Ich bin mir ganz sicher, dass es sich um eine Verschwörung handelt. Oder welchen Grund sollte es sonst geben, dass Müllabfuhr und Post immer dann bei mir klingeln, wenn ich nach ein paar Pints im Irish Pub am Morgen mit entsetzlichen Kopfschmerzen im Bett liege und ganz dringend meine Ruhe brauche? Und das, wo ich mich seit Jahren an die wichtigste Regel zur Abwehr der Müllabfuhr-Klingel-Terroristen halte, die da wäre, kein einziges Mal die Tür zu öffnen. Wenn man nämlich nur ein einziges Mal auf das Klingeln eingeht, dann ist man dran, bis ans Ende seiner Tage. Müllabfuhr und Post merken sich so was, schließlich geht es bei denen um jede Sekunde!

Als ich das Kabel für die Sprechanlage herausziehe, überlege ich mir, wie es wäre, wenn ich heute mal wieder im Bett bliebe. Die Entscheidung ist schnell getroffen. Ich werde zu Hause bleiben, einfach so, weil ich's kann. Meinen Spontanentschluss untermauere ich, indem ich mich wieder ins Schlafzimmer schleppe, mir zwei Kissen hinter den Rücken schiebe und den Fernseher einschalte. Mein schnurloses Telefon lege ich für den obligatorischen Krankenanruf auf den Nachttisch. Spätestens bis zehn Uhr sollte ich im Laden Bescheid gesagt haben. Sich krankmelden war schon immer eine lästige Sache. Zu Schulzeiten musste man den Eltern irgendwelchen Quark vor-spielen, jetzt sich selbst. Die Lösung des Problems wäre natürlich, dass man seinen Job gerne macht, aber so was gibt es natürlich nicht. Zumindest hat mir noch nie jemand davon erzählt. Ich zappe mich zu n-tv. Dort purzeln inzwischen die Börsenkurse.

Allianz 106,70 -2,8 %, Bayer 19,30 -4,7 %, Commerzbank 15,90 -1,0 % zeigt das Laufband, und ein aufgeregtes Kartoffelgesicht erzählt den Zuschauern was von Gewinnmitnahmen. Ich frage mich, wie man Gewinne mitnehmen kann, wenn die Kurse fallen. Aber deswegen bin ich ja im Bett, und das Kartoffelgesicht ist bei n-tv und nicht anders-rum. Die Uhr im rechten, oberen Bildrand zeigt 9 Uhr 57 Es wird also langsam Zeit, dass ich mir eine hübsche kleine Krankheit ausdenke. Ich blicke zur Decke und denke angestrengt nach. Gestern stand Verkaufsprofi Simon ja noch recht munter im Frack, also wäre Grippe jetzt nicht die glaubwürdigste Entschuldigung. Die vietnamesische Blitzgrippe? Auch Unsinn. SARS oder AIDS wäre wahrscheinlich auch ein bisschen übertrieben, und AIDA ist bestenfalls ein Clubschiff und keine Krankheit. Pest fände ich lustig, aber womöglich kommen dann zwei Weißkittel vom Hamburger Tropeninstitut, die mich zwei Jahre in Quarantäne stecken, und dann kann ich gar keine Pints mehr trinken, sondern bekomme irgendwelchen Dinkelbrei aus Schnabeltassen oder Antibiotika, so wie die armen Shrimps. Eine Shrimps-Vergiftung? Das ist es! Ein winziger, hinterhältig verseuchter Shrimp hat mich hingerafft, als ich mir gegen Mitternacht noch was zu essen geholt habe. Ich stelle den Fernseher leiser und räuspere mich. Dann sage ich zwei Mal laut »Test, Test« und »Haaaaallo Köln! Wie geht's euch?« und greife zum Hörer. Es tutet drei Mal und ich bin heilfroh, dass weder Flik rangeht noch die Eule, sondern mein bebrillter Kollege Volker. Ich versuche, möglichst leidend zu klingen, als ich von meinem verseuchten Shrimp erzähle.

»Wo kriegst du denn um Mitternacht Shrimps her?«

Zu blöd. Daran hab ich gar nicht gedacht.

»Na vom Türken!«, sage ich und höre, dass Volker am anderen Ende der Leitung stumm bleibt.

»Es war ein Shrimpsdöner!«, ergänze ich sicherheitshalber.

»Aha! «

Damit sich Volker ein möglichst umfassendes Bild von meiner Erkrankung machen kann, informiere ich ihn noch von der aktuellen Konsistenz meiner Stoffwechselendprodukte und lasse auch nicht unerwähnt, dass meiner Meinung nach ein Land, das derartig miese Lebensmittel produziert, nichts in der EU verloren hat. Volker wünscht mir gute Besserung, bevor ich die Menschenrechtssituation und das Kurdenproblem ansprechen kann, und das war's dann auch schon. Geschafft! Ich lege das Telefon unter das Kissen neben mir und konzentriere mich wieder auf n-tv.

Schering 41,70 -1,2 %, Siemens 56,89 -3,8 %, Simon Peters 0,29 -180,0 %.

Simon Peters?

Der Kurs des von Finanznöten und persönlichen Problemen geplagten T-Punkt-Verkäufers Simon Peters hat dramatisch an Wert verloren. Die Mehrheit der Analysten rät inzwischen dringend, sich von Peters zu trennen. So warten die Anleger seit Jahren vergebens auf längst überfällige Restrukturierungsmaßnahmen im sozialen und beruflichen Bereich. Peters selbst machte gestern auf einer Bilanzpressekonferenz in einem Irish Pub das schwierige Frauenumfeld, den Paschinger Torhüter Schicklgruber und seinen, so Simon wörtlich, »beschissenen Job« für den Kursverfall verantwortlich.

Enttäuscht über meinen niedrigen Börsenwert, schalte ich den Fernseher aus und nehme ein weiteres Aspirin, das ich mir vorsichts-halber neben das Bett gelegt habe. Dann warte ich, dass die Kopf-schmerzen nachlassen, und versuche, an schöne Sachen zu denken, damit ich wieder einschlafe. Leider fallen mir keine schönen Sachen ein, sondern nur totaler Mist. Ich fühle mich von Minute zu Minute beschissener. Unglaublich, denke ich mir, als ich mich auf die rechte Seite zum Fenster drehe, unglaublich, wie schnell und problemlos man sich selbst für kurze Zeit aus der Gesellschaft schießen kann. Es bedarf nur eines einzigen Anrufs, und schon sitzt man in seinem selbst verschuldeten Eremitentum und ballert sich stumpfe Talkshows in sein Resthirn. Und wennschon. Dann gibt es Simon Peters halt mal einen Tag nicht. Aber was ist, wenn es Simon Peters morgen auch nicht gibt? Und übermorgen? Ich fürchte plötzlich, dass sich mein merkwürdiges Nichtsein nicht nur auf den heutigen Tag bezieht, sondern auf mein ganzes Leben. Simon Peters und das Nichts! Definition über Negation, würden die Psychologen vielleicht sagen. Vielleicht auch nicht, ich kenne keine Psychologen. Ich könnte tausend Dinge nennen, die ich nicht mag, aber was mag ich eigent-lich? Ich drehe mich wieder vom Fenster weg und stecke meinen Kopf unter mein Kopfkissen. Simon Peters mag Starbucks nicht. Simon Peters kommt nicht zur Arbeit. Simon Peters wird diesen Drink nicht mit einem Strohhalm trinken, weil Strohhalme etwas für Schwuchteln sind. Simon Peters geht nicht in so eine Diskothek, denn die Leute da drin sind nicht sein Stil! Wäre ICH denn mein Stil, würde ich mich jetzt kennen lernen wollen? Ich fürchte, nicht. Da haben wir's ja schon wieder! Nicht. Ich überlege kurz, ob ich ein wenig in Sorge dich nicht, lebe blättern soll, bleibe mangels Energie dann aber doch liegen und drehe mich erst wieder zum Fenster und dann auf den Bauch. Auf dem Bauch liegen ist sehr schön und vor allem sicher. Wenn Einbrecher kommen, dann können die einen da nämlich schon mal nicht reinhauen, und aus vielen Krimis weiß ich, dass Einbrecher einen immer in den Bauch hauen wollen, nur nicht die aus Russland, die hauen in die Nieren. Sicherheitshalber drehe ich mich wieder auf den Rücken und lege mein Kissen auf den Bauch. Ich überlege, welchen Grund es wohl gäbe aufzustehen. Mir fällt keiner ein.

Ich wähle Paulas Nummer, denn vielleicht hat sie ja einen Grund für mich. Leider kriege ich nur ihre Mailbox dran. Ich spreche ein einziges Wort darauf:

»Hilfe!«

Dann schlafe ich ein.

Gegen Mittag lässt mich ein lautes Poltern aus dem Flur zusammenzucken. Was zum Teufel ist das? Ich drehe mich auf den Bauch und lausche gespannt. Fast eine Minute halte ich gespannt die Luft an und rühre mich nicht. Dann erlösen mich kroatische Volksmusik und das Geräusch meines Staubsaugers aus meiner Angststarre. 0 Gott! Heute ist ja Lalatag! Ausgerechnet heute! Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich natürlich zur Arbeit gegangen! Genervt steige ich in meine Trainingshose und mein AI-Bundy-Uni-versity-T-Shirt und schlurfe ins Wohnzimmer. Im Gegensatz zu mir freut sich Lala, mich zu sehen, und stellt den Staubsauger aus.

»Simon, hab ich gedacht, du bist auf Arbeit!«

»Bin krank! Hab was Schlechtes gegessen«, sage ich und lasse mich erschöpft in meinen Jennylund-Sessel fallen.

»Simon, tut mir Leid wegen die Lautsprecher!«

Was hat sie denn jetzt mit dem Lautsprecher? Was soll damit sein?

»Bin ich aus Versehen reingesaugt, letzte Woche, aber kommt noch Musik raus!«

Entsetzt über diese Neuigkeit stürze ich zu meiner 300-Euro-Bose-Box und tatsächlich: Eine eingerissene Bassmembran flattert lustig zu Lalas Volksmusik.

»Hab ich Scheiße gebaut, Simon?«

Weil ich kein schlechter Mensch bin und weil ich Geld wie Heu habe, sage ich ihr, dass sie keinen Scheiß gebaut hat und es mein Fehler wäre, weil ich keine Boxenabdeckung draufhatte. Lala ist sehr erleichtert, und ich steige unter die Dusche. Als ich mein Haar mit einem Zehn-Euro-Haarausfall-Shampoo einschäume, fällt mir ein, dass ich gar nicht vergessen habe, die Boxenabdeckung auf die Laut-sprecher zu klemmen. Lala hatte sie vor einem Jahr weggeschmissen, weil sie dachte, das wäre ein Teil der Verpackung. Ich schleiche mich, nur mit einem großen Handtuch bekleidet, ins Schlafzimmer, um mir etwas anzuziehen. Ich habe den Schlafzimmerschrank keinen Zentimeter aufgeschoben, da fängt mich Lala ab und zeigt mir eine gelbe Postkarte.

»Simon, hast du Paket bekommen!«

Ich reiße Lala die Karte aus der Hand. Darauf ist zu lesen, dass ich heute all die wunderbaren Sachen abholen kann, die ich besoffen im Verkaufsfernsehen bestellt habe. Meine Stimmung steigt. Vielleicht kann ich dann ja sogar noch heute meinen fernsteuerbaren Helikopter fliegen lassen. Außerdem ist dieser Zettel ein guter Grund, die Wohnung zu verlassen und Lala alleine mit ihren Küchenrollen und ihrer Musik herumwirbeln zu lassen. Ich werfe meine Jacke über und gehe zu Fuß in Richtung Hauptpost. Natürlich mache ich einen großen Bogen um unseren T-Punkt-Laden, auch wenn ich nur allzu gerne einen Blick auf das Starbucks-Mädchen geworfen hätte. Die frische Novemberluft tut mir gut. Und wie immer tut sie besonders gut, weil ich mich am Vorabend so richtig abgeschossen habe. Spaziert man nüchtern durch einen Herbsttag, dann atmet man eine normale, banale und selbstverständliche Luft. Wie bemitleidenswert all die kontroll-süchtigen Antialkoholiker sind, die sich zeit ihres Lebens nie über so frische Luft freuen können wie ich. Ja, sie wissen ja gar nicht, was das ist: frische Luft.

Die Schlange am Paketschalter der Post ist überraschend klein. Die Pakete, die ich gegen Vorlage meiner Karte bekomme, sind dagegen überraschend groß.

»Wie soll ich das denn tragen?«, protestiere ich.

»Ja, Sieeee haben das bestellt, nicht ich!«, raunzt mich ein zerfurchter Beamter an.

Noch bevor ich mich aufregen kann, sehe ich, dass auf beiden Seiten des badewannengroßen Kartons dick und fett Chuck Norris Total Gym aufgedruckt ist. Ich schiebe die drei Pakete von Sergeant Knitterface weg, und weil ich schlauer bin als so manch anderer, weiß ich mir recht schnell zu helfen und binde mir die zwei kleineren Kartons mit Paketschnur auf den großen Total-Gym-Karton. Dann wanke ich wie Obelix aus der Hauptpost. Ich komme nicht sehr weit. Nach exakt zwanzig Metern renne ich in meine Chefin, die Eule.

Es gibt im Leben schöne und weniger schöne Augenblicke. Mit einem Bier an der Copacabana zu liegen und irgendwelchen Salsa-Hintern beim Volleyball zuzuschauen ist zum Beispiel ein schöner Augenblick. Seiner Chefin in einem Bahnhofscafé zu erklären, warum man ein halbes Fitnessstudio durch die Stadt trägt, nachdem man sich wegen eines Shrimpsdöners krankgemeldet hat, ein eher weniger schöner. Die Eule raucht eine nach der anderen, fast so nervös, als hätte ich SIE beim Blaumachen erwischt und nicht andersrum. Ständig versucht sie, Augenkontakt herzustellen, und sagt dabei Sachen wie: »Weißt du, Simon, ich bin gar nicht mal sauer auf dich, aber irgendwie müssen wir das doch hinkriegen!«

Ich nippe an einer Orangina, schaue durchs Fenster und nuschle Sachen wie »Kommt nicht wieder vor« und »... ist halt gerade eine blöde Zeit, irgendwie«. Sie schüttelt nur mit dem Kopf, wie sie in letzter Zeit eigentlich immer mit dem Kopf schüttelt, wenn ich in ihre Nähe komme, und sagt, dass ich mich ihr ruhig anvertrauen könnte, wenn ich Probleme hätte.

Ich sage ihr, dass ich sehr durcheinander sei, wegen all der Telefongespräche ins Krankenhaus nach San Sebastian, wo meine kleine Schwester nach einem schweren Autounfall auf der Intensiv liegt. Dabei wollte sie nur zwei Wochen in diesen Spanischkurs, aber dieser Zeitschriftenjunge auf seiner Vespa hätte ja nicht aufgepasst und wäre ihr direkt vor dem Prado reingefahren.

»Der Prado? In San Sebastian?«, fragt die Eule.

»Das Modegeschäft, nicht das Museum!«, versuche ich zu retten. Ich sollte dringend an meinem Allgemeinwissen arbeiten. Dann versuche ich, ein wenig zu weinen. Ich schaffe drei Tränen. Ich weiß, dass das weibisch und doof ist, aber eventuell ja doch gerechtfertigt, wenn es einem den Job rettet. Die Eule umarmt mich und sagt mir, ich hätte all ihre Unterstützung und was ich noch hier machen würde, ich solle sofort runter nach Spanien, das ginge schon okay mit dem Urlaub. Dann zahlt sie, wir gehen zu ihrem Auto, und sie fährt mich nach Hause. Mit ganz lieben Genesungswünschen für meine Schwester entlässt sie mich in meine Wohnung.

Ich fühle mich noch schlechter als am Morgen. Wahrscheinlich, weil meine kleine Schwester in Bamberg studiert, Italienisch statt Spanisch lernt und einen BMW fährt, keine Vespa. Ich will Licht machen, doch nichts passiert. Auf dem Küchentisch liegt ein eilig gekritzelter Zettel:

Hab ich Scheiße gebaut mit Lampe. Liebe Grüße Lala. Ich schaue mich um und entdecke Teile meiner Leuchtan-Lampe in meinem Kehrblech Kehran.

Den Rest des Nachmittags sitze ich im Wesentlichen vor meinem aufgerissenen Paket mit dem fernsteuerbaren Funkhelikopter. Zum ersten Mal erschließt sich mir der Begriff Bausatz in seiner ganzen Tragweite. Das Scheißding besteht aus mindestens eintausend Teilen! Ich gebe für heute auf und schreibe eine SMS an Flik, in der ich ihn darüber aufkläre, dass es mir wieder besser geht und dass ich seit 17:15 offiziell eine schwer verletzte Schwester in einem baskischen Krankenhaus habe. Sicher ist sicher, eulentechnisch. Flik schreibt zurück, dass ich zwar bekloppt wäre, er aber dennoch ein Bier mit mir trinken würde, es gäbe nämlich was zu feiern. Ich freue mich, dass er das Kriegsbeil begraben hat, und sage zu.

