TEIL III

 

Wenn wir uns vor den Aktivitäten von Spionen und ausländischen Agenten beschützen wollen, müssen alle aufmerksam sein und verdächtige Vorgänge der Polizei oder den Militärbehörden melden. Die großen Militärmächte werden jederzeit - auch im Frieden - ihre Nachrichtendienste organisiert und ihren Spionageapparat in Betrieb halten, daher ist es notwenig, dass wir stets auf der Hut sind.

 

Joh. Sohr, 1938

 

Junge Dame verschwunden

 

Ein paar Tage später sahen Kiss und ich die britische Verfilmung von Feuchtwangers >Jud Süß< im Casino.

Es war ein höchst sehenswerter Film, mit hübschen Kostümen und kostspieligen Massenszenen. Ich war noch immer ganz aufgewühlt, als wir danach im Theatercafe etwas tranken.

»Der Schluss war wirklich beeindruckend«, bemerkte ich. »Als Conrad Veidt in einem Käfig an den hohen Galgen hinaufgezogen wird, während die johlende Menge und ein paar Juden der Hinrichtung beiwohnen. Man kann nicht umhin, an die heutige Judenverfolgung in Deutschland zu denken.«

Kiss zuckte mit den Schultern. »Ich finde überhaupt nicht, dass Süß als besonders sympathisch dargestellt wird.«

»Zugegeben. Aber Conrad Veidt lässt uns verstehen, warum er so ist, und das ist der springende Punkt. Juden sind keine Sündenböcke, die für die Fehler der Gesellschaft geopfert werden dürfen. Aber, Gott helfe mir, Engel sind sie auch nicht gerade.«

Kiss zündete sich eine Zigarette an und rauchte eine Weile schweigend. Dann sagte sie: »Ich bin überzeugt, dass Deutschland sein Judenproblem auf eine Weise lösen wird, die beide Seiten zufriedenstellt.«

»Da magst du durchaus recht behalten«, erwiderte ich. »In einem der Nachrichtentelegramme, die ich diese Woche übersetzt habe, las ich, dass die zionistische Weltorganisation bereit ist, mit dem Naziregime zu verhandeln. Hitler könnte durch aus einwilligen, dass die Juden aus ihrer deutschen Heimat nach Palästina gebracht werden. Auf diese Weise könnte er sein Wahlversprechen von einem >judenfreien Reich< einlösen.«

Kiss drückte ihre halb aufgerauchte Zigarette aus. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Ein Glas schaffen wir doch noch, oder?«

Ich winkte den Kellner herbei. »Einen Wermut und einen Portwein, bitte! Und dann hätte ich auch gerne gleich die Rechnung.«

Ich zog meine Geldbörse hervor und begann, die Scheine abzuzählen. Kiss sah gedankenverloren aus dem Fenster. So war sie den ganzen Abend gewesen, still, abwesend.

»Bondi ist wieder da«, sagte ich.

Ich wollte sie aus ihrem schlafwandlerischen Zustand wecken. Doch das gelang mir nur teilweise.

Sie sah mich an, ohne etwas zu erwidern.

»Jacob Bondi«, erklärte ich. »Von dem ich dir erzählt habe, als wir nach Lennarts Beerdigung hier waren …«

»Meinst du diesen mysteriösen Kerl, der es auf das Gemälde abgesehen hatte?«

»Ja, genau. Und jetzt hat er es sich endlich unter den Nagel reißen können.«

»Wovon redest du da?«

Die Getränke wurden gebracht. Während wir die Gläser leerten, erzählte ich die ganze Geschichte.

»Seit das Bild verschwunden ist, war ich ständig in Unruhe«, sagte ich abschließend. »Ich habe das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren wird. Und dabei denke ich an dich, weißt du? Wo du doch so ganz allein da draußen in der Ostmarka wohnst.« Sie setzte ein Lächeln auf. »Ich komme schon zurecht. Außerdem sehen wir uns ja am Donnerstag wieder.«

Doch als ich am Donnerstag zur verabredeten Zeit am Jernbanetorv erschien, war Kiss nicht im Bus. Ich fragte den Fahrer, ob er sie gesehen habe.

Der junge, pickelige Mann schüttelte den Kopf. »Nein, Fräulein Lorentsen hat nicht wie üblich am Trasop-Hof gewartet.«

»Ob sie sich wohl verspätet hat?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Oder vielleicht waren Sie etwas früher unterwegs?«

Letzteres war ganz deutlich eine Beleidigung. Er richtete seine Mütze mit dem blanken Schirm und blickte mich selbstzufrieden an. »Ich bin niemals zu früh oder zu spät«, sagte er. »Ich halte immer den Fahrplan ein.«

»So habe ich das nicht gemeint«, erwiderte ich. »Wann fahren Sie denn wieder zurück?«

»In elf Minuten.«

Ich kaufte einen Fahrschein und setzte mich ganz hinten in den Bus.

Es wurden lange elf Minuten. Ich blickte immer wieder auf das gelbe Zifferblatt am Bahnhofsgebäude und registrierte jedes Zittern und jede Bewegung des Minutenzeigers. Es ging auf den Abend zu, und die den Jernbanetorv überquerenden Menschen hatten ihre Schritte beschleunigt. Brave Leute eilten nach Hause, um die Lichter anzuzünden, um Tanzmusik im Radio zu hören und die Dämmerung auszusperren.

Ich dachte an Kiss. Den ganzen Herbst hatte sie da draußen am Solvann gewohnt, einsam und abgeschieden - umgeben von dichtem schwarzem Wald.

Schließlich ließ der Fahrer den Motor an, und nachdem er mir im Rückspiegel einen Blick zugeworfen hatte, legte er den Gang ein und fuhr los. Die Fahrt in die Ostmarka kam mir vor wie eine Ewigkeit. Obwohl ich auf der ganzen Strecke der einzige Fahrgast blieb, hielt der Busfahrer an jeder Milchrampe und wartete bis zur fahrplanmäßigen Abfahrtszeit. Als ich am Trasop-Hof ausstieg, hatte ich das Gefühl, die ganze Nacht gefahren zu sein. Mit schnellen Schritten lief ich durch den Wald, der in der Dämmerung dunkel und unheilverkündend aufragte.

Nachdem ich ein paar Meter gerannt war, stoppte ich abrupt.

Der schwarze Chrysler stand nicht länger zwischen den Bäumen!

Kiss konnte ihn nicht genommen haben. Nach nur fünf oder sechs Übungsfahrten mit Lennart fühlte sie sich noch nicht in der Lage, einen Wagen zu fahren. Das hatte sie mir selbst gesagt.

Ich wurde von Panik ergriffen und eilte weiter. Der Waldweg war durch einen Regenschauer matschig geworden, meine Füße blieben kleben wie in einem Sumpf. Auch der Wald tat das Seinige, um mich aufzuhalten. Die Äste der Kiefern verfingen sich in meinem Mantel, und ich stolperte über vorwitzige Kienwurzeln.

Endlich war ich am Landhaus angekommen und rüttelte wie ein Verrückter an der verschlossenen Haustür.

»Kiss!«, brüllte ich. »Um Gottes Willen, Kiss! Bist du da?« Keine Antwort.

Hilflos sank ich auf die Stufen. Plötzlich fiel mir ein, dass Kiss mir gezeigt hatte, wo sie den Ersatzschlüssel versteckte.

Ich lief hinunter auf die Terrasse und hob eine der Steinplatten an: Tatsächlich, der Schlüssel war da.

Nachdem ich aufgeschlossen hatte, ging ich langsam von Zimmer zu Zimmer. Nichts war verrückt oder umgestoßen worden, und nichts deutete darauf hin, dass Kiss gegen ihren Willen das Haus verlassen hatte.

Ich inspizierte die Zimmer ein weiteres Mal. Dann entdeckte ich, dass Mantel und Schuhe im Garderobenschrank fehlten, die Wäscheschubladen waren geleert und das Schminktäschchen im Badezimmer war verschwunden.

Es sah so aus, als wäre Kiss ganz einfach und völlig unspektakulär ausgezogen.

Das beruhigte mich, jedoch nicht sehr. Ich schloss das Drachenhaus ab, legte den Ersatzschlüssel zurück und lief hinunter zum See. Mir war eine Idee gekommen.

Die Sonne war fast hinter den Hügeln im Westen verschwunden, und das Himmelsgewölbe wurde von oben dunkel eingefärbt wie von herabsinkendem Ruß. Die Wasseroberfläche fing die letzten Sonnenstrahlen ein und erglühte in einem intensiven Blaugrün. Ich fröstelte im kalten Wind. Nie zuvor hatte diese verlassene Gegend so erschreckend auf mich gewirkt.

Als ich im Sommer am Ufer des Solvann entlanggegangen war, hatte ich zwischen zwei Felshügeln eine kleine Bucht entdeckt. Das perfekte Versteck, hatte ich mir damals gesagt. Und jetzt bekam ich den Beweis, dass ich richtig gelegen hatte.

Ein Pfad war durch die Wildnis geschlagen worden.

Kurze Zeit später stand ich auf einem der Felshügel und blickte hinunter auf ein Wasserflugzeug. Ich beschloss, es mir näher anzusehen.

Es war eine graue Heinkel-Maschine. Alle Kennzeichen auf dem Rumpf und den Tragflächen waren übermalt. Ich kletterte auf einen der Schwimmkörper und öffnete die Motorhaube; der kräftige Motor stammte von Daimler-Benz.

Im Cockpit lagen eine Fliegermütze mit Brille und ein Bulldog-Drummond-Roman in deutscher Übersetzung. Ich durchblätterte das Buch, ohne einen Hinweis auf die Identität des Besitzers zu finden. Danach legte ich den Passagiersitz frei, der weiter hinten im Flugzeug unter einem verschiebbaren Deckel verborgen war. Darauf fand ich einen Scheinwerfer, Kabel und eine große Batterie.

Auf der Busfahrt zurück in die Stadt kreisten meine Gedanken ständig um Kiss. Nur mit großer Mühe gelang es mir, die schrecklichsten zu vertreiben. Ich hatte keinen Zweifel, dass das Wasserflugzeug von Hans von Manteuffel benutzt wurde, sodass er unbemerkt nach Norwegen und wieder zurück reisen konnte. An einem Tag im Januar war er auf dem Solvann gelandet, um Lennart einen schicksalhaften Besuch abzustatten. Jetzt war er zurück, weil er anscheinend befürchtete, dass Kiss zu viel über die damaligen Ereignisse wusste. Was hatte Hans von Manteuffel ihr angetan? Hielt er sie irgendwo eingesperrt oder hatte er sie gänzlich aus dem Weg geräumt?

In Oslo angekommen lief ich vom Jernbanetorv direkt in die Mollergate 19. Als ich in die erste Etage kam, war die Tür des Wachhabenden geschlossen. Draußen vor dem Tresen warteten zwei Jungen unter Beobachtung eines Wachtmeisters auf ihre Aussprache mit den Hütern des Gesetzes. Mit bestimmten Schritten trat ich an der kleinen Gruppe vorbei in den Korridor, wo die Büros der ermittelnden Beamten lagen. Der Wachtmeister zeigte keine Reaktion. Offenbar nahm er an, dass ich einen Termin hätte.

Als ich zu Sveens Tür kam, hörte ich von drinnen eine lautstarke Unterhaltung und Gelächter. Ich klopfte an. Unvermindert setzte sich der Lärm fort.

Vorsichtig öffnete ich die Tür.

Offensichtlich war ich nach Feierabend beim Chefermittler hereingeplatzt. Er hatte seine Jacke ausgezogen und die Hemdsärmel aufgekrempelt. Sein Gesicht war vom vielen Lachen gerötet, seine Augen glänzten. Letzteres war nicht nur der guten Stimmung zuzuschreiben. Sveen hielt ein halbgeleertes Schnapsglas in der Hand, zu einem Toast erhoben.

Der Chefermittler hatte Besuch von Sverre Riisnaes, der ebenfalls mit erhobenem Glas da saß.

 

Ganz offenbar hatte Riisnaes weitaus mehr in sich hineingeschüttet als sein Kollege. Wie dieser trug der Kriminalrat keine Jacke, seine Unterarme waren nackt, doch aus irgendeinem Grund hatte er seine Uniformmütze auf dem Kopf behalten. Wie bei einem U-Boot-Offizier auf Landgang war sie in seinen Nacken zurückgeschoben. Seine Haare klebten an der feuchten Stirn, sein Blick war starr vor Trunkenheit.

»Auf Sie, mein Freund!«, schrie er auf Deutsch. »Sie werden immer auf die norwegische Polizei als loyalen Partner zählen können.«

Der Mann, dem er zuprostete, war der Dritte im Bunde. Er trug einen Tweedanzug mit Kniehosen und saß mit verschränkten Beinen zurückgelehnt da. Er lächelte, was ich noch nie zuvor gesehen hatte. Doch selbst in einem fröhlichen Augenblick wie diesem war er ein grotesker Anblick. Sein blondes Haar war nach preußischem Militärstil geschnitten: an den Schläfen und im Nacken kahl, auf dem Kopf wie glattgeleckt. Das lange, schmale Gesicht hätte einer Karikatur entspringen können, mit der krummen Nase als rassistischem Klischee. Im Verhältnis zum Kopf und den extrem langen und dünnen Händen wirkte sein Körper schwer und gedrungen. Wie er mit seinen weißen Krallen das Schnapsglas umklammert hielt, erinnerte er mich an eine mythologische Figur, eine männliche Harpyie.

Es war Hans von Manteuffel.

 

Abendessen mit Mr. George

 

Seltsamerweise bemerkte mich zuerst derjenige, der am meisten getrunken hatte. Riisnaes erhob sich mit einer gewissen Schwerfälligkeit vom Stuhl und kam über den Fußboden geschwankt.

»Verdammt, Tafjord!«, rief er. »Was hat das zu bedeuten?«

Ich erwiderte nichts. Ich war viel zu gespannt, wie Manteuffel reagieren würde. Anscheinend nahm der den Auftritt mit völliger Ruhe. Er sah mich an, ohne eine Miene zu verziehen, und drehte sich schon wieder weg, bevor es Riisnaes gelungen war, mich wieder auf den Korridor zu scheuchen.

»Das ist eine Privatveranstaltung«, sagte er und schloss die Tür hinter sich. »Sie können nicht einfach so hereinstürmen. Verstanden, Tafjord?«

»Erfjord«, sagte ich.

»Was?«

»Ich heiße Erfjord, nicht Tafjord. Und ich benötige polizeiliche Hilfe …«

Riisnaes stieß mich in Richtung Ausgang. Ich spürte, dass er anfing, sauer zu werden.

»Hören Sie nicht, was ich sage? Die Sache ist ernst. Eine junge Dame ist verschwunden!«

»Verschwunden? Ja, darum werden wir uns natürlich kümmern. Aber Sie müssen den üblichen Vorschriften folgen und sich beim Wachhabenden melden.«

Resolut fasste er meinen Arm, aber ich wehrte mich.

»Sie haben noch nicht die ganze Geschichte gehört. Ich bin sicher, dass dieser Manteuffel etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat!«

»Wer, sagen Sie?«

»Der, mit dem Sie und Sveen da drinnen sitzen und sich unterhalten!«

Riisnaes blieb wie angewurzelt stehen. Sein Gesicht war vor Wut dunkelrot angelaufen.

»Seien Sie bloß vorsichtig, wenn Sie über die Gäste der Osloer Polizei sprechen«, fauchte er. »Dieser Mann ist ein hoher Polizeibeamter des Deutschen Reichs.«

Dann brüllte er hysterisch. »Haben Sie verstanden?!«

Ich war sprachlos. Riisnaes wollte mich weiterschieben, aber ich riss mich los.

»In Ordnung«, sagte ich. »Ich gehe freiwillig.«

Ich ging auf den Ausgang zu, blieb aber nach ein paar Schritten stehen.

»Ja, tatsächlich glaube ich, Sie langsam zu verstehen, Herr Riisnaes. Anscheinend kennt die Deutschenfreundlichkeit der Polizei keine Grenzen. Ganz und gar nicht. Sie sind bereit, ihre Hände sogar über den schlimmsten Abschaum zu halten, den es dort unten gibt!«

Ich hatte nicht den Eindruck, dass er meine Worte mitbekommen hatte. Er stand da und blickte mir mit verschwommenen Augen nach, bis ich außer Sichtweite war.

Ich verließ Nr. 19, ohne eine Vermisstenmeldung abzugeben. Das hatte keinen Zweck, wenn der vermeintliche Entführer im Raum nebenan saß und dem Chefermittler zuprostete. Jetzt begriff ich auch, wieso Sveen so wenig Interesse an meinen Informationen über Manteuffel gezeigt hatte. Selbstverständlich kam es nicht in Frage, einen hohen deutschen Polizeioffizier zu verhaften, nur weil er einen unbedeutenden Schrotthändler erschossen hatte. Viel wichtiger war es, das gute Verhältnis zu den Kollegen in der Internationalen Kriminalpolizeikommission aufrechtzuerhalten.

 

Während der nächsten Tage tat ich alles Erdenkliche, um Kiss aufzuspüren. Keiner ihrer Bekannten am Theater hatte sie gesehen. Auch nicht die Kellner in ihren Stammlokalen. Das Einzige, was mir ansonsten einfiel, war, die Krankenhäuser in Oslo und Akershus anzurufen. Doch auch das führte zu keinem Ergebnis. Sie war spurlos verschwunden.

Eines Tages, nachdem wir in der Zeitung fertig geworden waren, lud mich Mr. George zum Abendessen ein. Ich hatte gleich das Gefühl, dass er etwas Besonderes auf dem Herzen hatte. Mein Verdacht erhärtete sich, als er vorschlug, wir sollten uns in die >Sakristei< in Häkonsens Restaurant setzen, den Teil des Lokals, der durch zwei Stufen erhöht von der >Kirche< abgetrennt ist. Wegen der Stufen diente die >Sakristei< gemäß der Auslegung der Behörden als Speisesaal, was den Ausschank von Branntwein ermöglichte. Außerdem waren die Tische mit Tischdecken geschmückt und verfügten über Trennwände, sodass sich die Gäste unterhalten konnten, ohne im ganzen Lokal gehört zu werden.

Als der Kellner kam, bestellte Mr. George zwei Beefsteaks mit Zwiebeln, bevor ich überhaupt Gelegenheit bekam, einen Blick in die Speisekarte zu werfen. Nachdem er noch Bier und Aquavit für uns beide geordert und danach verkündet hatte, sich der Rechnung annehmen zu wollen, hatte ich keine Zweifel mehr. Das Ganze war als Geschäftsessen zu verstehen.

