TEIL II

 

Wie viel mehr sich doch die jungen Damen der Gegenwart durch Linienreinheit (sicher auch Reinheit) auszeichnen als Rubens’ Modelle: »Seine Weiber sind niemals Jungfrauen, ja nicht einmal Mütter, sondern fette rosige Fleischstücke mit exemplarischen Becken, Busen und Hintern, nur dazu da, um nach wildem Brunstkampf, der den Genuß nur erhöht, aufs Bett geschmissen zu werden.« Das sagt Friedeil in »Kulturgeschichte der Neuzeit«. Vielleicht wird dieses Zitat dazu beitragen, dass auch die Hüter der Moral Friedell lesen. So werden sie einige Feststellungen machen. Zuallererst, dass unsere jungen Frauen bei Weitem vorzuziehen sind, sie sind nicht mit solch einer sinnesbetäubenden Fleischlichkeit ausgestattet, nur selten schweifen sie in die Ferne, und haben sie ein kleines Hinterteil, so ist dies von großem Vorteil.

 

Georg Svendsen, 1934

 

Der Wermutspakt

 

Nach dem Begräbnis verspürte ich wenig Lust, dem Leichenschmaus beizuwohnen, den das Ensemble im Theater arrangierte. Oskar Winther empfand offenbar ebenso. Arm in Arm mit meiner Mutter trottete er langsam nach Hause. Wenn ich sie recht kannte, würde er in der Arendalsgate mit Kaffee, Likör und Spitzbuben-Keksen bewirtet werden.

Ich blieb zögernd am Ausgang zum Kirkevei stehen, als Kiss sich von der Gruppe der Schauspieler losriss und zu mir herüberkam.

»Ach Gott, wie unangenehm, Lennarts Vater auf diese Weise kennenzulernen«, sagte sie.

Im Grunde war ich von Oskars Unwissenheit nicht sonderlich überrascht. Er und Lennart hatten sich in den letzten Jahren ziemlich entfremdet. Der alte Arbeiterheld mochte es gar nicht, dass sein Sohn die Bewegung für eine Karriere in leichtlebigen Lustspielen aufgegeben hatte.

»Ihr habt eure Verlobung demnach gar nicht bekannt gegeben?«, fragte ich.

»Nein, Lennart wollte warten. Nur ein paar enge Bekannte am Theater haben davon erfahren. Und du, selbstverständlich …«

Eine Pause entstand, dann packte sie plötzlich meinen Arm. »Weißt du was … Wollen wir nicht eine kleine Begräbnisfeier ganz für uns alleine abhalten? Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.«

Unter ihrer Hutkrempe blickte sie mich flehend an, ihr Parfüm kitzelte in meiner Nase. Ein Nein war ausgeschlossen.

Wir bekamen einen Fenstertisch im Theatercafe und setzten uns. Gleich daraufkam ein Kellner.

»Was trinkst du gerne?«, fragte ich Kiss.

Sie lehnte sich über den Tisch.

»Da gibt es einiges: Champagner, wenn ich glücklich bin, Rotwein, wenn ich melancholisch bin, Cognac zum Kaffee und trockenen Muscadet zu rohen Miesmuscheln.«

»Rohe Miesmuscheln? Sowas isst doch wohl kein Mensch!«

Sie sah mich schelmisch an. »Da entgeht dir aber was. Miesmuscheln sind nämlich ein ziemlich effektives Aphrodisiakum. Frag mal die Leute, die im Restaurant Luther und Wegener verkehren.«

Errötend blickte ich den Kellner an. »Ich glaube, wir nehmen zwei Wermut.«

Nachdem wir die Getränke bekommen hatten, blickte Kiss zum Fenster hinaus. Ich versuchte ein Gesprächsthema zu finden, wurde angesichts meiner Unschlüssigkeit jedoch nur umso mehr irritiert und verlegen. Fräulein Lorenz war schlicht und einfach eine Nummer zu groß für mich. Obwohl ihre Trauer sie jetzt menschlicher gemacht hatte, war die Distanz zwischen uns unüberbrückbar. Denn die Trauer ließ Kiss jetzt auch viel schöner wirken als je zuvor. Es gelang mir nicht, meinen Blick von ihr abzuwenden. Das kleine, unglückliche Gesicht schrie förmlich danach, getröstet zu werden - doch was konnte ich schon tun? Ich war kein Ersatz für Lennart Winther.

Kiss Lorenz nippte an ihrem Wermut und nahm ein Päckchen Medina aus der Handtasche.

»Ich muss dir was erzählen, Erik«, sagte sie. »Wenn du versprichst, dass es unter uns bleibt…«

Ich nickte stumm, unsicher, worauf sie hinauswollte.

Sie zündete sich eine Zigarette an. Anscheinend fiel es ihr schwer weiterzusprechen.

Ich räusperte mich.

»Ich nehme an, es geht um Lennart.«

Sie sah mir in die Augen. Wieder schien sie mit den Tränen zu kämpfen.

»Weißt du, Erik«, sagte sie. »Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dir begegnet zu sein! Jetzt sind wir in der Trauer vereint, du und ich. Lennarts engste Freunde.«

Ich wurde verlegen.

»Das kann man wohl kaum vergleichen. Ich meine, du warst doch viel mehr als eine Freundin.« Sie lächelte zaghaft.

»Sicher. Aber dafür hattest du Zugang zu einem Lennart, der sich außerhalb meiner Reichweite befand.«

»Meinst du? Das kam mir in letzter Zeit aber gar nicht so vor. Ich hatte eher das Gefühl, dass Lennart mich vollkommen ausschloss.«

»Nein, das stimmt nicht. Du hast ihm enorm viel bedeutet, bis zum Schluss.«

Sie legte eine Hand auf meine. Natürlich hatte sie damit nichts Besonderes beabsichtigt, gleichwohl reagierte ich, als hätte sie mich mit einer Liebkosung bedacht. Von dem, was sie sagte, bekam ich nicht mehr viel mit. Mit einem Mal kam es mir vor, als säßen wir dichter nebeneinander, ich konnte ihren Atem im Gesicht spüren.