TAG AM MEER

Wir sind noch nicht mal beim dritten Pint und hatten eben noch ganz toll über Phil abgelästert, da bricht es aus einem peinlich stolzen Flik heraus. Wie toll doch jetzt alles wäre mit seiner Daniela und wie süß sie wäre, und er hätte ja gar nicht gewusst, wie sehr er das gebraucht hätte, so eine Frau an seiner Seite. Und überhaupt wäre das jetzt offiziell, denn er hätte sie gefragt, ob sie jetzt zusammen wären, und da hätte sie gar nicht gezögert, sondern gesagt: »Sieht so aus!«

»Sie hat gesagt: >Sieht so aus?<«, frage ich stutzig nach.

Ich muss mir Mühe geben, mein Erstaunen zu verbergen.

»Genau!«

Ich mustere Flik, und tatsächlich: Die ersten Veränderungen sind zu bemerken. Es ist nicht nur ein weiterer fleckenloser Abend, nein, nicht mal der obligatorische Hemdzipfel lugt mehr aus seiner todhässlichen C&A Hose. Dennoch: Alles in allem sieht er immer noch scheiße aus.

»Jetzt freu dich doch mal für mich!«, fordert Flik und hebt sein Glas, um mit mir anzustoßen.

Als Zeichen des stillen Protestes trinke ich mein Pint auf ex und rülpse. »Ich freu mich!«

Eine glatte Lüge. Es interessiert mich nicht, dass Flik und seine bescheuerte Daniela jetzt offiziell zusammen sind. Ich will auch nicht wissen, ob sie guten Sex haben oder nicht. Und es geht mir definitiv auch am Arsch vorbei, wie toll man mit ihr lachen und reden kann. Ich sage dies Flik exakt so, weil man einem Freund immer sagen muss, wie man sich gerade fühlt.

Flik schaut ein wenig sparsam und fragt mich, warum ich mich so aufrege, er wolle sein Glück doch nur mit einem Freund teilen. Ich lache ihn aus, weil ich das dann doch sehr bizarr finde, dass mein Freund sein Glück mit mir teilen will.

»Wo ist denn dann mein Teil von deinem Glück?«, schimpfe ich und nehme mechanisch mein viertes Pint entgegen. »Darf ich mit deiner Daniela auf der Couch liegen und fernsehen? Darf ich mit deiner Daniela in den Urlaub fahren oder rumknutschen im Kino? Nur einen Teil des Jahres? Oder zwei Wochen jeden Monat? Zwei, drei Tage die Woche? Ha! Da haben wir's! Natürlich nicht. Einen Scheiß willst du teilen!« Ich habe es geschafft. Von Ausgeglichenheit ist in Fliks Gesicht nun wahrlich nichts mehr zu sehen.

»Du weißt doch, wie ich das meine! Das war metaphorisch gemeint!«

»Mir egal, wie das gemeint ist. Glück teilt man nicht, weil man Glück nicht teilen kann. Man kann es mitteilen, das war's. Penner!«

Mit diesen Worten lasse ich ihn an seinem Glückstisch sitzen. Ich lasse ihn sitzen, weil ich es nicht ertrage, ungefragt vom Glück anderer Leute belästigt zu werden. Wenn er will, dann kann er ja sein Glücksbier austrinken und zu seiner Glücksfrau fahren. Dann kann er sie besinnungslos vögeln, und mit ein klein wenig Glück haben sie in neun Monaten einen Glückskeks. In der Zeit dazwischen können die beiden dann ja gaaaaanz toll quatschen. Wortlos ziehe ich die Ein-gangstüre des Pubs hinter mir zu. Flik versucht nicht, mich zurück-zuholen.

Es ist kurz nach zehn Uhr abends, und ein kalter Wind bläst über die nasse Straße. Ich nehme noch einen Schluck von meinem Pint, das ich rausgeschmuggelt habe. Durch das leicht angelaufene Kneipenfenster sehe ich, wie Flik gedankenverloren in die Menge starrt. Ich gehe am Fenster vorbei, um mir eine Kippe anzuzünden. Ein mit vier oder fünf aufgestylten Prolls voll gepackter Golf hält mit offenen Fenstern quietschend vor einer roten Ampel. Aus dem Inneren dröhnt tumbe Bekloppten-Housemucke. Eine blonde Göre auf dem Rücksitz grölt »Fiiiiicken!« und streckt mir die Zunge raus. Mein Mittelfinger antwortet für mich. Dann rufen alle »Dumme Sau!« und »Arschloch!«, und der Wagen braust mit quietschenden Reifen davon. Ich trete gegen einen Abfalleimer und gehe weiter.

Ich will zu Marcia.

Jetzt!

Ich stelle mein leeres Pintglas auf einem Stromkasten ab und gehe weiter in Richtung Starbucks. Ich laufe wie ein angetrunkener Robocop, ferngesteuert und fest entschlossen, irgendwas gegen das Böse in dieser Welt zu unternehmen. Nur was? Millionen Gedanken blitzen durch meinen Kopf. Ich frage mich, was ich eigentlich machen will, wenn ich vor Marcia im Laden stehe. Irgendwie muss ich ja ihre Aufmerksamkeit erregen. Ich könnte Anlauf nehmen und mit voller Wucht gegen die Frontscheibe rennen. Die Frage ist nur, ob ich danach noch mit ihr sprechen könnte. Also nein. Ich könnte hineingehen und eintausend Grande Latte Macchiato bestellen. Dann müsste sie bis morgen früh bleiben, und ich könnte ihr die ganze Nacht beim Milchaufschäumen zusehen. Mit dem ganzen Kaffee wäre das natürlich auch kein großes Problem, wach zu bleiben. Eine Straßenbahn rauscht nur einen knappen Meter an mir vorbei. Das wär's gewesen. Glück gehabt. Marcias Starbucks ist noch exakt eine Straßenecke entfernt.

Und jetzt? Denk nach, Simon. Die Sache ist womöglich einfacher, als du denkst! Was will ich denn? Ganz einfach: Ich will Marcia. Also muss ich sie ansprechen. Und zwar jetzt. Nicht morgen. Und nicht übermorgen. So einfach ist das. Ich beschließe, bis zehn zu zählen, um dann festen Schrittes und mit dem charismatischen Lächeln eines Ge-winners den Laden zu betreten. Dann werde ich sie fragen, was sie nach Feierabend macht. Das machen täglich Tausende von Männern. Und nicht wenige von ihnen kommen Sekunden später mit ihrer zukünftigen Frau aus Cafés, Supermärkten und Bowlingcentern. Gut, danach gibt es dann oft noch ein paar Probleme wie Schießereien, Erpressung und Untreue, aber am Ende ist immer alles gut. Ich hab schließlich genug von diesen Filmen gesehen.

Noch zehn Sekunden, dann gehe ich rein und sprech sie an!

Ich atme tief durch und zähle bis zehn. Dann wiederhole ich das Ganze auf Spanisch und Englisch. Es ist sehr praktisch, Fremdsprachen immer wieder in den Alltag einfließen zu lassen. So kann man, ohne Zeit zu verlieren, gelernte Strukturen wiederholen und einschleifen. Beim italienischen Zählen hilft mir die Nähe zu Latein, ich komme dennoch nur bis fünf. Ich zünde mir eine Zigarette an und merke, dass ich zittere. Und ich muss mir eingestehen, dass ich das nicht schaffen werde mit dem Ansprechen. Vorbeigehen wäre natürlich auch eine Option. Sehr gut. Ich werde einfach nur vorbeigehen, und mit ein bisschen Glück werde ich ein süßes Lächeln stibitzen. Ein Lächeln, das ich mir in meinen Mantel stecke und neben mein Bett stelle, damit ich friedlich schlafen kann.

Und wenn ich nicht nur das Lächeln mitnähme, sondern ein bisschen mehr? Vielleicht sogar alles? Dazu müsste ich natürlich doch rein, rein in das Café, in die Höhle der Löwin, müsste mich zusammenreißen und eintausend Latte bestellen. Ich könnte auch eine Million Latte bestellen, dann wären wir bis an unser Lebensende zusammen, Marcia und ich, im Starbucks zwar, aber immerhin. Ich säße da und würde sie ansehen, und sie würde Milch aufschäumen, bis ins hohe Alter. Wir würden alt werden zusammen, und vielleicht könnten wir auch Kinder haben. Ich hab im Café eine Tür zu einem Nebenraum gesehen, in dem könnten wir uns lieben, und dann irgendwann wären wir zu dritt, und wenn mein Sohn – es wird bestimmt ein Sohn –, wenn also mein Sohn alt genug geworden ist, dann könnte er seiner Mutter beim Milchaufschäumen helfen. Als ich gerade ausrechne, dass mein kleiner Latte-Traum über drei Millionen Euro kostet, klingelt mein Handy. Es ist Paula. Sie hat sich Sorgen ge-macht wegen meines Hilferufs auf ihrer Mailbox. Und sie bemerkt sofort, dass ich mehr als nur ein Pint getrunken habe. Und weil ich mehr als ein Pint getrunken habe, erzähle ich ihr, dass ich keine zwanzig Meter vor dem Café stehe, in dem Marcia arbeitet, und dass ich eine Million Latte bestellen und noch morgen heiraten werde. Paula sagt nichts, und das ist kein gutes Zeichen bei ihr. Deswegen ergänze ich:

»Ich will sie nur sehen, mit ihr sprechen! Das ist mein gutes Recht!«

»Dein gutes Recht?«, empört sich Paula.

»Du hast selbst gesagt, ich soll sie kennen lernen, bevor wir heiraten!«

Am anderen Ende der Leitung höre ich, wie Paula sich eine Zigarette anzündet. Offenbar habe ich was fürchterlich Unsinniges erzählt. Dann, endlich, sagt sie was.

»Stell dir mal Folgendes vor: Eine besoffene Trulla kommt kurz vor Ladenschluss in den T-Punkt und gesteht dir lallend ihre Liebe. Wie würdest du das denn finden?«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Gespräch jetzt will.

»Wie besoffen ist diese Trulla denn, und sieht sie gut aus?«

»Jetzt nimm doch einmal was ernst!«

»Jahaaaa ... würde ich scheiße finden, wenn die in den Laden käme, die Trulla, besoffen. Isses das, was du hören willst?«

Es ist das, was Paula hören möchte.

»Geh nach Hause und ruf mich von da aus noch mal an, dann kriegst du deinen Paulaplan.«

Das ist das, was ICH hören möchte.

»Einen echten Paula-Plan? So wie früher mit Britta, der Zahnarzt-helferin?«, frage ich ganz aufgeregt.

»Genau wie den mit Britta!«

»Du bist die beste Paula der ganzen Welt!«

»Du versprichst mir, dass du heimgehst?«

»Ich verspreche es!«

»Dann bis gleich!«

»Bis gleich!«

Ich stecke mein Handy weg und lächle zum ersten Mal am Tag.

Es ist recht leicht, Marcia zu folgen. Erst war ich erschrocken, weil im Inneren des Cafés nur noch die Notbeleuchtung brannte, aber dann sind sie und eine Kollegin doch noch aus dem Laden gekommen, haben abgeschlossen und sind plaudernd Richtung Bahnhaltestelle gegangen. Was ich hier mache, weiß ich nicht wirklich. Ich weiß aber, dass ich in Marcias Nähe sein will. An der Bahnhaltestelle ver-abschiedet sich Marcia von ihrer Kollegin und springt in die Neun. Ich setze mich in sicherer Entfernung in den gleichen Wagen. Die Bahn rattert los. Nach einer Weile passieren wir den Rhein und verlassen das hell erleuchtete Köln in Richtung dunkles Nichts.

In meinem Hirn gewittert es schon wieder. Keinen Gedanken kriege ich zu Ende. Und wenn ich mal einen klaren Gedanken fasse, dann ist es eine Frage ohne Antwort. Was ist, wenn sie mich entdeckt und sich verfolgt fühlt? Was ist, wenn ich ihr Angst mache? Nach zwei weiteren Stationen sind wir die Einzigen im Waggon. Ich betrachte ihre Spiegelung in der Scheibe. Sie hört Musik über einen Kopfhörer und schaut gedankenverloren nach draußen wie ich. Und sie ist schön wie immer, auch wenn sie heute müde wirkt. Es piepst zwei Mal, dann lese ich folgende Paula-SMS: Ruf mich an, wenn du zu Hause bist. Mach keinen Scheiß!

Die Bahn erreicht Königsforst, die Endstation der Neun, gute fünfzehn Kilometer vor Köln. Quietschend schiebt sie sich an die Haltestelle, und schließlich öffnen sich die Türen. Als ich aussteige und Marcia folge, ist mir, als betrete ich eine bizarre Filmkulisse. Die Fenster der Häuser sind unbeleuchtet, keine Menschenseele ist unterwegs. Und das um kurz nach elf! Um unerkannt zu bleiben, warte ich eine Weile an der Bahn, bevor ich Marcia folge. Ein wenig komisch ist mir schon. Ich kann auch nicht sagen, dass ich besonders stolz wäre, einer wildfremden Frau nachts bis zu ihrer Wohnung zu folgen. Das Komische an der Situation ist, dass ich mehr Angst habe als sie. Ich ziehe meine Schuhe aus, weil in dieser unglaublichen Stille jeder Schritt zu hören ist. Der Asphalt ist kalt und nass. Nach nur wenigen Metern verschwindet Marcia in einem Hauseingang direkt an der Straße. Ich lasse sie hineingehen, setze mich auf eine kleine Steinmauer auf der gegenüberliegenden Straßenseite und lausche ihren Schritten im Treppenhaus. Da wohnt sie also, die schönste Frau der Welt. In einem mit weißen Fliesen verkleideten Nachkriegsmietshaus, meilenweit vor den Toren Kölns. Ich wünschte, ich könnte sie noch in dieser Nacht da rausholen und ihr etwas Besseres bieten. Ein besseres Leben in einer besseren Stadt in einer besseren Wohnung. Oder noch besser: in einem schönen Haus in der Karibik. Aus einem Fenster im zweiten Stock dringt plötzlich Licht, und dann sehe ich sie. Sehe sie, wie sie erschöpft ihre Jacke auszieht und das Fenster öffnet. Dann knipst sie das Licht wieder aus und zündet einige Kerzen an. Dann sehe ich keine Bewegungen oder Schatten mehr. Womöglich hat sie sich hingelegt. Dann dringt Musik aus ihrem Fenster, erst sehr leise, dann lauter. Ich erkenne das Lied sofort, und es trifft mich wie ein Blitz mitten ins Herz. Es war irgendwann mal mein Lieblingslied. Marcia hört MEIN Lieblingslied.

du spürst die Lebensenergie die durch dich durchfließt das Leben wie noch nie in Harmonie und genießt

es gibt nichts zu verbessern nichts was noch besser wär außer dir im Jetzt und Hier und dem Tag am Meer

Ist das ein Zeichen eines wohl gestimmten Liebesgottes, der mir mitteilen will: Simon, du bist auf dem richtigen Weg? Alles wird gut? Ich lege mich auf die kalte Mauer und lasse meinen Geist hochwandern in Marcias Wohnung. Wenn ich schon nicht an ihre Tür klopfen kann, so will ich ihr doch so nahe wie möglich sein. Ihr nahe sein und das Gleiche tun wie sie: auf dem Rücken liegen und unser Lied hören. Ein Mal, zwei Mal und ein drittes Mal. Vielleicht spürt sie in diesem Moment ja das gleiche heimelig wohlige Kribbeln wie ich. Ganz sicher spürt sie es, sie kann es nur nicht orten. Marcia und ich hören das Lied ein viertes Mal. Dann schlafen wir ein, Wange an Wange und fest aneinander gekuschelt. Getrennt lediglich durch einen seidenen Vorhang, eine zweispurige Straße und eine kleine Steinmauer. Verbunden durch den Tag am Meer.

DER PAULA-PLAN

»Sag mal, drehst du jetzt völlig durch?«, poltert Flik und schubst mich in einen kaputten Korbsessel. Auf einer Skala von eins bis zehn, bei der eins für ein wenig sauer und zehn für stocksauer steht, würde ich Flik eine glatte Hundert geben. So jedenfalls hab ich ihn noch nie erlebt. Und das Schlimmste: Ich kann nur tippen, warum er so ange-pisst ist.

»Zum zehnten Mal: Es tut mir Leid wegen des Assamer-Kuchens!«

»Darum geht's nicht! Und er heißt Assauer!«

»Worum geht's denn?«, frage ich kleinlaut. Nach meiner Nacht auf der Mauer in Königsforst fühle ich mich noch immer ziemlich zerknittert. Irgendwann, es muss gegen drei Uhr morgens gewesen sein, hat mich ein Handyanruf von Paula geweckt. Gott sei Dank, sonst läge ich vermutlich jetzt noch da. Paula hat mich dann abgeholt und nach Hause gefahren, nicht ohne erneut darauf hinzuweisen, dass sie sich Sorgen mache und dass ich endlich mal runterkommen solle. Dann haben wir noch ein Bier bei mir in der Wohnung getrunken, und so gegen vier Uhr hatten Paula und ich den perfekten Plan für die Er-oberung Marcias geschmiedet. Und wenn der dicke Flik nicht so rumbrüllen würde, dann hätte ich auch schon erste Schritte unternehmen können, um ihn in die Tat umzusetzen.

