich sehr viele Reiseführer für Länder habe, in denen ich noch gar nicht war. Die meisten Länder beginnen mit dem Buchstaben S. Ich entdecke sogar ein Buch über die Karibischen Inseln und lege es beiseite. Vielleicht steht ja was über Sombrero drin. Insgesamt elf Bücher haben mit meinem früheren Job zu tun. Ich stecke sie in eine Plastiktüte und lege sie neben die Total-Gym-Verpackung auf den Balkon. Dann heize ich den Backofen vor. Es gibt Schlemmerfilet Blattspinat. Dafür, dass es eine halbe Ewigkeit dauert, bis es fertig ist, schmeckt es nur okay. Außerdem bemerke ich, dass ich vergessen habe, Beilagen zu kaufen. Nach dem Essen rauche ich eine Zigarette und schaue wieder aus dem Fenster. Ich ahne, wie sich Rentner fühlen, die irgendwie den Tag rumkriegen müssen. Ein Kissen lege ich mir allerdings noch nicht unter meine Ellenbogen, so weit ist es dann doch noch nicht.

»So weit ist es dann doch noch nicht!«, sage ich leise zu mir selbst.

Die beiden Verkäuferinnen in der Bäckerei neben dem Jeans-Store besprühen die Schaufensterscheibe mit einem weihnachtlichen Schneespray. Insgesamt sprühen sie genau acht Sterne und einen Schneerand an den Rahmen. Dahinter hängen sie eine Lichterkette aus Nikoläusen. Ich bin nicht besonders begeistert, weil ich jetzt viel schlechter in die Bäckerei sehen kann. Enttäuscht setze ich mich auf meinen Sessel. Ich könnte das Total Gym ausprobieren, habe aber keine Lust. Wahrscheinlich weil ich gerade gegessen habe. Ich überlege, ob ich nicht doch kurz mein Handy einschalten sollte, um zu sehen, ob mich jemand sprechen wollte. Letztendlich habe ich aber doch zu viel Angst davor, dass mich keiner sprechen wollte, und ich lasse es aus. Mir kommen Zweifel an meiner freiwilligen Einigelung. Was mache ich bloß in den nächsten Tagen? Doch in den Urlaub? Obwohl – da war ich ja gerade und bin fix und fertig zurückgekommen. Außerdem hätte ich mich bei der Polizei abmelden müssen, wegen der ganzen Handygeschichte. Ich mag gar nicht dran denken. Ich muss erst mal zur Ruhe kommen.

Und das geht wohl am besten in gewohnter Umgebung. Um mich abzulenken, stecke ich alle Handtücher, die ich finde, in meine Waschmaschine und stelle den Temperaturregler auf 60 Grad. Vier Extraprogramme habe ich zur Auswahl: Vorwäsche, Einweichen, Kurz und Flecken. Den Fleckenknopf kenne ich noch gar nicht. Ob das funktioniert? Ich öffne die Trommel, ziehe ein weißes Handtuch heraus und gieße ein wenig Rotwein von gestern darüber. Dann stopfe ich das Tuch wieder in die Maschine, gebe Waschmittel dazu und stelle den Regler auf das Programm Flecken. Zur Belohnung für die tolle Idee mache ich mir einen Kaffee und setze mich in den Sessel. Erst als ich den Kaffee leer getrunken habe, rauche ich eine Zigarette. Ich muss sparsam mit den wenigen Aktivitäten umgehen, die mir geblieben sind.

Als ich die Zigarette ausdrücke, komme ich auf die Idee, meine Küche auszumisten. Ich nehme mir einen Stuhl aus dem Wohnzimmer und mache mich an das oberste Fach meines Lebensmittelregals. Unglaublich, was sich da im Laufe der Jahre angesammelt hat. Die meisten Sachen müssen weg, weil sie abgelaufen sind. Ich eliminiere eine ranzige Packung Parboiled Reis von Reisetti, mindestens haltbar bis 12/01, eine Dose Thunfisch, verfallen im Oktober 02, und Mildes Weinsauerkraut aus Omas Krautfässchen aus dem Jahr 00. Mein bisheriger Spitzenreiter ist eine vertrocknete Plastikpressflasche Flotte Biene Gebirgsblütenhonig, die laut Aufdruck bereits im Jahr 99 ungenießbar wurde. Nach einer Stunde Sortieren und insgesamt sechs Lebensmittelfächern halte ich den Sieger des kleinen Ekelwettbewerbs in meiner Hand, haltbar bis Juli 1995. Es ist eine rotgelbe Packung Maggi-Fix-Broccoli mit dem Aufdruck Ideal auch für Blumenkohl. Eine Packung aus dem letzten Jahrtausend, das muss man sich mal reintun! 1995, das heißt auch, dass ich mit dieser Packung insgesamt drei Mal umgezogen bin! Unglaublich! Was ich an meiner Packung Maggi-Fix-Broccoli-Gratin allerdings noch verwunderlicher finde, ist der kleine Zusatzvermerk: Ideal auch für Blumenkohl. Also was jetzt? Für das EINE Gemüse ist es gemacht, aber für ein ANDERES ideal? Oder ist es scheißegal, auf welches Gemüse man das Zeug kippt? Wenn dem so wäre, dann hätte man statt Maggifix-BROCCOLI-Gratin auch Maggifix-BLUMENKOHL-Gratin auf die Packung schreiben können mit dem Hinweis Ideal auch für Broccoli, aber sicher gab es da eine Marktforschung vorher, und man hat sich dann letztendlich für Broccoli entschieden, weil Blumenkohl irgendwie zu deutsch und altmodisch klingt und an die Nachkriegszeit erinnert und an frisch gebohnerte Mietshäuser und Trümmerfrauen womöglich, die sich mit einer Kohlsuppe stärken mussten, bevor sie das kaputtgekloppte Deutschland wieder aufbauten. Es ist eine Frechheit, mit welch eiskaltem Kalkül die international operierende Gratin-Mafia durch ihre fahrlässigen Produktbezeichnungen zum Identitätsverlust einer ganzen Nation beiträgt! Ich notiere mir die Nummer des Maggi-Kochstudios, bevor ich die Tüte neben die Herdplatte lege. Als ich mir zur Belohnung für die tolle Putzarbeit eine Zigarette anzünden will, piepst mir meine Waschmaschine, dass ich sie gefälligst ausräumen soll. Ich ziehe die feuchten Handtücher in einen Plastikkorb und freue mich, dass die Rotweinflecken tatsächlich rausgegangen sind. Dann verteile ich die Handtücher zum Trocknen in der Wohnung. Meine Stimmung steigt noch weiter, als ich sehe, dass es schon fünf Uhr durch ist. In einer Stunde kann ich schon den Ofen vorheizen, für meine Pizza!