Plötzlich sagte sie ein Wort, das den Zauber brach.

»Die Miniatur?«, wiederholte ich ungläubig.

Kiss Lorenz nickte eifrig.

»Wie ich schon sagte: In Wirklichkeit sind wir beide Lennarts engste Verwandte. Da wär’s doch ein starkes Stück, wenn du nicht auch etwas von ihm erbtest.«

»Dann hast du also das Gemälde bei Möbelhändler Agnaess hinterlassen? Weil du wolltest, dass ich ein Andenken an Lennart bekomme?«

Traurig schüttelte sie den Kopf. »Nicht nur deshalb. Ich war neugierig, was für ein Gemälde das war. Und ich dachte, dass du viel mehr Erfahrung darin hast als ich, solche Dinge herauszufinden.«

»Aber es wäre doch nicht schlimm gewesen, wenn ich erfahren hätte, dass das Bild von dir kam?«

Eine schwache Röte breitete sich auf ihren Wangen aus.

»Gott, ja. Das war schon ein wenig melodramatisch. Aber um ehrlich zu sein, war es mir etwas peinlich, dich um Hilfe zu bitten. Ich war ja nicht gerade überströmend freundlich, als wir uns zuletzt begegnet sind.«

Ich tat es mit einer Handbewegung ab. »Denk nicht daran. Das war ja reine Verlegenheit …« Dann erzählte ich ihr von meinem Besuch bei Kunsthändler Vik.

Sie nickte ernst. »Das passt gut zusammen. Ich glaube nämlich, dass Großhändler Rustad ermordet wurde, weil er sich weigerte, das Gemälde zu verkaufen.«

»Aber dann verstehe ich gar nichts mehr. Bei Kunsthändler Vik haben sie gesagt, dass es nicht mehr als zweihundert Kronen wert sei.«

»Das Porträt ist vermutlich in ganz anderer Hinsicht wertvoll.«

Ich versuchte, einen Sinn in ihrer Bemerkung zu finden. Das war beileibe nicht einfach.

»Aber was ist mit Lennart?«, fragte ich. »Glaubst du, dass auch er wegen des Bildes ermordet wurde?«

Kiss biss sich nachdenklich auf die Lippe. »In gewisser Weise trifft das wohl zu. Doch der eigentliche Anlass war, dass er zuviel wusste …«

»Über den Mord an Rustad?« Sie nickte.

»Aber das sind doch bloß Spekulationen, oder? Wir wissen, dass Lennart das Gemälde bei Kunsthändler Vik abgeholt hat, aber das bedeutet doch nicht automatisch, dass er in den eigentlichen Mord verwickelt war.«

»Doch, leider. Ich weiß mit Sicherheit, dass Lennart in Rustads Wagen war, als der Großhändler ermordet wurde.«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»Er war im Mordwagen? Aber woher weißt du das?«

»Am Tag nach Rustads Ermordung kam Lennart mit dem Gemälde nach Hause. Das Porträt sollte ihm aus der Patsche helfen, sagte er, aber nichts war nach Plan gegangen, und er war in größerer Gefahr als je zuvor. Als ich ihn fragte, was er damit meinte, sagte er: >Ich habe zu viele Fehler gemacht. Jetzt bin ich ein gefährlicher Zeuge, der zum Schweigen gebracht werden muss.< Als ich versuchte, vernünftig mit ihm zu reden, schrie er mich an: >Ich habe zwei Zentimeter daneben gesessen, als Großhändler Rustad das Hirn rausgeblasen wurde. Begreifst du jetzt, dass das kein Spaß ist?<«

Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

»Du irrst dich, wenn du behauptest, ich hätte Lennart besser gekannt als sonst jemand«, sagte ich schließlich. »Im Gegenteil. Ich scheine ihn überhaupt nicht gekannt zu haben.«

Mit ernstem Blick sah sie mich an. »Du musst akzeptieren, dass Lennart dunkle Seiten hatte, Erik. Ich habe das schon vor langer Zeit getan. Zu Beginn versuchte ich, sie zu übersehen, aber das war unmöglich. Stattdessen lernte ich, im Guten wie im Bösen mit ihm zu leben. Das Ergebnis war, dass ich ihn nur umso mehr liebte. Lennart war entweder-oder, verstehst du? Niemand konnte dich mehr verletzen als er, aber es gab auch keinen liebenswürdigeren Menschen.«

»Die Kokainsucht muss ihn dazu gebracht haben.« Kiss Lorenz lächelte betrübt. »So ist es wohl gewesen.«

»Und das Kokain ließ ihn in die Fänge von Leuten wie Hans von Manteuffel geraten?« Sie schauderte.

»Uff! Hat dir Lennart eigentlich etwas Konkretes über diesen schrecklichen Mann erzählt?«

»Ja und nein. Er war nie wirklich bereit, über Manteuffel zu reden, und das Wenige, das er erzählte, war wohl erlogen, fürchte ich. Und? Wer ist dieser Kerl?«

»Ich weiß auch nicht viel, nur dass Lennart ihn anscheinend in Berlin kennengelernt hat und dass …«

»Ach bitte, Kristin!«

Sie drückte ihre Zigarette aus und ergriff mit beiden Händen meinen Arm.

»Sag vor allem bitte Kiss zu mir.«

»Okay, Kiss. Du warst mit Lennart verlobt - da hast du doch sicher mitbekommen, was er und Manteuffel trieben?«

»Nicht mehr als das, was Lennart mir erzählt hat.« Ihr Griff verstärkte sich.

»Weißt du, als Lennart und ich nach Norwegen zurückkamen, konnten wir in Vaters Landhaus wohnen. Er ist ja so sehr mit seinen Geschäften in Deutschland beschäftigt. Das Landhaus liegt in Ostmarka, mit dem Bus eine Dreiviertelstunde vom Jernbanetorv entfernt. Lennart und ich waren da draußen ziemlich isoliert - vor allem ich, da ich noch immer nicht gelernt habe, den Chrysler zu fahren. Häufig verbrachte ich die Nacht alleine. Lennart behauptete immer, dass er in der Stadt aufgehalten wurde. Theaterproben, alte Freunde, die ihn zu einem Drink einluden … tja, irgendwas war eigentlich dauernd.«

»Und du weißt nicht, was er da eigentlich gemacht hat?«

Kiss bedauerte. Sie hatte keine Ahnung. Leider.