Mr. George kam gleich zur Sache. »Ich habe mit Helgesen gesprochen«, sagte er. »Er hat den Eindruck, dass du dich in der Sportredaktion nicht so ganz eingelebt hast. Stimmt das?«

Ich musste zugeben, dass ich nicht so recht wusste, worauf ich mich in der Sportabteilung eingelassen hatte. Mr. George schien erfreut.

»Ich habe bereits mit Tranmael geredet«, fügte er hinzu. »Wir haben uns geeinigt, dass du nach Neujahr zu mir zurückkommst.«

Mehr wurde über diese Angelegenheit nicht gesagt. Überhaupt war ich während des Essens so schweigsam, dass Mr. George wohl glauben musste, ich sei tief im Innern gar nicht so glücklich über sein Angebot. Doch das war nicht der Grund. Ich hatte gehofft, mit ihm über Kiss’ Verschwinden reden zu können. Doch als ich jetzt die Möglichkeit bekam, wurde mir klar, dass er nicht der Richtige war, dem ich mich anvertrauen konnte. Mr. George wäre an die Decke gegangen, wenn ich behauptet hätte, dass Sveen und Riisnaes den Mann beschützten, der Kiss entführt hatte. Zwar war er durchaus bereit, die beiden zu kritisieren, doch ihre Rechtschaffenheit und Professionalität in Zweifel zu ziehen - diese Grenze wollte mein Lehrmeister nicht überschreiten.

Nach dem Essen kramte er seine Stummelpfeife hervor und lehnte sich zurück. »Wenn man bedenkt, dass es schon fast ein Jahr her ist, seit wir am Grev Wedels plass standen und den alten Dodge mit Rustads Leichnam betrachteten«, sagte er. »Damals war ich sicher, dass dieses Mysterium in kürzester Zeit gelöst werden könnte. Aber nun …«

Nachdenklich schüttelte er den Kopf.

»Du glaubst nicht, dass der Rustad-Mord irgendwann aufgeklärt wird?«

»Wir müssen damit rechnen, dass es ungelöste Mordfälle gibt, auch wenn das in diesem Land nicht häufig vorkommt. Soweit ich mich erinnere, gab es hier nur den Äsheim-Fall und den Bjornerud-Mord, und diese Sachen liegen schon viele Jahre zurück. Seitdem ich als Kriminalreporter arbeite, habe ich es kein einziges Mal erlebt, dass ein Mörder entkommt. Doch dann geschehen innerhalb weniger Tage der Rustad-Mord und der Brand in der Dronningens gate, zwei Fälle, bei denen die Polizei noch immer im Dunkeln tappt. Ein seltsamer Zufall, findest du nicht?«

»Doch, ja …«

Mr. George zündete seine Pfeife an und musterte mich durch den Tabaksqualm. »Oder vielleicht doch nicht?«

»Was meinst du?«

»Ich glaube, die Fälle hängen zusammen. Dahinter stecken dieselben Personen.«

Einen Moment lang glaubte ich, dass Sveen ihm von meinem Verdacht gegenüber Lennart erzählt hatte. Doch dann sagte er: »Birger Bay, Martin Enger, Tore Schröder. Diese Bande weiß mehr über den Mord an Rustad, als sie zu sagen bereit ist.«

»Das behauptet Bürochef Brodin ja schon lange …«

Mr. George nickte. »Ja, aber Brodin kennt nicht das ganze Bild. In seinen Augen ist die Bay-Bande für mehr oder weniger alles verantwortlich. Ich aber glaube, dass sie in diesem Fall nur die Laufjungen für Verbrecher weitaus größeren Kalibers gespielt haben. Und dann kapierten sie anscheinend, dass sie sich übernommen hatten. Erst verlagern sie das Hauptquartier zum Fischkastenlager bei Vippetangbryggen - und das in letzter Minute - und dann steht nur einen Tag später die Dronningens gate 63 in Flammen. Nach dem Feuer hat keiner mehr was von Birger Bay und seiner Bande gesehen, die sind wie vom Erdboden verschluckt…«

»Du hast wahrscheinlich recht«, sagte ich. »Als ich das letzte Mal mit Tore Schröder sprach, erzählte er, die Bande habe sich auf etwas eingelassen, das viel zu groß für sie sei. Er behauptete, alle fürchteten um ihr Leben.«

 

Mr. George sah mich scharf an. »Hast du neulich mit Tore Schröder geredet?«

»Nein, das war zwei Tage nach dem Rustad-Mord. Ich weiß noch, was er zum Abschied zu mir sagte. Es hat sich fest in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich fragte ihn, was er jetzt vorhätte, und er erwiderte: >Ich habe vor zu verschwinden. Wenn nötig für immer. <«

Mr. George blickte lange aus dem knapp einen Meter über dem Gehweg liegenden Fenster und tat so, als wäre er vollkommen in die Betrachtung der vorbeihastenden Menschen versunken. Ohne sich zu mir umzuwenden, sagte er dann: »Ich war heute Vormittag bei Harbitz. Man hat ihm eine Leiche gebracht, die im Frognerkilen gefunden wurde. Es war ein kleiner, dunkelhaariger Mann Mitte dreißig.«

»Tore Schröder?«

»Genau.«

»Ermordet?«

Mr. George zuckte mit den Schultern. »Die Todesursache war Ertrinken, es könnte sich also auch um Selbstmord handeln. Aber er ist in der Tat der Einzige aus der Bay-Bande, von dem man nach langer Zeit wieder etwas gesehen hat. Und das beruhigt mich nicht gerade …«

Er beugte sich vor und sah mich mit ernstem Gesicht an. »Überleg mal, wenn weitere aus der Bande in diesem Zustand auftauchen? Dann haben wir hier in unserem friedlichen Oslo Zustände wie in Chicago …«

 

Das Lagerhaus

 

Am folgenden Tag stand ich auf der Vaterlandsbrücke und lehnte mich über das Geländer. Es war erst Viertel vor fünf, doch bereits dunkel. Ich fror wie ein Hund. Mein dicker Ulstermantel konnte die in der Dunkelheit aufziehenden, durch den eisigen Luftzug vom Akerselv verstärkten Minusgrade nicht abhalten. Auf der dunklen, zitternden Wasserfläche unterhalb der Brücke wurden die Lichter der kommunalen Fischküche auf der Vaterland-Seite gespiegelt. Neben weißen Schaumperlen von Holters Seifen- und Kerzenfabrik segelten dicke Blasen und cremegelbe Gischt vorbei.

Es gab etwas Unheimliches an diesem winterdunklen Gewässer, dachte ich. Mit seinen tanzenden Lichtern und Schattierungen wirkte es geradezu sanft und einladend. Plötzlich glaubte ich, dort unten ein Gesicht zu sehen. Ein kleines, zierliches Frauengesicht…

»Pssst!« Das Geräusch riss mich unmittelbar zurück in die Wirklichkeit. Es kam vom Fluss. Gleich darauf glitt ein dunkler Schatten unter dem Brückenbogen hervor.

»Bist du das, Straken?«

Der Mann in dem kleinen Boot nickte und ruderte zur Westseite des Flusses, wo eine überwucherte Steintreppe zum Ufer hinunterführte.

Straken saß auf der Ruderbank und wirkte angespannt. Seine Augen blickten wachsam unter dem Schirm der Mütze hervor. Er hatte ein großes Paket bei sich.

»Wann sagst du mir denn endlich, wer mich treffen will?«, fragte ich.

»Bald. Spring schon an Bord.« Ich tat wie geheißen.

Allerlei Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, während Straken langsam den Fluss hinaufruderte. Als er mich in der Zeitung angerufen und gesagt hatte, mich wolle >jemand, den ich kannte< treffen, hatte ich inbrünstig gehofft, die Nachricht stamme von Kiss. Trotzdem wusste ich nicht, wie sicher dieser Ausflug eigentlich war. Ich ahnte ja nicht, ob Kiss sich vor Manteuffel versteckt hielt oder von ihm gefangen gehalten wurde. Die Tatsache, dass Straken als Mittelsmann auftrat, schien auf Letzteres zu deuten. Traf meine Vermutung zu, so lief ich Gefahr, in eine Falle zu tappen.

Straken mühte sich ab, das Boot gegen die Strömung zu rudern. Ich versuchte ihn auszuquetschen, aber anscheinend hatte man ihm für den Fall, dass er nicht den Mund hielt, mit Repressalien gedroht. Der geschäftigste Spitzel Vaterlands war mit einem Mal verschlossen wie eine Auster.

Straken lag schwer in den Rudern. Bald hatten wir die Hausmannsbrücke passiert und eine Reihe baufälliger Lagerhäuser erreicht, die auf Holzpfählen halbwegs in den Fluss ragten. Am Ufer war es stockdunkel, aber Straken kannte sich offenbar gut aus. Wir passierten ein paar solide, mit Algen überzogene Holzpfeiler, und das Geräusch der Ruderblätter verriet mir, dass wir uns unter einem Dach befanden. Erst als das Boot gegen das Ufer scharrte, hörte Straken zu rudern auf. Er legte die Ruderblätter auf den Bootsboden und kam zu mir.

»Steh auf!«, flüsterte er. »Und gib mir die Taschenlampe aus der Ruderducht achtern!«

Als ich ihm die Lampe reichte, sah ich, dass wir unter eines der Lagerhäuser gerudert waren. Gleich hinter mir lag die Hausmannsbrücke mit ihrem von einer einzelnen Laterne erleuchteten, kunstvollen Gitterwerk aus Schmiedeeisen.

Straken zeigte auf eine Leiter, die zu einer Luke über uns führte.

»Geh da rauf, und dann die Treppe hoch zum Dachboden.« Er reichte mir die Lampe und das Paket. »Kommst du nicht mit?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich werde hier hübsch warten, bis du zurückkommst.«

 

Der Dachboden bestand aus einem schmalen Gang und wurde von Verschlagen gesäumt, die durch Holzrahmen und Maschendraht voneinander abgeteilt waren. Die Türen waren nach demselben Prinzip gefertigt und mit Vorhängeschlössern versehen. Als ich in eines der Kämmerchen hineinleuchtete, sah ich nichts anderes als Kästen, Koffer und Möbel.

Nach einer Weile wagte ich einen Vorstoß und rief leise: »Kiss, bist du hier?«

Ich stand ganz still da und lauschte. Nach ein paar Sekunden hörte ich ein Geräusch aus einem der Verschlage. Ich lief hin und leuchtete hinein.

»Hallo!«, flüsterte ich. »Ich bin’s, Erik!«

Hinter einer alten Kommode bewegte sich etwas, und einen Augenblick später gab sich ein Mann zu erkennen. Ich brauchte eine Weile, bis ich sah, dass es sich um Birger Bay handelte. Nicht viel war von dem hartgesottenen Gangster übrig geblieben, der mich elf Monate zuvor auf eine Spazierfahrt mitgenommen hatte. Sein heller Anzug war schmutzig und zerknittert. Jedwede Farbe schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein, und er sah abgemagert aus. Seine Augen waren groß und angsterfüllt. Als er zu sprechen ansetzte, hörte ich eine trockene, piepsende Stimme.

»Gott sei Dank, dass du gekommen bist, Erik«, sagte er. »Ich stecke furchtbar in der Klemme und hoffe sehr, dass du mir hilfst.«

»Wieso sollte ich das verdammt noch mal tun?«, rief ich. »Als wir uns das letzte Mal trafen, hast du mich fast umgebracht!«

Er fuhr sich mit der Hand über den Schädel und kniff die Augen zusammen. Sein Gesichtsausdruck wirkte, als könne er jeden Moment in Tränen ausbrechen.

»Wenn du mir nicht helfen willst, bin ich hoffnungslos verloren. Manteuffel hat geschworen, uns alle umzulegen. Ich weiß nicht, ob die Jungs schon auf dem Grund des Oslofjords liegen oder aus der Stadt getürmt sind. Ich war ein paar Monate untergetaucht, und nach meiner Rückkehr habe ich mich hier für ein paar Wochen versteckt. Außer Straken habe ich keine Menschenseele getroffen …« Bay bekniete mich. »Kannst du Manteuffel nicht überreden, mich in Frieden zu lassen? Sag ihm, dass er nichts, aber auch gar nichts vor mir zu befürchten hat.«

Statt zu antworten, hielt ich das Paket in die Höhe. »Das kommt von Straken. Schließ die Tür auf.«

Bay kam meiner Aufforderung nach und zündete eine Petroleumlampe an, die er auf die Kommode stellte.

»Du kannst die Taschenlampe ausschalten, Erfjord. Dieser Kamerad hier …«, mit glänzenden Augen betrachtete er den brennenden Docht, »… hat mir in vielen trostlosen Nächten Gesellschaft geleistet. Sehr wahrscheinlich hat er mich vor dem völligen Wahnsinn bewahrt!«

Ich reichte ihm das Paket. Mit gierigen Fingern riss er das Papier herunter. Im Innern befanden sich ein Brot, eine dicke Wurst aus Pferdefleisch, eine Flasche Schnaps und zwei Päckchen Zigaretten.

»Wieso ist Manteuffel eigentlich hinter dir her?«

Bay hatte sich ein großes Stück Brot in den Mund gestopft und musste die Hälfte herunterschlucken, ehe er mir antworten konnte. »Fredriksen wurde letztes Jahr kurz vor Weihnachten von Alfred Janus kontaktiert. Du weißt doch, wer Janus ist, oder … der deutsche Alkoholschmuggler?«

Ich nickte.

»Janus hat sich in Nazi-Deutschland eine neue Karriere aufgebaut, wie sich zeigte. Es gibt viele, die heutzutage dort unerwünscht sind: Politische Gegner, Ausländer, Juden … tja, das kann man bis ins Unendliche fortführen. Viele sind daran interessiert, das Land zu verlassen, aber das kommt sie teuer zu stehen. Die Nazis lassen ihnen gerade mal das Geld für die Schiffspassage. Und somit hat Janus großen Zulauf von Menschen, die sich illegal aus dem Land schleichen wollen, sodass sie ihr Vermögen und ihr Eigentum mitnehmen können.«

»Also geht es bei dieser Sache nicht um Kokain, sondern um Menschenschmuggel!«

»Richtig! Letztes Jahr bin ich kurz nach Weihnachten zu Herthas Flak im Kattegatt rausgefahren, um dort eine Flüchtlingsfamilie abzuholen, die Janus aus Hamburg mitgebracht hatte. Wie sich herausstellte, war die Familie viel größer als vermutet. Acht Personen. Außerdem hatten sie sämtliche Möbel mitgebracht. Wir hatten ein Problem. Schließlich konnten wir ein paar illegale Flüchtlinge nicht einfach so an der Honnorbrygga absetzen.«

»Also habt ihr die Familie in Fredriksens Wohnung untergebracht, während die Möbel im Fischkastenlager abgestellt wurden?«

»Ja, aber nur so lange, bis wir so viel von den Besitztümern verkauft hätten, dass sie sich leisten könnten, in ein anderes Land weiterzureisen …«

Ich grinste. »Warum sagst du nicht die Wahrheit, Bay? Die Familie konnte sich nicht auf der Straße zeigen, ohne verhaftet zu werden. Fredriksen ließ so eine Gelegenheit natürlich nicht ungenutzt an sich vorbeiziehen. Er verkaufte ihren Besitz und behielt den Verdienst für sich, oder nicht?«

»Tja. Wir hatten ja Anspruch auf eine Provision …«

»Also gut, dann nennen wir das so. Erklär mir lieber, wie Manteuffel hier ins Spiel kam.«

»Ja, gute Frage. Er kam eines Tages einfach so in Fredriksens Büro stolziert, mit deinem Freund Winther im Schlepptau. Erst wollte er wissen, wo sich die Flüchtlinge aufhielten, aber wir blufften und sagten ihm, sie hätten das Land verlassen. Dann bedrängte er uns wegen ihrer Besitztümer. Wir erklärten, dass alles zusammen verkauft sei und die Familie das Geld vor der Abreise bekommen habe. Nach einer Weile wurde klar, dass er hinter einem Porträt her war, das die Familie aus Deutschland mitgebracht hatte.«

»Das Porträt der Eva Frank Matronita?«

»Ja, so was in der Art … Fredriksen sagte, das Bild sei mit dem ganzen anderen Inventar verkauft worden, es habe viele Interessenten gegeben und er könne sich nicht erinnern, wer es gekauft habe. Daraufhin drohte Manteuffel, uns allen den Kopf wegzublasen, wenn wir es nicht wiederbeschafften. Doch wir begriffen den Ernst der Lage erst, nachdem Großhändler Rustad ins Jenseits befördert worden war. Er hatte ein paar Möbel der Familie gekauft, und wir gingen davon aus, dass Manteuffel das Porträt bei ihm gefunden hatte …«

»Und dann seid ihr mit dem Hauptquartier ins Fischkastenlager bei Vippetangen umgezogen?«

Bay nickte: »Zu Beginn, ja. Doch nach dem Brand in der Dronningens gate kamen wir überein, getrennte Wege zu gehen. Für sich allein hatte jeder die bessere Chance. Ungefähr zur gleichen Zeit hörten wir, dass man Janus kurz nach Neujahr in Deutschland verhaftet und ihm auf Befehl von Manteuffel den Kopf abgeschlagen hatte. Das machte uns nicht gerade weniger Angst!«

»Dann kannst du also bestätigen, dass Manteuffel ein Polizist ist?«

Bay hatte alles aufgegessen. Er öffnete eines der Zigarettenpäckchen und klopfte es gegen seinen Zeigefinger.

Plötzlich hielt er abrupt inne. »Aber wusstest du das denn nicht?«

Ich blickte ihn schuldbewusst an. »Leider nicht, Bay. Lennart Winther konnte mir Manteuffel nicht mehr vorstellen. Und selbst wenn er es geschafft hätte, bezweifle ich, dass ich den Deutschen auf andere Gedanken bringen könnte. Du musst dich wohl selbst um deine Probleme kümmern. Doch einen Rat will ich dir gerne geben: Wenn du mit heiler Haut davonkommst, musst du herausfinden, warum er hinter dir her ist!«

Bay entzündete seine Zigarette.

»Ich kann das nicht begreifen, Erfjord! Ich habe doch dieses verdammte Bild nicht, das er suchte. Und Fredriksen hatte sich bereit erklärt, das Geld zurückzuzahlen, das wir nach dem Verkauf der Möbel behalten haben …«

 

Als Birger Bay merkte, dass ich gehen wollte, kam er mit mehreren Vorwänden, um mich länger bei sich zu behalten. Dankend ließ ich mich auf zwei Schnäpse ein, doch als er zum dritten Mal nach der Flasche griff, schüttelte ich entschieden den Kopf und sagte, ich hätte Angst, dass Straken ohne mich zurückführe. Wie sich zeigte, war meine Befürchtung nicht ganz unbegründet. Als ich unter dem Lagerhaus zum Flussufer kam, schickte sich Straken gerade an, das Boot in tieferes Wasser zu rudern.