»Es geht darum, dass du total durchdrehst. Es geht darum, dass keiner mehr weiß, was mit dir los ist! Der Einbruch gestern, dann das, was Paula erzählt hat.«

»Was hat sie denn erzählt?«

»Dass sie dich auf einer Mauer zehn Kilometer vor Köln aufsammeln musste! Dass du halb erfroren warst und gar nicht mehr wegwolltest!« Ich könnte an die Decke gehen. Was für eine unglaubliche Klatschtante!

»Ich hab Musik gehört und bin eingeschlafen!«

»Auf einer Mauer. Bei minus zwei Grad. Du tickst doch nicht mehr ganz richtig!«

»Das sagt man nicht mehr ..., das mit dem Ticken!«, protestiere ich und sehe zum ersten Mal, wie Flik einen Korbstuhl durch den Raum semmelt.

»War's das jetzt?«, will ich wissen.

»Nein! Dann die Sache mit dem Hubschrauber auf Phils Kreditkarte, und was bitte ist das mit deiner Schwester in einem spanischen Krankenhaus? Deine Schwester wohnt in Bamberg und studiert Jura!«

»BWL!«, korrigiere ich ihn.

»Is doch scheißegal!«, poltert er.

Ich lasse meine letzte Prince Denmark aus der Schachtel rutschen. In seiner Gesamtheit, also so als Aufzählung, das muss ich zugeben, wirkt mein Verhalten schon ein wenig befremdlich.

»Was ist denn los, verdammt noch mal?«

»Ich bin verliebt!«, sage ich.

»Verliebt? Du bist sauer, dass ICH eine Freundin hab und DU NICHT, das ist es doch!«

»Jetzt hör aber auf!«

Die Tür geht auf, und eine besorgte Eule schaut in die Runde. Ihre Haare sehen noch schlimmer aus als sonst. Offenbar hat sie sich einen neuen 15000-Watt-Föhn gekauft.

»Ah, Simon. Wie geht's denn deiner Schwester?«

»Besser!«, raunzen wir beide. Die Eule macht ein »Ist wohl der falsche Zeitpunkt«-Gesicht und schließt die Tür so vorsichtig, als wäre sie aus Blätterteig.

»Heute Abend um acht!«, sagt Flik und haut dabei unterstützend auf den Tisch.

»Was ist heute Abend um acht?«, will ich wissen. »Heute Abend sehen wir uns, und wir würden es sehr zu schätzen wissen, wenn du dieses Mal nicht abhaust!«

»Ich höre ein >Wir<?«

»Genau. Wir. Paula und Phil und ich!«

»Und dann trinken wir ein paar Bierchen, und dann fragt ihr mich zum zehnten Mal, was mit mir los ist, und dann sage ich >nichts<, und ihr habt eure Pflicht als Freunde getan und fühlt euch supertoll und geht nach Hause, liege ich richtig?«

»Du bist so ein Depp!«

»Von mir aus. Ich komme nicht!«

»Du brauchst gar nicht zu kommen, weil wir uns bei dir treffen!«

»Oh! Das ist ja mal 'ne tolle Idee!«

»Hey! Ich lass dafür meinen Spanischkurs sausen, okay?«

Ich sage auch »okay«, weil mir nichts mehr einfällt. Dann rauche ich zu Ende und schlurfe in den Verkaufsraum. An diesem Nachmittag schließe ich drei Verträge ab, nehme 150 Euro aus der Kasse und kaufe zwei Karten für das Konzert der Fantastischen Vier.

Der Rest ist leichter, als ich dachte, denn der Rest ist mein Paula-Plan. Paula-Pläne sind nicht nur leicht, sondern auch meist erfolgreich, denn sie beinhalten die weibliche Sichtweise der Dinge. Mit einem unbekannten Typen in ein Restaurant zu gehen sei für eine Frau höchst riskant, lerne ich von Paula. Da säße man dann, also als Frau, würde voll gesülzt und könne nicht weg. Mit einem unbekannten Typen nach Feierabend zu einem Konzert zu gehen, sei dagegen schon eher möglich. So was könne man durchaus mal machen, vor allem, wenn es sich um die Lieblingsband handele. Und da dies im Großen und Ganzen recht rund klingt, bin ich auch nicht sonderlich aufgeregt, als ich mich, um Marcia zu sehen, kurz nach Feierabend in die Warteschlange bei Starbucks einreihe. Als ich dann aber schließlich vor ihr stehe, schießt mein Puls dennoch ein wenig in die Höhe.

Marcia sieht leider wieder umwerfend aus. Außerdem fällt mir auf, dass ihr Namensschildchen ein wenig weiter links angebracht ist als bei meinem letzten Besuch. So freundlich und unverbindlich es geht, bestelle ich einen Small Latte und gebe ihr Zeit, die Bestellung einzutippen. Dann muss ich mein mit Paula ausgetüfteltes Sätzchen sagen. Ein Sätzchen, dessen Ausarbeitung man nicht gerade als Kinderspiel beschreiben kann. Stundenlang sind wir alle Möglichkeiten durchgegangen, um schließlich mit der ultimativen Eroberungstaktik dazustehen. Ohne Paula, das steht fest, hätte ich schon nach der ersten Frage meinen Small Latte packen und mich auf die Ledercouch verkrümeln können:

Hat irgendjemand in eurem Team Bock auf das Fanta-Vier-Konzert morgen? Ich hab hier noch 'ne Karte!

Das wäre mein erster Vorschlag gewesen. Sechs, setzen und schämen! Zu großkotzig, zu schluffig, zu unpersönlich. Und Bock sagt kein Mensch mehr. Außer Flik vielleicht. Immerhin will ich ja nicht nur eine Karte loswerden, sondern vor allem mit der Frau an der Kasse zum Konzert.

Sag mal, kennst du jemanden, der auf Fanta Vier steht? Ich hab noch 'ne Karte übrig.

Vier minus. Besser, aber immer noch nicht gut. Und vor allem: Diese schäbig dargebotene Beiläufigkeit nimmt mir sowieso kein Schwein ab. Ich geh ja auch nicht zu meinem Banker und frage ihn, ob er zufällig jemanden kennt, der meinen Dispo erhöht.

Also: personalisieren! Und noch besser wäre es natürlich, wenn ich die Karte geschenkt bekommen hätte, weil sie das nicht unter Zugzwang bringt, sich für eine so teure Karte zu revanchieren.

Ich mache so was ja sonst nie, aber dürfte ich dich fragen, ob du morgen mitkommst auf das Fanta-Vier-Konzert? Ich hab noch eine Freikarte übrig.

Niemals! Männer, die sagen, dass sie so was nie tun, tun so was täglich, zumindest glauben Frauen das. Ergo: ehrlich sein, so lange es geht! Das Allerbeste ist natürlich, gar nichts zu sagen. Und zwar: JETZT!

»Das macht 2,30, bitte!«, lächelt Marcia.

Zusammen mit einem Zehn-Euro-Schein ziehe ich, natürlich aus Versehen, knick-knack, eine Fanta-Vier-Karte aus meinem Portemonnaie.

»Hab's gleich!«

Und tatsächlich: Sie schaut auf mein Portemonnaie, entdeckt die Karte. Bingo!

»Geil! Fanta Vier! Gehst du hin?«

»Klar. Freu mich schon seit Wochen drauf. Und du?«

»Ich wollte erst, aber fünfunddreißig Euro sind mir echt zu teuer!«

»Mhhh ...«, brummle ich.

Paula hat gesagt, dass diese Verzögersekunden enorm wichtig sind, weil sie die Aktion spontan und ungeplant wirken lassen. Also tue ich so, als überlegte ich eine Sekunde, und reiche dann Marcia eine der beiden Karten.

»Weißt du was? Nimm doch einfach die. Ich hab sie sowieso umsonst bekommen, und meine Kumpels stehen nicht auf Fanta Vier!«

Marcia nimmt sie. Paula hat gesagt, dass es sehr viel schwieriger wäre, ein Geschenk zurückzugeben, das man schon in den Händen hält, als einfach nur nein zu sagen. Doch das wird Marcia sowieso nicht tun, denn ihr ganzes Gesicht strahlt, als sie mir die Hand reicht.

»Ich kann die haben, die Karte, meinen Sie?«, fragt sie noch mal ungläubig. Arghhh ..., das tut weh. Sie hat mich gesiezt!

»Du!«, sage ich.

»Klar ... ich bin Marcia!«, sagt sie.

»Simon«, sage ich und deute auf meine Brust. »Sorry, hab mein Namensschild vergessen. Viel Spaß, vielleicht sehen wir uns ja auch!«

Mit diesen Worten nehme ich meinen Kaffee, setze mich in einen schweren roten Ledersessel und blättere eine Sonderausgabe der Zeitschrift Eltern durch, die eine junge Mutter liegen lassen hat. Schon erschreckend, was man bei der Ernährung während der Schwangerschaft alles falsch machen kann. Die Marcia-Ignorier-Phase ist mit Abstand der schwierigste Punkt des Unterfangens. Jetzt kann ich nur hoffen und beten. Als ich einen Artikel über prügelnde Jugendgangs anlese, bringt mir Marcia ein Stück leckeren Karottenkuchen und fragt, ob wir uns sehen, beim Konzert. Ich sage ihr, dass ich am Haupteingang stehen werde. Ich könnte den ganzen Laden umarmen vor Glück!

?. SOYJULIÁNCÓMOTELLAMAS?

Als ich den Keller des Tapas-Restaurants betrete, in dem der Spanischkurs stattfindet, sind schon drei Kursteilnehmer da. Daniela fällt mir sofort auf. Sie ist exakt so, wie Flik sie mir beschrieben hatte: schwarze, kurze Haare, ein bisschen kräftiger, aber nicht dick. Dafür hat sie ein außergewöhnlich schönes Gesicht, ein süßes Näschen und, wie ich schnell bemerke: eine nette und offene Art. Als ich mich aus Sicherheitsgründen mit Nils vorstelle, lächelt sie mir zu und sagt ihren Namen: Daniela. Neben Daniela sitzen zwei männliche Sakkoträger Typ Muttersöhnchen. Unter den Sakkos schauen bei beiden graue Rollkragenpullover hervor. Beide sind enorm hässlich. Die Pullover und die Typen. Und so bin ich nicht übermäßig traurig, dass keiner von beiden mein Kommen bemerkt hat, denn beide sind über ihre Spanisch-Hausaufgaben gebeugt und deuten auf irgendwelche Konjugationstabellen. Sie tun dies mit einer besorgten Ernsthaftigkeit, als handele es sich nicht um einen lockeren Kneipen-Sprachkurs, sondern um den EU-Beitrittsvertrag mit der Türkei. Ich lächle Daniela an und setze mich, ihr gegenüber, neben einen der beiden schreck-lichen EU-Beamten.

»Was habt ihr denn bisher schon gelernt?«, will ich wissen und schaue freundlich auch zur Seite, um die beiden Betonpullover mit in meine Frage einzubeziehen. Doch die beiden sind so in ihre Tabellen vertieft, dass sie mich gar nicht hören. Dafür ist Daniela offensichtlich recht dankbar, dass etwas Leben in den Kurs kommt.

»Nur, wie man hallo sagt und woher man kommt!«, antwortet sie mir.

»Hey! Das kann ich!«, freue ich mich.

»Dann mach mal!«

»Hallo. Ich komme aus Köln!«

Daniela muss laut loslachen. Der linke Betonpullover bemerkt zum ersten Mal meine Anwesenheit, schaut skeptisch über den Rand seiner albernen Kassenbrille und reicht mir seine feuchtkalte Fischhand.

»Hallo!«, hüstelt er mit einem verschnupften Lächeln. »Ich bin Malte!«

»Herzlichen Glückwunsch!«, sage ich und unterdrücke einen Würgereiz wegen des qualligen Händedrucks. Malte! Wenigstens hatten die Eltern genug Gespür, um ihrem ganz gewiss schon damals hässlichen Kind einen passenden Namen zu geben.

Was ist es denn geworden? Ein Junge oder ein Mädchen? Es ist eine Hackfresse!

Eine Hackfresse? Das ist ja großartig. Dann nennen wir ihn Malte!

»Wieso herzlichen Glückwunsch?«, will die Hackfresse wissen und schaut dabei sehr ernst.

»Entschuldige, du sahst so aus, als hättest du Geburtstag!«, sage ich und schenke meinem Nebenmann einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Endlich bemerkt auch der zweite Betonpullover, dass noch andere Menschen im Raum sind.

»Nils«, stelle ich mich vor und reiche der anderen Hackfresse die Hand. Offenbar handelt es sich um Zwillinge, denn auch dieser Händedruck hat die Energie einer Qualle in einem Eimer Baldriantee.

»Broder!«, sagt der zweite Betonpullover. »Ah!«, sage ich und muss mich schwer zusammenreißen, um nicht laut loszuschreien vor Vergnügen über einen so bescheuerten Namen. Malte und Broder! Wäre ich Programmchef bei RTL, ich würde den beiden Trockenbirnen sofort eine eigene Comedy-Show geben. Daniela beömmelt sich derweil hinter ihrem Spanischbuch. Es ist mir ein komplettes Rätsel, was so eine Frau am faden Flik gefressen hat. Vielleicht hat er ja irgendwelche Qualitäten, die mir bisher entgangen sind. Wer weiß, vielleicht hat er's einfach drauf im Bett und ist zudem noch stolzer Besitzer einer ständig einsatzbereiten Monstergurke? Dann aber fällt mir ein, dass man trotz Monstergurke so weit erst mal kommen muss. Und Flik ist nicht der Typ, der ganz nonchalant auf eine attraktive Dame an der Hotelbar zugeht, ihr einen trockenen Martini ausgibt und ihr ins Ohr flüstert, dass er sie gleich noch gerne mit seiner pulsierenden Fleischpeitsche quer durchs Kamasutra zum dritten vaginalen Orgasmus schießen möchte.

Seltsam, denke ich mir, dass ich Flik in all den Jahren noch nie nackt gesehen habe. Also hat er entweder einen unglaublich Winzigen oder einen wahnsinnig Riesigen. Ich könnte ja mal ins Sakamoto-Roboterbad gehen mit ihm, dann wüsste ich's. Ich räuspere mich kurz und schreibe das Datum an den Rand meines Collegeblocks. Dann schalte ich mein Handy auf das Vibrationsprofil »Schnauze!«, um die gewiss recht empörten Anrufe von Flik, Paula oder Phil nicht allzu öffentlich werden zu lassen. In exakt einer halben Stunde wird das besorgte Dreierpack vor meiner Wohnung stehen und sich erst ganz aufgeregt fragen, wo ich sei, und danach natürlich wieder, was denn in letzter Zeit insgesamt mit mir los sei. Alles in allem also ein guter Schachzug, nicht vor Ort zu sein. Ein runder, braun gebrannter Mann mit buntem Hemd und schwarzem Zopf betritt den Raum. Es ist diese Art Zopf, die durch seine Haarfülle das wieder wettmachen soll, was an der Stirn eher in Richtung Halbglatze geht. Da sein Koffer größer ist als der von den Betonpullovern und sein Teint recht dunkel, tippe ich, dass es sich bei ihm um unseren Lehrer handelt. Ganz sicher bin ich mir aber erst, als er mich anlächelt und sagt:

»Soyjuliancömotellamas! ?«

Das nenne ich mal einen komplizierten Namen! Ich sage, dass ich Nils heiße, in dem ich einfach nur »Nils« sage.

»Yquieresaprenderelespanolverdad?«, fragt mich die bezopfte Halbglatze und packt einen Haufen Papiere aus ihrer Tasche.

»Ob du Spanisch lernen willst!«, stupst mich Daniela an. Ich sage »Si!«, weil ich ja schlecht sagen kann, dass ich nur hier bin, um Fliks Ische in Augenschein zu nehmen. Schon gar nicht auf Spanisch. Um weiteren unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen, schaue ich aber nicht mehr hoch und schreibe in einer Art nervöser Übersprunghandlung Der Autobus ist rot in meinen Block. Ohne zu wissen, warum, unterstreiche ich das Wort Autobus zwei Mal. Ich hoffe sehr, dass dieser Trick mir hilft, um weiteren Soyjulian-Fragen aus dem Weg zu gehen.

Fehlanzeige.

»Quehasescrito?«

So viel zur guten alten Vogel-Strauß-Methode, die schon früher in der Schule nicht funktioniert hat. Ich schaue ängstlich auf und blicke direkt in zwei neugierige Spanischlehreraugen. Mist! Der Typ glaubt doch tatsächlich, dass ich seine Lispelsprache lernen will. Ich sage ihm auf Deutsch, dass ich Der Autobus ist rot geschrieben habe. Er sagt »muy bien« und schreibt den Satz auf eine kleine Tafel. Ich bin heilfroh, dass ich in meiner Panik einen so einfachen Satz wie Der Autobus ist rot in meinen Block geschrieben habe und nicht etwa Der Triebwagen der dritten ICE-Generation wirkt nicht ganz so futuristisch wie sein japanisches Pendant.