Bis in den Nachmittag blieben wir im Theatercafe sitzen. Es wurde ein seltsamer Nachmittag. Wir bestellten mehrere Runden Wermut, und je heftiger uns der Alkohol zu Kopf stieg, desto mehr reizte es uns, den Mord an Rustad aufzuklären. Immer wieder übersahen wir die Tatsache, dass sich unsere Theorien um Lennart drehten. Wir waren viel zu begeistert über unser gemeinsames Interesse und liefen Tommy und Tuppence förmlich den Rang ab.

Doch immer wieder wurde der Rausch von einer unheimlichen Klarsicht überlagert, und wir erschraken und schämten uns, auf Lennarts Kosten Detektiv zu spielen. Gott im Himmel, wir hatten ihn gerade erst verloren, und noch dazu auf die schlimmstmögliche Weise. Diese klaren Augenblicke endeten dann immer damit, dass wir uns hoch und heilig versprachen, keiner Menschenseele etwas von unserer Unterhaltung zu verraten. Zumindest nicht, bevor wir unerschütterliche Beweise hätten. Es war nicht weniger als ein Pakt, besiegelt mit Wermut!

Einen Augenblick später waren wir wieder beim Thema.

»Okay, lass uns mal sehen, was für Lennarts Verwicklung in den Mord an Rustad spricht«, sagte ich. »Punkt eins: Am Tag des Mordes kommt er zu spät zur Nachmittagsprobe im Chat Noir. Die Probe fing um drei Uhr an, Lennart kam erst eine Dreiviertelstunde später. Und jetzt hör zu: Laut Bericht der Polizei wurde Rustads Dodge gesehen, als er um halb vier auf den Grav Wedels plass einbog. Wenn Lennart der Fahrer war, stellte er den Wagen dort ab, weil es nur ein paar Minuten Fußweg vom Tivoli entfernt lag. Und warum hat er den Leichnam des Großhändlers von Tveten nach Oslo gebracht? Ja, das kann ich dir sagen: Er wollte unbedingt pünktlich zur Probe im Chat Noir erscheinen! Doch dann stellte er fest, dass es gar nicht so einfach war, einen unauffälligen Parkplatz in der Innenstadt zu finden. Wahrscheinlich ist er erstmal eine ganze Weile herumgekurvt, bevor er dann den fast menschenleeren Grav Wedels plass entdeckte.«

»Er muss sich dabei ganz schrecklich gefühlt haben. Es hätte doch sehr leicht jemand bemerken können, dass er einen toten Mann im Wagen hatte!«

Ich nickte.

»Vermutlich war er total verzweifelt. Und hier haben wir Punkt zwei: Ein Zeuge hat den Dodge des Großhändlers um Viertel vor drei durch den Trondhjemsvei in Richtung Zentrum fahren sehen. Besonders sei ihm der junge Mann hinter dem Steuer aufgefallen. Er habe einen dunklen Mantel und einen grauen Hut getragen - und sei ziemlich blass gewesen.«

Ich sah Kiss mit ernster Miene an.

»Das klingt doch absolut nach Lennart, oder?«

Sie stimmte zu.

»Dieser Zeuge hat aber außerdem berichtet, dass dort jemand auf der Rückbank gesessen habe, den er nicht beschreiben konnte. Und wer kann das wohl gewesen sein, was meinst du?«

Sie überlegte, doch ich kam ihr zuvor.

»Hans von Manteuffel natürlich. So wie Lennart den Mord an Rustad beschrieb, hat er die tödlichen Schüsse nicht selbst abgefeuert. Das deckt sich mit der Theorie der Polizei. Rustads Leiche wurde in einer merkwürdig verdrehten Stellung gefunden, so als habe der Mann hinter dem Lenkrad den Großhändler halbwegs auf den Boden geschoben, nachdem er von hinten erschossen worden war. Es war Manteuffel, der Rustad ermordet hat!«

Kiss wollte etwas sagen, doch ich wehrte mit einer Handbewegung ab.

»Warte mal, lass mich zu Ende reden. Möglicherweise hast du nämlich recht, und die Miniaturmalerei war das Motiv. Doch als Lennart tags darauf den Kunsthändler aufsucht, begreift er, dass der Mord ganz umsonst war. Vik erzählt ihm, dass das Gemälde nicht viel wert ist. Begreifst du, was das bedeutet? Nein? Rustad hatte nur eine Kopie. Das echte Gemälde ist wahrscheinlich niemals in Norwegen gewesen!«

Ich schlug dramatisch mit der Hand auf den Tisch.

»Gott, ich würde einiges geben, um mehr über dieses verdammte Porträt zu erfahren!«

Kiss sah mich mit erwartungsvollem Blick an. »Denk nur, wie toll es wäre, wenn dir das gelänge, Erik!«

Ich sah sie lange an. »Das ist gar nicht mal so abwegig. Ich habe nämlich eine Idee.« Ich trank einen Schluck Wermut. »Sogar eine verdammt brauchbare Idee, wenn ich das mal so sagen darf.«

»Los, spann mich nicht auf die Folter. Erzähl schon!« Ich versuchte, meinen Blick auf ihre Augen zu fokussieren. Das brauchte Zeit.

»Jacob Bondi«, sagte ich schließlich.

»Was?«

»Nicht was - wer! Jacob Bondi ist jemand, der mich vor einer Weile besucht hat. Und er behauptet, mich beobachtet zu haben …«

»Tatsächlich?«

»Ja, wirklich. Er sagte, ich hätte bereits mehrmals sein Interesse geweckt. Er hat mich draußen bei Rustads Villa gesehen und auf dem Lagerplatz. Da ist es wohl nicht so schwierig zu erraten, wieso ich >sein Interesse erweckt habe<. Hm?«

»Er glaubte, du suchtest nach der Miniatur?«

»Selbstverständlich. Und das bedeutet natürlich, dass Bondi selbst darauf aus ist. Er kann uns verraten, weshalb sie so wichtig ist!«

Kiss wirkte eine Spur verwirrt, weil ich diesen Bondi ins Spiel gebracht hatte.