Ein guter Tag. Ich bin zufrieden. Die Pizza schmeckt nicht ganz so gut wie am Vorabend. Dafür beruhigt es mich, im Vorfeld zu wissen, wie sie schmeckt. Diesmal schaffe ich meine Flasche Wein. Ich trinke sie ganz langsam auf meinem Sessel. Ich würde mich schrecklich gerne entspannen, kriege aber keinen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Alles kreist und flattert um mich herum: Daniela, Flik, die Eule und mein verlorener Job, der kleine Mann, die Betonpullover, die Cornflakes ohne Überraschung und keifende Trümmerfrauen, die aus einer Marketingsitzung bei Maggi gejagt werden. Ich trinke ein wenig schneller, um die seltsamen Gedanken zu verjagen. Es klappt, und eine Weile später schlafe ich auf meinem Sessel ein. Gegen drei wache ich auf und gehe ins Bett. Vielleicht kann ich meine steinalte Maggi-Fix-Packung ja bei ebay versteigern? Drei, zwei, eins — deins! Ätsch. Dann hätte ich wieder Geld. Es gibt immer ein paar verrückte Texaner, die Millionen für so was zahlen. Ich bin froh, dass mein Rückzug schon die ersten Früchte trägt. Wenn man nur ein wenig nachdenkt, dann lösen sich die Probleme von alleine. Auch ohne Zitronenlimonade. Während ich mir ausmale, was ich mit dem ganzen ebay-Geld mache, kippt mir ein finster blickendes Sandmännchen eine LKW-Ladung Kies in die Augen.

Ich träume ein zweites Mal von der Glühwürmchenseilbahn und der Sombrero-Insel. Behutsam senkt sich meine Gondel auf die winzige Insel. Ein warmer, feuchter Wind fegt durch meine durchlöcherte Kabine, von der ich die meisten Seitenteile aufgegessen habe. Als ich in der Station ankomme, wiegt ein Thunfisch im Anzug meine Gondel und stellt mir 92 Euro für den aufgegessenen Knusperteig in Rechnung. Ich protestiere, weil ich das viel zu teuer finde im Preis-Leistungs-Verhältnis. Der Thunfisch weist darauf hin, dass der Teig mit einem speziellen Aromabackverfahren gefertigt wurde und seinen Preis wert sei. Ich bekomme einen kleinen Tretroller mit dem Kennzeichen 30 C und folge einem kleineren Thunfisch zu meinem Arbeitsplatz, einer riesigen Maggitüte, in etwa so groß wie eine Doppelgarage. Wir stellen die Roller ab und gehen in die Tüte hinein. Der Thunfisch hat einen Oberlippenbart und riecht nach billigem Sportparfüm. Er deutet auf eine Vielzahl von Werkzeugen, reicht mir eine Säge und legt sie auf einen Baumstamm. »Mach mal halb lang!«, sagt er. Ich nicke und säge den Stamm in der Mitte durch. Der Thunfisch wirkt zufrieden und braust mit seinem Roller davon. Kurz danach werden noch viele weitere Baumstämme angeliefert, die ich alle halb so lang sägen muss, wie sie sind. Ich bin froh, dass ich so eine leichte Aufgabe bekommen habe, und arbeite fleißig und konzentriert. Am Abend kommt der Thunfisch wieder, um meine Arbeit zu begutachten. Kopfschüttelnd betrachtet er die Baumstämme. Auch ich erkenne jetzt, dass ich eigentlich nie die Mitte getroffen habe, sondern immer entweder zu viel oder zu wenig abgesägt habe.

»Ach Simon«, seufzt der Thunfisch, »was machst du denn immer so einen Mist?« Dann knattert er mit seinem Roller in Richtung Glühwürmchenseilbahn davon. Ich säge mir einen Single-Sessel, setze mich hinein und träume, dass ich aufwache.

Es ist wieder exakt sechs Uhr. Ich bin ein bisschen sauer auf mich, weil ich nicht länger schlafe. So werde ich mich nicht sonderlich erholen. Ich fühle mich schlaff und abgespannt. Ob es von meinem Traum kommt? Immerhin habe ich sehr viel gesägt. Ich wundere mich, dass ich mich so genau an alles erinnern kann, und setze einen Kaffee auf.

Während die Maschine vor sich hin röchelt, gehe ich auf den Balkon und betrachte den Hinterhof. In meinen Shorts und meinem Al-Bundy-Shirt ist mir eiskalt. Ich gehe trotzdem erst rein, als ich meine Zigarette zu Ende geraucht habe. Und wieder habe ich keine Ahnung, was ich machen soll bis zum Frühstück. Ich könnte das Frühstück vorziehen, aber dann wäre die Zeit so lang bis zum Mittagessen. Also greife ich nach meinem Buch, in dem steht, wie man sich keine Sorgen macht. Das mit der Zitrone ist mir ein echtes Rätsel. Wenn Sie eine Zitrone haben, machen Sie Zitronenlimonade draus. Ja, und dann? Ich lege das anstrengende Buch zurück, denn vor dem Lesen bräuchte ich noch ein Buch, in dem steht, wie man die Energie aufbringt, so ein Buch ganz durchzulesen. Dann habe ich eine tolle Idee. Ich messe die Anzahl der Füße, die ich brauche, um vom Fenster des Wohnzimmers bis zum Balkon in der Küche zu kommen. Ohne Schuhe sind es 37 Fuß. Mit meinen gelben Adidas sind es 41 Fuß. Ich wiederhole die Messung mit allen Schuhen, die ich habe. In meinen Lederschuhen brauche ich nur 39 Fuß, in meinen roten Puma nur 38. Seltsam, wo mir doch alle Schuhe gleich gut passen! Wäre das nicht eine tolle Fernsehshow? Jetzt bei RTL: Miss deine Wohnung! Und gleich im Anschluss: Miss deine Wohnung – Der Talk. Ich sollte Phil anrufen und ihm die Idee verkaufen! Ich gehe zu meinem Schreibtisch und notiere mir die Idee.

Als es acht Uhr ist, esse ich meine Cornflakes. Diesmal reiße ich die zweite Packung auf, doch auch in dieser ist keine Überraschung. Jetzt reicht es aber wirklich! Wenn die Frühstücksflocken-Mafia denkt, dass das müde Fußvolk sich alles gefallen lässt, dann hat sie sich getäuscht. Ich schalte mein Handy ein, stelle die SMS-Optionen auf »an gesamtes Adressbuch senden« und tippe »ACHTUNG! KEINE ÜBERRASCHUNG!«. Dann klicke ich auf SENDEN und schalte das Handy wieder aus. Ich räume das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, gehe noch mal auf den Balkon und brülle »Keine Überraschung!« in den Hinterhof. So kann ich noch mehr Menschen vor den üblen Tricks der Flocken-Mafia warnen. Und es könnte ja durchaus sein, dass in irgendeinem der vielen Apartments jemand von Kellogg's wohnt und jetzt ein schlechtes Gewissen bekommt. Mir fällt auf, dass es auf meinem Balkon nach McDonald's riecht. Seltsam, die Filiale ist über hundert Meter weit weg! Wenn ICH was kochen würde, was man hundert Meter weit riecht, dann stünde in zehn Mi-nuten das Gesundheitsamt vor der Tür. Ich gehe wieder ins Warme und mache nichts. Mittags gibt es ein Schlemmerfilet Blattspinat, das exakt so schmeckt wie am Vortag. Den Nachmittag kriege ich rum, indem ich am Fenster stehe und runter auf die Straße schaue. Zwischen 14 Uhr und 14 Uhr 30 laufen 256 Passanten von links an der Bäckerei vorbei. Interessant! Ich hole einen Taschenrechner und rechne hoch, wie viele das an einem Tag wären, indem ich die Zahl mit 48 multipliziere. Ich komme auf 12 288 Passanten, die von links an der Bäckerei vorbeilaufen. Mir ist klar, dass das so natürlich nicht stimmen kann, weil nachts kaum Passanten an der Bäckerei vorbeilaufen, schon gar nicht von links. Ich überlege mir, wie viele es in Wirklichkeit sind. Muss ich 50% abziehen von meinem Ergebnis oder gar 60%? Ich beschließe, der Sache auf den Grund zu gehen. Da ich keine 24 Stunden lang Passanten zählen kann, überlege ich mir, jeweils nur die ersten 30 Minuten einer Stunde zu zählen und die Zahl dann zu verdoppeln. So habe ich eine relativ präzise Hochrechnung der tatsächlichen Passantenzahl, weitaus präziser als Fernsehein-schaltquoten oder Wahlhochrechnungen um 18 Uhr noch was. Also hole ich mir einen Block und einen Stift und warte darauf, dass ich loslegen kann. Ich zähle 312 Passanten zwischen drei und halb vier, 367 zwischen vier und halb fünf und so weiter.