»Hey, du!«, rief ich erbost. »Hattest du nicht den Befehl zu warten?«

Er sah mich erschrocken an. »Komm schnell an Bord!«, flüsterte er. »Wir sind nicht allein!«

»Nicht?«

Statt mir zu antworten, drehte er sich um und ruderte weiter. Ich watete hinterher und packte das Boot an der Reling.

»Wir fahren nirgendwohin, bevor du mir nicht sagst, was los ist!«

Straken zog die Ruderblätter ein. »Ich hab zwei Typen gesehen, die über die Hausmannsbrücke kamen! Einer war dieser Deutsche, vor dem sich Bay so fürchtet!«

»Manteuffel?«

»Ja, sicher. Den du damals auf dem Lilletorg gesehen hast! Jetzt ist er sicher ins Lagerhaus gegangen, um nach Bay zu suchen! Wir müssen hier weg, so schnell wie möglich!«

»Keine Panik, Straken. Ich wäre Manteuffel begegnet, wenn er das Lagerhaus betreten hätte.«

»Aber nein, an der Vorderseite führt eine Außentreppe zum Dachboden! Bay hat mir verboten, sie je zu benutzen, weil die Leute sonst vielleicht misstrauisch werden.«

»Straken«, sagte ich so ruhig es ging, »ich hoffe nicht, dass du Manteuffel gesteckt hast, wo sich Bay verbirgt? Denn sonst…«

»Ich? Nein! Wofür hältst du mich eigentlich?«

»Ich kenne dich, Straken. Du hast sogar deinem eigenen Bruder drei Jahre in Akershus verschafft, ich traue dir keinen …«

Mehr schaffte ich nicht zu sagen.

Ich hatte einen Fuß ins Boot gesetzt, als Straken - anscheinend im Glauben, ich wolle ihm eine Tracht Prügel verpassen - mir eines der Ruderblätter ins Gesicht schlug. Ich stolperte zurück und fiel der Länge nach hin. Zwei Mal versuchte ich mich aufzurappeln, aber mir war so schwindelig, dass ich aufgeben musste. Als ich beim dritten Versuch schließlich hochkam, war Straken bereits von der Strömung in die Dunkelheit unter der Hausmannsbrücke getrieben worden. Ich hatte die Taschenlampe verloren und suchte lange im Finstern, bevor ich sie endlich wiederfand. Ich schaltete sie ein und kletterte durch die Luke im Boden des Lagerhauses.

Als ich hinauf auf den Dachboden kam, brannte in Bays Kabuff noch immer die Petroleumlampe. Doch sie konnte ihm keinen Trost mehr schenken. Er hing, mit einem Gürtel um den Hals, hoch oben an der Gitterdrahtwand. Seine kräftigen Hände waren schlaff, und seine Füße in den eleganten Schuhen mit Gamaschen zeigten auf den Boden.

 

Manteuffel demaskiert

 

Ich wagte nicht, mich auf der Straße vor dem Lagerhaus zu zeigen. Auf demselben Weg, den ich gekommen war, schlich ich wieder hinaus, folgte dem Flussufer ein paar Meter, kroch in den Hinterhof einer nach Urin stinkenden Gerberei und dann hinter ein flaches, heruntergekommenes Holzhaus, dessen Verschlage in Garagen umgewandelt waren. Ein schwerer Lastwagen versperrte die Einfahrt. Ich drückte mich an ihm vorbei auf die Straße. Ich lief in Richtung Storgate und Youngstorv, als jemand aus einem Hauseingang hervorkam und kurz an meinem Jackenärmel zupfte. Es war die Schöne Louisa.

»Nicht heute Abend, Louisa«, sagte ich, um ihr zuvorzukommen.

Ich unterließ es, >und auch an keinem anderen< hinzuzufügen. Ich nahm an, dass es sich um einen Kommentar gehandelt hätte, der ihr schon etwas zu oft gesagt worden war. Die Jahre hatten die arme Louisa arg mitgenommen, und von ihrer sagenumwobenen Schönheit war kaum mehr als ein Spitzname übrig geblieben. Sie lächelte und entblößte dabei eine braune und unvollständige Zahnreihe.

»Darum geht’s nicht«, sagte sie. »Ich habe ‘ne Nachricht von ’nem Herrn. Er möchte, dass du zu ihm kommst. Zimmer Nummer 21, über Johnsens Cafö.«

»Wer ist es?«

»Hat er nicht gesagt. Ich soll dich nur holen, koste es, was es wolle. Hat er gesagt.«

K. P. Johnsens Cafe mit Hotel in der ersten Etage lag in der Christian Krohgs gate. Die Fenster waren erleuchtet, und dem Lärm nach zu urteilen, war das Lokal voll.

Das Restaurant ähnelte den meisten in dieser Gegend und verfügte über einfache Tische, an denen die Gäste über einem Bier oder einem Portwein der allergeringsten Qualität saßen. Der Tabaksqualm war so dicht, dass ich gerade noch die alten Kupferstiche an den Wänden erahnen konnte. Eine dralle Kellnerin bediente. Darüber hinaus hatte sie die Aufgabe, eine Lücke im Tresen zu beobachten, die die Gäste passieren mussten, um zu einer Treppe zu gelangen, die hinauf ins Hotel führte. Diese Regelung brachte eine Menge zusätzliche Arbeit für die voluminöse Dame mit sich. Ständig erschien die eine oder andere Königin des Vaterlands und wollte mit einem schwankenden Kunden nach oben.

Ich trat an den Tresen. Ein Wink von Louisa, die sich mit einem Glas Portwein an einem Tisch postiert hatte, sorgte dafür, dass ich durch die Lücke gelassen wurde.

 

Zimmer 21 war ganz hinten im Flur. Bevor ich anklopfen konnte, wurde die Tür geöffnet und ein kräftiger Arm zog mich hinein. Hinter mir knallte die Tür zu, der Schlüssel wurde umgedreht. Ich spürte den Atem meines Angreifers im Gesicht. Es war zu dunkel, um ihn erkennen zu können. Ich holte zu einem Schlag aus, der seine Schulter nur leicht streifte.

Das war dumm. In der nächsten Sekunde schlang er einen Arm um mein rechtes Handgelenk und meinen Hals und drückte mich heftig gegen die Tür. Ohne viel Kraft schlug ich mit meinem linken Arm zu. Dieses Mal verfehlte ich ihn komplett. Der Mann verstärkte den Griff um meinen Hals und hob mich ein paar Zentimeter vom Boden hoch.

»Ich bin’s, Erfjord!«, brachte ich stöhnend hervor.

Er ließ los. Einen Augenblick später wurde das Deckenlicht eingeschaltet. Der Mann, der vor mir stand, war Jacob Bondi.

»Was zum Teufel ist denn mit Ihnen los?«, fragte ich mit heiserer Stimme.

Bondi wirkte schuldbewusst. »Tut mir wirklich leid, Herr Erfjord. Aber in meiner Lage darf ich kein Risiko eingehen.«

»Wen hatten Sie denn vermutet?«

Er unterbrach mich mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er mich findet«, erwiderte er. »Reden Sie von Manteuffel?«

Er überhörte meine Frage. »Vor zwei Tagen hat er herausgefunden, dass ich im Hotel Norge wohnte. Rund um die Uhr hat er seine Leute auf der Straße postiert! Natürlich konnte ich ihm entkommen. Aber dieser Ort… Hier gibt es zu viele Menschen, die kommen und gehen. Viel zu überschaubar!«

Krampfhaft umfasste er meine Oberarme. »Sie müssen den Kontrakt für mich finden! Ich kann das nicht selbst machen. Ich bin hier gefangen, verstehen Sie? Da draußen auf Oslos Straßen würde ich kaum zwei Stunden überleben!«

Er ließ mich los, trat an den Nachttisch, nahm eine Zigarette aus einem Etui und ließ sich auf die Bettkante sinken.

Ich setzte mich auf den einzigen Stuhl im Zimmer und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Von welchem Kontrakt hatte er gesprochen?

»Ich weiß nicht, ob das etwas mit Ihrer Situation zu tun hat«, sagte ich, »aber Birger Bay wurde ermordet. Er hielt sich in einem Lagerhaus versteckt, aber Manteuffel fand ihn trotzdem …«

Bondi sah mich lange an. »Habe ich Ihnen nicht bereits gesagt, dass ich keiner von Bays Männern bin? Aber irgendeinen Zusammenhang gibt es, da haben Sie sicher recht.« Er blickte mich an. »Manteuffel, sagen Sie? Wer soll das sein?«

»Ich vermute, er ist genau derjenige, vor dem Sie sich verstecken. Ein großer, blonder Deutscher mit Hakennase und langen dünnen Fingern?«

»Das ist er, ja.«

»Offenbar kein Mann, mit dem man spaßen darf«, sagte ich. »Nach meinen Erkenntnissen hat er Rustad, Fredriksen, wahrscheinlich Schröder und nun Bay ermordet. Außerdem hat er vermutlich das Feuer in der Dronningens gate gelegt, was neun Menschen das Leben kostete - einschließlich meines guten Freundes Lennart Winther.«

Ich sah ihn streng an. »Sagen Sie mir, wenn ich mich irre. Oder möchten Sie sich ein paar der erwähnten Morde vielleicht selbst anrechnen?«

Bondi entzündete seine Zigarette.

»Nein, was Sie sagen, ist völlig richtig. >Manteuffel<, wie Sie ihn nennen, steckt hinter all diesen Morden.«

»Aber was ist das Motiv?«

Er zuckte mit den Schultern. »Dieser Mann verfügt über eine Bosheit, die man nur als dämonisch bezeichnen kann. Er hat keinerlei Skrupel, alle aus dem Weg zu räumen, die ihn mit dem Rustad-Mord in Verbindung bringen könnten.«

»Aber stimmt es, dass er in seiner Heimat ein hoher Polizeibeamter ist?«

Bondi nickte. »Sie haben seit unserer letzten Begegnung offenbar ein wenig Detektivarbeit geleistet, Herr Erfjord. Ja, er ist sowohl Chef der bayerischen Sicherheitspolizei als auch stellvertretender Leiter der preußischen Gestapo.«

Bondi gab mir etwas Zeit, die Neuigkeiten zu verdauen, bevor er fortfuhr. »Manteuffel ist allerdings nicht sein richtiger Name. Offenbar hat er es für eine Art grotesken Scherz gehalten, dass er all diese Verbrechen unter diesem Pseudonym beging. Die Manteuffels sind eine adlige Familie, die eine Reihe bekannter Offiziere und Diplomaten hervorgebracht hat.«

»Tatsächlich. Und wie heißt er dann?«

Bondi zog an der Zigarette. Dann sagte er: »Sein Name ist Heydrich. SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich.«

Ich blickte Bondi an, als spräche er in Rätseln; weder Name noch Rang sagten mir etwas.

»Wer, sagen Sie?«

»Haben Sie noch nie von SS-Gruppenführer Heydrich gehört?«, erwiderte Bondi und bedachte mich mit einem schiefen Lächeln. »Nun, das hat sicher seinen Grund. Er ist eines der vielen aus dem Bodensatz der Gesellschaft stammenden Exemplare, die es dank unserer Nazibewegung bis ganz an die Spitze getrieben hat. Vor drei Jahren war Heydrich einer von Deutschlands sechs Millionen Arbeitslosen, nachdem er wegen seiner Weibergeschichten aus der Marine geworfen worden war. Aufgrund seiner Ausbildung zum Signaloffizier wurde er als Chef des Nachrichtendienstes der Nazipartei eingestellt.«

»Aber der Nachrichtendienst ist doch wohl etwas völlig anderes?«

»Gewiss, aber Heydrich erwies sich bald als ungewöhnlich talentiert für diese Art von Arbeit. In den letzten zwei Jahren vor Hitlers Machtübernahme saß er mit einer Handvoll Mitarbeitern in seinem kleinen Münchener Büro und legte eine Kartei über all diejenigen an, die als Feinde des Nationalsozialismus betrachtet wurden: Juden, Kommunisten, Freimaurer, Katholiken - ja, sogar Mitglieder der Organisation. Gleichzeitig sammelte er in aller Stille kompromittierende Informationen über seine Parteigenossen. Und jetzt hat er sie allesamt in der Hand: Göring, Goebbels und Rosenberg.«

Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Jetzt verstehe ich auch, wieso Sveen und Riisnaes kein Interesse an meinen Informationen über Manteuffel hatten. Sie kennen ihn ausschließlich unter dem Namen Reinhard Heydrich!«

Bondi nickte. »Sie sind gar nicht auf die Idee gekommen, dass er für die Morde an Rustad und all den anderen verantwortlich ist. In ihren Augen ist er ein Polizeibeamter, ein Mann also, der sein Leben der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung geweiht hat. Ihnen ist noch nicht aufgegangen, dass in Deutschland jetzt die schlimmsten Verbrecher in den Chefetagen der Polizei sitzen.«

Ich schüttelte entmutigt den Kopf. »Und ich dachte, Heydrich sei Bordellbesitzer …«

»Das ist er auch. Er besitzt in Berlin ein aus neun Zimmern bestehendes Etablissement. Alle Zimmer sind mit versteckten Mikrofonen ausgerüstet, die an Aufnahmegeräte angeschlossen sind. So wirbt er für den Nachrichtenapparat der Nazis neue Agenten an - eine sehr wirksame Form der Erpressung, wie Sie sicher verstehen. Aber das Bordell dient auch als wichtiges Instrument zur Überwachung der Parteigenossen. Hauptsächlich deswegen ist Heydrich zu einer heimlichen Achse geworden, um die sich das Naziregime dreht.«

»Also ein gefährlicher Mann?«, konstatierte ich.

»Mit Sicherheit! In Wirklichkeit ist es Heydrich, der die Fäden im Puppentheater des Dritten Reichs zieht.«

Ich musste unwillkürlich lächeln. Bondi sah mich durchdringend an.

»Tut mir leid«, sagte ich »Ich weiß, dass nichts Komisches daran ist. Aber Ihre Beschreibung dieses Heydrich lässt mich an eine Spinne denken.«

»Überaus treffend. Heydrich sitzt reglos in der Mitte eines Netzes aus tausend Fäden, und er registriert jede auch noch so schwache Bewegung an jedem einzelnen. Er plant und befiehlt und lässt seine Agenten, deren Anzahl nach der Machtübernahme enorm gestiegen ist, alle Risiken eingehen.«

»Aber ein paar schwache Stellen muss er doch wohl haben?«

Bondi nickte. »Einige. Heydrich ist Pilot und liebt tollkühne Alleinflüge, das könnte schon bald zu seinem Tod führen. Eine weitere Schwäche sind Frauen. So oft er die Gelegenheit hat, durchstreift er Berlins Bars und Nachtcafes auf der Suche nach dem Typus, der seine Bedürfnisse befriedigt.«

»Eine gefährliche Freizeitbeschäftigung für einen Polizisten.«

»Richtig. Aber das ist rein gar nichts im Vergleich zu dem Risiko, dem er sich hier in Norwegen ausgesetzt hat. Noch nie zuvor habe ich erlebt, dass er sich derart bloßgestellt hätte. Das liegt wohl daran, dass er jetzt alles verlieren könnte. Ich habe nämlich seine größte Schwäche noch nicht erwähnt.«

Bondi schwieg, während er sich eine neue Zigarette anzündete. Dann sagte er: »Heydrichs größte Schwäche ist die Tatsache, dass er einer von uns ist!«

 

Der Kontrakt

 

Ich starrte ihn ungläubig an. »Ein Mitglied der Organisation, meinen Sie?«

»Ja.«

»Wann hat er sich denn dort angemeldet?«

Bondi setzte eine geheimnisvolle Miene auf. »Das hat er nie getan. Obwohl es sein Geburtsrecht ist, würden wir ihm dieses Angebot niemals machen.«

Ich hatte genug von dieser Geheimniskrämerei. »Wenn Sie meine Hilfe brauchen, dann ist es doch wohl angemessen, dass ich erfahre, was Sie repräsentieren?«

»Selbstverständlich. In dieser Situation habe ich keine andere Wahl, als das Joch des Schweigens abzulegen.«

Er schwieg, als wolle er seine Kräfte sammeln, um fortzufahren.

»Nun, lassen Sie es mich versuchen. Der Gründer unserer Organisation war der Baron und Rabbi Jacob Frank, der Mitte des 18. Jahrhunderts verkündete, dass alle Religionen über einen gemeinsamen Kern verfügten. Diesen Kern galt es zu finden, um die kosmische Wiederherstellung zu vollenden - das, was in der jüdischen Kabbala als >tikkun< bezeichnet wird.«

>Kabbala<, >tikkun<, >kosmische Wiederherstellung<. Bondi sprach weiter in Rätseln.

»Lassen Sie mich sehen, ob ich Sie recht verstanden habe«, unterbrach ich ihn. »Jacob Frank war also der Ansicht, alle Religionen seien gleichwertig?«

Er nickte. »Die Glaubensvorstellungen, Traditionen und Rituale sind nur äußere Formen der einzelnen Religionen - eine Hülle, die den tatsächlichen Inhalt verbirgt. Nicht das Gesetz Mose ist wichtig, sondern das, was Rabbi Frank >die innere Thora< nannte.«

»Zu jener Zeit sicher eine ziemlich kühne Behauptung?«

»Ja, und die Verfolgungen blieben somit auch nicht aus. Frank und seine Anhänger wurden vom Rat der Vier Provinzen verbannt, weshalb sie keine andere Wahl hatten, als sich taufen zu lassen.«

»Sie wurden also zu Christen?«

Bondi räusperte sich.

»Nun, eigentlich nicht. Für uns bedeutet so etwas nicht viel mehr, als sich einen neuen Mantel überzuwerfen. Im Geheimen praktizieren wir unseren Glauben weiter.«

Ich konnte ein kleines Lachen nicht unterdrücken. Bondi blickte mich irritiert an.

»Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich sein. Aber bei Ihnen handelt es sich wohl nicht um solche Juden, von denen die Nationalsozialisten reden - die sich als Christen ausgeben, um die Zivilisation von innen auszuhöhlen?«

Bondi schüttelte verärgert den Kopf. »Antisemitische Mythen!«

»Aber Heydrich behauptet, Sie und ihre Leute hätten Attentate verübt, Bomben in öffentlichen Gebäuden gelegt und große Schiffsunglücke verursacht?«

»Das muss er ja glauben! Für ihn ist die Organisation identisch mit den Weisen Zions, der jüdischen Weltverschwörung. Doch die Wahrheit ist, dass wir im Laufe der Geschichte stets Passivität und Anpassung vorgezogen haben. Wir sind Geschäftsleute, Schriftsteller und Anwälte, keine blutrünstigen Anarchisten!«

»Sie meinen also, Sie sind ein religiöser Verein und mehr nicht?«

»Ja, natürlich. Aber das ist für Heydrich natürlich viel zu kompliziert. In seinem Weltbild geht es beim Judentum nicht um eine Frage von Glauben und Tradition, sondern um eine Frage von Blut.« Bondi breitete die Hände aus. »Blut, Blut, Blut! Ganz Deutschland ist derzeit gefangen in diesem makabren Blutkult. Doch vor dem Hintergrund, dass jedes Individuum Millionen von Vorfahren hat, ist jede Erörterung der Blutszugehörigkeit vollkommen sinnlos. Die einzige Rasse, der Sie und ich angehören, Herr Erfjord, ist die menschliche Rasse.«

»Aber wie hat Heydrich denn erfahren, dass er einer der Ihren ist?«

Bondi wischte sich über die Stirn. »Um das zu erklären, muss ich zurückgehen zum August 1931. Nach seiner Beförderung zum SS-Sturmführer verfügte Heydrich über genügend Einkünfte, um heiraten zu können. Der Hochzeitstermin stand bereits fest, als Bruno Heydrich, der Vater des Bräutigams, um ein Gespräch unter vier Augen ersuchte. Er hatte eine schockierende Neuigkeit: Sein Sohn könnte am Tag der Hochzeit mit einem >Judenbesuch< rechnen, sagte er.«

Ich erinnerte mich an etwas, das Bondi bei unserer letzten Zusammenkunft erzählt hatte. »Ja, natürlich. Am Hochzeitstag erfährt der Adept, dass er ein Mitglied der Organisation ist.«

Bondi lächelte matt. »Das stimmt. Doch nicht im Falle Reinhard Heydrichs. Wir hatten ihn natürlich beobachtet, und wussten, dass ein Besuch katastrophale Folgen nach sich ziehen würde. Doch wir konnten nicht verhindern, dass er Kenntnis von unserem Kontakt zu seinem Vater im Jahr 1897 erhalten würde.«

»Sie meinen, dass Bruno Heydrich …« Bondi fuhr unbeirrt fort.

»Vor siebenunddreißig Jahren war unsere Organisation nicht aktiv. Wir waren über die ganze europäische Landkarte verstreut und kannten einander nicht. Nur ein kleiner Kreis wusste von der Existenz der Organisation und übernahm die Aufgabe, sie wieder zum Leben zu erwecken. Als Bruno Heydrich und Elisabeth Krantz heiraten wollten, kamen zwei unserer Mitglieder überraschend zu Besuch. Sie erzählten ihm, dass er mit dem bekannten Frank-Anhänger Jürgen Ludwig Porges verwandt sei. Danach zeigten sie ihm einen Brief, den Porges 1811 an seine Nachkommen verfasst hatte und in dem er sie aufforderte, sich der Lehre anzuschließen. Bruno Heydrich war natürlich nicht sonderlich begeistert, tat es aber allen anderen Nachkommen Porges’ gleich. Er setzte seinen Namen unter den Brief. Ein Beweis, dass er ihn gelesen hatte.«

»Damals war das wohl nichts besonders Dramatisches?«

»Nein, im Grunde nicht - bevor er unterschrieb, mussten unsere Boten versprechen, ihn nie wieder zu belästigen. Doch als er vor drei Jahren Reinhard davon erzählte, begriff sein Sohn sofort, dass der Brief - oder der Kontrakt, wie wir ihn gerne bezeichnen - eine enorme Bedrohung darstellte. Ein schriftliches Zeugnis seines sogenannten jüdischen Bluterbes würde ihn die Karriere, ja wahrscheinlich sogar das Leben kosten. Sofort leitete Heydrich eine fanatische Suche nach dem Kontrakt ein. Im großen Stil ließ er die Familien aller Frank-Anhänger in Europa und Amerika registrieren. Im letzten Jahr brachen seine Agenten in unsere Archive in Offenbach ein.«

»Hatten Sie den Kontrakt dort versteckt?«

Bondi schüttelte den Kopf.

»Nein, er wurde im Blindrahmen des Porträts von Jacob Franks Tochter aufbewahrt.«

»Eva Frank Matronita …«

»Ja, Eva Frank. Matronita ist nicht ihr Name, Herr Erfjord, sondern eine aramäische Ehrenbezeichnung für die Shekhinah, die weibliche Präsenz Gottes.« Ich sah ihn verständnislos an.

Bondi räusperte sich und fuhr fort. »Nun, wie auch immer. Normalerweise wird die Matronita von den mächtigsten Familien behütet, doch da diese als Allererste in Heydrichs Blick geraten würden, ließen wir das Bild zwischen den weniger prominenten Familien hin- und hergehen. Es wurde ihnen gesagt, dass es sich um ein Heiligenbild handle, doch nicht, dass ein wichtiges Dokument im Rahmen versteckt war. Wir taten dies aus Rücksicht auf ihre Sicherheit, doch leider stellte sich diese Entscheidung als fatal heraus.

Im letzten Jahr wurde das Bild von der Familie Frey in Ahrensburg, nördlich von Hamburg, aufbewahrt. Die Familie bestand aus angesehenen Bürgern, die der katholischen Gemeinde angehörten. Doch dann erhielt der zuständige nationalsozialistische Gauleiter Kenntnis von ihren jüdischen Ahnen. Der Skandal und die Isolation ließen sie zu dem Schluss kommen, dass es am besten wäre, das Land zu verlassen, und sie nahmen die Matronita mit…

»Aber woher wusste Heydrich, dass das Porträt nach Norwegen gekommen war?«

»Er spürte die Familie auf, die das Bild vor den Freys behütet hatte. Unter der Folter gaben sie alles preis.«

Bondi stand auf, trat ans Fenster und spähte durch einen Spalt in den Vorhängen.

Während unserer Unterhaltung hatte er relativ ruhig gewirkt, doch die vielen Zigarettenkippen im Aschenbecher verrieten, dass seine Ruhe nur gespielt war.

Ich blickte mich im tristen Hotelzimmer um - ein Bett, ein Stuhl, ein Ofen und eine leere Holzkiste. Abgesehen von einem Öldruck, der Maria mit dem Kind zeigte, waren die Wände leer.

Mir wurde fast schlecht bei dem Gedanken, dass Bondi seine letzten Stunden womöglich hier verbringen könnte. An seiner Stelle wäre ich das Risiko eingegangen, mich auf Oslos Straßen durchzuschlagen. Doch ich hatte das Gefühl, dass er sich eher im Bett verkriechen würde, sobald ich das Zimmer verließ.

Er erinnerte mich an ein Tier, das es nicht länger erträgt, gejagt zu werden.

Ich erhob mich und stand unschlüssig da. »Ich weiß, dass der Kontrakt in Ihren Händen eine mächtige Waffe darstellt, Herr Bondi. Aber wie wollen Sie sie anwenden?«

Bondi wandte sich um und sah mich gereizt an.

»Der Kontrakt sollte ein Wunder bewirken, Erik. Hitler hat eingesehen, dass er mit der Zionistischen Weltorganisation eine Abmachung treffen muss. Deutsche Juden sollen ungehindert nach Palästina emigrieren dürfen. Auf diese Weise umgeht er wirtschaftliche Sanktionen, die das Ausland aufgrund seiner Judenpolitik verhängen würde. Denn diese könnten sein Regime schon am Beginn ersticken.«

»Aber Heydrich versucht, die Abmachung zu verhindern?«

»Ja, und er ist der Einzige, der dazu imstande ist. Er ist davon überzeugt, dass eine Auswanderung nach Erez Israel ein Machtzentrum für die jüdische Weltverschwörung erschaffen würde. Deshalb werden wir den Kontrakt benutzen, um ihn zur Anerkennung der Abmachung zu zwingen. Wir beabsichtigen sogar, ihn die Abmachung in Anwesenheit von Zeugen persönlich unterschreiben zu lassen.«

»Und haben Sie irgendeine Vermutung, wo sich der Kontrakt jetzt befindet?«

Bondi schüttelte entmutigt den Kopf. »Ich vermute, auch Sie haben verstanden, dass er nicht mehr im Blindrahmen des Gemäldes versteckt ist.«

Ich nickte.

Eine ganze Weile standen wir schweigend zusammen. Bondi drehte nervös an seinem Ring mit dem Kreuzsymbol. Dann reichte er mir die Hand. »Finden Sie den Kontrakt für uns!«, sagte er. »Es könnte die allerletzte Hoffnung für Zehntausende von Menschen sein.«

 

Ich verließ das Hotel. Bondis Abschiedsworte wirbelten mir durch den Kopf. Das schaffe ich niemals, dachte ich. Ich bin nicht Fridtjof Nansen und rette Tausende von Menschen, aus diesem Holz bin ich einfach nicht geschnitzt.

Andererseits ging es bloß darum, ein Stück Papier zu finden. An und für sich klang das nicht völlig unmöglich.

Ich ging über den Lilletorg und lief die Elvegate hinunter. Plötzlich fiel mir ein Wagen auf, der einsam auf einem Parkplatz am Akerselv stand. Unwillkürlich fing mein Herz an zu klopfen.

Es war Lennart Winthers schwarzer Chrysler.

 

Der schwarze Chrysler

 

Ich konnte nicht erkennen, ob jemand im dunklen Wageninnern hinter dem Steuer saß. Nach längerer Überlegung entschied ich mich, näher heranzugehen. Es war, als hätte mich eine instinktive Furcht ergriffen vor diesem schwarzen Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern - aber vielleicht war es auch eine Vorahnung. Nachdem ich mich versichert hatte, dass keine Menschen in der Nähe waren, überquerte ich die Straße.

Der Chrysler war leer. Um ganz sicher zu gehen, lief ich einmal um den Wagen herum und überprüfte, ob die Türen verschlossen waren. Sie waren es - ebenso der Kofferraum. Ich ging in die Hocke, um einen Blick auf die Räder zu werfen. Sie waren verschmutzt, aber davon wurde ich auch nicht schlauer. So, wie die Winter in diesem Land nun mal geworden waren, hatten alle Autos, die über von ständigem Regen aufgeweichte Straßen fuhren, Schmutzspuren bis hinauf an die Fenster.

Ich erhob mich. Im selben Moment spürte ich, wie jemand nach meinem Arm fasste. Im Glauben, angegriffen zu werden, fuhr ich zusammen.

»Kiss!«, rief ich erschrocken. »Was zum Teufel machst du hier?«

Natürlich hätte ich mich nicht so ausdrücken sollen. Aber mein Nervenkostüm war äußerst dünn, und ich war schlichtweg nicht in der Stimmung für Überraschungen. Nur Sekunden später wurde mir klar, wie froh und erleichtert ich war, sie wiederzusehen.

Ich trat einen Schritt auf sie zu und wollte sie umarmen. Kiss wich zurück.

»Ich bin in der ganzen Stadt herumgefahren, um Zigaretten zu bekommen«, sagte sie. »Zum Schluss bin ich in einem Cafe am Lilletorg gelandet. Da konnte ich ein paar Medina kaufen.«

Wie zum Beweis hielt sie das Päckchen in die Höhe. Ihre Stimme zitterte, ihr Blick wirkte verängstigt. Offenbar war sie genauso erschrocken wie ich.

»Ist schon gut«, sagte ich. »Ich wollte dich nicht anschreien.«

Als ich sie jetzt umarmte, wich sie nicht zurück.

»Du ahnst ja nicht, welche Angst ich hatte, nachdem du so plötzlich verschwunden warst. Ich hab schon mit dem Schlimmsten gerechnet…«

Sie legte ihre Wange an meine Brust. »Wir setzen uns ins Auto«, sagte sie, »dann erkläre ich dir alles.«

Sie schloss die Fahrertür auf und öffnete dann die Tür für mich. Ich saß da und blickte sie an. Wie immer war sie elegant gekleidet, trug ein braunes Herbstkostüm mit rotbraunem Schal, jedoch weder Hut noch Ohrringe. Die Umarmung hatte sie etwas beruhigt, aber ihr Gesicht war immer noch blass, und in ihren Augenwinkeln lag ein furchtsamer Zug.

»Ich wusste gar nicht, dass du fahren kannst«, sagte ich, um das Schweigen zu übertünchen.

Kiss lächelte. »Ich werde von Tag zu Tag besser.«

»Dann hast du den Wagen vom Solvann hierher gefahren?«

»Ja, natürlich.«

»Was meinst du mit >ja, natürlich<. War das bloß so ein Einfall? Anstatt den Bus zum Jernbanetorv zu nehmen und mich dort wie abgemacht zu treffen, hast du dich also entschieden, dein Täschchen zu packen und zu verschwinden?«

»Ja, ich bekam Angst, weißt du.«

Ich musste sofort an das Wasserflugzeug denken, das auf dem Solvann gelandet war. »Angst wovor?«

Sie sah mich an, als befürchte sie, dass ich ihr nicht glauben würde. »Das ist schwer zu erklären. Ich dachte darüber nach, was du gesagt hast. Dass du Angst hättest, es könnte mir da draußen im dunklen Wald etwas Schreckliches geschehen. Schließlich konnte ich es im Haus nicht mehr aushalten, und da hab ich mitten in der Nacht meine Sachen zusammengepackt und bin in die Stadt gefahren.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Um ehrlich zu sein, ich bekam Panik. Ich habe keine andere Erklärung. Am schlimmsten war, dass ich glaubte, ich würde es niemals schaffen. Ich habe dauernd den Motor abgewürgt und mich abgerackert, den Wagen wieder in Gang zu bekommen. Es war schrecklich! Als ich endlich hier ankam, war ich total erschöpft. Ich bin gleich ins Bett gegangen und habe wie ein Stein geschlafen. Und um die Zeit, als ich dich am Jernbanetorv treffen sollte, habe ich immer noch geschlafen …«

Ich streichelte ihre Wange. »Aber warum hast du dich denn nicht gemeldet?«

»Ich bin zu einer Freundin in Ekeberg gezogen. Ich wollte mich natürlich so schnell wie möglich bei dir melden. Aber ich habe mich geschämt, weil ich so völlig meinen Mut verloren habe. Schließlich habe ich die ganze Zeit behauptet, dass mich das Eremitendasein nicht im Mindesten störte. Und als ich endlich den Mut aufbrachte, dich anzurufen, warst du nicht zu erreichen.«

»Wenn du von heute sprichst, ja, da war ich sehr beschäftigt.«

Kiss sah mich abwartend an.

»Ich habe gerade Jacob Bondi getroffen. Und er hat mir die Wahrheit über, äh … über Manteuffel erzählt…« Ich brach ab.

»Aber es hat wohl keinen Sinn, wenn ich dir mehr erzähle. Ich möchte dich nicht in irgendetwas hereinziehen.«

»Na, wenn du es unbedingt kompliziert machen willst!«

Mit schmollender Miene umfasste sie das Lenkrad. Und blieb so sitzen.

»Du, Kiss, es gibt keinen Grund, sauer zu sein. Ich will nur …«

»Ich bin überhaupt nicht sauer!«

»Ach nein, und was hast du dann?«

»Ich wollte dich fahren … da, wo du hinwillst. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich machen muss.«

»Du meine Güte«, entfuhr es mir. »Du trittst auf die Kupplung und startest den Motor, indem du den Zündschlüssel umdrehst. Das kann ja sogar ich!«

Kiss lachte zufrieden. Dann ließ sie den Chrysler an, legte den Gang ein und schoss vom Parkplatz. Genauso schnell fuhr sie die ganze Elvegate hinunter, bevor sie plötzlich scharf bremsen musste, weil ein Betrunkener über die Kreuzung an der Jernbanegate torkelte.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich das Steuer übernehme«, schlug ich vor.

»Du Quatschkopf! Hast du wirklich gedacht, dass ich nicht mal den Wagen anlassen könnte?«

In einem viel langsameren Tempo fuhr sie weiter. »Wo willst du hin?«

»Fahr mich doch bitte zum Gebäude des Folketeater.«

»Wird gemacht!«

Wir kamen zum Youngstorv, und Kiss hielt den Wagen an. »Hast du Papier und Bleistift bei dir?«, fragte sie. »Selbstverständlich«, erwiderte ich. »Hast du schon mal von einem Journalisten gehört, der das nicht bei sich hat?«

»In Ordnung. Dann gebe ich dir die Telefonnummer meiner Freundin. Und solltest du entgegen aller Erwartung Verwendung für mich haben, dann zögere nicht, mich anzurufen.«

Sie verstummte und sah mich ungeduldig an. »Hast du jetzt Papier und Bleistift, oder was?«

Sie hatte guten Grund, verärgert zu sein. Ich hatte nicht einen Finger gerührt, um ihrem Wunsch nachzukommen. Meine eigenen Worte hatten einen Denkprozess angestoßen, der mir fast den Atem raubte. Es war, als erhöbe sich die Sonne über einer dunklen Landschaft und ließe ein Detail nach dem anderen erkennen. Alles hatte plötzlich eine logische - und nicht minder einfache - Erklärung.

Ich wusste, wo sich der Kontrakt befand.

 

Bosphorus

 

Nachdem Kiss weggefahren war, ging ich zum Empfangstresen von Arbeiderbladet und bat um das Adressbuch. Schnell fand ich, wonach ich gesucht hatte.

Doch um ganz sicher zu gehen, überprüfte ich erst das Grand Hotel, das Hotel Cecil und das Restaurant >Annen Etage< im Hotel Continental. Danach fuhr ich in die Sophus Lies gate 4 in Frogner.

Als ich an der Tür klingelte, hörte ich aus dem Innern eine gequälte Stimme. »Wer ist da?«

»Erik Erfjord von Arbeiderbladet. Wir sind uns im Cafe Kielland begegnet.«

»Komm schon rein, in Gottes Namen!«

Die Tür war unverschlossen. Ich lief durch den Flur und betrat ein Wohnzimmer, das, abgesehen von einer mit verwelkten Zinnien bestückten Vase vor dem Fenster, keinerlei Schmuck aufwies. Vollständig angezogen lag Sven Elvestad auf dem Sofa. Seine Brille hatte er auf die Stirn geschoben. Auf dem Wohnzimmertisch aufgereiht standen leere Weinflaschen.

»Sind Sie krank?«, fragte ich.

Er sah noch schlimmer aus als in meiner Erinnerung. Sein zerzaustes Haar ragte ihm in die Stirn, das Gesicht war rot und verschwollen, seine Portweinnase voll tiefer Poren. Die Augen starrten blind in meine Richtung.