»Aber wann triffst du ihn denn wieder?«

»Bondi? Ich weiß nicht, ob ich ihn überhaupt je wiedertreffe. Er ist so ein Typ, der einfach auftaucht. Und wieder verschwindet.«

Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Jetzt weiß ich, was wir machen!«, rief ich. »Wir sorgen dafür, dass ein Foto der Miniaturmalerei bei Arbeiderbladet erscheint!«

Kiss runzelte die Stirn. »Aber musst du dann nicht erklären, dass das Porträt mit dem Mord an Rustad zusammenhängt, oder?«

»Aber nein«, erwiderte ich. »Ich lasse mir irgendwas einfallen. Dass das Bild von ein paar Jungen auf dem Müll gefunden und bei Arbeiderbladet abgegeben wurde. Bla, bla, bla. >Können die Leser von Arbeiderbladet Hinweise geben?< Und so weiter. Unterzeichnet: Erik Erfjord. Bondi wird es nicht schwerfallen, die Nachricht zu entziffern.«

Kiss hob ihr Glas.

»Auf dich, Erik! Du bist ja wirklich schlau!« Ich prostete ihr zu.

»Und wie gesagt: Kein Wort über Lennart! Zumindest vorerst nicht…«

Zum vierten oder fünften Mal erneuerten wir den Pakt, der Lennarts guten Namen und Ruf beschützen sollte. Die Wermutverschwörer. Tommy and Tuppence.

Partners in Crime.

 

Letzter Bus zum Solvann

 

Ein Versprechen ist ein Versprechen. Daher überredete ich den Redakteur der Samstagsbeilage, einen kurzen Artikel über das Porträt der Eva Frank Matronita zu drucken. Doch die Wahrheit war, dass ich kalte Füße bekommen hatte. Manteuffel hatte Jacob Bondi als rücksichtslosen Saboteur, Spion und Experten für staatsgefährdende Umtriebe bezeichnet. Nach allem, was ich wusste, schien das durchaus möglich. Vor diesem Hintergrund deutete alles auf Bondi als den Verantwortlichen für den Brand in der Dronningens gate. Ich war nicht mehr sicher, ob ich Lust hatte, ihn wiederzutreffen.

Nachdem der Artikel über das Gemälde in Druck gegangen war, verbrachte ich ein paar nervöse Tage in der Erwartung, dass der Mann sich offenbarte. Sobald ich nach Hause kam, überprüfte ich die Wohnung auf Anzeichen seines Besuchs. Ich fand nichts, nicht einmal eine Speed-Kippe im Aschenbecher. Ich zog den Schluss, dass Bondi Norwegen verlassen haben musste und fieberhaft damit beschäftigt war, das Originalgemälde in einem anderen Land zu suchen. Dasselbe galt vermutlich für den Spinnenmann. Zumindest entdeckte ich auch von ihm keine Spur.

Die mystischen Rivalen hatten also die Arena an einen anderen Ort auf dem Globus verlegt. Wären nicht all die Toten am Wegesrand zurückgeblieben, hätte man fast glauben können, dass ihr Norwegenaufenthalt nur ein böser Traum gewesen war. Doch die Opfer waren real genug. Auf dem Friedhof Vestre Gravlund lagen acht verkohlte Leichen in anonymen Gräbern, während ihre Zahnabdrücke, ihr Schmuck und ihre Uhren weiterhin im pathologisch-anatomischen Institut aufbewahrt wurden.

Mr. George war nicht besonders mitteilsam, als ich ihn nach dem Stand der polizeilichen Ermittlungen fragte. Professor Brüning hatte bestätigt, dass eine Thermitbombe deutscher Bauart benutzt worden war, um die Wohnung in der Dronningens gate anzuzünden. Sveen hatte der Presse allerdings bis auf Weiteres einen Maulkorb verpasst. Er hatte die IKPK, die Internationale Kriminalpolizeikommission, gebeten nachzuforschen, ob ausländische Attentäter hinter der Tat steckten. Das Ergebnis der Untersuchungen wollte er abwarten, bis die Informationen über die Bombe veröffentlicht würden.

Auf dem Friedhof Nordre Gravlund war Lennarts Name nun in den Familiengrabstein gemeißelt. Mindestens einmal pro Woche kam ich zu Besuch, legte einen Blumenstrauß auf das Grab und blieb eine Weile bei ihm sitzen. Ich weiß nicht, was mich zu solchem Pflichtbewusstsein trieb. War es Trauer, das Gefühl des Verlusts oder schlechtes Gewissen? Auf jeden Fall musste ich sein Grab nicht aufsuchen, um die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Jede einzelne Nacht erschien er mir im Schlaf.

So verging der Frühling. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass ich in einem Zustand des Wahnsinns herumlief, der nur auf eine Gelegenheit zum Ausbruch wartete. In erster Linie habe ich es der Arbeit in der Sportredaktion zu verdanken, dass es nicht dazu kam.

Lange und arbeitsreiche Tage waren mir durchaus nicht fremd; Mr. George hatte stets darauf geachtet, dass es genügend Dinge gab, mit denen ich mich beschäftigen konnte. Mit dem Sport war es dennoch etwas anderes. Seit dem Augenblick, in dem der Arbeitersportverband gegründet worden war, um dagegen zu protestieren, dass der Norwegische Landesverband für Sport als Plattform für die Anwerbung von Streikbrechern diente, hatte Tranmael die Sportseite von Arbeiderbladet in ein politisches Forum verwandelt. Dies hatte zur Folge, dass die Sportjournalisten der Zeitung spezielle Anforderungen erfüllen mussten. Es war nicht genug, dass ich ausführlich über Sportveranstaltungen berichtete, ich musste auch eine politische Perspektive berücksichtigen - auf irgendeine Weise musste ich etwas über die faschistischen Tendenzen des Norwegischen Landesverbands einbauen oder erwähnen, wie verwerflich es war, Sportidolen, herausragenden Leistungen oder Sensationsveranstaltungen zu huldigen.