Weil ich so viel arbeite, kann ich natürlich nicht mehr einfach essen, wann ich will. Ich muss umdisponieren, muss flexibel sein und unheimlich spontan. Das erwarte ich von mir. Also heize ich den Ofen für meine Pizza kurz vor der Sechs-Uhr-Schicht vor, schiebe die Pizza um genau 18 Uhr 30 in den Ofen (277 Passanten) und esse sie um Viertel vor sieben. So bin ich um Punkt sieben bereit für die nächste Schicht. Am Abend trinke ich in den Halbstundenpausen jeweils ein kleines Glas Wein und male mit einem dicken Edding eine xy-Achse auf meine weiße Wohnzimmerwand. So kann man auch graphisch exakt sehen, was die nackten Zahlen nicht preisgeben: einen dramatischen Einbruch der Passanten nach Geschäftsschluss! Um halb zehn rutscht die Zahl zum ersten Mal unter 100! Kein Wunder, dass alle Geschäfte um 20 Uhr schließen — es kommt ja ohnehin keiner mehr vorbei. Eine Information, für die der deutsche Einzelhandel sicherlich Millionen zahlen würde. Ich notiere sie neben meiner RTL-Idee. Gegen Mitternacht versuche ich, in meinen Pausen ein wenig zu schlafen. Ich stelle meinen Wecker jeweils auf 5 vor, damit ich zu Schichtbeginn wach bin und weiterzählen kann. Aber ich schlafe nicht in den Pausen, ich bin viel zu aufgeregt. Das Klingeln um 4 Uhr 55 höre ich nicht mehr, so müde bin ich. Um neun Uhr wache ich neben meinem Fenster und meiner Passantenliste auf. Traumlos. Ich räkle mich und überlege, ob ich nicht noch einmal ins Bett gehen soll. Wenn ich in der kommenden Nacht um Punkt fünf Uhr weiterzählen würde, dann könnte man die Hochrechnung immer noch gut gebrauchen. Sicher gibt es keinen großen Unterschied zwischen dem Passantenaufkommen am Mittwoch- und am Donnerstagmorgen. Ich lege mich ins Bett und schlafe sofort wieder ein.

Ich träume von einer Gerichtsverhandlung auf Sombrero, bei der ich wegen Falschsägerei zu drei Jahren Haft ohne Klodeckel verurteilt werde. Es gibt Geschworene wie in den USA, allesamt Thunfische in Anzügen. Der Richter ist Flik. Er verkündet das Urteil und klopft mit seinem blauen Schalke-Hammer. Tock, tock, tock. Immer und immer wieder. Ich schreie noch, dass ich unschuldig bin, da wache ich zitternd auf. Ich ziehe die Bettdecke über meinen Kopf, aber das Klopfen bleibt. Seltsam. Ich spitze kurz unter der Decke hervor. Alles ist wie immer in meinem Zimmer, keine Geschworenen, kein Richter, kein Fernsehteam. Ganz bestimmt höre ich noch die Tonspur aus meinem Thunfisch-Traum, sehe aber schon die Bilder aus der Realität. Tock, tock, tock macht Richter Flik. Das Klopfen kommt von der Tür, kein Zweifel. Ich schaue auf die Uhr. Der kleine Zeiger sitzt auf der Zehn. Um die Zeit sind Gerichtsverhandlungen durchaus denkbar, das hab ich schon im Fernsehen gesehen. So leise es geht, krabble ich aus meinem Bett und schleiche mich zur Tür.

Tock, tock, tock.

Vorsichtig schaue ich durch den Spion. Vor der Tür steht Flik und schaut auf den Boden. Seltsamerweise hat er keine Richterklamotten an, sondern sieht aus wie immer. In der Hand hält er einen bunten Karton. Ob er mich gehört hat? Ich schiele noch einmal durch den Spion. Flik schaut immer noch stumpf auf den Boden. Vorsichtig schleiche ich zurück ins Schlafzimmer und rolle mich unter der Decke zusammen.

»Simon! Bist du da?«, ruft Flik, ohne zu klopfen. Ich nicke kurz. Gruselig, wenn man nichts sagen darf. Der arme Kerl! Kommt zu mir, und dann mache ich nicht auf. Sicher macht er sich Sorgen. Ich werde ihn irgendwann die nächsten Monate anrufen und alles erklären.

»Siiiiiimmon, verdammt noch mal!«

Das Klopfen verstummt. Dann höre ich, wie die Aufzugtüre auf- und wieder zugeht. Gott sei Dank! Ich entrolle mich und atme tief durch. Nach einer Weile schlafe ich sogar noch mal ein und verschlummere glühwürmchenfreie zwei Stunden.

Es ist schon fast Schlemmerfilet-Zeit, als ich wieder aufwache und mich in die Dusche schleppe. Eine gute Minute stehe ich ratlos in der Kabine und rätsele, warum das Duschen heute so komisch ist. Dann erst weiß ich, woran es liegt, und drehe das Wasser an. Ich muss laut lachen, denn ich habe eine Idee, wie ich der internationalen Kosmetik-Mafia ein Schnippchen schlage, und das ganz dreist um die Mittagszeit! Ich nehme nämlich das Duschgel für meine Haare! Und mit dem Shampoo reibe ich meinen Körper ein. Schon nach Sekunden merke ich: absolut kein Unterschied. Ha! Wer hat's erfunden? Der Simon! Wenn das alle machen würden, also Duschgel und Shampoo einfach so vertauschen, dann gäbe es ein ganz schönes Durcheinander bei L'Oreal und Co. Dann säßen die schön blöd da, in ihren riesigen Konferenzräumen, und ein Krisengespräch würde das nächste jagen. Auf der anderen Seite: Das wäre denen bestimmt eine schöne Stange Geld wert, wenn ich auf diese Revolution verzichten würde. Ich muss mir das dringend aufschreiben, nicht, dass ich es vergesse. Als meine Haut schrumpelig wird, drehe ich das Wasser aus und steige auf meinen gelben Duschteppich. Dann drehe ich mich noch einmal um und starre auf den Hahn. Wer sagt eigentlich, dass das Wasser aus sein muss, wenn man aus der Dusche steigt? Sollte Wasser nicht fließen, so wie es überall in der Natur geschieht? Ist Wasser nicht Leben? Und ist Leben nicht Bewegung? Ich drehe die Dusche wieder an, trockne mich ab und schlüpfe in einen kackbraunen Adidas-Retro-Trainingsanzug. Als mir einfällt, dass ich es bin, der das ganze Wasser irgendwann zahlen muss, drehe ich die Dusche wieder aus.