Die Betonpullover räuspern sich pikiert, als ich verzweifelt versuche, den Autobussatz zu übersetzen. Mein Gott, Jungs, das sind Fremdsprachen-Übungen in einer Kneipe und nicht die Nürnberger Prozesse! Eines ist schon jetzt sicher: Ich werde die beiden Hackfressen und ihre bescheuerten Kunstlederköfferchen gleich nach dem Kurs in meinem roten Autobus im Rhein versenken. »El autobús ...«, stottere ich, wofür mich Soyjulian sofort lobt und einige weitere Vokabeln an die Tafel schreibt, nämlich es und son, und dann noch ein paar Wörter, bei denen es sich höchstwahrscheinlich um Farben handelt. Ich entscheide mich für rojo und bekomme in der Lispelsprache gesagt, wie toll ich das mache für die erste Stunde. Dieser Soyjulian ist schon ein klasse Typ. Gibt mir ein gutes Gefühl. Immerhin kann ich, dank ihm, nach nur zehn Minuten Unterricht in fließendem Spanisch Der Autobus ist rot sagen, einen Satz, der mir sicher sehr hilft, wenn ich mal nachts ohne Geld und Klamotten mit einer Platzwunde auf der Stirn vor einer Disko in Madrid liege und dringend Hilfe brauche.

Senor! El autobús es rojo! !!! Rojo!!!

Aber meine linguistischen Erfolge gehen noch viel weiter. Gegen Ende der Stunde kann ich den restlichen Kursteilnehmern mitteilen, dass das Sofa modern ist, der Regenschirm alt und das Taxi teuer. Ich beginne sogar zu kombinieren und erkläre einem fassungslosen Betonpullover, dass mir der Regenschirm viel zu teuer wäre und ich nun ein Taxi nähme und was er denn bitte schön jetzt gedenke, dagegen zu tun. Der Kurs macht mir richtig Spaß, und Daniela und ich pissen uns vor Lachen fast in die Hose. Die beiden Hackfressen hingegen scheinen von meinem neokommunikativen Lehransatz nicht wirklich begeistert und werden immer stiller. Später lerne ich sogar noch zu sagen, woher ich komme:

»Soy de Alemania«, sage ich.

»Y Daniela?«, fragt mich Soyjulian.

»Daniela también es de Alemania!«, antworte ich akzentfrei und werde für das >también< gelobt. Wie konnte mir bisher entgehen, wie großartig so ein Sprachkurs für das Ego ist! Man zahlt ein paar Euro, redet irgendwelchen Unsinn und wird für den dümmsten Mist gelobt. Ich könnte den gigantischsten Rülpser der Kölner Stadtgeschichte lassen, das Resultat wäre ein muy muy bien, Nils! Natürlich nur, wenn es sich um einen spanischen Rülpser handeln würde. So taucht man also ein in eine fremde Sprache! Ich bin richtig begeistert und entgehe zum Schluss sogar einer dreisten Fangfrage des Iberobeglatzten.

»Son Malte y Broder de los Estados Unidos?«, will er wissen.

»No«, sage ich, »Malte y Broder son Hackfressen!«

Daniela und ich sind die Einzigen, die lachen, aber das macht nichts, weil der Kurs in diesem Augenblick sowieso zu Ende ist. Als ich mich für die kommende Woche in eine Liste eintrage, schreibe ich fast meinen richtigen Namen in das Formular, denke aber in letzter Sekunde daran, dass ich heute Abend Nils heiße. Die Betonpullover packen ihre bunten Stifte und Mappen in ihre Kunstlederköfferchen und gehen grußlos. Als ich meine Sachen zusammenpacke, bemerke ich, wie Daniela mich beobachtet.

»Wir trinken nach dem Kurs immer noch was, hast du Lust?«, fragt sie und wirkt dabei irgendwie aufgeregt.

»Aber nur drei, vier Flaschen Rioja, ich muss morgen früh raus!«, sage ich, und keine fünf Minuten später sitzen Soyjulian, Daniela und ich mit lecker Rotwein an der Bar. Ich frage mich, warum wir uns nicht schon während des Unterrichts zugeschüttet haben, aber wahrscheinlich hätten die steifen Betonpullover dagegen protestiert. Ich spüre, wie mein Handy vibriert, habe aber keine Lust ranzugehen. Als es schließlich verstummt, ziehe ich es vorsichtig aus meiner Jeanstasche. Das Display zeigt mir insgesamt sieben Anrufe in Abwesenheit. Drei von Paula, vier von Flik. Das nenne ich hartnäckig. Ich schaue auf meine Uhr. Es ist halb neun. Das heißt, dass Flik, rein theoretisch, jede Sekunde hier im Jonny Turista aufschlagen könnte. Ein unter allen Umständen zu vermeidender Sozial-GAU: Er sähe mich hier sitzen mit seiner Daniela und würde total ausflippen, und dann müsste ich ihm erst mal klarmachen, dass ich gar nichts von seiner Daniela will, sondern einfach nur neugierig war, mich lediglich informieren wollte, was so eine Flik-Freundin wohl hermacht. Ich überlege kurz, ob ich überhaupt noch auf die Tapas warten soll, aber letztendlich ist mein Hunger doch größer als meine Angst vor Flik. Soyjulian, der gar nicht Soyjulian heißt, sondern nur Julian, erzählt mir inzwischen ungefragt, dass er von La Gomera, also von den Kanarischen Inseln, kommt und dass die Idioten in Brüssel vergessen hätten, seine und noch eine Insel bei den Euroscheinen aufzudrucken. Ich sage ihm, dass ich gerade auf den Kanaren war und gar nicht gewusst hätte, dass die auf den Scheinen zu sehen sind, als er aufgeregt einen Fünfzig-Euro-Schein aus seinem Portemonnaie zieht, und auf die winzigen Punkte neben Afrika deutet. Dann erzählt er uns, dass er in einer Bürgerinitiative engagiert sei und zusammen mit einem Anwalt aus La Gomera Brüssel zwingen will, alle Euroscheine neu zu drucken. Na, dann mal viel Glück. Ich dachte immer, Deutschland hätte ein Nationalproblem. Noch bevor ich einwenden kann, dass ich für eine Neuauflage der Gemeinschaftswährung keine großen Chancen sehe, leert Julian seinen Rioja und verabschiedet sich bis zur nächsten Woche. Weltklasse. Jetzt sitze ich also alleine mit Frau Flik am Tresen.

»Die Geschichte erzählt er jedes Mal!«, lacht Daniela und ergänzt: »Hey ..., das war mit Abstand die lustigste Stunde, die ich hier hatte! Malte und Broder!«

»Das sind aber auch Knallköpfe!«, sage ich und biete ihr eine Zigarette an. Sie nimmt an und gibt mir Feuer.

»Danke«, sage ich und beschließe, meiner Neugierde kurz die Tür zu öffnen. »Wer ist denn sonst so im Kurs?«, frage ich und bin ganz gespannt, was sie zum Thema Flik zu sagen hat. »Na ja ... die beiden Knallköpfe, wie du sie nennst, und dieser Flik.«

»Flik?«, frage ich und nehme einen Schluck Wein. »Komischer Name. Wie ist der so drauf?«

Daniela nippt ebenfalls an ihrem Rioja und ascht dabei nervös ihre vor fünf Sekunden angezündete Zigarette ab, an der natürlich noch gar keine Asche dran ist.

»Nett!«

»Er ist nett?«, frage ich ungläubig.

»Nett, jetzt nicht so lustig wie du ... eher ... halt einfach nur nett!«

Dann tippt sie ihren Finger an meine Nase und lächelt. Nicht so lustig wie ich? Einfach nur nett? Ich finde Flik auch einfach nur nett, aber mit ihm gehe ich ja auch nur in die Kneipe und nicht in die Kiste. Einfach nur nett. Hoppla! Was erzählt mir diese Frau?

»Danke«, sage ich, »aber du lachst ja auch gerne, da ist es leicht, lustig zu sein.«

Daniela nickt und entschuldigt sich dann, um für ein paar Minuten auf der Toilette zu verschwinden. Mir kommt der Gedanke, dass Flik die ganze Daniela-Geschichte einfach nur erfunden haben könnte. Aber warum? Damit er gegen meine sexuellen Eskapaden nicht so abschmiert? Also die, die ich mir in meinem kranken Hirn so zusammenspinne. Nach kurzer Überlegung komme ich aber zu dem Schluss, dass sich ein so grundehrlicher Kerl wie Flik so was nicht einfach ausdenkt. Abgesehen davon: Wenn Flik gelogen hätte, warum ist die Kleine dann so nervös? Die wichtigste Frage des Abends geht aber in eine ganz andere Richtung: Was zum Teufel will ICH eigentlich hier? Neben der Freundin meines Freundes? Und das, wo ich mein Marcia-Date schon in der Tasche habe? Egal! In einer halben Stunde bin ich hier raus. Und wahrscheinlich bilde ich mir auch nur ein, dass Daniela mich gut findet beziehungsweise lustiger als Flik. Das wird es sein. Reine Einbildung. So weit ist es jetzt schon mit Simon Peters. Er glaubt seine eigenen Lügen. Schlimmer noch: Er denkt über sich in der dritten Person!

»Alles in Ordnung?«, fragt mich Daniela und legt ihr kleines, rotes Pumatäschchen auf den freien Hocker neben sich. Es wird nicht allzu schwer gewesen sein zu bemerken, dass ich in Gedanken war.

»Ahhh«, sage ich, »ich hab nur gerade an den Job denken müssen!«

100 Euro für jeden, der mir sagt, was ich hier rede.

»Wieso, was hast du denn für einen Job?«, fragt sie mich.

In dieser Sekunde fällt mir siedend heiß ein, dass ich ja heute Abend nicht Simon, sondern Nils bin. Und wenn ich jetzt T-Punkt sage, fliegt die Kiste schneller auf, als ich meine Kippe ausdrücke. Viel Zeit habe ich auch nicht, denn für gewöhnlich denkt man nicht minutenlang nach, wenn einen jemand nach seinem Job fragt.

Und dann sage ich: »Immobilienmakler!«

Ich könnte meinen Kopf auf die Glastheke donnern. Was ist das denn? Ich hasse Immobilienmakler! Zu spät. Jetzt bin ich selber einer. Und fast hätte ich auch »echt?« gesagt, so wie Daniela, als ich das Wort »Immobilienmakler« ausspreche. Die Dachrinnenreinigung wäre um Welten besser gewesen!

»Dann bist du aber der erste Makler, den ich sexy finde«, sagt Daniela und berührt kurz meine Hand.

Dooooonnnnnnnng!

Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit den Tagesthemen. Guten Abend. In einem Kölner Restaurant kam es am Abend zu einem Eifersuchtsdrama mit tragischem Ende. Wie Augenzeugen berichten, erschlug ein Amok laufender Telekom-Angestellter einen Immobilienmakler mit einem Serrano-Schinken, als er diesen in flagranti mit seiner Freundin erwischte. Mehrere Gäste wurden durch umherfliegende Mandelsplitter verletzt. Live vor Ort ist uns nun meine Kollegin Lala zugeschaltet. Lala, weiß man inzwischen mehr über den Tathergang?

»Ja, Herr Wickert, große Scheiße passiert hier im Jonny Turista, Spanisch-Restaurant, aber diesmal nicht meine Schuld, ich schwör. Freund von Simon mit Name Flik offenbar hat gesehen durch Scheibe, wie sitzt mit seine Freundin, und durchgedreht und Laden macht kaputt. Ich schätze, braucht Tage und viele Papierrolle, bis Kneipe wieder sauber! Zurück zu Studio!«

»Danke!«, sage ich und bin froh, dass uns eine winzige Studentin mit einem riesigen Tattoo endlich unseren gemischten Tapasteller auf den Tresen stellt. Daniela lächelt mich schon wieder an. Doch nicht nur das: Sie schaut mir die entscheidenden zwei Sekunden länger in die Augen als Frauen, die nicht flirten. Wenn mich das bisschen Men-schenkenntnis nicht täuscht, was ich im Laufe meines erbärmlichen und grauen Lebens schon aufsammeln durfte, dann ist die kurzhaarige Kleine neben mir nicht nur relativ süß, sondern auch schlicht und einfach ein ganz schönes Miststück. Was mir normalerweise egal wäre für eine schnelle Nummer, ich hatte schon mal ein Miststück für eine Nacht, aber wenigstens war das mein Miststück und nicht das Miststück eines Freundes. Hätte ich sie vor vier Wochen kennen gelernt, wäre die Sache auch klar gewesen. Aber jetzt? Einen Tag vor dem Konzert mit Marcia? Zwei Tage nachdem Flik mir superglücklich erzählt hat, er hätte endlich mal wieder eine Freundin? Ich muss hier ganz schnell fertig essen und nach Hause.

Um weitere Flirtattacken und Immobilienfragen abzuwenden, erkundige ich mich bei Daniela, was sie denn so macht, wenn sie nicht gerade Spanisch lernt. Dabei verstecke ich zwei Datteln mit Speck unter einem Salatblatt. Ich mache das, weil ich früher mit meiner Schwester immer alles teilen musste und ohne Tricks sicher verhungert wäre. Leider bemerkt Daniela den Datteldiebstahl und klaut sie sich kichernd zurück. Dann erzählt sie, dass sie den ganzen Tag in einer Rehabilitationsklinik irgendwelche Leute massiert. Das sei eigentlich ein ganz schöner Job, weil man recht viel mit Menschen zu tun hat. Seltsam. Aus genau diesem Grund hasse ich meinen Job. Wirklich zuhören kann ich ihr nicht, dafür bin ich jetzt viel zu nervös. Meine Augen wandern durch die Kneipe. Die Flik-kommt-gleich-hier-rein-Gefahr ist nicht wirklich gebannt. Meine Verkrampftheit lockert sich auch nicht, als mir zum ersten Mal klar wird, dass Flik mir Daniela ja eines Tages auch mal vorstellen wird. Und er wird sicher nicht sagen, dass ich Nils, der Immobilienmakler, bin, sondern Simon, der T-Punkt-Verkäufer. Und dann wird Daniela sicher nicht sagen, dass sie mich lustiger findet als Flik. Warum, um alles in der Welt, muss ich mich ausgerechnet heute Abend in diesen beknackten Kurs setzen? El autobús es rojo. Muy bien. Y el Puma-Täschchen tambien. Vielen Dank. Eines ist klar. Nach dem iberischen Häppchenallerlei mache ich die Fliege, und zwar zackig. Eine lustige Melodie kommt aus Danielas Handtasche.

»Das sind bestimmt die beiden Betonpullover!«, grinse ich.

»Entschuldigung, mal kurz!«, sagt sie, schaut verkniffen aufs Display und geht nach draußen.

Ich nutze die Gelegenheit, um die restlichen Datteln zu klauen und den wunderbaren Rioja auszutrinken. Durch die Scheibe sehe ich Daniela mit dem Handy auf und ab gehen. Glücklich sieht sie dabei nicht aus. Als sie nach weiteren fünf Minuten immer noch telefoniert, überlege ich mir, ob ich nicht einfach abhauen soll. Stattdessen trinke ich Danielas Wein auch noch aus und klaue mir eine von ihren Kippen. Wenn sie schon ihren eigenen Freund verleugnet, dann soll sie wenigstens dafür bluten. Obwohl:

Was ist schon groß passiert? Ich bestelle noch zwei Gläser Rioja und zünde mir die gemopste Kippe an. Ich sollte die ganze Sache ein bisschen lockerer sehen. Keiner von uns beiden ist verheiratet oder im Kloster. Bisher ist null Komma nix passiert, und es wird auch nichts passieren. Und ich weiß sogar, warum: Weil ich Marcia will und nicht Daniela. Und weil Daniela Fliks Freundin ist, also zumindest schon ein bisschen. Nach einer knappen Viertelstunde kommt Daniela zurück und entschuldigt sich tausend Mal.

»Danke, dass du so lange gewartet hast!«

»Hey — das ist doch klar!«, sage ich. Gar nichts ist klar. Ich stelle mein Weinglas ab und halte die Luft an.

Sie nimmt einen großen Schluck Rioja und atmet tief

durch.

»Was Schlimmes passiert?«, frage ich.

»Nee, ist nur ..., ach ..., vergiss es.«

Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Immerhin kennen wir uns erst ein paar Stunden, da fragt man nicht, wer am Telefon war. Mein Handy informiert mich vibrierend darüber, dass ich eine Kurzmitteilung bekommen habe. Hätte ich sie sofort gelesen, ich wäre direkt nach Hause gegangen.

Irgendwie ziehen wir dann doch weiter, warum, weiß ich gar nicht so genau. Vermutlich wegen des Riojas oder weil die Flik-Gefahr nach einem Ortswechsel eher abnimmt. Kichernd stolpern wir in eine winzige persische Achtziger-Kneipe, in der man um Cocktails spielen kann. Ich hab mich lange gefragt, wie die sich im Iran so was wie die Achtziger überhaupt leisten konnten, aber nach dem dritten Cocktail war es mir meist egal. Jedem Land seine Achtziger! Von mir aus auch dem Iran.