Auch als die Sportjournalisten anderer Zeitungen ins Ausland reisten, um von großen Ereignissen zu berichten, war ich nicht dabei. Der Arbeitersportverband konnte schlichtweg keine Spesenübernahme anbieten. Ungeachtet indignierter Leitartikel von Tranmael bekam der Arbeitersportverband keine öffentlichen Zuschüsse und musste sich im Großen und Ganzen mit nationalen Veranstaltungen begnügen. Ich berichtete von den meisten, kann mich aber nur noch an das Endspiel um den Fußballpokal in Daelenenga erinnern. Im Voraus hatte ich mich mächtig darauf gefreut, Sagene gegen Sterling spielen zu sehen, aber es wurde ein enttäuschend schwaches Spiel. Nach regulärer Spielzeit stand es 0:0, und leider gewann Sterling dann mit 3:2 in der Verlängerung.

Nicht einmal an die Jubiläumsfeier zum zehnjährigen Bestehen des Arbeitersportverbands habe ich besondere Erinnerungen. Normalerweise hätte solch eine Veranstaltung mein Herz anschwellen lassen, doch ich stand geistesabwesend da, während die Sportjugend in Sternformation aufmarschierte, der Freiheitschor Aufstellung nahm und die Internationale gesungen wurde.

Die ganze Zeit dachte ich an Kiss Lorenz.

Es waren nämlich nur noch wenige Tage, bevor ich zum Solvann fahren wollte, um die Ferien mit ihr zu verbringen. Im Laufe des Frühlings waren wir uns recht nahe gekommen. Mindestens einmal in der Woche trafen wir uns, um ins Kino oder ins Theater zu gehen. Danach saßen wir im Restaurant, bis Kiss um halb eins den letzten Bus nehmen musste. Ich begleitete sie stets bis zum Jernbanetorv, wo der Linienbus in Richtung Ostmarka abfuhr. Die ersten Male nahm sie höflich meine Hand und bedankte sich für den netten Abend. Im Laufe der Zeit verloren die Abschiede den formellen Charakter. Wir verschmolzen in einer heißen Umarmung, die schon bald die ganze Nacht hätte andauern können, wenn es nicht die Angewohnheit des Busfahrers gegeben hätte, auf die Hupe zu drücken, sodass Kiss im letzten Moment aufspringen konnte. Er war ein pickeliger junger Mann mit einer Chauffeursmütze und hatte anscheinend keine anderen Interessen als den Fahrplan. Wäre er allerdings ein Dichter oder Hellseher gewesen, hätte er eins der wichtigsten Kapitel meines Lebens schreiben können: Die Geschichte vom 00.30-Uhr-Mädchen und dem jungen Mann, den sie mit Fieber im Blut, Sehnsucht im Herzen und schwellenden Drüsen am Jernbanetorv zurückließ.

Das Liebesverhältnis mit Kiss rettete mich auch davor, nach Lennarts Tod zusammenzubrechen. Es mag so scheinen, als habe einzig und allein die solide Dosis eines ganz anders gelagerten Wahnsinns verhindern können, dass ich den Verstand verlor. Denn anders kann ich meine Verliebtheit in Kiss nicht beschreiben. Ich war derart besessen von ihr, dass ich das Interesse für alles andere verlor. Die faschistischen Diktaturen auf dem Kontinent wirkten mit einem Mal unendlich weit entfernt, die Arbeitslosigkeit war nicht mehr so erschreckend, und Sagenes Mangel an erfolgreichen Torschüssen eine pure Bagateile. Ich fühlte mich von allzu kleinen Kulissen umgeben, ich war ein Gigant in dieser Welt - ich war der Liebhaber von Kiss Lorenz.

Und dennoch war ich es nicht - nicht im eigentlichen Sinne. Es lag überwiegend an mir, dass wir über das Küss- und Umarmungsstadium nicht hinauskamen. Jedes Mal, wenn wir eng umschlungen am Jernbanetorv standen, war ich kurz davor, auf Frau Wegers mögliche Einwände zu pfeifen und Kiss für eine Übernachtung in mein Zimmer einzuladen - doch es blieb beim bloßen Gedanken. Ich glaubte, sie wartete bloß auf meine Frage.

So, wie ich mich aufführte, hätte man fast glauben können, dass ich völlig unerfahren war, doch das war nicht der Grund. Bei einer anderen Frau wäre jedwede Bescheidenheit verschwunden, sobald wir uns geküsst hätten, aber mit Kiss war es etwas anderes. Ich war unsicher, wie viel ihr körperliche Zärtlichkeiten eigentlich bedeuteten, denn schließlich verdiente sie ihr Brot damit, auf der Bühne oder im Filmstudio zarte Gefühle zu mimen. Ich will nicht behaupten, dass sie falsch war, doch sie hatte immer etwas von einer Schauspielerin an sich, unabhängig davon, wie leidenschaftlich sie war.

Außerdem entdeckte ich bald eine sonderbare Doppelnatur an ihr. Die Jahre in Berlin hatten sie zur freimütigsten Frau gemacht, die ich kannte. Selbst einem modernen jungen Mann, der Karl Evang und Max Hodann gelesen hatte, fiel es schwer, ihre Ansichten über Sexualität anzuhören, ohne rot zu werden. Mitunter allerdings konnte sie eine seltsame Scheu an den Tag legen, die anscheinend in einer vollkommen grundlosen Selbstverachtung wurzelte. Beispielsweise mochte sie es nicht, wenn ich schweigend da saß und sie anblickte.

»Meine Güte …«, beklagte sie sich dann. »Warum siehst du mich so an?«

»Du bist so unglaublich schön! Ich kann meinen Blick ganz einfach nicht von dir abwenden.« Sie schauderte.