Ich gehe in die Küche und bereite einen Kaffee vor. In meinem Obstkorb liegt noch immer die Sorge-dich-nicht-lebe-Zitrone. Ich überlege, ob ich mir nicht doch eine Limonade machen soll. Immerhin ist das Buch ein Bestseller, und womöglich hilft es mir ja. Also drücke ich die Zitrone in ein Glas, gebe Zucker dazu und ein bisschen Wasser. Dann rühre ich das Ganze um und kippe es runter. Es schmeckt zum Kotzen. Vielen Dank, Herr Carnegie. Ich stelle das Glas zur Seite und heize den Ofen vor, für mein Schlemmerfilet Blattspinat. Dann schlurfe ich zurück ins Wohnzimmer, setze mich auf mein Total Gym und rauche eine Zigarette. Ich nenne die Übung Upper Nicotine Push.

Als ich zehn Minuten später den tiefgefrorenen Schlemmerfilet-Klotz auf den Rost lege, klopft es wieder an der Tür.

Tock, tock, tock.

Können die mich nicht einmal im Jahr in Ruhe lassen? Ich schleiche zum Türspion. Davor stehen Flik und Paula, begleitet von zwei Männern in Feuerwehruniform. Was soll das denn jetzt? Es brennt doch nix! Und das Wasser hab ich auch wieder abgedreht!

Tock, tock, tock.

In Zeitlupe schleiche ich in mein Schlafzimmer und schließe leise die Tür. Dann krabble ich unter die Decke und gehe in meine neu entwickelte Rollschutzhaltung. Selbst durch die Decke und die beiden Türen kann ich Fliks Stimme hören. Er klingt noch ein wenig unentspannter als am Morgen.

»Simon, mach auf, du Idiot!«

Eine andere Männerstimme ruft: »Herr Peters, sind Sie zu Hause?« Ich schüttle mit dem Kopf und ziehe die Beine noch ein wenig fester an. Weil ich nämlich für fremde Männerstimmen in Uniformen schon gar nicht zu Hause bin.

»Wenn Sie nicht öffnen, müssen wir die Tür aufbrechen!«, ruft die Männerstimme.

Das ist mir natürlich auch nicht recht. Mir wird klar, dass ich irgendetwas machen muss, damit die Situation nicht eskaliert. Ich schiebe meinen Kopf unterm Bett vor und schreie, so laut ich kann: »Keiiiiiiin Feuer!«

Das hat gesessen! Stille. Dann ruft Flik noch einmal »Simon?« und macht wieder tock, tock, tock. Ein paar Sekunden später macht ein Gerät Krrrrrrzzzzzttttt, und dann quietscht irgendwas. Und dann ist Fliks Stimme ganz nahe.

»Siiiimon! Bist du da? Simon?«

Die Männerstimme ruft noch einmal »Herr Peters?«.

Steif wie ein tiefgefrorenes Schlemmerfilet in seiner Aluschale liege ich in meinem Bett. Wenn ich ganz still bin und mich nicht bewege, dann verschwinden die Stimmen ja vielleicht wieder. Ich atme auch nicht mehr, vorsichtshalber.

»Der Ofen ist an«, höre ich Paula sagen, und Flik stöhnt: »Dann muss er ja wohl irgendwo sein!«

Ich halte noch immer die Luft an. Ein paar Sekunden schaffe ich noch. Die können mich gar nicht finden. Dann reißt mir jemand die Decke weg, und ich blicke in die verdutzten Gesichter von Flik und Paula.

»Und? Alles klar?«, frage ich lachend, als würde ich den beiden in der Mittagspause begegnen. Dann bekomme ich von Flik eine geschossen.

Endlich!

VOLLIDIOT

Eine bedrückende Stille hat sich über meine kleine Küche gelegt. Paula und ich sitzen am Esstisch. Das heißt, sie sitzt und raucht. Ich sitze einfach nur. Das Einzige, was ich höre, ist das Uhrwerk meiner Küchenuhr.

Klack, klack, klack.

Sekunden wie Ohrfeigen. Ich starre durch Paula und die Stille hindurch in ein schummriges Nichts. Wenn ich nicht wüsste, dass ich in meiner Küche sitze und meine beste Freundin Paula mir gegenüber, ich würde wetten, ich wäre gar nicht hier.

Klack, klack, klack.

Ich wünschte, die Sekunden wären Wochen. Dann würde sicher viel schneller alles besser werden. Vielleicht kommt Flik ja zurück und scheuert mir noch eine. Doch der ist gegangen und hat seine Männerstimmen in Uniform gleich mitgenommen. Geblieben ist sein buntes Paket, eine 300-Euro-Rechnung der Feuerwehr und Paula in einem weißen Top mit Glitzersteinchen. Miami Beach steht drauf. Warum nicht? Klingt ja auch besser als Eisenhüttenstadt.

Ich hab nicht die Spur einer Idee, was ich sagen soll. Dann rückt Paula ihren Stuhl zurecht, atmet tief durch und sagt:

»Ist das jetzt so, wie du dir deinen 30sten vorgestellt hast?«

»Wie?«, frage ich irritiert. Völlig entgeistert starre ich Paula an.

Klack, klack, klack.

Ich springe auf und schalte mein Handy ein. Endlose Sekunden später vermeldet das Display den 14. Dezember. Das ist mein Geburtstag, da gibt's kein Vertun.

»Oh!«, sage ich nur, dem Ereignis reichlich unangemessen. Dann kratze ich mich am Kopf und gucke zu Paula, die mich anschaut, als wäre ich ein Alien, der gerade durch die Dunstabzugshaube in die Küche gekrochen ist und nun auf dem Ceran-Kochfeld hockt.

»Nee, oder?«, stöhne ich.

»Doch!«, sagt Paula, steht auf und umarmt mich. Ich lege das Handy weg und drücke sie ganz fest zurück.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, du Bekloppter!«, flüstert sie mir ins Ohr. Ihre Stimme flattert ganz komisch, während sie das sagt. Auf mein Handy prasseln inzwischen die Kurzmitteilungen ein.

Pieppiep, pieppiep, pieppiep, pieppiep ...

Gedankenfetzen wirbeln, mein Puls rast, und was mein Magen macht, ist auch nicht so angenehm. »Dreißig!«, stöhne ich und lasse Paula los, um mich wieder auf meinen Küchenstuhl gleiten zu lassen.

»Dreißig!«, nickt Paula und setzt sich ebenfalls.

Ich greife noch mal nach meinem Handy und sehe 14 Anrufe in Abwesenheit. Kurzmitteilungen habe ich über zwanzig. Ich klicke in eine von Lala: Soll ich sauber machen morgen? Gehst du nicht ans Telefon. Alles Gute zu Geburtstag auch! Lala.

Ich stelle mir Lala vor, wie sie eine riesige Geburtstagstorte anhebt, um darunter zu saugen. Paula unterbricht diesen nutzlosen Gedanken.

»Wir haben uns echt Sorgen gemacht, Simon! Flik und ich und ... Phil auch, wir haben ... na ja, wir haben schon das Schlimmste vermutet!«

»Dass ich bei vodafone anfange?«

»Idiot! Du weißt schon ...!«

»Dass ich mich vor 'ne Bahn werfe? Keine Sorge. Nur, weil ich meinen Job los bin, ums Verrecken keine Frau finde und mir das Finanzamt bald den Stuhl unterm Arsch wegpfändet, nehm ich mir doch nicht gleich das Leben!«

»Gut!«

Ich zünde mir eine Zigarette an und nehme einen tiefen Zug.