»Kopf oder Zahl?«, fragt mich Amir. Amir ist der Besitzer der Kneipe und Erfinder des berühmt-berüchtigten Kopf-oder-Zahl-Cocktail-Spiels. Das Spiel geht ganz einfach: Man bestellt einen Cocktail, sagt entweder Kopf oder Zahl, und dann wirft Amir höchstpersönlich eine Münze. Gewinnt man, schlürft man seinen Cocktail für lau, verliert man, zahlt man den normalen Preis. Amir kann mich nicht besonders leiden, weil ich meistens gewinne. Er sagt zwar immer, das sei ja nur Spaß, und irgendwann gleicht sich das schon aus, aber insgeheim hat er schon ein bisschen Angst, dass ich einfach nicht mehr zu ihm komme, bevor sich das ausgleicht. Das Bizarre an der Cocktailspielerei ist, dass Amir das nicht etwa tut, um mehr Leute in seine Kneipe zu locken, sondern weil er selbst ein hoffnungsloser Zo-cker ist.

»Zahl!«, sage ich. Daniela giggelt und guckt abwechselnd auf mich und Amir.

»Sicher?«, fragt Amir, aber ich lasse mich nicht verunsichern, weil Amir das immer fragt.

»Ganz sicher!«, sage ich. Amir wirft, stöhnt, und ich gewinne einen leckeren Strawberry Margherita. Daniela rutscht ganz aufgeregt auf ihrem Hocker hin und her, weil sie jetzt spielen darf.

»Ich sage ... Kopf!«

»Sicher?«, fragt Amir.

»Nein!«, sagt Daniela. »Ich nehme doch lieber Zahl!«

»Wie die Dame wünscht!«, sagt Amir, wirft das Eurostück, fängt es und legt es auf seinen Handrücken. Eine silberne Eins glotzt uns an. »Gewonnen!!!«, ruft Daniela und freut sich dabei so riesig, wie man sich nur freuen kann, wenn man das erste Mal einen Cocktail bei Amir gewinnt.

»Es ist immer das Gleiche mit dir!«, faucht Amir, stellt Daniela den Cocktail hin und verschanzt sich zähneknirschend hinter seiner Achtziger-Theke.

»Danke noch mal!«, rufe ich. »Wir hätten sowieso kein Geld dabeigehabt!«

Amir präsentiert mir seinen Mittelfinger, ohne beim Gläserspülen aufzuschauen.

»Auf wen?«, frage ich Daniela, als ich kurz darauf meinen Margherita zum Prosten anhebe. Eine sehr dumme Idee. Denn die Gegenfrage lässt mein Herz schneller schlagen.

»Auf uns?«, fragt sie lächelnd.

»Okay ... sagen wir auf uns und den tollen Spanischkurs!«

»Einverstanden! Auf uns und den Spanischkurs.«

Und dann ziehe ich die Notbremse. Ich erzähle ihr von Marcia. Wie ich mich angestellt habe, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, und wie ich sie nackt in der Sauna gesehen habe und kollabiert bin. Ich erzähle ihr, dass ich mich so richtig verknallt habe und dass sie mir nicht mehr aus dem Sinn geht und dass ich morgen im wahrsten Sinne des Wortes alles auf eine Karte setzen und mit ihr zum Fanta-Vier-Konzert gehen werde und dass ich schon ganz aufgeregt bin. An Danielas Reaktion sehe ich, dass das nicht exakt die Geschichte ist, die sie hören will. Sie wirkt abwesend und stochert mit ihrem Strohhalm in den Eiswürfeln. Das Erste, was sie nach meinem Geständnis-Monolog sagt, ist: »Du hast dich in eine Frau verknallt, die du gar nicht kennst?«

Das wiederum will ich nicht hören.

»Gar nicht kennen, na ja ... Ich kenn sie ja ein bisschen!«, rede ich mich raus.

Dann nippe ich an meinem Glas, obwohl längst nur noch Eiswasser drin ist. Den Tisch bedecken jede Menge zerrupfte Bierdeckel. Danielas Werk.

»Und du?«, drehe ich den Spieß rum, um ein wenig die Luft rauszunehmen und vielleicht sogar noch auf die Kumpelschiene zu kommen. »Wie sieht's bei dir aus? Liebestechnisch?«

»Wie's bei mir aussieht?«, fragt sie.

»Ja!«, sage ich, »bei dir.«

»Mir geht's genauso!«, sagt sie.

»Wie genauso?«

»Na ... ich hab mich in einen Kerl verliebt, den ich gar nicht kenne!«

»Das ist doch super! Erzähl mal! Läuft gut?«

»Beschissen!«

»Wieso?«

»Der Kerl bist du!«

Ich kann noch sehen, wie ihr die Tränen in die Augen schießen, dann dreht sie sich weg, packt ihre Jacke und ihr Pumatäschchen und rennt aus der Kneipe.

Eine Stunde lang sitze ich einfach nur so da. Ich bestelle keinen Cocktail, ich rauche keine Zigarette, ich sitze einfach nur da. Amir kommt zwei, drei Mal und fragt, ob alles okay sei, denn wenn alles okay sei, dann könnten wir ja noch um einen Drink spielen. Es ist aber nicht alles okay. Ich will nicht spielen, nicht reden und, wenn ich ehrlich bin, nicht mal atmen.

Ich will einfach nur hier sitzen und den braunen Fliesenboden anstarren. Was gäbe ich darum, würden sich die Fliesen unter lautem Grollen öffnen und mich aufsaugen, in eine sichere, warme und vor allem frauenlose Welt! Irgendwann gehe ich dann doch, schlüpfe energielos in meine Jacke und trete hinaus in die kalte Novembernacht. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und sehe, dass ich die letzte Kurzmitteilung, die ich bekommen habe, noch gar nicht gelesen habe.

Wo warst du? Hab Streit mit Daniela. Meld dich mal. Bitte. Flik.

Ein leerer, hell erleuchteter Stadtbus donnert an mir vorbei. El autobús es rojo.

KREBSROTE FLACHPFEIFE

Es ist das allererste Mal, dass ich an einem Samstag im Fitnessstudio bin. Genauer genommen rotiere ich in einer schwachsinnigen Langlaufsimulation, die mir Studioleiter Sascha auf den Trainingsplan geschrieben hat – vermutlich aus purem Hass, weil ich ums Verrecken nicht schwul werden will. Es ist kurz vor elf, und normalerweise müsste ich mir neben Flik im Laden die Beine in den Bauch stehen. Das geht natürlich heute nicht. Am großen Marciatag. Wenigstens überdeckt die Nervosität, die diese emotionale Großveranstaltung in meinem Bauch auslöst, das schlechte Gewissen, das ich wegen der Daniela-Geschichte habe.

Mein Puls pocht inzwischen bei 158. Das weiß ich deshalb so genau, weil ein Plastikband an meiner Brust die Herzfrequenz direkt auf das Display der albernen Langlaufsimulation funkt. Seit meiner Ohnmacht im Step-Kurs lässt man mich nämlich nicht mehr ohne Pulsmesser trainieren.

Zu Hause bringt Lala gerade meine Wohnung auf Hochglanz. Ich habe nichts dem Zufall überlassen: frische Bettwäsche, sauberes Bad, die Nagelschere in einem anderen Becher als die Zahnbürste. Und natürlich habe ich zehn brandneue Hightech-Kondome direkt neben dem Bett deponiert.

Das Studio ist menschenleer. Auf dem Langlauf-Display blinkt ein rotes Herz, darunter wird gerade meine Herzfrequenz aktualisiert: 178. Einhundertachtundsiebzig! An der Scheibe des Fitnessclubs, von der man unglücklicherweise auf eine Einkaufsstraße blickt, drücken sich zwei pubertierende Pickelgesichter die Nase platt. Wollen wahrschein-lich gucken, wie ein Schwuler auf einer Langlaufsimulation aussieht. Ich überlege noch, wie ich den beiden in Gebärdensprache klarmachen könnte, dass ich nicht schwul bin, da sind sie auch schon wieder weg. Auf dem Display blinkt mir nun ein aus vielen gelben Punkten zu-sammengesetztes Cool Down entgegen. Gott sei Dank! Laut Saschas Trainingsplan heißt das, dass ich jetzt schwere Gewichte pumpen darf.

Ich trotte zu einem wuchtigen Stahlgerät mit dem Namen Abdominal Crunch, zwänge mich ächzend hinein und stecke den Stift für das Gewicht ein. Nun gut, Gewicht ist vielleicht ein wenig übertrieben: Bei mir handelt es sich lediglich um zwei Stahlplatten mit den Aufschriften 2,5 und 5,0. Seit meinem Step-Intermezzo mutet man mir auch in dieser Hinsicht weniger zu. Mein Blick gleitet zu einer großen Uhr am Ende des Trainingsraums. Punkt elf Uhr ist es, so früh war ich noch nie hier. Elf Uhr, das heißt, dass ich mich in genau sieben Stunden mit Marcia treffen werde. In mickrigen sieben Stunden!

Ich drücke meinen Oberkörper gegen die gepolsterte Rolle und beuge mich nach vorne. Die fünf Kilo heben sich leichter als befürchtet. Wie mache ich das nur alles mit Marcia? Ich zähle mit. EINS. Ich werde auf sie zugehen, lächeln, und sie wird so etwas sagen wie: >Simon, schön dich zu sehen!< ZWEI. Ich werde ihr sagen, dass es noch viel schöner ist, sie zu sehen, und DREI, obwohl, vielleicht lass ich das besser. VIER! Vielleicht bekomme ich ja sogar einen Kuss auf die Wange? FÜNF! Ich werde noch aufgeregter sein als jetzt, denn wahrscheinlich wird sie SECHS phantastisch aussehen, und ich werde kein Wort rausbekommen und nur debil glotzend dastehen und dumm auf meinen Bart-Simpson-Pullover sabbern. SIEBEN! Quatsch! Irgendwas wird mir schon einfallen. Also, Marcia und ich kommen in die Halle, ich gebe eine Runde Bier aus, das ist wichtig, ACHT!, und dann sind wir irgendwann mitten unter den Leuten, und das Konzert fängt an, und NEUN, SCHEISSE, JETZT WIRD'S SCHON SCHWERER, und irgendwann müssen die Fantas unser beider Lieblingslied spielen, den verdammten Tag am Meer, und bis dahin ZEEEEEHHHNNNNN haben wir bestimmt schon das zweite oder dritte Bier, und wenn die dann den Tag am Meer spielen, ELF VERDAMMT NOCH MAL, dann hab ich leichtes Spiel mit Marcia, denn dann wird sie sentimental und liebesbedürftig, und ein paar Bier hat sie auch schon, und nach dem ersten Refrain werde ich von hinten meine Arme um ihren Bauch legen und ihr einen Kuss auf den Nacken geben. ZWÖÖÖÖÖÖÖLLLFFFFFF ... Sie wird es geschehen lassen, sich herumdrehen ... ich werde in ihre feuchten Augen blicken und DREIIIIIIZZZZEEEEEEEEHHHHHNNN ... DAS TUT JA RICHTIG WEH JETZT und dann, das ist jetzt schon klar, werden sich unsere Lippen berühren ...

ICH KANN NICHT MEHR!

Die zwei kleinen Gewichtescheiben haben inzwischen die Masse der Kölner Domplatte angenommen.

»Du musst an Sex denken, dann schaffst du's!«, quäkt eine bekannte Stimme von links.

Ich reiße meinen Kopf herum. Im Gerät neben meinem klemmt Popeye, die halslose Killerschwuchtel, in einem rotweißen Innsbruck-Retro-Shirt und grinst.

»An Sex denken? Mach ich!«

»Und Luft holen nicht vergessen!«, ergänzt er fiepend. Ich konzentriere mich wieder auf meine Rolle und rücke meinen Oberkörper in Position. Sex! Marcia. Marcia nackt. Bei mir, nein, besser über mir. Im Bett! Sie fährt sich mit der Zunge über ihre Lippen, VIIEEEEERZZEEHHHNNN, o ja, sie ist auch geil, weil ... weil ... – egal, sie ist halt geil, sie nimmt mein Ding, halt ... wir sind hier ja nicht beim Kinderkanal ....

... sie nimmt meinen Schwanz ... FÜÜÜNNFFFZEHHHNNN ... Mann, das klingt ja wie in einem miesen Porno, egal ... sie nimmt ihn ganz fest und reibt ihn an ihren Schenkeln, SECHZEEEHHNNNN, und sie sagt Sachen wie: Simon, ich will, dass du's mir so richtig besorgst ... SSSIIIEBZEEEHNNN, warum muss ich jetzt an WMF denken? Egal ... und dann gleite ich hinein, ganz langsam, und ich spüre, wie ich in ihr bin, immer tiefer, wie ich ACHTTTTZEEEEEEEEEHHHHNNNNNN sofort komme.

»Uaaaaarrrrgghhhhh! «

Ich lasse die Rolle hochschnellen und klappe fix und fertig in mich zusammen.

»Nicht schlecht!«, konstatiert Popeye, der mich offensichtlich die ganze Zeit beobachtet hat.

»Zigarette?«

»Später!«, japse ich und lasse den Raum noch ein bisschen um mich herumdrehen. Ich bin recht erleichtert, als ich spüre, dass ich nicht wirklich gekommen bin, sondern nur einen respektablen Ständer in der Trainingshose habe. In einem von homosexuell orientierten Mitbürgern dominierten Fitnessstudio muss man das wohl als grenzenlosen Leichtsinn bezeichnen. Popeye hat diesen Leichtsinn leider auch bemerkt und packt sich recht belustigt seine 1,8 Millionen Kilo Gewicht auf die Stange.

»Na, Simon? An wen haste gedacht? Wer war der Glückliche?«

»DIE Glückliche!«, verbessere ich ihn. »Dass ihr das nie kapiert! «

Ich wüsste nicht, was es eine halslose Schwuchtel angeht, mit wem ich beim Sport Sex habe, um ein paar Extrawiederholungen zu schaffen. Weil er eine nette halslose Schwuchtel ist, sag ich's ihm trotzdem.

»Hammerfrau ... treffe ich heute Abend!«

»Und vorher willst du noch ein paar Extra-Muskeln aufbauen?«

»Äh ... ja!«

Peinlich, aber wahr. Denn heute Morgen beim Zähneputzen hat er wieder zugeschlagen, mein Ich-bin-viel-zu-dünn-Komplex. Und obwohl ich genau wusste, dass es nix bis gar nix bringt, wenn ich ein paar Stunden vor dem Marcia-Date noch zum Sport gehe, so wollte ich doch irgendwas dagegen tun.

»Bringt gar nix, oder?«, frage ich ihn.

»Na ja ... bisschen schon ... die Muskeln werden was härter und ... was du noch machen könntest ... is halt ...«

Während er spricht, beginnt er schon, die Gewichte zu pumpen. Unglaublich. Der Kerl schiebt die beiden Butterflyrollen zusammen, als wären sie aus Papier, dabei hat er sich links und rechts mal eben zwei Einfamilienhäuser an Gewicht draufgesteckt.

»Was du machen könntest, ist, ganz wenig zu trinken.«

»Wenig trinken? Warum das?«

»Na, weil dann die Muskeln besser rauskommen. Schauste nie die Bodybuilding-Shows auf Eurosport?«

»Nein, ich schau lieber Fehlerbilder auf Neun Live!«

»Jedenfalls, also vor 'nem Wettkampf, da trinken die Bodybuilder halt nix, das definiert die Muskeln, das bringt echt was!«

Ich bedanke mich für den wertvollen Tipp und schmeiße meine Wasserflasche weg.

»Und immer schön an Sex denken!«, ruft Popeye mir noch hinterher. Gott sei Dank sind wir die Einzigen im Studio. Ich schaue auf meinen Trainingsplan und setze mich in den Upper Back Push. 30 Kilo soll ich heben. Ich stelle 50 ein, visualisiere einen weiteren Beischlaf mit Marcia und schaffe drei Sätze á 15 Wiederholungen. Dann gehe ich zur Leg Press, wechsle meine Sexstellung mit Marcia und schaffe vier Sätze. Bei der Torso Rotation sitzt Marcia auf mir, beim Pectoral Push vögeln wir klassisch in der Missionarsstellung. Als ich nach einer Stunde wie auf rohen Eiern in die Umkleide schlurfe, hab ich im Kopf über zweihundert Mal mit Marcia geschlafen.

Völlig entkräftet werfe ich meine Sporttasche ins Auto und tippe Paulas Nummer in mein Handy. Ich spüre, wie die innere Anspannung trotz meiner sportlichen und sexuellen Höchstleistungen steigt. Noch fünf Stunden und zwanzig Minuten bis zum Fanta-Vier-Konzert. Ich bin fast so nervös, als müsste ich selbst auf der Bühne stehen. Und dann dieser schreckliche Durst! Aber ... wer Muskeln haben will, muss eben leiden. Und wenn Marcia mir gegen Mitternacht die Klamotten vom Leib reißt, dann entdeckt sie vielleicht die eine oder andere einzeln definierte Muskelfaser vom heutigen Training, knallt mich lüstern auf die Matratze und ...

»Siiiiimmmmooon! «

Paulas Stimme knarzt aus meinem Handylautsprecher. Mist! Hab völlig vergessen, dass ich sie angerufen habe. »Hi, Paula!«

»Na endlich, du treulose Tomate!«, bellt sie mich an. »Hey, Paula, alles klar?«

»Nix ist klar! Wo warst du denn gestern, du Blödmann? Wir haben 'ne geschlagene Stunde vor deiner Wohnung gewartet! Ich bin voll sauer. Und Phil auch. Und Flik sowieso!«

Scheiße. Ich hätte mir wenigstens eine Entschuldigung ausdenken können, bevor ich anrufe. Glücklicherweise ist Paula aber erst mal so stinkig, dass ich sowieso nicht zu Wort komme.