»Das wirst du hübsch lernen müssen, Erik. Denn wenn du mich zu lange betrachtest, wirst du schließlich feststellen, dass ich überhaupt nicht schön bin.« Sie beugte sich zu mir und sagte mit ernster Stimme: »Du hast noch nicht mein ganzes Ich gesehen, so wie ich wirklich bin, Erik. Vergiss das nicht!«

Sie hatte natürlich recht. Erst wenn ich sie hinter der Bühne träfe, würde ich sie ohne Kiss-Lorenz-Maske zu sehen bekommen. Doch dazu hatte sie mich noch nicht eingeladen.

Das geschah erst Ende Mai.

Wie üblich standen wir am Jernbanetorv und hielten uns umarmt, als sie mir tief in die Augen blickte. »Weißt du, was ich mir wünschen würde, Erik?«

»Nein, was denn, Liebling?«

»Dass du und ich zusammen sein können, wenn du Urlaub bekommst.«

»Ist das dein Ernst?« Sie lächelte.

»Bitte missversteh mich nicht. Ich habe nicht vor, mit dir auf den Kolsäs-Felsen herumzuklettern. Aber es gibt auch Berge, dort wo ich wohne …«

Ich nickte beflissen.

»Ja, Hauktjern, zum Beispiel. Das wollte ich schon lange mal probieren!«

Sie lachte fröhlich.

»Dann ist die Antwort also ja! Du wirst es nicht bereuen, Erik. Der Landsitz ist größer und schöner, als du dir vorstellen kannst. Und am Solvann ist es wunderschön - und so ungestört! Ich kann alle Kleider ausziehen und splitternackt herumlaufen, wenn ich Lust dazu habe. Ich kann auf der Terrasse vor dem Haus liegen und mich sonnen. Völlig nackt.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann legte sie ihre Wange an meine Brust und sah verträumt in den Himmel.

»Ich freue mich so darauf, dass du kommst! Dann werde ich ein Feuer im Kamin machen und uns den besten Wermut der Welt mixen. Und ich bringe dir das Frühstück ans Bett…«

»Ganz nackt?«

Sie warf den Kopf zurück und lachte. »Ja, das könnte dir so passen!«

Dann wurde sie plötzlich traurig. »Ich wünschte, ich wäre genauso, wie du mich haben willst, Erik.«

»Aber das bist du doch, Kiss!«, sagte ich tröstend. »Davon bin ich völlig überzeugt.«

Sie sah mich lange an. Ihr Mund begann zu zittern, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Nein. Da irrst du dich. Ich bin immer noch so, wie Lennart mich haben wollte …«

Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar.

»Was meinst du damit?«

Ich habe nie erfahren, was sie erwidern wollte. Im selben Moment hupte der Busfahrer. Kiss wirkte erleichtert. Wortlos riss sie sich los und hastete in den Linienbus. Als er abfuhr, versuchte ich ihr zuzuwinken, doch sie hatte das Gesicht in den Händen verborgen und sah mich nicht.

 

Ritter der Axt

 

Mitte Juni war es endlich soweit, dass ich den Linienbus der Ekebergbahn hinaus zum Solvann nehmen konnte. Es war herrliches Wetter, was zur Folge hatte, dass die Zeitungen nicht länger Zuflucht zu den Gerüchten über die Spukflugzeuge nehmen mussten und sich stattdessen in wilden Spekulationen über das Klima ergehen konnten. Am weitesten wagte sich dabei Morgenposten vor, die meinte, die Erde müsse sich im letzten Jahr so gedreht haben, dass Norwegen nun auf einem tropischen Breitengrad liege. Dies sei die Erklärung für den milden Winter und den unerträglich warmen Sommer. Bald würden Kokospalmen auf der Karl Johan wachsen, prophezeite die Svasrta Morgenposten, und für die weibliche Bevölkerung Oslos gehörten Bastrock und ein Orchideenkranz um den Hals zur künftigen Sommermode.

Ich hatte mehr als genug eigene Spekulationen, als ich in dem warmen Bus auf meinem Sitzplatz hin- und hergeworfen wurde. Am liebsten hätte ich mich hemmungslosen Fantasien über die kommenden Tage mit Kiss hingegeben, die nach eigener Aussage eine Sommermode bevorzugte, welche die Osloer Frauen der Zukunft vergleichsweise prüde wirken ließ. Doch die verlockenden Gedanken konnten sich nicht dauerhaft und friedvoll entfalten, denn immer wieder wurden sie von einem eisigen Gefühl unterbrochen, das sich in meinem Körper ausbreitete. Es war, als hätte Lennart Winther ein Auge auf mich. Und er war schlichtweg nicht erfreut darüber, dass ich ihm Kiss wegnahm.

Nach einer Dreiviertelstunde hielt der Busfahrer am Trasop-Gehöft am Rande der Ostmarka. Er wandte sich zu mir um. »Hier müssen Sie aussteigen«, sagte er. »Wenn Sie dem Pfad da vorne links durch den Wald folgen, kommen Sie nach zwanzig Minuten zu Lorentsens Landhaus.«

Ich bedankte mich und stieg aus. Noch lange, nachdem der Bus abgefahren war, stand ich mitten auf dem Waldweg. Keine Wolke war am Himmel, die Sonne brannte, und der Nadelwald stand völlig unbewegt in der flirrenden Hitze. Konnte sich ein junger Mann einen perfekteren Tag wünschen, um seiner Geliebten zu begegnen? Ich beschloss, das alberne Schuldgefühl zu vergessen, warf mir den Rucksack mit Kletterausrüstung, Wäsche, ein paar Konservendosen und einer ganzen Flasche Martini über die Schultern und betrat den Pfad zur Linken. Ich war kaum ein paar Schritte gelaufen, als ich abrupt stehenblieb.

Ein schwarzer Chrysler war zwischen den Bäumen geparkt. Es war der Wagen, den Lennart und Manteuffel benutzt hatten, als ich sie fünf Tage vor dem Mord an Rustad in Vaterland gesehen hatte. Sein Anblick bewirkte, dass alle möglichen absurden Gedanken durch meinen Kopf wirbelten. Ich bildete mir ein, der schwarze Wagen sei ein Beweis dafür, dass Lennart noch lebte, auch wenn ich wusste, dass der Wagen seit Januar hier abgestellt war. Das hatte Kiss mir erzählt.