»Hilf mir, hilf mir«, stöhnte er.

»Brauchen Sie einen Arzt?«

»Ich muss pinkeln und kann meine Brille nicht finden.« Ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzulachen.

»Sie haben sie auf der Stirn.«

»Häh!«

Elvestad tastete mit beiden Händen nach der Brille. Sobald er sie auf die Nase gesetzt hatte, stand er schwerfällig auf und schwankte hinaus auf die Toilette. Er hatte keine Zeit, die Tür zu schließen, und ein paar Sekunden später hörte ich, wie ein kleiner Wasserfall aus ihm heraussprudelte.

»Erfjord, das stimmt doch?«

Er musste rufen, um das laute Geplätscher zu übertönen.

»Ja«, rief ich zurück. »Erik Erfjord. Wir sind uns im Januar im Cafe Kielland begegnet, aber ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern.«

Elvestad beendete sein Geschäft und betätigte die Spülung. Während er sich die Hose zuknöpfte, kam er ins Wohnzimmer zurück.

»Natürlich erinnere ich mich. War das nicht der Tag nach dem Rustad-Mord?«

Ich nickte. »Sie und Eines kamen gerade von dem Lagerplatz in der Uelands gate.«

»Ja, stimmt…«

»Sie trugen einen knöchellangen, anthrazitgrauen Wintermantel.«

Seine halbblinden Augen blitzten auf. »Was ist damit?«, fragte er neugierig.

»Haben Sie den Mantel noch?« Elvestad nickte.

»Könnte ich mir den mal ansehen?« Er trat hinaus in den Flur und kam mit dem schweren, unförmigen Kleidungsstück zurück.

»Glaubst du vielleicht, dass ich ein Vermögen im Futter versteckt habe?«

»Ein Vermögen nicht gerade.«

Ich nahm ihm den Mantel ab und begann systematisch die Taschen zu durchsuchen. Es dauerte nicht lange, bis ich fündig wurde. Die linke Innentasche hatte an der oberen Kante einen Riss.

Elvestad wurde immer neugieriger und blickte mir über die Schulter. Ich legte den Mantel auf den Wbhnzimmertisch und tastete das Futter ab.

»Jetzt werden wir’s ja sehen«, sagte ich. »Ja, wirklich. Da ist etwas!«

Ich ließ Elvestad die Ausbeulung ganz unten im Mantel befühlen. In der nächsten Sekunde hatte er ein Springmesser in der Hand und schlitzte den Saum auf. Ein Papier fiel zu Boden. Ich hob es auf.

Elvestad blickte mich völlig erstaunt an. »Woher wusstest du, dass das Papier da drin war?«

Ich konnte mich nicht zurückhalten. »Elementar, mein lieber Riverton. Sie hatten beim Besuch von Rustads Lagerplatz ihren Notizblock vergessen. Deshalb nahmen Sie sich ein Stück Papier aus dem Büro des Großhändlers. Und im Cafe Kielland glaubten Sie, es wieder verloren zu haben. Doch in Wirklichkeit war es im Mantelfutter gelandet, als Sie es sich in die Innentasche stecken wollten.«

Elvestad sah sich den Bogen genauer an. Es war ein drei Mal gefaltetes, dickes Stück Lumpenpapier. Auf die Rückseite waren die Wörter >Rustad<, >Büro<, >Mädchenzimmer<, >Handel aller Art<, >Winkel mit Papier< und >Eisenhaken< gekritzelt.

»Ja, das ist meine Handschrift«, sagte Elvestad. »Reiner Zufall, dass ich das Papier gefunden habe. Es hat fast unbemerkt auf dem schmutzigen Fußboden gelegen. Sieh mal hier: Irgendwer ist mit dreckigen Stiefeln drübergelaufen. Ich habe wahrscheinlich gedacht, dass Rustad den Papierkorb verfehlt hatte.«

»Anscheinend hat Rustad nicht bemerkt, dass der Kontrakt auf den Boden gefallen ist, als er das Gemälde aus dem Rahmen nahm. Aber …«

»Das Gemälde?«

Ich nickte beflissen. »Und dann blieb der Kontrakt also unbemerkt liegen, bis ein halbblinder Mann hereinkam! Da bestätigt sich wohl, was man die Launenhaftigkeit des Schicksals nennt.«

»Kontrakt?«

Ich faltete den Bogen auseinander. Elvestad beugte sich über meine Schulter.

»Ja«, sagte ich, »genau, wie ich vermutet habe. Das ist der Kontrakt - sehen Sie nur, da ist Bruno Heydrichs Unterschrift!«

»Wer?«

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Während ich sprach, setzte sich Elvestad aufs Sofa und goss die Reste der Weinflaschen in ein Glas.

»Du meine Güte!« Er leerte das halbvolle Glas in einem Zug. »Das ist ja ein komplett fertiger Sensationsroman. Den könnte ich ohne irgendeinen Zusatz einfach so runterschreiben.«

»Vielleicht könnten Sie mit dem Buch noch warten? Ich habe das Gefühl, dass es ziemlich dringend ist, den Kontrakt Jacob Bondi zu überbringen.«

Elvestad stand sofort auf und nahm seinen Wintermantel.

»Auf geht’s zu K. P. Johnsens Restaurant und Pension«, rief er vergnügt. »Wir haben keine Sekunde zu verlieren!«

 

Als wir zum Restaurant in der Christian Krohgs gate kamen, hatte die dralle Dame schon zugeschlossen. Abgesehen von drei oder vier Bauernfängerinnen, die ihre Opfer noch nicht nach oben gelockt hatten, war das Lokal leer. Ich ging auf die Matrone zu, doch bevor ich den Mund öffnen konnte, rief Elvestad ungeduldig: »Geben Sie mir einen >grünen Pullover<, wenn ich bitten darf!«

»Der Ausschank ist schon geschlossen!«

Er legte einen Zehner auf die Theke.

»Der Ausschank ist geschlossen, sage ich.«

Elvestad blätterte einen weiteren Zehner auf die Theke, und noch einen, nachdem die Kellnerin immer noch kein Einlenken erkennen ließ. Die beleibte Dame seufzte schwer und raffte die Scheine zusammen. Sobald er seine Portweinflasche bekommen hatte, setzte er sich an einen Tisch und sah aus, als interessierte ihn die ganze Heydrich-Geschichte nicht weiter.

Ich wandte mich an die Frau. »Ich muss mit dem Herrn von Zimmer 21 sprechen. Es ist dringend!«

Sie glotzte mich wortlos an.

»Lassen Sie mich doch bitte durch.«

»Herr Sperling ist im Augenblick nicht da.«

»Sperling? Ist das der Herr von Zimmer 21?«

»Ja.«

»Und er ist ausgegangen?«

Sie nickte. »Er wurde vor einer Viertelstunde von zwei Männern abgeholt.«

»Wie sahen die aus?«

Ich hörte, wie Elvestad aufstand. Also war er doch nicht nur wegen eines Glases mitgekommen. Sein rotglühendes Gesicht erschien neben mir. »Beschreiben Sie uns die beiden Männer!«, befahl er streng.

Die Frau musste nicht lange überlegen.

»Der eine war ein unangenehmer Kerl, groß und blond, mit krummer Nase …«

»Reinhard Heydrich«, sagte ich leise.

Elvestad stimmte zu.

»Sprach er Deutsch?«, fragte ich, um ganz sicher zu gehen.

»Er hat nicht ein einziges Mal den Mund aufgemacht. Der andere Mann hat geredet. Aber er sprach kein ordentliches Norwegisch …«

»Wie sah er denn aus?«

Die Kellnerin strahlte. »Er hatte scharfe Züge und dunkles, gewelltes Haar. Für Ende fünfzig sah er ziemlich gut aus.«

»Ende fünfzig?«

Sie nickte. »Ja, aber er hat sich gut gehalten. Ein richtiger Beau.«

Elvestad ergriff das Wort. »Und wann sind diese Herren hier aufgetaucht?«

Die Kellnerin überlegte. »Die müssen sich raufgeschlichen haben, als ich gerade beschäftigt war. Ich habe sie erst bemerkt, als sie mit Herrn Sperling die Treppe herunterkamen.«

»Wie kam Ihnen Herr Sperling vor?«

»Er hatte ordentlich was getrunken, das war deutlich. Die anderen haben ihn gut festgehalten, damit er nicht zusammensackte. Und als ich die Klappe für sie geöffnet habe, sagte der Schönling: >Unser Freund muss mal ein bisschen an die Luft, Fräulein - wir sind bald zurück!<«

»Und das geschah also vor einer Viertelstunde?«

»So ungefähr.«

»Können Sie uns sonst noch etwas erzählen?«, fragte ich. Sie blickte zu Elvestad. »Vielleicht…«

»Vielleicht?«, rief ich.

»Ja, nachdem die drei Herren gegangen waren, entdeckte ich, dass einer von ihnen etwas hinter der Theke verloren hatte.«

»Lassen Sie sehen!«, sagte Elvestad aufgeregt. Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich muss ja an mich selbst denken. Wenn Herr Sperling nicht zurückkommt, verliere ich die Miete für zwei Tage. Und der Ring kann ja vielleicht einen Teil des Verlusts decken.«

»Der Ring?«, rief ich.

Elvestad zückte seine Geldbörse. »Wie viel schuldet Ihnen Herr Sperling?«

Die Kellnerin bekam, was sie verlangte. Dann zog sie einen in Papier gewickelten Gegenstand aus der Tasche ihrer Schürze. Ich packte ihn aus.

»Das ist Bondis Ring«, flüsterte ich Elvestad zu. »Ich erkenne das Kreuzsymbol wieder.«

Elvestad nahm den Ring und hielt ihn dicht vor seine kurzsichtigen Augen.

»Sieht aus wie ein Kreuz«, sagte er nach einer Weile. »Aber eigentlich ist es ein ungewöhnlich geformtes F. Das steht wohl für Frank, vermute ich.«

Ich glättete das Papier. Ein paar Wörter waren daraufgekritzelt.

»Sehen Sie hier!«, sagte ich zu Elvestad. »Da steht Bosphorus.«

»Bosphorus?«

»Ja. Ob Bondi den Ring und das Papier absichtlich verloren hat, um uns etwas zu erzählen?«

Elvestad sah mich mit ernstem Ausdruck an. »Natürlich«, sagte er. »Und ich weiß sogar, worauf er hinauswollte …«

 

Asbjorn Krag, das bin ich!

 

Die restliche Nacht verbrachten wir im Grand Hotel. Das war Elvestads Vorschlag. Er rief im Restaurant an und bat einen der Kellner, mit einem Kartenspiel, Nähzeug und zwei Flaschen Portwein aufs Zimmer zu kommen. Der Plan sei, so sagte er, sich mit Bridge zu zweit die Zeit zu vertreiben, bis der Zug am nächsten Morgen um acht Uhr abfuhr.

»Welcher Zug?«, fragte ich.

»Der Zug nach Skien.«

»Und was machen wir da?«

Elvestad gab keine Antwort. Stattdessen begann er davon zu reden, dass es sich um eine äußerst gefährliche Reise handeln würde. Jacob Bondi sei tot, ermordet - davon könnten wir mit Sicherheit ausgehen. Doch bevor er seinen letzten Atemzug getan habe, hätte Heydrich sicher aus ihm herausbekommen, dass ich jetzt nach dem Kontrakt suchte. In der Hoffnung, dass ich ihn zu dem wertvollen Dokument führen könnte, würde er von nun an seine Aufmerksamkeit auf mich konzentrieren. Aus diesem Grund müssten wir uns auch im Grand Hotel verstecken, anstatt unsere jeweiligen Wohnungen aufzusuchen.

»Morgen müssen wir die Augen offen halten, Erfjord! Und zwar sobald wir das Hotelzimmer verlassen!«

Ich sah ihn verschreckt an. »Aber das sind doch wohl alles bloß Spekulationen?«

Elvestad kicherte. »Spekulationen? Also, hör mal! Wir Kriminalisten nennen das die deduktive Methode.« Er konzentrierte sich auf die Karten in seiner Hand. »Elf Herzen.«

»Passe.«

Eigentlich hätte ich ein paar Stunden Schlaf gebrauchen können, bevor wir uns in den Zug nach Skien setzten. Doch wenn Sven Elvestad sich erst einmal entschieden hatte, die Nacht mit Kartenspielen zu verbringen, gab es kein Widersprechen. Mit größter Selbstverständlichkeit hatte er das Kommando übernommen. Der Kontrakt und Bondis Ring waren in das Futter des unförmigen Wintermantels eingenäht. Die weiteren Pläne waren geschmiedet, alle Entscheidungen getroffen. Ich konnte einzig und allein bei ihm bleiben und abwarten, was geschehen würde.

Ich machte zwei Stiche, bevor Elvestad meine Pik-Dame übertrumpfte. Dann begann er, Herzen auszuspielen. Nach einer Weile schien es, als wäre er des Spiels überdrüssig. Er legte die Karten auf den Tisch, lehnte sich zurück und blickte mich ernst an. »Bist du bewaffnet, Erik?«

Die Frage kam völlig überraschend. Stammelnd musste ich eingestehen, dass ich derartige Vorsichtsmaßnahmen leider versäumt hatte.

Elvestad warf das Springmesser auf den Tisch. Dann sagte er: »So eins hättest du auch dabei haben sollen!«

Ich nahm die Waffe, um sie mir genauer anzusehen. Elvestad demonstrierte mir den Auslösemechanismus. Die blitzscharfe Klinge schoss aus dem Schaft.

»Prachtvoll, nicht wahr? Ich habe es von Göring geschenkt bekommen.«

»Hermann Göring?«

»Ja, ich habe ihn ’23 in München kennengelernt. Ein jovialer und extrovertierter Typ. Wusstest du, dass seine Frau Schwedin war?«

»Was hat das mit der Sache zu tun? Sie reden von einem der schlimmsten deutschen Nationalsozialisten!«

Er nickte bedächtig. Dann sagte er, wohl um mich milder zu stimmen: »Bist du nicht neugierig, woher ich wusste, was Bondi mit >Bosphorus< meinte?«

Selbstverständlich war ich das. Elvestad schob die Klinge zurück in den Schaft, ging zur Garderobe und legte das Messer in die Manteltasche.

»Nun«, sagte er, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. »Vor zwei Tagen las ich einen Artikel in Tidens Tegn. Er handelte von Fred. Olsens neuer Palästina-Route. Die erste Abfahrt fand heute Vormittag statt…« Elvestad setzte eine bedeutungsvolle Miene auf. »… als das Motorschiff Bosphorus den Osloer Hafen verließ. Es wird damit gerechnet, dass es Anfang Januar in Tel Aviv ankommt.«

»Tatsächlich!«

Er schwieg geheimnisvoll.

»Jacob Bondis Nachricht bedeutet also …?«

»Er hoffte, dass du den Kontrakt finden würdest. Du sollst ihn seinen Mitverschworenen übergeben, die mit diesem Schiff nach Tel Aviv reisen. Und damit sie verstehen, wer du bist, musst du den Ring tragen, wenn du an Bord gehst…«

»Na, ich muss schon sagen, Elvestad! Einer Ihrer Detektivhelden hätte keine bessere Erklärung bieten können!«

»Vielen Dank.« Er lächelte voller Stolz. »Wie ich immer zu sagen pflege: Asbjorn Krag, das bin ich!«

»Allerdings hätte ich doch einen kleinen Einwand.«

»Und wie sollte der lauten?«

»Die Bosphorus ist bereits auf dem Weg nach Tel Aviv - wir kommen zu spät!«

Elvestad brach in ein jungenhaftes Lachen aus. »Keineswegs, Erik. Die Bosphorus fährt zunächst nach Menstad, um Kunstdünger zu laden. Wenn wir morgen früh den Zug nach Skien nehmen, schaffen wir es, an Bord zu gehen, bevor das Schiff vom Kai ablegt.«

»Und dessen sind Sie sich ganz sicher?«

»Selbstverständlich. Ich sagte doch, es stand in Tidens Tegn.«

Er nahm einen ordentlichen Schluck aus der Portweinflasche und reichte sie dann mir. Ich schüttelte den Kopf. Angesichts seiner Schlussfolgerungen war ich immer noch ganz aufgewühlt. »Können wir ganz sicher sein, dass Bondi tot ist?«

»Ja. Ich habe diese Nazis bereits vor elf Jahren kennengelernt, ich habe Hitler persönlich interviewt - und glaub mir, diese Menschen sind fanatische Antisemiten.«

Ich lächelte erleichtert.

»Und ich dachte schon, Sie seien Faschist«, erwiderte ich. »So, wie die anderen Mitarbeiter von Tidens Tegn.« Elvestad sah mich erstaunt an.

»Wer sagt, dass ich es nicht bin? Ganz im Gegenteil. Heydrich und Hitler sind bloß Pseudofaschisten. Sie glauben nicht daran, dass irgendwelche politischen Ziele erreicht werden können, ohne die Juden zu verdrängen. Ihr krasser Antisemitismus hat sie für das nationale Element, das die Hauptsache des Faschismus ist, blind werden lassen!«

Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu widersprechen, es wäre gewesen, wie mit einem Kind über Politik zu diskutieren. Elvestads Äußerungen ließen grenzenlose Naivität und erheblichen Wissensmangel erkennen.

 

Gegen halb sechs hatte er beide Portweinflaschen geleert. Ich erbot mich, eine neue an der Rezeption zu besorgen. Als der Nachtportier mit der Flasche ankam, bat ich darum, telefonieren zu dürfen.

»Sie finden eine Kabine im Vestibül.«

Ich betrat die Zelle und fand die Nummer, die Kiss mir gegeben hatte. Eine schlaftrunkene Frauenstimme antwortete. Ich fragte, ob Kristin Lorentsen zu sprechen sei. »Am Apparat. Bist du das, Erik?«

Ich kam mir plötzlich ziemlich dumm vor und suchte nach einem Grund, sie so früh geweckt zu haben.

»Ja …«, sagte ich zögernd. Nachdem ich mir das Hirn zermartert hatte, fügte ich hinzu: »Ich wollte nur mal deine Stimme hören.«

»Ist etwas passiert?«

Fraglos war es mir gelungen, sie zu beunruhigen. »Aber nein«, log ich. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

»Möchtest du, dass ich zu dir komme?«

»Nein, nein«, gab ich zurück. »Leg dich wieder schlafen. Ich fahre in Kürze mit dem Morgenzug nach Skien. Wir treffen uns, sobald ich wieder in Oslo bin.«

»Ich kann dich doch nach Skien fahren, Erik. Sag mir, von wo aus du anrufst, dann hole ich dich mit dem Chrysler ab.«

»Nein«, sagte ich. »Das geht nicht. Ich will dich nicht in diese Angelegenheit hereinziehen. Außerdem fahre ich nicht alleine.«

»Aber…«

»Ich erkläre dir alles, wenn ich zurück in Oslo bin. Ich muss jetzt los - bis bald, Liebling!«

Sie setzte an, etwas zu erwidern, doch ich legte auf. Ich hätte sie überhaupt nicht anrufen sollen. Mit dem Spinnenmann fertig zu werden, war an sich schon keine leichte Aufgabe. Jetzt würde sie noch schwerer werden. Der Gedanke, dass Kiss sich Sorgen machte, würde mir ein schlechtes Gewissen verursachen und meine Konzentration beeinträchtigen.