»Was sollte denn eigentlich diese Keine-Überraschung-Kurzmitteilung? Flik und Phil haben sich auch gewundert.«

»Das war eine Warnung!«, sage ich

»Natürlich«, nickt Paula verständnisvoll. Ich bin froh, dass wenigstens Paula mich noch versteht. Ich will aufstehen, doch irgendwie fühle ich mich schwach und energielos, so wie die beknackten Hasen in dem 80er-Jahre-Duracell-Spot, die auf den letzten Metern schlappmachen, weil sie sich irgendeine Scheiß-Batterie in den Bauch haben klemmen lassen. Mit meiner linken Hand streife ich über meinen Bauch. Vielleicht hab ich ja auch so 'ne Scheiß-Batterie? Dann fällt mir mein Geburtstag wieder ein.

»Dreißig!«, sage ich.

»Jetzt komm, es gibt Schlimmeres!«, versucht Paula zu trösten.

»Ach ja? Was denn?«

»Vierzig! «

»Ich lach mich tot!«

Ein Luftzug geht durch die Küche, und die Wohnungstür schlägt gegen die Wand. Wie in Zeitlupe stehe ich auf, um sie zu schließen. Ich fühle mich immer noch matt. Kann mir nicht irgendjemand so eine Duracell in den Bauch klemmen? Die Tür lässt sich nicht schließen, weil das Schloss herausgebrochen wurde. Weltklasse! Ich drücke sie zu, so weit es geht, und werfe ein paar von meinen schwereren Schuhen davor, damit sie nicht wieder aufspringt. Dann gehe ich wieder in die Küche und werfe einen prüfenden Blick in den Ofen. Das Schlemmerfilet ist knusprig braun und fertig zum Aufessen. Schade, dass ich gar keinen Hunger mehr habe.

»Fertig!«, sage ich monoton, klappe den Ofen auf und ziehe mir meinen gelben Bart-Simpson-Hitzehandschuh über, um meinen Fertigfisch zu entnehmen. Paula sitzt regungslos auf ihrem Stuhl und beobachtet, was ich mache. Offenbar wirke ich auf sie tatsächlich wie ein Alien. Ein weißer, dünner Alien mit einer Scheiß-Batterie im Bauch ...

»Wir haben dir ein Geschenk mitgebracht!«, sagt Paula und hält den bunten Karton hoch. Ich lasse die heiße Aluschale auf meinen Teller gleiten und ziehe den Handschuh aus.

»Für mich?«

»Ja klar für dich! Von Flik, Phil und mir!«

»Ihr schenkt mir was?«

»Du hast Geburtstag. Und wir sind deine Freunde. Und Geburtstag plus Freunde ist gleich Geschenk, meistens jedenfalls!« Das macht Sinn. Also nehme ich das schuhkartongroße Etwas und setze mich. Ich reiße die Verpackung weg und klappe den Deckel auf. Drin liegt ein dünnes weißes Papier, in das irgendein blauer Stoff eingewickelt ist. Der Stoff ist ein Schalke-Trikot. Ich drehe es rum. Unter der Nummer 30 steht statt eines Namens VOLLIDIOT.

»Das war Fliks Idee!«, rechtfertigt sich Paula, und weil ich schaue wie eine Schildkröte vor einer ICE-Trasse, ergänzt sie: »Ich glaube, er hat's als Friedensangebot gemeint. «

»Danke!«, sage ich und lege das Trikot weg. »Ein wirklich schönes Geschenk ist das!«

»Siehste mal!«, sagt Paula und tippt mit ihrem Finger gegen meine Schlemmerfiletkruste.

»Meins!«, sage ich und ziehe das Essen noch näher zu mir.

Dann pikse ich ein paar Löcher in die Kruste, damit der Dampf rauskann.

»Bin ich denn ein Vollidiot?«, frage ich leise.

»Um ehrlich zu sein: in der letzten Zeit schon!«

»Echt?«

»Ja! «

»Mhhhh ...«

Für eine Weile schweigen wir. Ich halte das Trikot noch einmal hoch und sehe, dass Flik, Paula und Phil mit einem dicken schwarzen Stift auf der Rückseite unterschrieben haben. Ich schlucke und lege das Trikot so vorsichtig zurück in den Karton, als könne es kaputtgehen. Dann blicke ich zu Paula, die ihre Augen nicht von mir genommen zu haben scheint.

»Und was soll ich jetzt machen?«, frage ich. »Hast du einen Paula-Tipp? So einen, der funktioniert. Ich meine, irgendwie bin ich ja ... also ...«

»Am Arsch?«

»Ja!«

»Das sehe ich auch so.«

»Na, dann ...«

Ich erhebe mich und gehe zum Fenster. Passend zu meiner Stimmung hat mir die Graphikabteilung von Gott den Hinterhofhimmel in ein tristes Grau eingefärbt. Auf einem Balkon, gute fünfzig Meter entfernt, steht ein Arzt in einem weißen Kittel und raucht. Vielleicht sieht er mich ja, wenn ich winke, und verschreibt mir einen Eimer Antidepressiva? Ich drehe mich wieder um zu Paula.

»Was soll ich machen?«

»Sei einfach mal eine Weile kein Vollidiot!«

»Oh! Das ist gut. Das ist ein guter Tipp!«

»Siehste? Jetzt bist du schon wieder ein Vollidiot!«

»Tschuldige!«

»Schon okay ...«

Ich zünde mir noch eine Zigarette an und versuche, möglichst viel Nikotin auf einmal zu inhalieren. Angeblich braucht das Gift ja nur ein paar Sekunden von der Lunge ins Hirn, wo es dann seine beruhigende Wirkung entfaltet. Ich warte, doch es geschieht nichts.

»Wie geht das denn, dieses Nicht-Vollidiot-Sein?«

»Keine Ahnung, was meinst du denn, wie's geht?«

»Die Welt umarmen, die Menschen lieben, immer lächeln?«

»Vollidiot! «

»Täglich beten, viel Obst essen und keine Zigarettenstummel auf Kinderspielplätze werfen?«

»Auch Vollidiot!«

Ich zucke mit den Schultern.

»Dann weiß ich's nicht! Sag's mir!«

»Es würde zum Beispiel schon mal helfen, wenn du mal eine Sekunde am Tag nicht nur an dich denkst.«

»Soll ich dir meinen Peugeot leihen?«

»Du weißt, was ich meine!«

»Ja«, sage ich ruhig. »Vermutlich weiß ich, was du meinst! «

Ich schaue noch mal zum Balkon mit dem Arzt. Er ist weg.

»Was hast du denn gemacht, die ganze Zeit?«, will Paula wissen.

»Passanten gezählt und die Wohnung ausgemessen, hauptsächlich! «

Schweigen.

»Aber du weißt doch, wie groß sie ist.«

»In Quadratmetern schon, aber nicht in Fuß!«

»Oh!«

Wir schauen uns schweigend an.

»Hast du heute schon was vor, Simon?«

Ich schüttle meinen Kopf.

»Wir würden heute gerne was mit dir unternehmen!«

»Mit mir??«

»Ja, mit dir! Oder willst du an so einem wichtigen Geburtstag Passanten zählen?«

»Eigentlich nicht!«

Paula steht auf und nimmt ihre Jacke vom Stuhl.