Ich lief rasch weiter. Nach einer Viertelstunde erreichte ich Lorentsens Landhaus. Ich begriff sogleich, warum Kiss bei der Erwähnung dieses Ortes nie von einem Ferienhaus gesprochen hatte; es wäre für das schöne Gebäude eine völlig irreführende Bezeichnung gewesen. Es lag ein Stückchen erhöht auf einem Hügel nördlich des Solvann und war im Drachenstil erbaut, mit offenem Umgang und hervorstehendem oberen Stockwerk. Beinahe musste ich mir die Augen reiben: Genauso hatte ich mir immer den Königshof im Märchen vorgestellt. Auch an der Lage war nicht das Geringste auszusetzen. Das Haus war umringt von hohen Kiefern, und an der Vorderseite gab es eine breite, mit Steinplatten belegte Terrasse mit Aussicht auf das Wasser.

Ich hatte eigentlich erwartet, Kiss auf der Terrasse anzutreffen, doch da irrte ich mich. Weit entfernt konnte sie allerdings auch nicht sein. Die Haustür stand offen. Ich stieg die geteerten Stufen zum Windfang hinauf und rief: »Hallo! Ist jemand zu Hause?«

Ich glaubte, drinnen Stimmen zu hören, aber niemand kam heraus. Ich betrat das Wohnzimmer. Es schien renoviert worden zu sein, Decke und Wände waren frisch gestrichen. Das Wohnzimmer war für ein Sommerhaus ungewöhnlich eingerichtet, es gab einen Schreibtisch aus geflammtem Birkenholz, ein Sofa, zwei tiefe Sessel und mehrere Bücherregale. Neben dem Kamin führte eine Treppe in das obere Stockwerk. Ich hatte den Eindruck, mich in einem modernen Sommerhaus auf Nesodden zu befinden und nicht in einer alten Drachenvilla tief im Wald.

Ich stellte meinen Rucksack ab und stemmte die Hände in die Hüften.

»Hallo!«, rief ich noch einmal. »Ist niemand da, um einen erschöpften Wandersmann willkommen zu heißen?«

Dieses Mal gab es leicht zu identifizierende Geräusche. Ich hörte rasche Schritte im Obergeschoss, und einen Augenblick später kam Kiss die Treppe heruntergerannt. Sie bremste nicht ab, als sie mich entdeckte, sondern warf sich mir mit solcher Kraft in die Arme, dass ich fast nach hinten umgestürzt wäre.

»Oh, Liebling!«, schluchzte sie. »Es tut mir so leid!«

Dann verfiel sie in ein furchtbares Weinen.

»Aber Liebste«, sagte ich erschrocken. »Was ist denn geschehen?«

Aber es war gar nicht so einfach, ihr eben das zu entlocken. Sie hörte zwar bald auf zu weinen, wurde deswegen aber auch nicht gesprächiger. Ebenso wenig half es, dass ich meine Frage wiederholte, denn sie schüttelte bloß den Kopf, und die Tränen kamen zurück. Die ganze Zeit klammerte sie sich krampfartig an mich, so als habe sie Angst, dass ich sie wieder verlassen würde.

Schließlich wurde ich ungeduldig.

»In Gottes Namen, Kiss! Du kannst mir doch wohl erzählen, wo das Problem liegt?«

»Wenn du nicht böse wirst…«

»Aber nein, ich werde nicht böse, das weißt du doch!«

Sie legte den Kopf an meine Brust. Nach einer Weile sagte sie: »Ich weiß, wie sehr du dich auf diese Ferien gefreut hast, Erik. Und das habe ich auch - bitte versteh mich nicht falsch! Aber…«

Sie schwieg.

»Was denn?«

»Ich brauche mehr Zeit, verstehst du …« In meinem Innern wurde es kalt.

»Du bist dir nicht sicher, ob du mich gern hast, meinst du?« Sie blickte mich ernst an.

»Aber ja doch. Ich bin mir meiner selbst nicht sicher. Du verdienst eine Bessere …«

»Unsinn! Ich will nur dich. Punkt. Und natürlich nimmst du dir die Zeit, die du brauchst. Ich will mich auch überhaupt nicht aufdrängen.«

Sie lächelte dankbar. »Ach Erik. Ich wusste es. Du bist ein Gentleman.«

Ich hatte mir den Beginn meiner Ferienwoche etwas anders vorgestellt. Kiss hatte eine verbotene Zone errichtet, ohne anzugeben, wo genau sie sich befand; die ganze Zeit musste ich auf der Hut sein, diese Grenzen nicht unbeabsichtigt zu übertreten. Zumeist verhielt sie sich ganz normal; wir gingen im Kiefernwald spazieren, bereiteten gemeinsam das Essen, lagen den ganzen Abend auf einem Sofa im Wohnzimmer und nippten an einem Glas Wermut. Doch dann konnte es passieren, dass ich einen völlig harmlosen Vorschlag machte und sie bockbeinig wurde. Sie wollte partout nicht mitkommen und im Solvann baden, obwohl wir uns in der Hitze fast auflösten. Als ich ihr vorschlug, die Regelung mit den getrennten Schlafzimmern aufzuheben, sah sie mich vorwurfsvoll an - so, als versuchte ich, das ihr gegebene Versprechen zu brechen.

Ebenso wenig war sie bereit, über Lennart zu sprechen. In den ersten Tagen war ich überzeugt, dass sie deswegen mehr Zeit brauchte, dass sie noch nicht bereit war, jemand anderen Lennarts Platz voll und ganz einnehmen zu lassen. Doch dann wurde mir klar, dass ihre Stimmungsschwankungen eine biologische Ursache haben konnten. Hatte sie vielleicht ihre Tage? Das war etwas, worüber Mädchen niemals offen sprachen, selbst für Kiss war das sicher zu privat.