Um sieben Uhr verließen Sven Elvestad und ich das Grand Hotel. Im Laufe der Nacht hatte ich auf meinem Stuhl nur eine knappe Stunde dösen können.

Als ich mit Elvestad zum Westbahnhof schwankte, kam es mir vor, als wäre ich halb ohnmächtig. Er hingegen war unverschämt guter Laune, obwohl er die ganze Nacht wach gewesen war und Portwein in sich hineingeschüttet hatte.

»Wir wollen mal hoffen, dass das hier gut geht«, sagte er munter. »Zweifellos ist es ein Risiko, sich ohne Verkleidung auf offener Straße zu zeigen. Wir hätten besser zum Jernbanetorv gehen und von dort eine Droschke zum Westbahnhof nehmen sollen. Das würde Heydrich völlig überrumpeln.«

»Bestimmt«, sagte ich und war froh, einer Fahrt durch die halbe Stadt entkommen zu sein. Ich freute mich darauf, auf meinen Zugsitz zu sinken.

Die Fahrt nach Skien verlief völlig undramatisch. Allerdings glaubte Elvestad, Heydrich für einen Moment durch das Abteilfenster zu sehen, nachdem sich die Lokomotive in Gang gesetzt hatte. Ich sprang von meinem Sitz hoch, war jedoch nicht schnell genug. Der Zug nahm rasch Geschwindigkeit auf und hatte den Bahnhof bald verlassen.

Wenn Elvestad tatsächlich unseren Feind entdeckt hatte, so nahm er das mit großer Gelassenheit. Am Bahnhof hatte er eine Menge Bücher, Zeitungen und Zeitschriften gekauft und versank nun zufrieden in seinem Sitz, um sich dem Lesestoff zu widmen. Ich nutzte die Gelegenheit, um etwas Schlaf nachzuholen.

Ich erwachte, als der Schaffner ins Abteil kam, um die Fahrkarten zu kontrollieren.

»Sagen Sie bitte, gibt es auf dieser Strecke irgendwo längere Aufenthalte?«, fragte Elvestad.

»Tja, für gewöhnlich müssen wir in Tonsberg zwei Minuten auf den Gegenzug warten.«

»Zwei Minuten? Gut. Also nicht so lange, dass uns jemand einholen könnte, der mit einem Extrazug hinterherkäme!«

Der Schaffner lächelte unsicher und zog sich zurück.

In Tonsberg wollte Elvestad unbedingt den Zug verlassen. Wir wären gezwungen, ein Ablenkungsmanöver durchzuführen, behauptete er. Wir müssten mit dem Bus zurück nach Drammen fahren, und von dort aus den Zug über Kongsberg nach Skien nehmen. Nur so wären wir in der Lage, Heydrich abzuschütteln, der ganz sicher mit einem Extrazug die Verfolgung aufgenommen hätte. Doch zunächst galt es, ein geöffnetes Restaurant in Tonsberg zu finden. Er sei durstig wie ein Fisch, klagte Elvestad.

Schließlich konnte ich ihn überreden, direkt weiter nach Skien zu fahren. Doch an der Bahnstation Nylendet war es völlig unmöglich, ihn in den Lokalzug nach Menstad zu bekommen. Er behauptete, die Bosphorus sei noch immer damit beschäftigt, Kunstdünger zu laden. Wir hätten demnach mehr als genügend Zeit, ein Cafe aufzusuchen.

Gesagt, getan. Elvestad und ich fuhren mit einer Droschke zu Hövers Hotel und bestellten eine halbe Flasche Rotwein.

 

Tod im Hotel

 

Wir waren allein im eleganten Speisesaal des Hotels. Die Dunkelheit hielt auch dem matten Glanz der Kronleuchter stand, die weißen Tischdecken ließen mich an Marmorsarkophage denken. Die Szene draußen vor dem Fenster war ebenso trist. Skiens Rathausplatz war nach wochenlangem Regen von Schlammpfützen übersät. Über den Fabriken auf der anderen Seite des Hafenbeckens konnte ich die Sonne erahnen, die wie eine schmutzigweiße, nebelhafte Scheibe am wolkenverhangenen Himmel stand.

Das Wetter schien Elvestads Stimmung nicht zu trüben. Die Reise hatte offenbar seine Abenteuerlust geweckt, und nachdem der Wein mehr und mehr Wirkung zeigte, präsentierte er mir eine fantastische Theorie nach der anderen.

»Wenn jemand Unbekannter mit einem Brief zu dir kommt«, sagte er, »in dem ich dich zum Beispiel bitte, mich an der Kirche zu treffen … Dann kannst du mit Sicherheit davon ausgehen, dass ich ihn unter Zwang geschrieben habe.«

»Wirklich?«

»Ja, denn aus welchem Grund sollte ich dich an der Kirche treffen wollen? Der Brief wäre natürlich eine Falle.«

»Wenn wir zusammenhalten, dürften wir eine solche Situation wohl vermeiden können.«

»Natürlich, natürlich. Aber wir müssen auf alles vorbereitet sein. Ich halte Reinhard Heydrich nämlich für weitaus intelligenter als mich. Er ist der Napoleon unter den Verbrechern, wenn du verstehst, was ich meine.«

Elvestad wand sich auf seinem Stuhl und warf einen schnellen Blick in die Hotelhalle. »Wie sah denn die Toilette aus?«

Ich war dort gewesen, bevor wir uns in den Speisesaal gesetzt hatten. »Ein modernes Wasserklosett«, erwiderte ich. »Den Schlüssel bekommen Sie an der Rezeption.«

Während ich allein zurückblieb, ließ ich mir die Begebenheiten der letzten Tage durch den Kopf gehen. Ich kam zu der niederschmetternden Erkenntnis, dass Elvestad mich sehr wahrscheinlich auf den Holzweg geführt hatte. Mir war nicht aufgefallen, dass Heydrich uns verfolgte; diese Geschichte war offenbar ein Produkt der allzu lebhaften Fantasie Stein Rivertons. Ich begann sogar daran zu zweifeln, dass Bondi das Schiff Bosphorus gemeint hatte. Was wäre, wenn wir mit dem Kontrakt bis hinunter an die Bosporus-Meerenge reisen müssten? Ich beschloss, sofort eine Droschke nach Menstad zu nehmen, um die Frage zu klären.

Doch die Zeit verging, ohne dass Elvestad von der Toilette zurückkehrte.

Schließlich bekam ich es mit der Angst zu tun und lief zur Rezeption. Dort saß Herr Steiner, der Hotelbesitzer, und ging Rechnungen durch.

»Haben Sie Herrn Elvestad gesehen?«, fragte ich.

Steiner überlegte. »Er war vor einer Weile hier und hat mich um den Schlüssel für den Abtritt gebeten. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

Mir wurde kalt vor Schreck.

»Sagen Sie bitte, Herr Steiner, hat jemand das Hotel betreten, nachdem Elvestad zur Toilette gegangen ist?« Er sah mich bedauernd an.

»Das weiß ich nicht. Ich war ein paar Minuten im Kaminzimmer, um das Frühstück abzuräumen.« Er deutete mit dem Kopf auf einen Raum zur Linken des Vestibüls. »Auf dem Weg zurück zur Rezeption sah ich einen großen blonden Herrn das Hotel verlassen. Ich glaubte, dass er es leid war, länger zu warten, und rief ihm nach. Ich bin sicher, dass er mich gehört hat, aber er ist einfach weitergelaufen.«

Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging durch den Korridor in Richtung Toilette. Plötzlich entdeckte ich einen glänzenden Gegenstand auf dem roten Teppich. Ich ging in die Hocke und hob ihn auf: Es war der Schlüssel zum Abtritt.

Ich hatte nicht mehr den geringsten Zweifel, dass etwas Schreckliches passiert war. An der Toilette angelangt, hämmerte ich gegen die Tür. Keine Reaktion. Ich beugte mich hinunter und blickte durchs Schlüsselloch.

Ein grotesker Anblick bot sich mir. Elvestad saß voll angezogen auf dem Klosett und hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Seine Augen blickten ausdruckslos an die Decke, die Brille saß schief, das Gebiss war ihm teilweise aus dem Mund geglitten. Es schien, als schnitte der Tote mir eine Fratze.

Die ganze Zeit hatte er also recht gehabt.

Ich schloss die Tür auf.

Das Futter von Elvestads Jacke war aufgerissen, alle Taschen waren nach außen gekehrt. Ich stopfte die Taschen ordentlich zurück und versuchte die Schäden zu verbergen, so gut es ging. Mit äußerster Anstrengung gelang es mir schließlich, den hundertdreißig Kilo schweren Leichnam auf die Beine zu stemmen. Er hing schlaff über meiner Schulter, während ich die Beinkleider und Unterhosen auf die Knöchel herunterzog. Dann ließ ich den toten Körper auf den Sitz plumpsen und richtete Krawatte und Brille.

Als ich sein Gebiss zurückschob, fühlte ich etwas auf der Hand. Ich hielt es gegen die Glühbirne an der Decke; winzige Glasscherben saßen auf meiner Fingerspitze. Die Scherben rochen schwach nach bitteren Mandeln.

Elvestad hatte eine Blausäurekapsel verschluckt. Und das war selbstverständlich nicht freiwillig geschehen.

Ich dachte darüber nach, das Gebiss abzuspülen, doch bevor ich dazu kam, stand Herr Steiner plötzlich direkt hinter mir.

»Ist er tot?«, fragte er.

Ich nickte. »Das musste ja passieren, bei seinem Lebenswandel. Sieht nach Herzversagen aus.«

»Ich rufe einen Arzt.«

Ich folgte Herrn Steiner. Während er sich an den Empfang setzte, um zu telefonieren, holte ich die Mäntel aus dem Speisesaal. Gerade, als ich zurückkam, legte Herr Steiner auf.

»Dr. Urdahl-Aasen kommt sofort«, sagte er und sah mich fragend an. »Sollte ich nicht auch die Polizei rufen?«

»Wir warten besser ab, was der Arzt sagt.«

Verzweifelt schüttelte er den Kopf. »Stein Riverton. Tot in meinem Hotel.« Mit erwartungsvollem Glanz in den Augen sah er danach mich an. »Überlegen Sie mal, was das für ein höllisches Aufsehen nach sich zieht.«

»Hier«, sagte ich und reichte ihm meinen Ulster. »Der gehört Elvestad.«

Herr Steiner nahm den Mantel in Empfang, als hätte man ihm ein Kleinod vermacht. Ich konnte förmlich sehen, wie sich in seinem Kopf die Idee bildete, Hövers Hotel zu einem Elvestad-Museum zu machen.

»Ich brauche frische Luft«, sagte ich. »Wenn jemand nach mir verlangt, ich bin in einer Viertelstunde zurück.«

Ich zog Elvestads knöchellangen Wintermantel über und trat auf den Ausgang zu. Ich konnte gerade noch dem Doktor ausweichen, der mit zerzaustem Haar und einer großen, schwarzen Tasche in die Hotelhalle gestürzt kam.

Natürlich hatte ich Elvestads Ermordung nicht leichten Herzens zu vertuschen versucht. Aber es wäre ziemlich verhängnisvoll geworden, wenn man mich in eine polizeiliche Ermittlung hineingezogen hätte. Nun würde es hoffentlich eine Weile dauern, bevor der Arzt begriff, dass es sich bei dem Todesfall um einen Kriminalfall handelte, sodass es mir möglich sein würde, die Bosphorus zu erreichen. Dass ich den Tatort manipuliert hatte, war etwas, wofür ich später geradestehen würde.

Am Rathausplatz bestieg ich eine freie Droschke. Nach zehnminütiger Fahrt entlang der Ostseite des Skienselvs, bog der Chauffeur von der Landstraße ab. Kurze Zeit später kamen Lagerhäuser und Lastkräne zum Vorschein - wir näherten uns der Verladeanlage von Norsk Hydro in Menstad. Das Areal war mit einem hohen Bretterzaun abgesperrt, und als wir am geöffneten Tor anlangten, stoppte der Fahrer den Wagen.

»Von hier ab müssen Sie laufen«, sagte er und fügte hinzu: »Das macht eine Krone und fünfundsiebzig Ose.«

Ich stieg aus. Sofort überkam mich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es war viel zu ruhig. Keine Geräusche vom Hafen, die Kräne standen still. Unten am Kai bestätigte sich mein Verdacht. Weit und breit war kein Schiff zu sehen.

Die Bosphorus hatte den Hafen bereits verlassen.

 

Ein fliegendes X

 

Ich betrat das Verwaltungsbüro, dessen Wände mit Bildern ehemaliger Hydro-Bosse sowie von Fabriken, Anlagen und Schiffen geschmückt waren. Vier Büroangestellte arbeiteten an ihren Schreibtischen, und in einem kleinen, abgetrennten Büro saß eine Frau in mittleren Jahren, die eine Geldkassette vor sich stehen hatte und Scheine abzählte.

Einer der Büroangestellten blickte auf. »Bitte schön?«

»Erik Erfjord von Arbeiderbladet in Oslo«, sagte ich. »Ich bin gekommen, um über Fred. Olsens neue Palästina-Route zu schreiben, aber anscheinend bin ich zu spät gekommen.«

»Ja, leider. Die Bosphorus hat vor einer Dreiviertelstunde abgelegt.«

Ich nickte entmutigt. »Und sie fährt direkt nach Tel Aviv?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten.«

»Nein, tja.«

»Aber vielleicht Frau Wodroff-Cheyne. Sie ist in der Regel gut informiert.«

Der Büroangestellte erhob sich und lief zu dem abgetrennten Raum.

»Eline, könntest du mal einen Augenblick herkommen?«

Frau Wodroff-Cheyne schloss die Geldkassette und kam zu uns heraus. Sie war eine recht anziehende Frau Ende vierzig.

»Ich habe Ihre Frage gehört«, sagte sie. »Die Bosphorus ist auf dem Weg nach Kristiansand. Von dort aus fährt sie morgen Abend weiter.«

Ich hätte sie am liebsten umarmt. Doch stattdessen zog ich meine Geldbörse hervor. »Ich muss ein Ferngespräch nach Oslo anmelden. Könnte ich vielleicht Ihr Telefon benutzen?«

Sie wirkte etwas zögerlich. Ich reichte ihr einen Zehner.

»Ach, bitte! Könnten Sie vielleicht Ihre Geldkassette mitnehmen und sich solange hier draußen an einen freien Schreibtisch setzen? Ich wäre Ihnen ewig dankbar!«

Glücklicherweise ließ sie sich überreden. Ich schloss die Tür des kleinen Büros und meldete ein Gespräch mit Kiss an. Bei der Vermittlung gab es offenbar viel zu tun. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bevor sie zurückriefen.

Kiss war am Apparat. Ich kam gleich zur Sache. »Hier ist Erik. Du musst mir einen Gefallen tun.«

»Ist es dringend?«

»Darauf kannst du wetten. Wenn du mir nicht hilfst, bin ich wohl am Ende.«

Offenbar schien sie plötzlich den Ernst der Lage zu begreifen. »Was soll ich denn machen?«, fragte sie ängstlich.

»Du musst dich sofort ins Auto setzen und nach Skien kommen. Und bring eine Landkarte mit; wir fahren weiter nach Kristiansand …«

»Ja, gut«, erwiderte sie, ohne zu zögern.

Nicht eine Frage, worum es ging. Vor lauter Dankbarkeit und Bewunderung versagte mir fast die Stimme. Nicht einmal Thomas Beresford hätte sich in der Stunde der Not besser auf seine Tuppence verlassen können!

»Tüchtiges Mädchen«, sagte ich. »Wie lange wirst du wohl nach Skien brauchen?«

»Es wird eine Weile dauern. Ich schätze, ich bin irgendwann im Laufe des Abends da.«

»Gut. Wenn du nach Skien kommst, parkst du vor dem Rathaus und bleibst im Wagen sitzen.«

»Wie lange?«

»Bis ich komme. Abgemacht?«

»Abgemacht. Pass auf dich auf, Erik!«

Ich versprach es ihr und legte auf. Danach bestellte ich eine Droschke aus Skien und bat darum, am Hafen von Menstad abgeholt zu werden.

 

Es war schon nach zehn, als der schwarze Chrysler vor dem Skiener Rathaus auftauchte. Zu diesem Zeitpunkt war ich alleine auf dem Platz. Etwas früher am Abend hatten drei oder vier Weihnachtsbaumverkäufer dem Regen getrotzt, aber als die Kunden ausblieben, hatte einer nach dem anderen aufgegeben und die Bäume auf Lastwagen abtransportiert. Die Bewohner von Skien hatten anscheinend noch nicht gemerkt, dass es nur noch sechs Tage bis Heiligabend waren. Es gab keinen Schnee, nicht einmal Minustemperaturen, nur tagein, tagaus dieses ewige Regenwetter.

Auf der anderen Seite des Platzes hatte beim Narvesen-Kiosk, einem altmodischen Häuschen mit Schirmdach und spitz zulaufender Uhrenlaterne, eine gewisse Betriebsamkeit geherrscht. Doch nach einer Weile hatte der alte Zeitungs- und Heftverkäufer wohl eingesehen, dass kein weiterer Kunde dem Regen trotzen würde. Punkt sechs Uhr war das Licht in dem alten, grün angestrichenen Pavillon gelöscht worden.

Danach war ich mit zwei Droschkenchauffeuren allein, die in der Wärmestube draußen vor Hoyers Hotel Zuflucht gesucht hatten. Doch auch sie hatten bereits Feierabend gemacht, als Kiss angefahren kam.

Nachdem ich stundenlang an der Ecke vor dem Fischladen gestanden hatte und ganz starr vor Kälte war, wäre ich am liebsten sofort zum Wagen gelaufen. Doch irgendetwas sagte mir, dass ich vorsichtig sein musste.

Erst als der Chrysler zehn Minuten dagestanden hatte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, nahm ich meinen Mut zusammen. Ich schlug den Kragen des langen Mantels hoch und lief zum Wagen. Bevor Kiss auch nur reagieren konnte, hatte ich mich auf den Beifahrersitz geworfen und die Tür zugeschlagen.