»Also. Hast du eine Idee für deinen großen Abend? Irish Pub oder so?«

Ich bin verwirrt. Das geht mir denn doch alles zu schnell. So viele Informationen in so kurzer Zeit: Feuerwehr, Geburtstag, Vollidiot, und dann wollen auch noch Leute mit mir feiern!

»Pub ist doof!«, sage ich.

»Wo dann?«

»Ich ruf dich an und sag Bescheid!«

»Okay«, sagt Paula und geht ein paar Schritte zu dem, was einmal eine Tür war.

»Und ... wir fänden es alle ganz gut, wenn du ausnahmsweise mal auftauchst, wenn wir uns wegen dir treffen!«

»Ich hab's kapiert. Und du? Wohin gehst du?«

»Auf die Arbeit. Sagst du mir Bescheid, wo wir uns treffen?«

»Ich sag Bescheid!«, sage ich.

»Gut! Und ... das wird schon alles wieder!«

»Danke fürs Geschenk!«

Ich schiebe die Tür auf, Paula drückt mich noch einmal ganz fest, und dann ist sie weg. Das ist der Punkt, an dem ich beschließe, meinen Geburtstag zu feiern.

DAS GURKENRENNEN

Der kleine Mann ist mein erster Gast an diesem Abend. Statt seines schwarzen Aktenkoffers hat er einen Kasten Kölsch mitgebracht. Ich gebe ihm die Hand.

»Das ist ja eine Überraschung!«, stottere ich.

»Na aber hallo«, lacht der kleine Mann und will meine Hand gar nicht mehr loslassen. »Ist das ein Schalke-Trikot, was Sie da anhaben?«

»So ähnlich«, sage ich und beobachte, wie der kleine Mann versucht, die Tür wieder zu schließen.

»Kaputt!«, sage ich.

»So was!«, sagt der kleine Mann, bevor er sein Jackett ablegt. »Das ist das erste Mal, dass ich von jemandem eingeladen werde, dem ich den Strom abstellen wollte! Aber herzlichen Glückwunsch erst man.«

Ich bedanke mich, wir stellen den Bierkasten auf den Balkon und machen die ersten beiden Flaschen auf. Was zum Teufel ist hier los? Wie kommt der Kerl in meine Wohnung? Und woher weiß er überhaupt, dass ich Geburtstag habe? Ich brauche nicht lange zu warten, bis ich es erfahre:

»Na, wie soll ich sagen ... Das war ja mal eine überraschende Kurzmitteilung von Ihnen!«, plaudert der kleine Mann und nimmt sich eine Hand voll Flips aus einer Glasschale.

»Sekunde!«, sage ich. Dann hechte ich ins Wohnzimmer und suche panisch nach meinem Handy. Es liegt auf dem Sessel. Zitternd klicke ich mich bis zu meinem SMS-Ausgangsordner. Tatsächlich, meine Einladung ging auch an die Nummer des kleinen Mannes. Als ich mich bis zu den SMS-Optionen vorarbeite, braut sich in mir eine düstere Vorahnung zusammen. Und so ist es dann auch. Ich habe die Einladung zu meiner kleinen improvisierten Feier nicht nur an Flik, Phil und Paula geschickt, sondern an alle. Das ist ganz eindeutig die Schuld von Kellogg's! Hätten sie eine klitzekleine Überraschung in ihre strohigen Pappflakes gepackt, dann wäre das hier nicht passiert. Bebend vor Wut, hacke ich mich quer durch meinen Handyspeicher. Bei den meisten Nummern dürfte die SMS eigentlich gar nicht ange-kommen sein, weil es Festnetznummern sind. Hoffe ich zumindest, als ich mich am Eintrag Taxi Köln vorbeiklicke. Wie viele Taxifahrer hat Köln? Tausend? Zweitausend? Da sähe ich alt aus, mit meinem Kasten Bier.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, ruft der kleine Mann aus der Küche.

»Alles wunderbar!«, rufe ich zurück. Das Ausmaß dieser Lüge wird mir klar, als ich ein vertrautes Sumpfhuhn-Gackern aus dem Flur höre. Und noch bevor ich mich aus dem Fenster stürzen kann, stehen eine bis zum Anschlag aufgedonnerte Dörte und eine hübsch herausgeputzte Lala in der Tür. Lala präsentiert zwei große Schüsseln Nudelsalat, und eine ebenso aufgetakelte wie nervöse Dörte übergibt mir zwei Flaschen Weißwein.

»Die musste gleich in Kühlschrank tun«, begrüßt sie mich, »sonst werden die ganz warm, weißte?« Erst dann fällt ihr offenbar wieder ein, warum sie meine SMS-Einladung überhaupt bekommen hat, und kickst mir ein schrilles »Ach du lieber Himmel! Glückwunsch, Simon!« ins Ohr. Als wäre das nicht schon schlimm genug, bekomme ich noch einen Kuss auf die Wange gedrückt.

Wie unter Schock nehme ich Lalas Nudelsalate und Glückwünsche entgegen und flüchte zum kleinen Mann. Dann stelle ich die drei einander vor und lege Partymusik auf.

Die Tür geht auf, und herein kommen zwei alte Schulfreunde, die ich seit dem letzten Klassentreffen nicht mehr gesehen habe.

»Mensch, Simon, dass es dich noch gibt!«, ruft der eine, und ich sage: »Klar gibt es mich noch!« Ich reiche ihnen zwei Bierflaschen aus dem Kasten vom kleinen Mann und starte einen Smalltalk über unseren Physiklehrer. Als dann Minuten später noch mein Vermieter, die eine Karnevalsaffäre und zwei T-Punkt-Kunden auftauchen, gebe ich jegli-chen Widerstand auf. Wie hätte es bei mir auch anders laufen sollen? Von wegen »Keine Überraschung«. Ich sollte mich mit dem Gedanken abfinden, das personifizierte Murphy's Law zu sein.

Ich nehme Glückwünsche von meinem Vermieter entgegen, und die Karnevalsaffäre fragt mich, ob ich wisse, wer sie sei.

»Du bist die besoffene Sonnenblume, die am Friesenwall vor den Friseur gekotzt hat«, sage ich und liege richtig. Die Sonnenblume nickt kichernd und überreicht mir eine Flasche Sake. Dann gehen wir in die Küche. Die Party läuft gut an, und eigentlich steht keiner doof rum und sagt nichts, außer mir manchmal. Der Schulkamerad, der sich gewundert hat, dass es mich noch gibt, haut mir auf die Schulter. Er sieht so aus wie früher, nur mit weniger Haaren und dickerem Schnauzbart. Fränkischen Akzent spricht er auch noch, der Arme. Nur wie er heißt, hab ich vergessen.

»Subber Einladung, glasse, echt! Und Glückwunsch nochämal! «

Ich bekomme eine grüne Karte mit dem Vermerk von Hannes und Enno für Simon.

»Hier, mach auf! « Wüsste ich also wenigstens schon mal, dass einer von den beiden Hannes heißt und der andere Enno. Ich reiße den Umschlag auf und halte einen Gutschein für ein Jahresabonnement einer Zeitschrift in der Hand, die sich Wild & Hund nennt. Wusste gar nicht, dass es so eine Zeitschrift überhaupt gibt. Der Schulfreund schaut mich mit erwartungsvoller Miene an.

»Danke, geil!«, sage ich.