»Ich hab dich vier Mal angerufen, du Penner! Hättest ja wenigstens mal rangehen können«, schimpft sie weiter, während ich vom Parkplatz rolle und mich in den Verkehr einordne. Soll sie ruhig erst mal Dampf ablassen. Denn was ich wirklich schlecht kann, ist gleichzeitig links abbiegen und mich aus einer blöden Situation rausreden.

»Wir machen das nicht, um dich zu ärgern, Simon, wir machen uns Sorgen, kapierst du das?«

Ja, kapiere ich. Den Satz höre ich am Tag zehn Mal. Von der Eule, von Paula, von Flik. Ich sehe einen älteren Mann in einer grünen Ja-cke, der vor einem Steakrestaurant die Zeitschrift Wachturm nach oben hält. Ironischerweise wirkt er dabei so, als wäre er schon eingeschlafen.

»Wenn wir dir egal sind, dann musst du's einfach sagen, Simon. Dann steht eben keiner mehr vor deiner Tür. Hörst du mir zu?«

Das fragen mich auch immer alle. An der großen Umweltinforma-tionstafel am Rudolfplatz versuche ich, einen Blick auf die aktuellen Ozonwerte zu erhaschen. Im letzten Augenblick schiebt sich aber ein Möbellaster zwischen mich und die Tafel, und ich kann nicht mehr erkennen, ob Köln schon vergiftet ist oder nicht.

»Ja, ich höre zu!«

Weil ich gerade nicht links abbiegen muss, entscheide ich mich, Paula wenigstens einen Teil der Wahrheit zu sagen.

»Ich ... es tut mir Leid. Ich hätte euch Bescheid geben sollen, aber ich hatte echt keinen Bock auf die ganze Simon-was-ist-denn-mit-dir-los-Scheiße!«

Sogar durchs Telefon kann ich hören, wie sich Paula mit ihrem Zippo eine Kippe anzündet.

»Okay ...«

Ich weiß nicht, wie ich dieses Okay deuten soll. Womöglich war es ein Schweizer Okay, also ohne Wertung und Meinung. Keine Meinung. Wer hat's erfunden? Die Schweizer!

»Wo biste denn gerade?«, fragt sie mich.

»Zwischen Merzenich und Dr. Müllers Sex-Shop!«

»Da bin ich in der Nähe!«

»Du bist im Sex-Shop?«

»Neee, in der Ehrenstraße. Lust auf ein Käffchen im Quattro Cani?«

Zeit für MEIN Schweizer Okay. So ein bisschen Flirt-Coaching kann mir nicht schaden vor meinem Date, denke ich mir und werfe mein Handy auf den Beifahrersitz. Im Schneckentempo schleiche ich durch die Straße, in der ich wohne. Weit und breit ist kein Parkplatz zu sehen. Klar, was habe ich erwartet, es ist Samstag. Wenn ich Pech habe, dann dreh ich hier bis zum Konzert meine Runden und erliege noch vor dem ersten Fanta-Vier-Song einem Nervenzusammenbruch.

Es ist eine Sauerei, was die Stadt Köln hier mit ihren Bürgern veranstaltet! Wenn ich der Stadt schon den Gefallen tue, im unmittel-baren Zentrum zu wohnen, dann müsste sie wenigstens für einen Parkplatz sorgen. Aber nein, die shoppinggeilen Rübenstecher aus der Umgebung wollen ihren lehmverschmierten Passat am Samstag ja auch mal vor eine Edelboutique stellen statt neben einen Acker! Am besten fang ich erst gar nicht an, mich darüber aufzuregen. Wie durch ein Wunder finde ich ein paar hundert Meter hinter dem Café einen halben Parkplatz in zweiter Reihe. Ich rangiere etwas vor und zurück, stelle mich aber letztlich so, dass nur ein BMW mit holländischem Kennzeichen nicht mehr rausfahren kann. Um größeren Ärger zu vermeiden, parke ich grundsätzlich nur Holländer ein. Schließlich ist kein Mensch schwerer zu verstehen als ein wütender Holländer. Und bis die Bullen kapieren, was der will, bin ich längst über alle Tulpenfelder.

Ich erkenne Paula schon durch die Scheibe. Das ist eigentlich nichts Besonderes, denn das Quattro Cani besteht ausschließlich aus Scheiben. Ein schlimmer Laden, der seine Kundschaft vor allem aus gelackten Junganwälten und bulimiekranken Möchtegern-Soap-Stars rekrutiert. Dazwischen sitzt Paula in einem eierschalfarbenen Pullover und blättert in einem albernen Zickenmagazin.

»Hey!«, sage ich, grinse und lasse mich auf den weißen Designerstuhl fallen. Paula soll schon auf den ersten Blick wissen, dass mit mir absolut alles okay ist.

»Hey!«, sagt Paula, aber es klingt nicht ganz so positiv wie mein Hey. Eher wie ein Schweizer Hey.

»Sorry noch mal wegen gestern!«, sage ich und versuche, dabei möglichst schuldbewusst zu schauen.

»Wir haben uns echt Sorgen gemacht!«

Ja. Jetzt weiß ich es auch! Es ist das fünfte Mal, dass sie das sagt.

»Kann ich eine von deinen Kippen haben?«

»Nein! «

»Danke.«

Paula gibt mir Feuer und legt das Zippo zurück auf ihre Schachtel. Ein geschniegelter Kellner Marke Istanbul kommt an unseren Tisch und sagt einfach nur »Bitte?«.

Paula bestellt einen Latte Macchiato. Ich bestelle nichts.

»Willst du nichts trinken?«, fragt mich Paula verwundert.

»Nein, ich will nichts trinken! Is was dabei?«

»Nee, du hast halt bisher immer was getrunken!«

»Genau. Und heute trinke ich eben nix! Über welches Thema wollen wir jetzt genau streiten? Dass ich nix trinken will oder über gestern Abend?«

»Was bist du denn so aggressiv?«

»Ich bin nicht aggressiv!«

Paula schüttelt den Kopf und schiebt das Zippo wieder von ihrer Zigarettenpackung.

»Haste mal mit Flik gesprochen, die letzten 24 Stunden?«

»Wollte ihn gerade anrufen, wieso?«

»Hatte ihn eben am Telefon. Klang gar nicht gut. Hat wohl die ganze Nacht mit Daniela telefoniert.«

Scheiße. Sieht fast so aus, als hätte ich damit zu tun. »Und? Weiß man was Genaues?«

»Hat wohl Zoff mit dieser Daniela. Die haben schon am Telefon gestritten, als wir noch vor deiner Wohnung gewartet haben. Mehr weiß ich auch nicht. Flik hat nix gesagt. Vielleicht geht ihr beiden ja mal ein Bier trinken.«

Tolle Idee. So wird's gemacht. Aber besser erst in 'ner Woche.

»Ich ruf ihn nachher an!«

Einen Teufel werde ich tun.

»Da freut er sich.«

Ganz bestimmt. Mir fällt ein, dass ich ja nicht ins Café gekommen bin, um mich ausschimpfen zu lassen, sondern, weil ich noch den einen oder anderen wertvollen Tipp brauche.

»Duuuuuuuuuu? Pauuuuaaaalllllaaaaaa?«, frage ich mit Schmollmund und großen Augen.

»WAS willst du?«

»Wie mach ich das denn nachher auf dem Konzert mit Marcia?« Paulas Miene hellt sich auf.

»Ach Gott! Dein Date! Das ist ja heute!«

»In weniger als sechs Stunden! Hast du keinen Tipp für den kleinen, hilflosen Simon?«

Paula zuckt mit den Schultern und bläst den Rauch an die Scheibe.

»Hilfloser Simon! Klar! Manchmal frag ich mich, was ich dir noch sagen soll, du bist ja auch schon fast dreißig!«

»Vielleicht fast dreißig, aber keine Frau!«

Herr Istanbul bringt Paulas Kaffee, nicht ohne mich mit einem weiteren Und-für-Sie-wirklich-nichts-Blick zu ärgern. Ich winke ab. Mann, hab ich einen Durst!

»Bist du immer noch so verknallt in sie?«, fragt mich Paula.

»Immer noch so verknallt!«, nicke ich.

»Dann lass sie das nicht gleich spüren. Nimm den Abend nicht so wichtig. Oder tu zumindest so!« Ein brillanter Tipp! Ich nehme den Abend, an den ich seit 48 Stunden pausenlos denke, einfach nicht so wichtig.

»Und ...?«

»Mach ihr erst mal keine Komplimente für ihr Aussehen. Die hört sie wahrscheinlich oft genug. Mach ihr welche für was anderes!«

Ich nehme mir ein kleines Tütchen mit Süßstoff und schüttle es.

»Wieso? Sie sieht doch super aus!«

»Eben! Deswegen wird sie so was dauernd hören und nicht besonders überrascht sein.«

»Schlau! Du bist ganz schön schlau!«

»Wenn du ihr also unbedingt ein Kompliment machen willst, dann auf jeden Fall für was anderes.«

Ich überlege.

»Also ... so was wie ... Mädchen, ich hab das mal beobachtet, also wie du die Milch aufschäumst, das kann sonst wirklich keine andere!«

»Genau so was ... Blödmann! Du weißt schon. Sag, sie sei witzig oder intelligent!«

Ich reiße die Tüte mit Süßstoff auf und kippe ein bisschen auf den Tisch. Das Puder ist so fein, dass es fast wie Koks aussieht. Lustig!

»Ich soll sagen, dass sie intelligent ist?«

»Zum Beispiel! Natürlich nur, wenn sie ansatzweise was Schlaues sagt. Sag mal, verscheißerst du mich?« Paula drückt ihre Zigarette aus und nimmt einen ersten Schluck Latte.

»Natürlich nicht!«, sage ich, während ich mir mit meinem Bierdeckel eine schöne Line Süßstoffkoks ziehe.

»Ach, weißt du was, Simon? Sei einfach du selbst!«

»Also so ein richtiger Arsch!«

Es ist das erste Mal bei diesem Treffen, dass Paula lacht. Ich ziehe einen Fünf-Euro-Schein aus meinem Portemonnaie und drehe ihn zu einer Rolle. Paula plappert munter weiter.

»Dreh den Spieß doch einfach mal herum! Nicht DU musst dich beweisen, sondern sie sich! DU schaust dir Marcia genau an, nicht andersrum.«

Ich starre an die Decke. Sie hat die gleiche Farbe wie Paulas Pullover. Das isses! Sie muss sich beweisen, nicht ich mich! Der Gedanke gefällt mir. Ein Gedanke, der mich durch den Abend bringen wird! Paula grinst, weil sie erkannt hat, wie gut dieser Tipp bei mir angekommen ist.

»SIE muss DIR verklickern, dass sie so einen tollen Typen wie dich verdient hat!«

Genau! Das muss sie. Da gibt es kein Vertun! Und warum? Weil ich ein toller Typ bin! Ha! Ich glaub, ich hab's begriffen. Oder?

»Paula, ich bin doch ein toller Typ, oder?«

»Natürlich nicht, aber es hilft, wenn du's heute Abend mal glaubst!«

Ich nehme die Euroscheinrolle in den Mund und blase den Süßstoff auf Paulas Pullover.

»Hey ... du Blödmann! Der is neu!«

»Sorry, ich hatte ja keine Ahnung, dass sich das so gut verteilt! «

Ich lehne mich zurück und beobachte Paula beim Ausklopfen ihres Eierschalenpullovers. Ich überlege kurz, ob ich mich entschuldigen soll, lass es dann aber doch. Stattdessen beuge ich mich zu ihr vor und sage: »Also, ich fass noch mal zusammen: Ich mach Marcia keine Komplimente von wegen ... hey ... siehst du gut aus und so und gebe mich ein bisschen desinteressiert. Ich tue das, weil ich ein toller Typ bin, halt, weil ich denke, dass ich ein toller Typ bin, und weil sie beweisen muss, dass sie mich verdient hat und nicht andersrum!«

»Könnte man so sagen!«

»Na toll. Das sieht mir ja ganz nach einem sensationellen Abend aus.«

»Schick mir eine SMS, wenn's geklappt hat!«

»Wie, geklappt? Kuss oder Kiste?«

»Hallo! Wer sitzt vor dir?«

»Okay, Kiste! Ich sims dir was.«

Paula zahlt, und wir verlassen das Café. Ich bekomme noch eine Umarmung und die allerbesten Wünsche für den Abend, dann mache ich mich auf den Nachhauseweg. Als ich in der Wohnung bin, lege ich die härteste Techno-CD auf, die ich habe. Ich setze mich auf meinen Single-Sessel und rauche drei Zigaretten hintereinander. Lala hat alles supergut aufgeräumt. Die Wohnung blitzt und blinkt geradezu. Ganz bestimmt hat sie nur deshalb so gut geputzt, weil ich so ein toller Typ bin!

Ich bin immer noch ganz angetan von dem Gedanken, dass ICH Marcia teste und nicht SIE mich. Was ist, wenn sie absagt? Für einen Augenblick halte ich die Luft an. Dann atme ich erleichtert aus und grinse. Wird sie nicht, weil:

ICH BIN EIN TOLLER TYP!

Eine Sekunde darauf krampft sich mein Magen wieder zusammen.

Sie könnte gar nicht absagen, weil sie meine Nummer nicht hat!

Ist das schlimm oder cool?

Es ist cool. Ich, Simon Peters, lasse die schönste Frau der Stadt ohne Nummer im Regen stehen! DAS ist Chef! ICH BIN EIN TOLLER TYP!

Aber warum zum Teufel hab ich ihr meine Nummer nicht gegeben? Weil es Chef ist? Und: Hab ICH eigentlich IHRE Nummer? Nein! Und wo ich gerade so über den gesamten Abend nachdenke und dies offenbar zum ersten Mal tue, also aus rein organisatorischer Sicht: WANN wollte ich mich eigentlich mit ihr treffen?

ICH BIN EINE FLACHPFEIFE!

Ich stehe auf und haue gegen meinen CD-Wechsler. Die Technomucke verstummt augenblicklich. Glückwunsch, hätte ich den also auch geliefert. Von draußen höre ich ganz leise das Geschnatter shoppender Passsanten. Aus einer benachbarten Wohnung dringt ein Bohrgeräusch zu mir. Ich lasse mich wieder in den Sessel fallen, ziehe die Knie hoch bis ans Kinn und denke angestrengt nach.

WANN treffe ich mich mit Marcia?

Ich presse die Zähne aufeinander und schließe die Augen. Durst! Ich brauche was zu trinken! Ich bin schon am Kühlschrank, als mir einfällt, dass ich ja gar nichts trinken darf, wegen Popeyes Muskelmasterplans. Grummelnd stelle ich die Flasche Afri zurück.

WANN treffe ich mich mit Marcia? Vor dem Haupteingang, hatten wir gesagt. Das ist leider nur ein Ort und keine Zeit. Verdammt noch mal!

Ich spüre, wie sich eine teuflische Wut in mir zusammenbraut. Eine Wut, die Zentimeter für Zentimeter in mir hochsteigt, als wäre ich eine dieser albernen Zeichentrickfiguren, die immer rot anlaufen, bis ihnen der Dampf aus den Ohren pfeift. Ich kann kaum mehr normal atmen, alles ist verkrampft und angespannt. Im Zickzack laufe ich durch meine Wohnung. So bekloppt kann man doch gar nicht sein! Ich hab ein Date mit meinem Traumbabe und weiß nicht mehr, wann! Bestimmt fällt es mir wieder ein, wenn ich schreie!

»Aaaaahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh! ! ! ! ! !«

Das Bohrgeräusch verstummt. Aber: Mir ist besser. Ich schreie noch einmal, doch die befreiende Wirkung des ersten Schreis bleibt aus. Behutsam erklimme ich meinen Sessel, als wäre er ein dürres kubanisches Kamel, das unter meiner Last zusammenbrechen könnte. Ich muss Ruhe bewahren. Ich muss die Starbuckssituation noch mal im Kopf durchgehen. Ich könnte natürlich auch im Café anrufen! Und was soll ich dann fragen?

Hey ... du ... ich war leider so nervös bei unserem Treffen, dass ich mich an gar nichts erinnern kann. Das kennste doch, so was, oder? Kennste nicht? Nee, auch klar!

Ich werde nirgendwo anrufen. Stattdessen springe ich zu meiner Pinnwand in der Küche und reiße die Eintrittskarte herunter: Beginn 19 Uhr 30.

Okay ... ganz ruhig. Wann trifft man sich NORMALER-WEISE vor einem Konzert, wenn halb acht auf der Karte steht? Um sieben? Halb sieben? Um acht? Haben Fanta Vier 'ne Vorgruppe? Fanta Drei vielleicht? Als ich das zehnte Mal grübelnd meinen Single-Sessel umkreise, wird mir klar: Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als ab sechs Uhr auf Marcia zu warten. Vor dem Haupteingang. Ich beruhige mich ein wenig. Auch mein Nachbar hat sich von seinem ersten Schrecken erholt und bohrt nun wieder.