»Fahr!«, sagte ich.

Sie startete den Wagen, fand sofort den Weg aus der Stadt und fuhr mit hoher Geschwindigkeit über die Brücken in Richtung Papierfabrik.

»Du kennst den Weg?«, fragte ich.

»So ungefähr.«

Sie warf mir einen Plan in den Schoß. »Du behältst die Karte im Auge, damit wir uns nicht verfahren.«

Ich fing an zu blättern. Kiss warf mir einen raschen Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte.

»Was hast du denn da für einen Mantel an?«, fragte sie belustigt.

»Das ist nicht meiner. Er gehört Sven Elvestad.«

»Meinst du den Journalisten Sven Elvestad? Kennst du ihn?«

»Er wurde heute in Hoyers Hotel umgebracht.«

»Was sagst du da?«

Ich erzählte Kiss alles. Von Bondi und seiner Organisation, vom Kontrakt und von Heydrich. Und wieder einmal war ich von ihrer Haltung beeindruckt. Ich kenne eine Menge Mädchen, die angesichts geheimer Organisationen, ausländischer Agenten und abhanden gekommener Dokumente weiche Knie bekommen hätten. Doch Kiss hörte sich alles an, ohne eine Miene zu verziehen.

»Bondi muss unter der Folter alles verraten haben«, fuhr ich fort. »Nur das kann erklären, wieso Heydrich wusste, dass wir nach Skien wollten. Er schlich sich unbemerkt in Hoyers Hotel und überraschte Elvestad vor der Toilette. Elvestad wurde übermannt und gezwungen, eine Zyankalikapsel zu zerbeißen. Dann schleppte Heydrich den Leichnam auf die Toilette, damit er ungestört seine Sachen durchsuchen konnte. Aber den Kontrakt hat er nicht gefunden - der lag nämlich in dem Mantel, den Elvestad im Speisesaal zurückgelassen hatte.«

»Deshalb hast du also den Mantel mit dem Toten getauscht?«

Ich nickte.

»Aber Heydrich wird bestimmt wieder zuschlagen. Der Mord an Elvestad zeigt nämlich, dass er ziemlich verzweifelt ist. Er schießt erst und fragt dann, wie man so sagt. Sehr wahrscheinlich wird er es versuchen, noch bevor wir in Kristiansand ankommen.«

Kiss trat das Gaspedal ganz durch.

»Wir fahren schneller, damit er es nicht schafft!«

Der Chrysler nahm Fahrt auf. Es gefiel mir nicht, die Scheinwerfer reichten nicht weit genug. Jeden Augenblick konnte unverhofft eine scharfe Kurve vor uns auftauchen. Auch die Straße selbst war nicht für dieses Tempo gemacht. Immer wieder schossen wir über den Straßenrand, wo das Regenwasser große Löcher im Kiesbelag gebildet hatte.

»Kiss!«, rief ich. »Ganz ruhig. Wir werden Heydrich nicht entkommen können. Das ist unmöglich!«

»Dazu gehören zwei!«

In einer Kurve verlor sie die Kontrolle über den Wagen. Zu Tode erschrocken sah ich die Felswand auf uns zukommen. Ich schloss die Augen und wartete auf den Knall, der kommen musste.

Aber er kam nicht. Als ich wieder hinzugucken wagte, fuhren wir weiter die Straße entlang, als wäre nichts geschehen. »Um Gottes Willen, Kiss! Du erreichst nichts anderes, als uns zu Schrott zu fahren. Heydrich benutzt ein Wasserflugzeug.«

»Ein Wasserflugzeug?«

»Ja, natürlich. Nur so konnte er Elvestad und mich einholen. Er ist von Oslo aus geflogen. Er hat das Flugzeug auf einem See nahe Skien stehen lassen. Und jetzt ist er ganz sicher schon wieder in der Luft!«

 

Im Kanal

 

Gegen fünf Uhr waren wir gezwungen anzuhalten, Kiss war zu müde zum Weiterfahren. Ich kroch auf die Rückbank und wickelte mich in Elvestads Mantel. Kiss blieb hinter dem Lenkrad sitzen, hatte den Kopf an den Sitzrücken gelehnt und die Augen geschlossen.

Ich erinnere mich, dass ich da lag und mich auf die Dinge freute, die wir tun könnten, wenn das alles vorbei war. Vielleicht hatten wir ja sogar genügend Geld, um ein paar Tage in einem Hotel in Kristiansand zu bleiben. Nach den ganzen Anstrengungen hatten wir das wohl verdient.

»Ich liebe dich, Kiss«, flüsterte ich in die Dunkelheit.

Sie gab keine Antwort. Vermutlich war sie sofort eingeschlafen.

Bald schlief auch ich.

 

Es war ungefähr zehn, als ich von einem Motorengeräusch über uns geweckt wurde. Ich war zu schläfrig für eine Reaktion, wie paralysiert lag ich da und lauschte der Maschine hoch oben in der Luft. Es klang, als mühte sie sich ab, an Höhe zu gewinnen. Eine Weile ging es so weiter. Dann änderte das Geräusch plötzlich seinen Charakter. Ein tiefes Brummen verriet, dass das Flugzeug zur Landung ansetzte. Ich sprang aus dem Wagen.

Wir hatten den Chrysler ungefähr zwanzig Meter von der Landstraße entfernt unter schlanken Kiefern abgestellt. Etwas weiter konnte ich jetzt das Meer zwischen den Baumstämmen erkennen. Ich lief bis zum Ufer und spähte umher. Es war ein weiterer feuchter Tag, mit Regenwolken so weit das Auge reichte. Keine Spur von dem Flugzeug. Bald war auch das Motorengeräusch verschwunden.

Ich lief am Strand entlang und suchte nach etwas Essbarem. Ich fand lediglich ein paar Miesmuscheln, die ich mit dem Springmesser von einem kahlen Felsen ablöste. Ich hätte mir die Mühe sparen können. Als ich zum Wagen zurückkam, saß Kiss auf dem Trittbrett und blätterte im Straßenplan. Sie warf einen Blick auf das mitgebrachte Frühstück. »Nein, vielen Dank. Ich habe doch gesagt, dass ich rohe Miesmuscheln nur mit einem trockenen Muscadet esse. Wirf das Zeug weg und hilf mir lieber, den Reddalskanal auf der Karte zu finden.«

Ich tat, was sie verlangte.

»Wozu musst du das wissen?«, fragte ich entmutigt und strich mir mit einer feuchten Hand das Haar zurück.

»Weil ich weiß, wo wir sind, wenn wir dort ankommen«, erwiderte sie entnervt. »Und dann weiß ich, wo wir das nächste Mal abbiegen müssen.«

Ich sah auf die Karte.

»Sieht nicht so aus, als müssten wir irgendwo abbiegen. Sobald wir Moland passiert haben, kommen wir zum Reddalskanal. Von dort aus müssen wir bloß noch der Hauptstraße nach Kristiansand folgen.«

Kiss schleuderte den Plan in den Wald. »Na, toll«, sagte sie. »Dann muss ich wohl gleichzeitig fahren und nach den Straßenschildern Ausschau halten!«

»Du hättest dein Miesmuschelfrühstück essen sollen, dann wärst du jetzt nicht so mies gelaunt!«

Kiss fuhr rückwärts auf die Landstraße und raste los, ohne ein Wort zu sagen. Ich entschied mich für dieselbe Strategie. Es ist vielleicht nicht einfach, wenn man morgens hungrig und schlecht gelaunt ist, aber es sollte doch wohl möglich sein, sich zusammenzureißen und es nicht an Unschuldigen auszulassen. Denn was hatte ich eigentlich getan? Ich hatte versucht, etwas Essbares zu finden, und sie korrigiert, als sie die Karte nicht richtig lesen konnte.

Aber schon bald hatte ich genug von der feindseligen Schweigsamkeit.

»Hör zu, Kiss!«, sagte ich. »Ich weiß ja, dass ich Lennart niemals ersetzen kann, aber …«

Sie schnaubte verächtlich. »Herrgott noch mal. Kommst du jetzt wieder damit?!«

»Aber du musst doch zugeben, dass Lennart deine große Liebe war, Kiss!«

»Nein. Ganz im Gegenteil, ich habe mir nie besonders viel aus dem armen Kerl gemacht.«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»Wenn das stimmt, Kiss, wieso hast du dich dann damit abgefunden, wie er dich behandelt hat? Die Untreue, das Auspeitschen …«

»Weil Winther nichts davon getan hat.«

»Ach, nein? Was ist mit der Geschichte im Salon Keller - dass er eine Prostituierte zu Tode misshandelt hat? Stimmt das etwa auch nicht?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Natürlich nicht. Winthers einzige Schwäche war seine Kokainsucht, aber das reichte, um ihn gefügig zu machen.«

Ich glotzte sie an.

»Ich wusste, dass du früher oder später die Narben entdecken würdest«, sagte sie, »und entschied mich zu behaupten, dass Lennart Winther sie verursacht hatte.« Sie sah mich aus dem Augenwinkel an. »Ich habe übrigens seit Kurzem ein paar neue. Hast du Lust, sie zu sehen?«

Ich starrte sie ungläubig an. Sie erwiderte meinen Blick nicht, sondern schaute mit höhnisch verzogenem Mund starr geradeaus.

»Du meine Güte«, sagte ich schließlich. »Du bist Reinhard Heydrichs Geliebte!«

Ich bemerkte nicht, dass sie langsamer fuhr, bis sie auf einen Parkplatz abbog und den Wagen anhielt. Der Platz lag direkt vor einer steinernen Bogenbrücke, die einen schmalen, tief unten im Fels verlaufenden Kanal überspannte. Ein paar hundert Meter weiter links, am Ende der engen Schlucht, konnte ich das Meer erkennen.

Kiss drehte sich zu mir.

»Winther und ich wurden beauftragt, den Kontrakt hier in Norwegen aufzuspüren«, sagte sie. »Da war es sehr praktisch, sich als verlobtes Paar auszugeben. Doch als Reinhard hierherkam, um die Nachforschungen persönlich zu leiten, war Winther natürlich im Weg. Das wusste er auch selbst, und deshalb hat er sich in der Regel irgendeine Entschuldigung ausgedacht, um in der Stadt bleiben zu können. Somit hatten Reinhard und ich den Landsitz für uns allein.« Sie lächelte schelmisch. »Wenn du wüsstest, wozu mich dieser Mann alles bringen kann. Ich kann Reinhard ganz einfach nicht widerstehen. Er ist ein verführerischer und hübscher Dämon. Und nur damit du es weißt, Erik, ich hatte immer schon Gefallen an der Peitsche.«

»Wie romantisch«, sagte ich verbittert. »Aber wozu musstet ihr Lennart umbringen?«

»Weil seine Unfähigkeit früher oder später alles verdorben hätte! Er schaffte es sogar, den Wagen mit Rustads Leichnam mitten in der Osloer Innenstadt abzustellen, das ist doch die Höhe! Der Becher war voll, als er Fredriksen dazu brachte, den Aufenthaltsort der Familie Frey preiszugeben. Winther hat ihn erschlagen, war aber nicht Manns genug, in einem Schwung auch das Judenpack abzuservieren. Und dann hat er Fredriksens Leiche einfach da liegen lassen und kam mit den Schlüsseln zu Reinhard gelaufen! Es war pures Glück, dass die Polizei die Juden nicht gefunden hat.«

»Das tat sie leider nicht«, erwiderte ich. »Und am folgenden Abend gingen Heydrich und Lennart in Fredriksens Wohnung?«

»Reinhard ließ Winther in die Wohnung vorgehen und die Thermitbombe werfen. Danach hat er ganz einfach die Tür zugemacht. Typisch Reini, so teuflisch clever und ausgeklügelt! Er wusste, dass das vollkommen ausreichen würde, um die Juden da drinnen verbrennen zu lassen. Sobald die Flammen aufloderten, bekamen die feigen Schweine Panik und stürmten alle gleichzeitig gegen die Tür.«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf.

»Mein Gott, Kiss! Wie kann man nur unschuldige Menschen umbringen, weil sie vielleicht die Polizei auf eure Spur geführt hätten? Und ich habe Lennarts verkohlte Leiche selbst gesehen. Bis an mein Lebensende werde ich Albträume davon haben.«

»Du kannst dich damit trösten, dass es nicht mehr lange währen wird.«

Ich sah sie verblüfft an. Sie wirkte völlig entspannt, als hätten wir über alltägliche Dinge gesprochen. Zum Gott weiß wievielten Mal wurde ich von ihrer Schönheit überwältigt. Die schlichte Frisur, die schläfrigen Augen und der sinnliche Mund. Süß wie die Sünde. Und durch und durch verdorben.

»Und nun, mein gutgläubiger Freund«, sagte sie mit träger Stimme, »ist es an der Zeit, dass ich Elvestads Mantel übernehme. Nein! Verflucht…«

Mehr brachte sie nicht hervor. Sie zuckte vor Schmerz zusammen, und für ein paar Sekunden wich alle Farbe aus ihrem Gesicht.

Ihre aufgerissenen Augen starrten ungläubig auf den Messerschaft, der aus ihrer Brust ragte.

 

Vor dem Abgrund

 

Ein paar Sekunden vergingen, bevor mir klar wurde, dass Kiss einen Schuss abgefeuert hatte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, ihr die Luger abzunehmen.

Wie sich zeigte, war das jedoch ein Kinderspiel. Plötzlich wirkte die Pistole viel zu schwer für ihre kraftlose Hand. Sie schwenkte sie in meine Richtung, aber der Lauf zeigte auf den Boden - und so sehr sie sich auch bemühte, gelang es ihr nicht, ein neues Ziel anzuvisieren. Als ich die Finger um die Waffe legte, ließ sie sofort los.

Erst als ich die Pistole in die Tasche gesteckt hatte, spürte ich den brennenden Schmerz in der Seite. Ich bekam Panik und zog und zerrte an meinem Hemd, um nachzusehen, wie groß die Schusswunde war. Gott sei Dank war es nur ein Streifschuss.

Es war wohl reiner Überlebensinstinkt, der mich gerettet hatte. In einem kurzen Augenblick musste ich bemerkt haben, wie die Pistole aus ihrer Manteltasche hervorkam, und ohne nachzudenken, hatte ich das Springmesser gezückt. Anscheinend hatte ich genau in dem Moment zugestochen, als sie den Abzug betätigte. Eigentlich hatte ich gar nichts mitbekommen. Den Schuss habe ich nicht gehört. Auch begriff ich erst, was ich getan hatte, als das Messer in ihrer Brust steckte.

Kiss saß mit geschlossenen Augen da und atmete schwach. Ich beugte mich über sie.

»Der Teufel soll dich holen!«, sagte ich nachdrücklich. »Die ganze Zeit hast du mich zum Narren gehalten!«

Ich stieß sie weg.

»Heydrich erfuhr, dass Bondi mich besucht hatte. Deshalb musstest du dich bei mir einschmeicheln. Du hast deine Rolle gut gespielt. Erst hast du mir das Gemälde geschickt und dann hast du mir verraten, dass Lennart in den Mord an Rustad verwickelt war. Ich war mir sicher, dass du mir bei der Lösung der Sache helfen wolltest, auf etwas anderes bin ich gar nicht gekommen. Dabei war natürlich beabsichtigt, dass ich dich zu Bondi führen würde.«

Kiss öffnete die Augen.

Ich fuhr fort. »Jetzt verstehe ich auch, warum du vom Solvann weggefahren bist. Ich war dumm genug, dich wissen zu lassen, dass Bondi zurückgekommen war. Damit hattest du keine Verwendung mehr für mich. Du bist einfach verschwunden! Und diese Freundin, bei der du angeblich eingezogen bist, hat wohl auch nie existiert…«

Sie lächelte matt. »Wir mussten ein neues Hauptquartier finden. Wir konnten Bondi nicht zum Solvann bringen. Du hättest ja plötzlich dort auftauchen können …«

»Aber Bondi konnte entkommen?«

Sie nickte. Dann sagte sie mit kaum hörbarer Stimme: »Als ich dir begegnet bin … in der Elvegate … hattest du ihn gerade getroffen. Wir wussten also, dass Bondi sich irgendwo in der Nähe versteckt hielt.« Sie lachte krächzend. »Du warst sehr nützlich für uns, Erik! Nur schade … dass du so schnell mit dem Messer…«

Ich griff nach dem Schaft, um es herauszuziehen. Sie umfasste mein Handgelenk. »Lass es sein!«

Dann sagte sie nichts mehr. Ihre letzte Lebensminute verbrachte sie damit, hellrotes Blut zu husten. Ich saß hilflos da und beobachtete den brutalen Todeskampf.

Dann war es vorbei.

Durch einen Tränenschleier betrachtete ich die schöne Frau mit dem gebrochenen Blick, dem blassen Gesicht und dem Messer, das aus ihrer Brust ragte.

Doch ich weinte nicht nur wegen Kiss. Alles kam zusammen. Ich tadelte mich, weil ich Lennart bei unserem letzten Treffen geschlagen hatte, ich tadelte mich für den Brand in der Dronningens gate und für Elvestads Tod. Ich war für mehr als nur einen der Fäden im mörderischen Netz des Spinnenmanns verantwortlich.

Und ich selbst war ihm noch nicht entkommen.

Der Reddalskanal war offenbar der Treffpunkt, den Heydrich und Kiss vorab ausgemacht hatten. Schon in wenigen Minuten könnte ich Gesellschaft bekommen.

 

Ich hockte gekrümmt im Wageninnern und zerrte Kiss’ Leichnam auf meine Seite. Dann setzte ich mich hinter das Lenkrad und startete den Motor. Ich war gespannt auf die Fortsetzung. Bis jetzt hatte ich meiner Erfahrung vertrauen können. Als kleiner Junge hatte ich öfter auf dem Schoß meines Großvaters sitzen und seinen alten Ford starten dürfen. Den Rest musste ich mir jetzt selbst beibringen. Ich legte einen Gang ein, um mit dem Chrysler die erste eigene Autofahrt meines Lebens zu beginnen.

Sehr weit sollte ich nicht kommen.

Bevor ich den Wagen in Bewegung setzen konnte, klopfte jemand an die Seitenscheibe. Erschrocken fuhr ich herum. Draußen stand ein Mann Mitte fünfzig, mit scharf geschnittenen Zügen und dunklem, gewellten Haar. Er trug einen Rollkragenpullover und eine Schiffermütze und richtete einen Revolver auf mich. Ich erkannte ihn aus den Zeitungen. Es war der Schmugglerkönig Alfred Janus.