»Ich bin doch jetzt da in der Redaktion, weißde, Simon, da komm ich leichder an die Abos ran. Freusde dich gar ned?«

Offenbar sehe ich nicht allzu glücklich aus mit meinem Wild & Hund-Geschenkabonnement.

»Schon. Doch!«, sage ich.

»Du, Simon, wenn de lieber ä Jahr Fisch & Fang oder Kraut & Rüben ham willst, des wär kei Broblem!« Ich schüttle den Kopf. »Wild & Hund ist sensationell«, sage ich. Der andere Klassenkamerad kommt hinzu und erwähnt, dass er an dem Abo auch beteiligt ist. Ich sage »Danke, lieb von euch«, befestige den Gutschein an meiner Magnetwand und weiß immer noch nicht, wer von beiden Hannes ist und wer Enno. Ich gehe auf den Balkon und nehme mir eine weitere Flasche Kölsch aus dem Kasten, der schon fast leer ist. Daneben steht allerdings schon ein neuer. Mein Vermieter klopft mir auf die Schulter und fragt mich, was mit der Tür passiert wäre. Ich sage ihm, dass ich ihm das später erkläre, und drücke ihm lächelnd eine Flasche Weißwein und einen Korkenzieher in die Hand. Lala inspiziert inzwischen die Anzahl der noch verbliebenen Küchenrollen. Neben ihr begackert Dörte den kleinen Mann. Aus meinen Boxen wummert irgendein Wir-sind-Helden-Song. In dieser Sekunde kommen Flik und Paula durch die Tür. Flik sieht mich sofort und grinst, weil ich mir sein Geschenk übergestreift habe. Ich drücke erst Paula, dann, nach kurzem Zögern, auch Flik.

»Tut mir Leid wegen der Ohrfeige«, sagt er, als er mir gratuliert, »aber die hattest du dir echt verdient! Ach ja, und ... herzlichen Glückwunsch!«

Ich schubse ihn lachend weg.

»Nimm dir ein Bier und halt die Klappe!«

»Wer sind eigentlich die ganzen Leute?«

»Die Leute? Das ist mein Handyspeicher. Also alle, die da drin sind.«

»Alle?«

»Fast. Ich denke, die meisten kommen noch!«

»Du bist bekloppt!«

»Weiß ich selbst! Bier is auf'm Balkon.«

Und tatsächlich. Immer mehr Leute kommen in meine Wohnung. Mein durchgeknallter Friseur aus Goa, ein weiterer, dicker T-Punkt-Kunde und eine winzige Barkeeperin, die mir irgendwann mal ihre Nummer gegeben hat. Sogar Phil huscht irgendwann durch die Tür. Natürlich erst kurz vor Mitternacht, weil das cooler ist. Und in einem zotteligen Designerhemd, weil das hässlicher ist. Als Entschädigung drückt er mir eine Flasche schottischen Single Malt in die Hand.

»Hier ..., vielleicht brennt der dir die Flausen aus deiner Birne! Glückwunsch.«

Ich bedanke mich und betrachte staunend das Etikett. Der Whiskey ist aus meinem Geburtsjahr und muss ein Vermögen gekostet haben.

»Danke!«, sage ich und klopfe ihm auf die Schulter. »Hey, kein Thema ... und ... wir reden ein andermal, oder?«

»Wäre mir auch lieber!«, nicke ich. Phil entschwindet, um Paula und Flik zu begrüßen, bevor er sich daranmacht, die musikalische Leitung des Abends zu übernehmen. Von Stereo Total und Fanta Vier zu Trance, House und Trip-Hop in zehn Sekunden. Ich frage mich, warum wir uns nie besser verstanden haben. Müsste doch eigentlich ganz problemlos laufen, so eine Männerfreundschaft zwischen Arschloch und Vollidiot. Mein Vermieter zeigt sich zunehmend besorgt wegen des Parketts und der Lautstärke. Ich beruhige ihn mit einer weiteren Flasche Wein und schicke ihn zurück in die Küche, wo er sich kurz darauf angeregt mit Lala unterhält. Gegen eins überrascht mich Popeye aus dem Fitnessstudio. Er schenkt mir zwei 10-Kilo-Gewichtscheiben und quäkt vor Vergnügen, als ich sie aus Spaß fallen lasse. Ich zeige ihm mein Chuck-Norris-Total-Gym, das er sofort ausgiebig testet. Zunächst alleine, dann zusammen mit dem kleinen Mann. Aus der Küche kommt Geschrei und Sumpfhuhngackern. Als ich nachsehe, werfen Phil und Dörte Gurkenscheiben an meine Balkontür und schauen unter lautem Gejohle zu, welche der beiden Scheiben zuerst runtergleitet.

»Simon! Jetzt mach doch mit beim Gurkenrennen!«, gackert Dörte in der ihr eigenen, überaus sympathischen Stimmlage. Ich nehme eine ganze Gurke aus dem Spreewaldtopf und knalle sie gegen die Scheibe.

»Geht nich!«, sage ich trocken, und alle johlen. Mein Vermieter schaut inzwischen auch schon ein wenig schief aus seinem Polohemd. Ich bemerke, dass er seinen Arm um Lala gelegt hat. Da geht doch noch was! Wenn die Arme wüsste, was sie bald putzen muss, immerhin gehören dem Typen mehrere Wohnblocks! Ich kichere mich ins Wohnzimmer. In einer Ecke sitzen Popeye und der kleine Mann und quatschen. Ha! Wusste ich's doch! Als ich checken will, wie lange Phils Trance-CD noch läuft, sehe ich die Eule in meinem Single-Sessel. Ich bin überrascht, weil sie die Einzige ist, die ich nicht habe kommen sehen. Sie trägt eine braune Jeans, einen bunten, engen Pullover und schwarze Pumas. Auch sonst wirkt sie irgendwie verän-dert. Oder einfach nur keine Brille und 5000 Watt weniger im Föhn?

»Simon! Ich hab schon gedacht, du willst mich nicht sehen!«, beschwert sie sich leicht angezickt. Ich setze mich zu ihr auf die Lehne, finde es aber irgendwie komisch, meine Ex-Chefin in meinem Single-Sessel zu sehen.

»Glückwunsch erst mal!«

Weil ich noch immer auf der Lehne sitze und die Eule im Sessel, verläuft die Umarmung etwas umständlich.

»Ich hab dich echt gar nicht gesehen«, entschuldige ich mich. »Bist du schon lange hier?«

»Eine Stunde, fast!«

Jetzt weiß ich, was anders an der Eule ist! »Kontaktlinsen?«, frage ich.

»Seit gestern!«

»Ah ... und andere Frisur auch, oder?«

»Seit vorgestern!«

Weil ich annehme, dass Frauen nach derartig tief greifenden Veränderungen des Erscheinungsbildes sehr sensibel auf jede Art von Kritik reagieren, mache ich ihr das Kompliment, dass sie jetzt nicht mehr so komisch aussieht wie vorher.

»War irgendwie Zeit für einen Wechsel. Ist noch ein bisschen ungewohnt, aber ich fühl mich viel wohler!«

»Steht dir auch viel besser als die riesige Brille«, schieße ich nach.

»Die hab ich noch mit meinem Ex ausgesucht!«

Der Typ muss sie gehasst haben!