Halb drei. Bleiben mir noch exakt drei Stunden, bis ich gehen muss. Was für eine Aufregung wegen so einem Scheiß-Konzert! Ich bin 29 Jahre alt und benehme mich wie mit 14! Am liebsten würde ich gar nicht mehr hingehen! Ich stutze. Warum ist mir dieser Gedanke nicht früher gekommen? Genau! Ich gehe einfach nicht hin! Aber was ziehe ich an? Gar nicht hinzugehen, das wäre Chef! Dann könnte ich am Montag im Starbucks vorbeischauen und sie fragen, wie's ihr gefallen hat. Cooler geht es wirklich nicht. Das weiße Hemd und die braune Lederjacke drüber oder doch lieber so ein Kapuzenteil? Einfach nicht hingehen. Und: welche Schuhe? Schuhe sind ganz wichtig. Sneakers oder Leder? Was ist mit meinem Bart? Soll ich mich noch rasieren? Wie sehe ich überhaupt aus?

Mein Badspiegel zeigt ganz deutlich, dass ich einen Dreitagebart habe! Perfekt! Das ist genau der richtige Bart, um nicht zum Konzert zu gehen. Das ist der richtige Bart für einen gemütlichen Abend bei mir, charmant begleitet von einem Sixpack Beck's und einer leckeren Tiefkühlpizza. Sekunde mal: Wenn ein Dreitagebart der perfekte Bart zum Zuhausebleiben ist, ist dieser Bart dann also im Umkehrschluss der falsche Bart, um zum Konzert zu gehen? Ist die Entscheidung schon gefallen? Habe also nicht ich, sondern hat mein eigener Bart entschieden, ob ich eine Traumfrau treffe oder nicht? Das kann ja wohl auch nicht angehen! Ich drehe den Warmwasserhahn auf, weil ich mir alle Möglichkeiten offen halten will. Mit der anderen Hand greife ich nach einem Palmolive-Rasiercremespender. Das Wasser läuft und wird langsam heiß. Ich setze mich auf den Wannenrand und halte meinen Gelspender, als wolle man ein Foto für eine Rasiergelwerbung schießen. Bin ich jetzt ein toller Typ oder eine Flachpfeife? Eine Flachpfeife mit einem Dreitagebart? Oder ein frisch rasierter, toller Typ? Aus dem Hahn schießt inzwischen brühend heißes Wasser. Für die sensible Haut steht auf meinem Rasiercremespender. Was soll das denn heißen? Dass die Rasiercreme die Haut nicht beleidigt, wenn ich sie auftrage, weil sie so sensibel ist? Gibt es Rasiercreme für die selbstbewusste Haut? Oder für die vorlaute Haut ab dreißig? Genug! In exakt 30 Sekunden werde ich mich entscheiden, ob ich zum Konzert gehe oder nicht. 30, 29, 28, 27 ... Sekunde mal! Wenn ich zähle, kann ich gar nicht nachdenken! Und wie soll ich in so kurzer Zeit eine so wichtige Entscheidung treffen, wenn ich nicht nachdenken kann? Ich greife nach einer blauen Plastikuhr mit Sekundenzeiger, die ich im Bad stehen habe. Wegen des ganzen Dampfes muss ich sie mir direkt vor die Nase halten, damit ich etwas erkenne. Wenn der Zeiger unten bei sechs ist, dann hab ich mich entschieden! Und los! Die Gedanken rasen.

Okay ... wenn ich nicht hingehe ..., dann bin ich auch keinen Schritt weiter mit Marcia und hab über 70 Euro rausgeblasen. Wenn ich hingehe, dann hab ich eine echte Chance auf die schärfste Frau, die in dieser Stadt rumläuft. Und ich habe eine Chance. Weil ... weil ich keine Flachpfeife bin mit einem Dreitagebart, sondern ...

Der Sekundenzeiger ist bei der Sechs angekommen. ... ein frisch rasierter toller Typ!!!

Ich tauche meinen Kopf ins Wasser ...

»Aaaaaaaahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh! ! !«

... und reiße ihn wieder raus. Mein Gesicht ist ein einziges Flammenmeer! Panisch drehe ich den Hahn auf kalt und drehe mich ein paar Mal im Kreis, weil ich nicht weiß, was ich machen soll, bis das Wasser kalt wird. Ich haue meine Hand auf das Waschbecken, als würde das irgendwas bringen. Dann schaufle ich mir literweise eiskaltes Wasser in meine geschundene Visage. Nach fünf Minuten wage ich einen ersten Blick in den Spiegel. Ich sehe aus wie ein irischer Lastwagenfahrer nach drei Wochen Karibiksonne. Langsam lasse ich mich zurück auf den Wannenrand gleiten. Ich bin eine krebsrote Flachpfeife mit einem Dreitagebart. Man muss den Tatsachen ins Auge sehen: Als halbseidene Niki-Lauda-Parodie stehe ich beim Mädchen Nummer eins nicht wirklich ganz oben auf der Tanzkarte. Fakt ist, und da muss ich eigentlich gar nicht länger in den Spiegel starren, dass ich jetzt keine Chance mehr habe. Seltsam, aber aus genau diesem Grund entspanne ich mich. Ich lächle sogar! Wenn ich keine Chance mehr habe, dann brauche ich auch keine Angst mehr haben! Und wenn ich keine Angst mehr habe, dann kann ich ja eigentlich auch gehen! Ich bin nicht irgendeine krebsrote Flachpfeife mit Dreitagebart. Ich bin eine krebsrote Flachpfeife mit einer Entscheidung! Denn diese krebsrote Flachpfeife geht mit der schönsten Frau der Stadt zum Konzert! Und vorher in die Apotheke!

NACHT AM MEER

Ich tupfe die letzten Reste Brandsalbe aus meinem Gesicht und schlüpfe in mein weißes Hemd. Das Hemd steht mir normalerweise recht gut. Doch da das blütenreine Weiß des Stoffes in einer nahezu erschreckenden Art und Weise mit dem tomatigen Rot meines Gesichts kontrastiert, hänge ich das Hemd zurück und greife nach meiner kackbraunen Puma-Trainingsjacke. Inzwischen bin ich regelrecht gut gelaunt. Ich packe noch ein bisschen Gel in die Haare, zupfe hier und dort und begutachte mich schließlich ein letztes Mal im Spiegel. Die Ähnlichkeit zu Bruce Willis in der hundertzwölften Minute von Die Hard ist verblüffend. Ich sollte mir noch ein wenig Blut auf die Klamotten schmieren und ein paar Löcher reinreißen. Dann könnte ich wenigstens behaupten, ich hätte gerade den Kölner Dom vor einem gigantischen Terroranschlag gerettet. Mit dem Zei-gefinger tippe ich auf meine Wange. Die Haut wird erst weiß, dann wieder rot. Ich schaue auf die Uhr. Wenn ich die Bahn um 26 bekomme, dann stehe ich pünktlich um sechs vor der Halle. Und vorher werde ich mich ja wohl kaum verabredet haben.

Fertig!

Theatralisch lasse ich die Tür zukrachen, als wolle ich der ganzen Welt mitteilen: So! Und jetzt gibt es kein Zurück.

Während ich auf den Aufzug warte, interpretiere ich frei die türkischen Musikstücke, die ich vor ein paar Tagen aus einem tiefer gelegten Mercedes SLK gehört habe. Der Aufzug kommt, und ich fahre die vier Stockwerke nach unten, die man meine Wohnung zu hoch gebaut hat. Es ist bereits dunkel, als ich vor die Eingangstür an die frische Luft trete. Als ich mir meinen Kragen in Position zupfe und die ersten Schritte in Richtung Bahnstation gehe, kommt mir ein ganz übler Verdacht, ein ganz, ganz böser, sehr, sehr schlimmer Verdacht in den Kopf. Ich stecke meine Hand in die linke Hosentasche. Nichts. Ich klopfe auf meine rechte Hosentasche: auch nichts. Mit pochendem Puls filze ich jede einzelne Tasche meiner Klamotten, aber die düstere Vorahnung bestätigt sich. Ich bin eine krebsrote Flachpfeife ohne Haustürschlüssel!

Kraftlos döze ich meinen Kopf an die Häuserwand. Ich hab den Schlüssel in der Wohnung gelassen! Ich Vollidiot hab mich ausgeschlossen! Ausgerechnet jetzt! Ich muss Lala anrufen! Lala ist die Einzige, die noch einen Schlüssel von mir hat! Mit einem Schwung drehe ich mich um und ziehe mein Handy aus der Hosentasche.

»Lieber Gott, bitte lass Lala ans Handy gehen!«, bete ich, als ich nach ihrer Nummer suche. Sicher das bekloppteste Gebet, was an diesem Tag beim lieben Gott im Posteingang landet. Es klingelt ein Mal, zwei Mal, drei Mal ... und dann, ich könnte schreien vor Freude, höre ich Lalas Stimme.

»Ja?«

Es ist erstaunlich, wie man schon ein so kurzes Wort wie Ja mit kroatischem Akzent aussprechen kann.

»Lala! Das ist ja geil, dass du rangehst!«

»Klingelt Handy, geh ich ran! Is nix Besonders! Hab ich Scheiße gebaut in Wohnung?«, fragt sie besorgt.

»Nein, ganz und gar nicht!«

Ich springe vor Freude einen Schritt zur Seite und remple dabei fast einen älteren Herren um. »Siiiiiiieeeeeeeeee!«, raunzt er und zeigt auf mich. Er kommt mir irgendwie bekannt vor.

»Lala, ich hab mich ausgeschlossen, ich brauch meinen Schlüssel!«, stammle ich ins Telefon. »Kann ich dich sehen? Also ... jetzt?«

Ich kann! Weil Lala auf der anderen Rheinseite in der Nähe der Konzerthalle wohnt, einigen wir uns darauf, die Schlüsselübergabe dort zu machen. Ich atme tief durch, schüttle mich kurz und gehe bedächtigen Schrittes Richtung Rudolfplatz, wo meine Bahn losfährt. Die 26er habe ich verpasst, aber das ist egal.

In der Bahn schauen mich alle an, als hätte ich die Hühnergrippe, Shrimpsdönerausschlag und SARS zusammen. Eine alte, dünne Frau mit einem Trockenpflaumen-Gesicht schimpft mit sich selbst über die Schlechtigkeit der Welt. Jeder hört zu, aber keiner schaut hin. Sie haben ja mich zum Glotzen. Ich halte wenigstens die Klappe. Nach einer halben Stunde springe ich, zusammen mit über hundert weiteren Konzertbesuchern, aus der Bahn und gehe Richtung Konzerthalle. Ich beschließe, ein wenig cooler zu gehen als sonst, schließlich bin ich ja jetzt Hip-Hop-Fan. Yo! Yo! Yo! Check Dis Out. MC Peters in da hoouuuusse!

Ich sehe Lala schon von weitem. In ihrer schwarzen Stoffhose und mit ihrem braunen Wintermantel mag sie nicht so recht zu den übrigen Fanta-Vier-Fans passen, die sich in ihren Basecaps und Trainingsjacken rauchend vor dem Haupteingang tummeln.

»Siiimon!«, begrüßt sie mich strahlend. Das Strahlen verschwindet, als ich direkt vor ihr stehe.

»Was ist los mit deine Gesicht?«

Schade, ich hatte mein Aussehen gerade für eine Minute vergessen.

»Das is 'ne Neurodermitis!«, lüge ich.

»Ist ganz rot dein Gesicht, weißt du?«

Ja, ich weiß es. Ich hab es heute Nachmittag schließlich selbst in 90 Grad heißes Wasser getaucht. Lala bemerkt, dass ich verärgert bin, und zieht lachend meinen Wohnungsschlüssel aus ihrer Handtasche.

»Hab ich Schlüssel dabei!«

»Weltklasse!«

Ich umarme Lala und hab plötzlich ein schlechtes Gewissen, sie extra hierher fahren zu lassen, nur weil ich zu blöd bin, meine Wohnung wie ein normaler Mensch zu verlassen. Ich weiß, dass sie nichts erwartet, aber irgendwie möchte ich mich schon gerne bedanken. Ihr Geld zu geben wäre allerdings auch ein bisschen beknackt. Deswegen frage ich sie, ob ich ihr ein Bier ausgeben kann.

»Danke, Simon, ist ganz lieb, aber glaube ich, geh ich gleich wieder nach Hause!«

»Sicher?«

»0 ja!«

Aber Lala geht nicht und schaut interessiert durch die Gegend. Vielleicht ist es ja ein uralter kroatischer Brauch, sich ein paar Sekunden umzuschauen, bevor man geht. Auch ich lasse meinen Blick schweifen, in der Hoffnung, Marcia irgendwo zu entdecken. Lala zupft mich an meiner Jacke.

»Was ist Fantastische Vier, Simon?«

In diesem Augenblick erinnere ich mich daran, dass Lala Musik liebt. Egal, welche Musik, wie sie immer sagt, Hauptsache flott. Aber Fanta Vier? Mit über vierzig? Als Exil-Kroatin? Neiinn!

»Das ... ist deutscher Hip-Hop!«, erkläre ich möglichst desinteressiert. Dabei spreche ich Hip-Hop aus, als wäre es eine ganz besonders schlimme Form der Neurodermitis. Von Marcia immer noch keine Spur.

»Ahhhh ... Fantastische Vier. Hab ich gehört beim Bügeln. Ist in deine CD-Maschine, stimmt?«

Ja! Fanta Vier sind in meiner CD-Maschine. Und wenn ich gewusst hätte, dass Lala diese Maschine bedienen kann, dann hätte ich sie ganz bestimmt vorher rausgenommen.

»Ist das die da?«, fragt mich Lala. Zunächst hab ich keine Ahnung, was sie meint. Woher weiß sie denn, dass ich verabredet bin? Sie weiß es gar nicht, bemerke ich Sekunden später, als Lala die Frage wiederholt und mit einem gewissen Rhythmus versieht.

»Dieda, dieda, dieda ... die roten Pulli anhat? Oder die-da? Hahaha! Kenn ich von CD-Maschine. Is gut!«

Da ich nicht weiß, wie voll der Posteingang des lieben Gottes heute schon ist, schicke ich ihm nur ein Stoßgebet in SMS-Länge: »Lieber Gott, bitte nicht!«

Der Posteingang ist sehr voll.

»Meinst du, es gibt noch Karte?«, fragt mich Lala mit großen Augen.

»Pfff ...«, sage ich, »kann schon sein, musst du mal ein paar Leute fragen ...«

»Ahhh ... schwarze Markt!«, freut sie sich. »Da schau ich man« Spricht's und bahnt sich ihren Weg durch die Leute, noch bevor ich sie davon abhalten kann. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass an diesem Tag nicht wirklich alles nach Plan läuft. Aber ich bleibe optimistisch.

Lala wird keine Karte mehr bekommen. Das Konzert ist seit Wochen ausverkauft. Ich kann mich also beruhigen. Wenn Lala das nächste Mal bei mir sauber macht, stelle ich eine schöne Flasche Wein auf den Tisch, lege noch zehn Euro dazu, und das war's. Und in meinem Sorge-dich-nicht-Buch steht schließlich auch, dass man sich keine Sorgen über Sachen machen soll, die noch nicht passiert sind, weil die meisten Dinge, über die man sich Sorgen macht, sowieso nicht passieren. Und wenn wider Erwarten doch mal was Schreckliches passiert, dann kann man immer noch anfangen, sich Sorgen zu machen.

Lala springt auf mich zu. Sie strahlt über beide Ohren. Jetzt zum Beispiel wäre so ein Augenblick, sich Sorgen zu machen.

»Simon! Simon! Hab ich Karte für Konzert, schau!« Lala hüpft wie ein Gummiball vor Freude, wobei sie mir stolz ihre Eintrittskarte präsentiert.

»Simon! Geh ich auf Hip-Hop-Konzert! Was sagst du?«

»Super!«, sage ich und versuche, wenigstens kurz so auszusehen, als würde ich mich auch freuen. Ich freue mich ja auch tatsächlich. Für sie. Nicht für mich.

»Gehen wir rein?«, fragt mich Lala.

»Ich ... warte noch auf jemanden!«

»Oh!«, sagt Lala und wirkt nachdenklich für den Bruchteil einer Sekunde. Dann aber strahlen die Augen wieder, und sie klopft mir auf die Schulter.

»Dann ... hol ich uns jetzt mal Bier!«

Ich will ihr noch sagen, dass ich kein Bier trinken will, aber da ist sie schon weg, verschwunden in Richtung eines großen Bierwagens.

Ich erkenne Marcia nicht sofort. Zunächst sehe ich nur zwei kniehohe Lederstiefel, die sich langsam der Konzerthalle nähern, dann einen fahrlässig kurzen Rock. Schließlich bin ich mir aber doch recht sicher, dass es Marcias Lockenkopf ist, der da aus dem dicken, beigen Rollkragenpulli schaut. Und ohne ihre alberne Starbucks-Uniform sieht sie noch anbetungswürdiger aus! Mein Selbstbewusstsein kracht erdrutschartig zusammen. Ich will ihr winken, doch irgendwie kriege ich die Hand nicht richtig hoch. Macht nichts, sie hat mich noch gar nicht gesehen. Sie steht nun keine zwanzig Meter mehr von mir entfernt und schaut sich suchend um. Urplötzlich sind sie wieder da, meine Zweifel, von denen ich dachte, dass ich sie mir allesamt wegge-brüht hätte. Was will ein Kerl wie ich mit so einem Traumbabe? So ein Babe, und da braucht sie keinen Meter mehr näher zu kommen, könnte George Clooney auf seiner Yacht den Rücken massieren und dabei in die Linse des Paparazzo lächeln. Alle würden sagen: Na also, das ist 'ne Frau für den Clooney!