Ein paar Schritte hinter ihm stand der Spinnenmann, gekleidet in eine kurze Fliegerjacke. Mit seinem glatten Gesicht und den kalten Raubtieraugen wirkte er völlig unbeteiligt.

Die Gerüchte, dass er für die Hinrichtung Janus’ gesorgt hätte, trafen offenbar nicht zu. Ganz im Gegenteil: Der Schmuggler hatte anscheinend das Angebot angenommen, in Heydrichs Dienste zu treten. Er war es also, der an der Entführung Bondis beteiligt gewesen war.

Ich trat aufs Gaspedal. Janus riss die Tür auf, doch ich gab Gas, raste über den Parkplatz und flog über die Felskante.

Bevor der Wagen in den Abgrund stürzte, ließ ich mich durch die offene Tür hinausfallen. Ich war vollkommen benommen, als ich auf den harten Felsen schlug, doch meine Überlebensinstinkte waren noch immer intakt. Verzweifelt griff ich nach irgendeinem Halt, während ich in einem Schauer kleiner Steinchen nach unten rutschte. Es ging alles so schnell, dass ich überhaupt nicht begriff, was eigentlich geschah. Plötzlich spürte ich einen gewaltigen Ruck durch meinen Körper gehen. Im nächsten Augenblick hing ich mit den Armen an einer Baumwurzel und betrachtete verblüfft meine Füße, die in der losen Luft hoch über dem Kanal hin- und herbaumelten. Dort unten lag der Chrysler mit dem kompletten Vorderteil unter Wasser.

 

Auftrag ausgeführt

 

Nach einiger Anstrengung bekam ich schließlich festen Halt in der Felswand. Im selben Moment fiel ein Schuss. Ich spürte den Luftzug, als die Kugel an meinem Kopf vorbeisauste.

Ich tastete nach der Pistole, die ich Kiss abgenommen hatte. Sie war verschwunden. Offenbar war sie mir aus der Tasche gefallen, als ich den Felshang hinuntergerutscht war.

Ich kletterte auf die Steinbrücke zu. Mein Körper hatte einiges abbekommen. Am schlimmsten waren die Schmerzen im linken Arm. Ich hoffte verzweifelt, dass er nicht gebrochen war, dass es sich nur um eine Verstauchung handelte und er bald wieder in Ordnung kommen würde.

Als Nächstes machte mir mein linker Fuß die größte Sorge. Ich konnte ihn zwar belasten, doch das Bein war von der Hüfte abwärts gefühllos.

Als ich zu einem Felsüberhang kam, regnete ein Schauer kleiner Steine auf mich herab. Ich blickte nach oben. Aufgrund des Felsvorsprungs konnte ich den Mann nicht sehen, der den Steinrutsch ausgelöst hatte, doch ich hörte ihn deutlich. Er war kein erfahrener Kletterer. Ständig verlor er den Halt und ächzte schwer wie ein Blasebalg.

Der wird mich nie erwischen, dachte ich.

Im nächsten Augenblick entdeckte ich, dass ich den Überhang unmöglich passieren konnte, ohne den Schwerpunkt des Körpers zu verlagern.

Ich hätte vor Verzweiflung heulen können.

Es hätte nur einer Bagatelle bedurft, einer Bewegung, die jeder andere Kletterer spielend leicht ausgeführt hätte. Doch für mich war sie immer noch vollkommen unmöglich.

»Nun, mach schon!«, stöhnte ich verzweifelt. »Denk nicht nach, tu es einfach!«

Neben mir hörte ich ein rutschendes Geräusch. Als ich über die Schulter blickte, entdeckte ich Alfred Janus. Ich traute meinen Augen kaum. Der Mann hatte sich die Felswand hinuntergleiten lassen, um mich in Schussweite zu bekommen. Nur wenige Minuten trennten ihn vom Erfolg.

Er war auf einem kleinen Felsabsatz gelandet, und wäre es ihm gelungen, drei oder vier Meter seitwärts zu gehen, hätte er einen weiteren Absatz erreicht. Von dort aus hätte er mich in aller Ruhe und auf kurze Distanz erschießen können.

Ich löste den rechten Fuß und fand einen halben Meter weiter oben neuen Halt. Aber es war völlig unmöglich, mit der rechten Hand woanders hinzugreifen, ohne den anderen Fuß unter den Körper schwingen zu lassen. Beim bloßen Gedanken an die Ausführung dieser Bewegung verlor ich schon beinahe das Gleichgewicht.

Eine ganze Weile war ich vollständig paralysiert, während Janus immer näher kam. Es kam mir vor, als kniete ich auf dem Schafott und wartete auf den Axthieb des Henkers. Doch im Gegensatz zu anderen zum Tode Verurteilten konnte ich mich nicht am Luxus einer Binde vor den Augen erfreuen. Einen Meter über meinem Kopf konnte ich die Rettung sehen. Weit unter mir ragten die Klippen zwischen Stromschnellen hervor.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Janus mich ins Visier nahm. Die Situation schien ihm nicht geheuer. Seine Finger weigerten sich, den Abzug zu betätigen, seine um den Revolver geklammerte Hand begann zu zittern.

Aus Frustration, Wut und nicht zuletzt aus Angst stieß ich einen unartikulierten Schrei aus. Dann löste ich den linken Fuß und wartete, bis er genau unter mir hing.

Ich verlagerte mein ganzes Gewicht auf den rechten Fuß, streckte mich nach dem Spalt über mir und bekam guten Halt. Sofort danach konnte ich wieder auf beiden Beinen stehen. Jetzt war ich Herr der Lage, kletterte schnell um den Felsvorsprung herum und war außer Sichtweite für Janus.

Als ich nur noch ein paar Meter von der Steinbrücke entfernt war, blickte ich mich um. Janus hatte sich entschieden, meine Überwindung des Felsvorsprungs zu kopieren. Gespannt wartete ich ab.

Sekunden später war die Klettertour für den Schmugglerkönig Janus beendet. Er hob das linke Bein, ohne dass sein Körper im Gleichgewicht war, geriet ins Rotieren und fiel mit fuchtelnden Armen und den Füßen voraus in den Abgrund. Nicht ein einziger Ton kam über seine Lippen.

Wäre er nicht vollständig bekleidet gewesen, hätte es ausgesehen, als wäre er an einem warmen Sommertag ins Meer gesprungen.

 

Ich kletterte den Abhang hinauf und ging unterhalb des Brückenpfeilers in die Hocke. Mir war schwindlig und übel. Alle Reserven waren verbraucht. Hätte Heydrich jetzt den Versuch gemacht, zu mir herunterzugelangen, hätte ich mich widerstandslos ergeben.

Doch die Gesellschaft des Spinnenmanns blieb aus. Mehrere Autofahrer hatten angehalten, als sie das Chryslerwrack unten im Kanal entdeckten. Anscheinend befürchtete Heydrich, zuviel Aufmerksam zu erregen. Als ich nach oben auf die Straße kletterte war er nicht unter den Schaulustigen. Ich begann, über die Landstraße in Richtung Kristiansand zu hinken.

Ich hatte mich ein paar hundert Meter weit geschleppt, als ein Lastwagen hielt. Irgendwie hievte ich mich ins Führerhaus.

Der Fahrer erwies sich als wortkarg. Auf dem Weg nach Kristiansand ließ er mich in Frieden, während meine Schmerzen immer schlimmer wurden. Es schien ihn nicht einmal zu interessieren, als ich das Futter des Mantels aufriss, den Kontrakt in die Tasche steckte und mir Bondis Ring an den Finger steckte.

»Können Sie mich zum Hafen fahren?«

Der Fahrer nickte.

Ein heftiger Schmerz durchzuckte Bein und Hüfte, als ich in der Nähe des Hafens auf den Asphalt sprang. Meine Knie versagten. Der Fahrer wollte mir zu Hilfe eilen, doch ich winkte ab und rappelte mich mühsam auf die Füße.

Dann lief ich los. Die Reihe der am Kai liegenden Fahrzeuge schien endlos. Schließlich entdeckte ich ein funkelnagelneues Motorschiff. Der Name >Bosphorus< war auf den Vordersteven gemalt.

Ich habe nur noch die vage Erinnerung, dass ich an Bord gekommen bin. Ich entsinne mich, dass die Passagiere in einem erleuchteten Speisesaal mit holzvertäfelten Wänden und darin eingelassenen Segelschiffgemälden an den Tischen saßen. Sie starrten mich erschrocken an, während ich dort stand und hin und her schwankte. Dann stürzte ein Herr mittleren Alters und mit schwarzem Bart auf mich zu und hielt mich umklammert. Ich versuchte mich loszureißen, bis mir schließlich seine Hand auffiel. Der Mann trug einen Ring mit Kreuzsymbol.

Er sah mich an. In seinen dunklen blauen Augen schimmerten Freudentränen.

»Mein Freund«, sagte er. »Sie sind uns besonders willkommen!«

Es war das Letzte, was ich mitbekam, bevor ich in Ohnmacht fiel.

 

Epilog

 

Die Dämmerung hatte eingesetzt. Das Fabriktor an Myrens Verksted war geschlossen. Ich saß noch immer mit Jaroslav Kubins Brief im Schoß hinter dem Haus im Garten.

Ich las, wie es ihm vor dem Krieg gelungen war, die Organisation wiederaufzubauen, wie sie Schritt für Schritt von einer Handvoll Eingeweihter, die sich wöchentlich im Cafe Prüchel in Wien trafen, zu einer ganz Europa umspannenden Vereinigung angewachsen war. Ferner kommentiert er die Mordserie, die Heydrichs Agenten im Laufe der vergangenen zwei Jahre - nicht nur in Norwegen, sondern auch in Deutschland, Rumänien und Palästina - auf der Jagd nach dem Kontrakt begangen hatten.

Abschließend beschreibt er die Unterzeichnung eines Abkommens, das am 23. März dieses Jahres an Bord eines italienischen Lastdampfers zustande kam:

 

Der Kontakt wurde über die italienische Botschaft in der Schweiz hergestellt. Mittelsmann war GrafCiano, Mussolinis Schwiegersohn und inoffizieller Kronprinz. Trotz der Proteste meiner Ärzte verließ ich das Spital und setzte ich mich in den Zug. Als ich im Hafen von Rimini ankam, wurde ich vom Grafen und drei seiner Mitarbeiter empfangen. Ich wurde einer Leibesvisitation unterzogen, bevor wir uns in ein Motorboot setzten, das uns mit hoher Geschwindigkeit hinaus auf die dunkle und nebelverhangene Adria brachte. GrafCiano, ein feister junger Mann mit Nachtclubteint und Lackschuhhaar, erläuterte über das Motorengeräusch hinweg laut und unaufhaltsam, wie sehr Mussolini daran gelegen sei, eine Einigung zwischen den Juden und dem Neuen Deutschland zu bewirken. II Duce selbst sei ein glühender Befürworter eines jüdischen Staates und sehe sich berufen, das jüdische Volk zu beschützen. Gegenüber Hitlers Rassenpolitik hege er nichts als Abneigung. Es war ein abstoßendes Beispiel für die Redeweise, deren sich das italienische Faschistenregime bedient, um unsere Unterstützung für seine imperialistische Mittelmeerpolitik zu erhalten.

Ich war erleichtert, als die Umrisse des Lastschiffes am Horizont erschienen. Abgesehen von einem flackernden Lichtkegel aus einer Laterne auf der Brücke, war das Schiff vollkommen dunkel. Umhüllt von den niedrigen Nebelbänken, schien es auf dem Wasser zu schweben. Zwanzig Meter entfernt entdeckte ich ein Wasserflugzeug, das auf den sanften Wellen schaukelte.

Wir bestiegen eine Strickleiter. Graf Ciano machte uns ein Zeichen, ihm zu folgen. Ein schmaler Gang mit Kabinen auf jeder Seite führte in die Mannschaftsmesse. Ein blonder, einem Raubvogel ähnelnder Mann saß allein am Tisch. Ich bemerkte, wie er sein Erstaunen zu verbergen suchte, als ich über die erhöhte Türschwelle trat. Der Mann war SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich. Wir nahmen Platz. Heydrich und ich saßen einander genau gegenüber, GrafCiano nahm am Ende des Tischs Platz, seine Mitarbeiter stellten sich an die Wand hinter ihm. Ein kleiner Kohleofen strahlte starke Hitze ab, die Wände beschlugen, und eine hin und her schaukelnde Petroleumlampe warf ein schwaches, rötliches Licht auf die Versammlung. Die stickige Luft roch nach Teer, Branntwein und Küche.

Der Graf erging sich in einer langen Rede über die historische Bedeutung des Augenblicks, doch Heydrich unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Er sah mich ausdruckslos an: »Dafür, dass Sie eine Kugel durchs Herz bekommen haben, sehen Sie unverschämt gut aus.«

Ich lehnte mich zurück.

»Nicht durch das Herz«, erwiderte ich. »Die Kugel traf mich ein paar Zentimeter zu hoch. Ihr Handlanger Janus war nicht kaltblütig genug, um ordentlich zu zielen. Und wie Sie sehen, hätte er danach die Leiche nicht verlassen dürfen.«

»Meine Herren«, unterbrach uns Graf Ciano nervös. »Wir sollten vielleicht fortfahren …«

»Ich werde dafür sorgen, dass diese Arbeit beim nächsten Mal gründlicher ausgeführt wird«, sagte Heydrich, »denn Sie dürfen nicht daran zweifeln, dass Sie meinen Leuten wiederbegegnen werden. Dieses Mal sind Sie billig davongekommen, weil mich eine meiner besten Agentinnen anrief. Sie hatte verstanden, dass Herr Erfiord mit dem Kontrakt auf dem Weg zur MS Bosphorus war. Sie können sich bei Fräulein Lorenz dafür bedanken, einem verschärften Verhör entgangen zu sein. Ich vermute, Sie wissen, was das beinhaltet?«

»Ich bin informiert, Herr Heydrich«, sagte ich. »Und ich teile Ihre Bewunderung für die Agentin Lorenz. Sie beging ihren Betrug auf besonders glaubwürdige Art. Es ist in keiner Weise ihre Schuld, dass Sie den Kontrakt nicht in die Hände bekamen …«

Ich klopfte mir auf die Brust, wo das wertvolle Dokument sicher verwahrt in meiner Innentasche lag.

Graf Ciano begriff sogleich, was die Geste bedeutete: »Meine Herren. Endlich kommen wir zur Sache …«

Er gab einem seiner Assistenten ein Zeichen, der daraufhin eine schwarze Mappe öffnete und ihm einen gefalteten Foliobogen mit Davidstern und Hakenkreuz reichte. Mit feierlichem Ernst legte der Graf das Abkommen vor uns auf den Tisch, damit wir den Text überprüfen konnten.

Ich unterschrieb und schob das Protokoll über den Tisch. Heydrich verlangte, den Kontrakt zu sehen, bevor er unterzeichnete.

Ich reichte ihm den zusammengefalteten Bogen. Die langen, spitzen Finger zitterten, während er ihn las.

Dann steckte er den Kontrakt in die Jackentasche und unterschrieb das Abkommen.

Graf Ciano und seine Mitarbeiter signierten als Zeugen, bevor das Protokoll wieder in die Mappe gelegt wurde. Heydrich erhob sich und verließ die Messe, ohne irgendeinem der Anwesenden die Hand zu schütteln. Kurz danach hörten wir das Wasserflugzeugstarten.

Unter diesen Umständen, mein lieber Herr Frflord, wurde das Abkommen am 23. März geschlossen. In tiefster Heimlichkeit, an Bord eines verdunkelten Schiffes auf hoher See. Unter dem Wortlaut des Abkommens steht mein Namenszug neben dem des Monsters. Wenn dies eines Tages vor der Weltöffentlichkeit bekannt wird, werde ich aus allen Richtungen angeklagt werden, von Nationalsozialisten und Vorkämpfern der Demokratie, von Juden und Nicht-Juden. Das nehme ich gefasst, denn ich bin davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben. Dieser Teufelspakt wird dazu führen, dass Tausende unschuldig Verfolgter Deutschland verlassen können, bevor es zu spät ist. Und ich kann Ihnen versichern, Herr Erfjord, eines Tages wird es zu spät sein.

Mir ist bewusst, dass auch Sie viel geopfert haben. Lassen Sie es sich ein Trost sein, dass Sie das Leben unzähliger deutscher Juden gerettet haben. Dennoch ist der Kampf noch nicht zu Ende. Die Menschheit hat keine Zukunft, bevor Hitlers verbrecherisches Regime nicht von der Erdoberfläche entfernt worden ist.

Lassen Sie uns hoffen, Herr Erfjord, dass unsere nächste Begegnung in einer helleren Zeit stattfindet.

 

Ihr ergebener Jaroslav Kubin (Jacob Bondi)

 

Nachwort

 

Zunächst möchten wir unserer Lektorin Karen Forberg für ihren großen Enthusiasmus und ihre guten Ratschläge danken. Unser Dank richtet sich ebenfalls an Torstein Arisholm und Katinka Lonne Christiansen für nützliche Anmerkungen zum Manuskript sowie an Nils Nordberg für viele anregende Unterhaltungen und die Ausleihe wichtigen Forschungsmaterials.

In diesem Buch haben wir uns von der goldenen Generation des norwegischen Kriminaljournalismus und der Kriminalliteratur inspirieren lassen, unter anderem von Fridtjof Knutsen, Georg Svendsen, Axel Kielland und Sven Elvestad. Es gibt zahlreiche bewusste und unbewusste Anleihen bei diesen Autoren.

Die Ermordung des Großhändlers Rustad war einer der größten norwegischen Kriminalfälle zwischen den Weltkriegen. Der Täter wurde nie gefasst. Die Fakten zu diesem Fall haben wir den Ermittlungsunterlagen der Polizei, verschiedenen Presseartikeln sowie Fridtjof Knutsens Schlüsselroman Slikt hender i Oslo (Aschehoug 1937) entnommen.

Reinhard Heydrichs manische Angst, jüdische Vorfahren zu haben, ist in der Forschungsliteratur gut dokumentiert, unter anderem in Schlomo Aronsons Doktorarbeit Heydrich und die Anfänge des SD und der Gestapo (1931-1935), Berlin 1967.

Die Jacob-Frank-Sekte findet in Gershom Scholems The messianic idea in Judaism and other essays on Jewish sprituality,

Schocken Books 1995, sowie Kabbalah, New American Library 1974, Erwähnung.

Die geheimen Verhandlungen zwischen der zionistischen Bewegung und dem Hitler-Regime führten zum sogenannten Transfer-Abkommen (Ha avara-Abkommen). Darüber kann man unter anderem lesen in Edwin Blacks The Transfer Agreement: The dramatic story of the pact between the Third Reich and Jewish Palestine, Carroll & Graf 2001.