»Als ihr noch zusammen wart oder danach?«

»Du bist also immer noch der Alte ...«

Wir gehen in die Küche, um was zu trinken, und ich frage sie vorsichtig, ob sie noch viel Ärger gehabt hätte wegen meiner Handygeschichte. Die Betonbullen seien noch einmal da gewesen und hätten ein paar Sachen gefragt, sonst sei alles beim Alten. Ich bin heilfroh, dass ich nie eine Telefonnummer von den beiden Hackfressen gespeichert habe, sonst stünden sie jetzt auch hier mit ihren albernen Kunstlederköfferchen und ihren verschmierten Fielmann-Brillen. Ich finde eine Flasche mitgebrachten Sekt im Kühlschrank und beginne, den Verschluss aufzuknibbeln.

»Das tut mir Leid, wie das alles gelaufen ist für dich, aber letztendlich...«

»Ist meine Schuld, kein Problem, ich weiß ...«

Mit einem schwachen Plopp kann ich den Korken lösen und schenke uns ein.

»Das war manchmal ganz schön schwer, deine Chefin zu sein!«, seufzt die Eule.

»Kann ich mir vorstellen. Ich hätte dich lieber irgendwie anders kennen gelernt! «

Wir stoßen an.

»Ja«, sage ich. »Jetzt direkt leicht war's nicht mit uns. Du warst immer so ... na ja ... halt so chefig.«

»Aber für mich ist es leicht, so einem Hühnerhaufen wie euch was zu sagen, oder wie?«

»Vermutlich nicht!«

Die Eule entdeckt meine abgelaufene Packung Maggi-Fix für Broccoli, die immer noch an der Spüle liegt. »Hä? Ideal auch für Blumenkohl?«, fragt die Eule.

»So isses«, sage ich, »man kann das Zeug auf beides schütten, Broccoli und Blumenkohl!«

Die Eule schüttelt den Kopf.

»Das ist ja totaler Unsinn! Dann könnten die ja gleich draufschreiben Maggi-Fix für Blumenkohl, ideal auch für Broccoli! «

Ich schaue sie an, als hätte sie gerade verkündet, dass Thüringen eine eigene Weltraumstation ins All schießen will.

Flik geht mit einer Bierflasche an uns vorbei und zwinkert mir zu. Ich versuche, ihm in den Hintern zu treten, bin aber zu langsam. Die Eule kichert und schenkt sich Sekt nach.

»Was hast du denn die ganzen Tage gemacht?«, will sie wissen. »Ans Telefon gegangen bist du jedenfalls nicht. Ich hab's nämlich auch ein paar Mal versucht!«

»Warum das denn?«

»Vielleicht, weil ich wissen wollte, wie's dir geht!«

»Echt?«

»Ja! «

»Das hätte ich nicht gedacht!«

»So ist es aber. Ich weiß, wir haben uns oft gezofft und so, aber ... na ja, ist komisch auf der Arbeit ohne dich!«

»Mhhh ...!«

»Wie geht's dir denn jetzt?«

»Beschissen. Ich hab am Fenster Leute gezählt, die an der Bäckerei vorbeilaufen, und wie viele Füße es vom Balkon bis zum Wohnzimmerfenster sind. Bekloppt, oder?«

»Bei mir sind's 56!«, sagt die Eule.

»Jetzt wirklich?«

»Wenn ich's dir doch sage.«

»Große Wohnung?«

»Kleine Füße!«

Sie hebt einen Fuß in die Höhe und lacht. Meine Fresse. Die ist ja mindestens so verrückt wie ich.

So wie ich.

Mein Herz flüstert: »Guck doch mal!«, und ein heimeliges Gefühl pirscht sich heran.

Die Eule?

»Simon, jetzt guck doch mal!«, zischt mein Herz. JAHAAA!!! Ich guck ja schon!

So wie ich.

Irgendetwas passiert in diesem Augenblick. Irgendwas, auf das ich reagieren sollte. Ich muss was machen, da gibt es kein Vertun, am besten sofort. Die Frage ist nur: Was? Was zum Teufel macht man, wenn man an seinem 30sten Geburtstag plötzlich das Gefühl hat, dass endlich die Richtige vor einem steht? Direkt vor der Nase?

Ganz einfach. Man kratzt seinen ganzen Mut zusammen und schaut zu, dass man sofort Land gewinnt.

Natürlich war das Geschrei groß, als wir plötzlich einfach so abgehauen sind. Doch was kümmert mich das Gezeter der Unwissenden? Es mag klingen wie ein flacher Spruch aus einem billigen Western, aber manchmal muss man einfach exakt das tun, was einem der Bauch sagt. Ganz besonders dann, wenn man plötzlich haargenau weiß, was alles schief gelaufen ist. Und wenn man dann noch die Chance hat, all dies innerhalb kürzester Zeit zu beenden, dann ist es halt mal scheißegal, wenn man um fünf Uhr morgens besoffen seine eigene Geburtstagsparty verlässt.

Wir sind angekommen. Langsam lasse ich den Wagen ausrollen. Als er schließlich zum Stehen kommt, mache ich den Motor aus und blicke in den Rückspiegel.

»Jenny Schlund, du geile Sau!«

Grinsend zünde ich mir eine Zigarette an.

»Ein Glücksbringer warste nicht gerade!«

Ich ziehe den Reißverschluss meiner Daunenjacke hoch, steige aus und lasse meinen Blick über die gewaltige Betonfläche schweifen. Es hat schon etwas Gespenstisches, wenn von dreitausend Ikea-Parkplätzen exakt ein einziger besetzt ist. Besetzt von meinem kleinen, gelben Peugeot, meinem Single-Sessel und mir. Ein rasierklingenscharfer Wind schneidet mir durch Gesicht und Hände, als ich den Kofferraum öffne und Jennylund behutsam entlade.

Ich schlage den Kofferraumdeckel zu und schleppe den schweren Sessel mit unsicheren Trippelschritten einige Parkplätze weiter. Sanft streiche ich ein letztes Mal über die Lehne. Dann erst hole ich das Benzin. Der Sessel saugt sich schnell und problemlos voll. Meine Benzin-Botschaft auf den Asphalt zu gießen ist wegen des eisigen Windes allerdings schon schwieriger. Als der Kanister schließlich leer ist, hole ich meine Digitalkamera und mein rotes Feuerzeug aus dem Wagen. Dann zünde ich den Sessel an. Ein zunächst noch kleines Flämmlein frisst sich recht forsch durch den Bezug hoch zur Lehne.

Um bessere Fotos machen zu können, steige ich auf mein Autodach. Als ich hinunterblicke, brodeln bereits große, wütende Flammen aus dem Sessel, fest entschlossen, den Ursprung meines Unglücks ganz und gar zu verschlingen. Direkt davor lodern die tennisplatzgroßen Buchstaben 30 C. In wenigen Stunden schon werden die ersten ah-nungslosen Mittelklassefamilien in ihren finanzierten Mini-Vans über ein unbedeutendes Häuflein Jennylund-Asche hinwegrollen.

Ich mache insgesamt drei Bilder. Das Schönste schicke ich gleich morgen an den großnasigen Verkäuferzwerg, der mir mit seinem bekackten Sessel das Leben zur Hölle gemacht hat. Eine anonyme E-Mail-Adresse hab ich ja schon: [email protected].

Jetzt haben mich die kleinen Männer da, wo sie mich immer haben wollten. Pünktlich mit 30.

Herzlich willkommen in Singlephase fünf.

ENDE