»Hey ...!!!«

George Clooneys Freundin hat mich erkannt. Wie in Trance gehe ich auf sie zu. Ich gebe mir große Mühe, souverän zu lächeln, doch leider verziehen bisher unbekannte Muskelgruppen mein Gesicht in Richtungen, wie man sie von dieser Spaß-Software für Fotos kennt. Der Weg zu Marcia dauert eine halbe Ewigkeit. Jeder Meter, den ich ihr näher komme, lässt sie noch perfekter, weiblicher und sinnlicher erscheinen. Was ist, wenn ich gar nicht bei ihr ankomme? Was ist, wenn es mich überhaupt gar nicht mehr gibt? Was ist, wenn ich nur eine animierte Videospielfigur der Flirt-Matrix bin, auf dem Weg zum zweiten Level? Ich räume ein Hindernis nach dem anderen aus dem Weg. Vorsicht, Typ mit Bierbecher, linksherum, Bing! 100 Punkte. Achtung, Bordstein, zu spät! Joystick hooooch! Dong! Ich stolpere und grinse saudoof dazu, als würde dieses Grinsen den Stolperer ungeschehen machen. Kawuff! Oh! Nur noch ein Leben. Ding-ding-ding ... Ich bekomme die Warnung, meinen Charismaspeicher aufzutanken. Die hallenden Stimmen, die ich höre, sprechen durcheinander: Charisma bei 10 Prozent! Achtung! Sprachvermögen nahe null! Charismaspeicher leer!!!

Das ist schlecht, denn nun stehe ich direkt vor ihr. Game over. Insert new coin. 0 mein Gott! Sie lächelt! Hab ich noch eine Münze? Statt ihr einen Kuss auf die Backe zu geben, reiche ich ihr meine schweißnasse Schlabberhand.

»Ein Euro? Ist der für mich?«

»Für dich!«, sage ich, ohne zu stottern. Sind ja nur zwei Wörter.

»Danke, das ist ja lieb!«, schmunzelt sie und gibt eine Reihe makelloser, weißer Zähne frei. Auch das noch! Schon eine winzige Zahnlücke hätte mir geholfen, nicht ganz so knilchig vor ihr zu stehen. Hat sie aber nicht. Ich glaube, sie macht das absichtlich. Entweder ich hole jetzt eine weiße Fahne hervor und ergebe mich mit den Worten »Du bist zu gut für mich!«, oder ich küsse sie einfach. Ich könnte ihr die kleine schwarze Locke von der Stirn streichen, ihren Vanilleduft atmen und dabei ihrem herrlich großen Mund immer näher kommen.

»Du ... bist doch der Typ mit der Karte?«, fragt sie mich.

»Bin ich! Der Typ mit der Karte. Genau.«

Das sage ich, weil ich der Typ mit der Karte bin. Seltsam. Es war nicht unbedingt viel Liebe in ihrer Frage. Ja, nicht mal Interesse.

»Sagst du mir noch mal, wie du heißt, sorry, hab's voll vergessen!«

Kawumm. Noch ein Treffer auf die Milz. Liebt sie mich gar nicht? Das hatte ich mir aber anders vorgestellt! Auch Akzent und Gestus haben plötzlich viel von der Schnoddrigkeit überforderter Oliver-Geissen-Talkshowgäste.

»Deinen Namen! «

»Oh ... sorry. Simon!«

»Wie?«

»Siiiiimoooon! «

»Ah ... Simon. Genau!«

Das ist der traurige Beweis! Sie hat meinen Namen vergessen. Schlimmer noch: Sie hat ihn sich nie gemerkt! Wie konnte ich auch nur im Traum glauben, dass ich Chancen hätte bei einer Frau, die zwölf Monate hintereinander die Titelseiten des Playboy schmücken könnte. Ich, die verbrühte Dreitagebarthackfresse mit meiner kackbraunen Schulhofjacke, und Miss Januar bis Dezember! Ein sensationelles Paar!

»Was hast'n mit deinem Gesicht gemacht? Voll rot!«, fragt mich mein Playmate und zündet sich mit einem schmalen Silberfeuerzeug eine lange, weiße Cartierzigarette an. Es gibt sympathischere Raucherutensilien.

»Kleiner Kochunfall ...«

»Ahhh ...«

»Ich wollte mir Spaghetti machen und ...«

Kaum, dass die Zigarette brennt, zieht sie ein kleines, eiförmiges Modehandy aus einem kleinen Pelztäschchen und schaut aufs Display. Muss ja ein echter Schenkelklopfer gewesen sein, meine Spaghettigeschichte!

»Gehen wir?«, fragt sie mich.

Das ist nicht gerade das, was man Interesse an der anderen Person nennt, aber immerhin ist es eine Frage, auf die man antworten kann. Dinge wie Ja, Nein oder aber auch Wir müssen nur gerade noch auf meine Putzfrau warten. Ich entscheide mich für Ja. Aber auch in diesem Falle bin ich mir nicht wirklich sicher, ob sie es hört, denn jetzt tippt sie eine SMS.

»Sorry«, sagt sie, und »Kein Problem!«, sage ich.

Es bricht mir das Herz, Lala mit ihren beiden Bieren vor der Halle stehen zu sehen, aber es gibt Dinge, die passen einfach nicht zusammen. Brasilien und Pünktlichkeit zum Beispiel oder die Post und Kundenservice und ganz bestimmt Putzfrau und Traumdate. Abgesehen davon: Was will ich denn jetzt mit Bier, so kurz bevor sich meine Bauchmuskeln definieren? Als wir uns in die Schlange für den Einlass einreihen, wage ich einen weiteren Gesprächsvorstoß.

»Wie läuft's bei Starbucks?«

»Gut!«

»Das freut mich für dich!«

Ich warte auf die Gegenfrage, doch es kommt keine. Stattdessen fiept ihr Handy.

Ich versuche galant wegzuhören, kriege natürlich trotzdem jedes Wort mit. Sie erzählt irgendeiner Person von Nadine, Jessy und Sandy und dass das alles Schlampen wären, das wäre ja wohl klar. Und die Sandy könne sowieso mal schön die Klappe halten, mit ihrem Brauereiarsch.

»Die Sandy ist voll die Schlampe, weißte!«, klärt mich Marcia auf, als sie endlich ihr Handy wegpackt.

»Hab ich mir immer gedacht!«, scherze ich.

»Du kennst doch die Sandy gar nicht, oder kennste die?« Nächstes Problem. Sie hat keinen Humor. Oder einen anderen als ich.

»Die Sandy, ist das eine Starbucks-Kollegin?«

»Nee, die is doch bei der KVB in der Verwaltung! Und jetzt macht se sich an den Chris ran, obwohl die genau weiß, dass der mit der Iris is, weißte?«

»Die blöde Schlampe!«, entrüste ich mich, und Marcia nickt. Wir sind am Eingang.

Ein dümmlich dreinblickender Kerl mit quadratischem Kopf, kurzen Haaren, Ohrring und Security-Bomberjacke tastet mich nach Sprengstoff ab, starrt aber die ganze Zeit sabbernd auf Marcia. Ich könnte vier Atombomben in meiner Innentasche deponiert haben, er würde es garantiert nicht bemerken.

»War noch gut gestern?«, nuschelt der Quadratschädel Marcia zu.

»War'n noch im Nachtflug. Das mit Sandy haste gehört?«

»Schlampe halt!«, grinst der Quadratschädel und widmet sich dem nächsten Besucher. Ich bin geschockt, was meine Begleitung für Leute kennt. Und langsam würde es sogar mich mal interessieren, einen Blick auf Sandy zu werfen. Wir sind keine zwei Schritte im Foyer, da verschwindet mein Playmate mit den Worten »Holste mir einen Prosecco?« in Richtung Toilette. Ich schaue ihr nach und bin dabei nicht der Einzige. Sie scheint es zu wissen und zu genießen. Eine gewisse Ratlosigkeit macht sich bei mir breit. Ich hab ja nicht erwartet, dass mir mein Starbucks-Mädchen gleich zur Begrüßung die Zunge in den Hals steckt und fragt, ob ich Gummis dabeihabe. Aber es wär schon toll gewesen, wenn wir zumindest mal einen einzigen geraden Satz gewechselt hätten. Missmutig besorge ich Marcias Prosecco und stelle mich zurück an die alte Stelle.

Ich lehne mich an ein Stück Wand und beobachte die Leute, die, meist in Gruppen, schnatternd an mir vorbeiziehen. Fast alle sind zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig, und fast alle sind nicht gerade die typischen Konzertbesucher. Ex-Jugendliche, die jeweils 35 Euro dafür bezahlt haben, um sich noch mal für zwei Stunden in die gute alte Zeit zurückschießen zu lassen. »Fanda Via subbageil!«, ruft ein dicker Schwabe im Fanshirt wie auf Befehl und nimmt einen Bierbecher eines Kumpels entgegen. Was mich an diesen Leuten am meisten erschreckt, ist, dass sie offenbar die gleiche Musik mögen wie ich. Ich schaue auf die Uhr. Marcia ist jetzt schon über eine Viertelstunde weg. Normal? Zu lang? Oder gar zu kurz? Zu lang! Denn inzwischen springt eine gut gelaunte Lala durch die Sicherheitskontrolle. Als hätte ich nicht Probleme genug! In der Hand hält sie noch immer unsere zwei Pappbecher Bier. Noch bevor ich überhaupt auf die Idee kommen kann, mich zu verstecken, hat sie mich entdeckt und eilt freudig strahlend auf mich zu.

»Simon ... da bist du! Hab ich dich draußen gesucht ...« Sie ist nicht mal ansatzweise sauer, dass ich sie habe stehen lassen.

»Sorry, ich dachte, du wärst schon rein!«, lüge ich und genieße den einzigen Vorteil meiner Verbrennungen: Ich kann nicht mehr rot werden. Lala reicht mir einen der beiden Bierbecher. Es kostet mich ziemlich viel Überwindung, nichts davon zu trinken. Mein Durst ist inzwischen nämlich ungeheuerlich.

»Wann geht los?«, fragt sie mich aufgeregt und nippt an ihrem Bier.

»Eigentlich jetzt!«, sage ich und schiele auf meine Uhr. »Und wo ist dein Kumpel?«, will Lala wissen.

»Das ist kein Kumpel, das ist 'ne Bekannte von mir!«, kläre ich die erstaunte Lala auf.

»Ahhh, Simon ... neue Liebe?«

»Weiß ich noch nicht!«, gebe ich betreten zu. Ich frage mich wirklich, wo zum Teufel die Frau bleibt. Vielleicht hat sie ja ihre Lieblingsschlampe Sandy auf dem Klo getroffen und musste ihr vor dem Händewaschen noch rasch die Augen auskratzen.

»Und wo ist Bekannte?«, hakt Lala nach.

»Auf'm Klo, kommt gleich«, sage ich.

»Dörte war nicht gut für dich?«

Ach du lieber Himmel. Dörte. Das ist ja Jahre her. Womöglich aber auch erst ein paar Tage.

»Das mit Dörte ... na ja, wir sind zu verschieden!«

»Hat mir gesagt, dass ihr euch nicht mehr trefft«, bedauert Lala und ergänzt: » Schade. Hat so schöne Wohnung!«

»Das tut mir Leid«, lüge ich, und dann kommt Marcia auf uns zugeschlurft, ganz langsam, weil sie nämlich während des Gehens noch auf ihrem Handy herumpickt mit ihren langen, weißen Playmatefingernägeln. Komisch. Die sind mir im Café auch noch nicht aufgefallen. Offenbar hat sie Sandy doch nicht getroffen, denn sie hat kein Blut an der Hand.

»Is das die Kumpel?«, flüstert Lala mir augenzwinkernd zu, als sie schon fast bei uns ist.

»Ja!«, flüstere ich zurück.

»Schöne Frau!«, nickt Lala anerkennend und lässt ihren Blick über Marcia schweifen.

Marcia ist erstaunt, fast erschrocken, als ich ihr Lala vorstelle, und schaut exakt so, als bekäme sie gerade von Sandy einen Strafzettel unter den Wischer geklemmt.

»Marcia, das ist Lala — Lala, Marcia!«

»Mach ich sauber bei Simon!«, ergänzt Lala freundlich und reicht Marcia die Hand. Diese schüttelt sie zögerlich, schaut dabei aber nicht Lala, sondern mich an.

»Lala? Wie? Macht sauber?«

»Lala ist meine Putzfrau«, erkläre ich.

»Deine Putze? Verarschst du mich?«

Je weniger ich so schaue, als würde ich sie verarschen, desto mehr weicht das Sanfte aus ihrem Gesicht. Auch Lala wirkt eine Ecke kühler, als sie sich gegen die uncharmante Frage verteidigt.

»Hab ich Schlüssel vorbeigebracht und dann Karte gekauft. Gehe ich auch aufs Konzert, aber alleine, musst du keine Angst haben um Simon! «

»Lasst uns doch mal reingehen, fängt sicher gleich an!«, lautet mein von beiden Seiten ignorierter Schlichtungsversuch.

»Der hat mir die Karte geschenkt, das ist nicht mein Freund, okay!?«, kontert Marcia schnoddrig. Irgendwie ist mir dieser Tonfall bisher entgangen. Liebe macht offenbar nicht nur blind, sondern auch noch taub.

»Hab ich ja nur gesagt, dass ich euch nicht stören will!«, faucht Lala zurück. Huh! Ich hab sie das letzte Mal so böse gesehen, als ich behauptet habe, sie hätte meine Terrakottavase kaputtgemacht. Ich reiche Marcia ihren Prosecco. Ohne sich umständlich zu bedanken, schnaubt sie in Richtung Konzerthalle. Eine Sekunde lang stehe ich mit offenem Mund da, dann renne ich ihr nach.

»Ja, genau, lass uns mal reingehen!«, rufe ich verzweifelt hinterher und winke Lala, dass sie mir folgen soll. Nach ein paar Metern haben wir Marcia eingeholt und wühlen uns zu dritt durch Hunderte von Leuten. Meine Fan-Vorahnung bestätigt sich. Bei jedem anderen Konzert kriegt man pro Reihe wenigstens ein »Heyyyyy ...« oder »Drängler!« an den Kopf geschmissen. Die Fanta-Vier-Fans treten hingegen einen Schritt zur Seite und lächeln noch bräsig dazu.

»Wilsch vorbei? Glar, vorne siehtma bessa! Hahaha ...«

Als wir uns schließlich für einen Platz direkt vor dem Mischpult entschieden haben, zupft mir Lala am Hemd und flüstert mir ein »Is schlechte Frau, Simon!« ins Ohr. Kurz darauf ergänzt sie: »Hat schwarze Herz!«

Ich weiß zwar nicht, was ein schwarzes Herz ist, aber etwas Gutes ist es nicht, das kann ich mir schon denken. Ein paar Roadies positionieren noch einige Instrumente auf der Bühne. Jeder Einzelne wird frenetisch gefeiert. Lala steht unglücklicherweise zwischen mir und Marcia, geht aber einen Schritt nach vorne, als sie dies bemerkt. Marcia schafft es trotzdem, mich zu ignorieren. Hey! Ich habe ihr immerhin die Karte hierfür geschenkt. Warum schaut sie dann so, als hätte ich ihr gerade einen Backstein in ihr Küchenfenster gedonnert? Ich weiß in der Zwischenzeit auch nicht mehr so recht, wie ich mich fühlen soll. Eines ist aber ganz sicher: Die Frau, die neben mir steht, ist eine andere als die, in die ich mich verliebt habe. Noch bin ich aber nicht bereit, alles hinzuschmeißen. Gut, sie ist distanziert und irgendwie prollig. Sie sieht aber immer noch umwerfend aus. Lala hat sie irritiert. Und ich ... ? Vielleicht ist sie ja tatsächlich nur scharf auf die Karte gewesen?

Das Licht fährt runter, und unter lautem Gejohle kommen jede Menge Musiker auf die Bühne. Lala und ich schreien und klatschen ... Marcia tippt auf ihrem Handy herum, ohne aufzuschauen.

»Es geht los!«, rufe ich ihr zu. Sie nickt. Die Information kam also an und wurde verarbeitet. Immerhin. Die Streicher legen los, und Sekunden darauf kommt auch Thomas D auf die Bühne, ganz in weißen Stoff gehüllt. Lala informiert mich schreiend darüber, dass aus dem Stoff Rotweinflecken so gut wie nicht wieder rauszukriegen sind. Thomas D setzt sich auf einen Hocker und sagt: »Hallo, Düsseldorf!« Witzbold. Nachdem sich das Pfeifkonzert gelegt hat, sind die ersten Takte von Le Smou zu hören. Der Mob johlt und klatscht. Hut ab, die Jungs haben den Saal schon jetzt im Griff.