Gleichwohl hatte ich mir Informationen über dieses Phänomen beschafft. Gemäß einem Artikel von Dr. Majken Borring, den ich in der Allgemeinen Zeitschrift für sexuelle Aufklärung las, tritt die periodische Blutung aus der Gebärmutterschleimhaut bei der geschlechtsreifen Frau in einem Abstand von vier Wochen auf. Die Dauer der Blutung beträgt zwischen drei und sechs Tagen. Nicht länger als der Zeitraum, in dem ihr Partner in der Lage ist, seinen Sexualtrieb in Schach zu halten, während er bei anderen körperlichen Aktivitäten Zuflucht sucht.

Ich suchte Zuflucht beim Holzfällen. Kiss brauchte Feuerholz, und ich widmete mich dieser Aufgabe mit sämtlicher Energie, die ich an den Tag legen konnte. Bei dreißig Grad Hitze brachte ich es fertig, einen kleinen Wald abzuholzen, ihn zu entästen und in Klötze passender Größe zu sägen, die ich entlang der Grundmauer des Hauses aufstapelte.

Doch als der Samstag kam, ohne dass Kiss ein Ende ihrer Monatsblutung signalisierte, reichte Holzfällen nicht länger aus, um mir die sexuelle Frustration vom Leib zu halten.

Schon seit dem frühen Morgen hatte ich das Gefühl, dass uns ein scheußlicher Tag bevorstand. Die Hitze war bereits kaum auszuhalten, als ich mir gegen neun die Axt über die Schulter schwang und mich auf den Abhang hinter dem Landhaus begab. Ich schwitzte am ganzen Körper, bevor ich auch nur mit dem Holzfällen begonnen hatte. Nie zuvor war der Wald so widerspenstig gewesen wie an diesem Tag, jeder einzelne Baum widersetzte sich mit dicken Wurzeln und schweren Ästen, die ständig im Weg waren. Um sie endlich zu Fall zu bringen, musste ich sämtliche mir zur Verfügung stehende Muskelkraft aufwenden und genaue Berechnungen anstellen. Die ganze Zeit hatte ich Kopfschmerzen, die schlimmer und schlimmer wurden.

Gegen drei hatte ich genug. Als ich zum Haus hinunterlief, sah ich das Unwetter. Es türmte sich über dem Kiefernwald auf; blauschwarze Wolken, die schon bald den Himmel mit dunklen, wirbelnden Dampfmassen bedecken würden. Die Luft hatte bereits diesen unnatürlichen Glanz angenommen, der von der aufgestauten Elektrizität des Gewitters herrührte.

Gleichwohl brach es erst gegen halb elf am Abend über uns herein. Kiss und ich hatten mit der Wermutflasche im Wohnzimmer Zuflucht gesucht. Wie sich zeigte, war dies die falsche Wahl. In der schwülen Luft fühlte ich mich schlapp und unwohl, mein Kopf schmerzte und die Stimmung war auf dem Nullpunkt. Ich trank viel.

»Das hat mir gerade noch gefehlt«, sagte ich mürrisch. »Mistwetter bis zum Ende der Ferien.«

Kiss sah mich mitleidig an. »Das ist doch gar nicht gesagt. Morgen scheint bestimmt wieder die Sonne, und dann freuen wir uns, dass das Gewitter die Luft gereinigt hat. Es war ja auch viel zu drückend in diesem Sommer …«

Ich unterbrach sie. »Morgen ist mein letzter Urlaubstag. Und worauf kann ich dann zurückblicken? Eine Woche mit Holzfällen, Holzfällen und noch mal Holzfällen!«

»Ja, aber du hast es doch so gewollt. Meinetwegen hättest du auch klettern und schwimmen und überhaupt tun können, wozu auch immer du Lust hattest…«

Ich blickte sie feindselig an. »Aber du bist mir dankbar, dass ich dir Brennholz beschafft habe!«

»Ja, selbstverständlich. Aber…«

»Nur komisch, dass ich keinen Beweis für diese Dankbarkeit sehe!«

Mit diesen Worten nahm ich die Wermutflasche und marschierte in mein Zimmer hinauf. Sobald ich alleine war, ging mir auf, wie ungerecht ich gewesen war. Lange lag ich da und versuchte einen Vorwand zu finden, um wieder hinunterzugehen, doch noch bevor mir etwas Brauchbares einfiel, brach das Unwetter los. Ein Blitz flammte über dem Wald auf, gefolgt von einem gewaltigen Donner. Ich zog mich schnell aus und kroch zurück unter die Decke. Ich rechnete damit, dass Kiss mir schon bald Gesellschaft leisten würde, doch da irrte ich mich. Zu meinem Ärger hörte ich, dass sich das Gewitter abzuschwächen begann, ohne dass Kiss ein Bedürfnis nach maskulinem Schutz hätte erkennen lassen. Ich leerte die Flasche und schlief ein.

 

Ich erwachte von dem Gefühl, nicht länger allein zu sein.

Intensiv starrte ich in die völlige Dunkelheit, ohne jemanden zu entdecken. Pure Einbildung also.

Dann hörte ich ein leises Husten in der Nähe.

Ich erstarrte und blieb reglos liegen, den Blick auf die Quelle des Geräuschs gerichtet. Nachdem sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, trat eine männliche Gestalt vor dem grauen Hintergrund des Fensters hervor. Sie saß vornübergebeugt auf einem Stuhl und hatte das Gesicht in den Händen verborgen.

Ich hörte mich sagen: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Der Mann richtete sich abrupt auf, als hätte ich ihn aus tiefen Gedanken gerissen.

»Leider nein«, erwiderte er. »Weder du noch sonst jemand kann etwas für mich tun. Es ist zu spät.«

Ich erkannte die Stimme. Wenn ich zu Beginn auch ängstlich gewesen war, so war ich jetzt vollkommen starr vor Schreck. Unkontrolliert begann ich zu zittern.

»Du bist tot, meinst du?«, brachte ich stammelnd hervor.

Der Mann zog ein Päckchen Zigaretten hervor.

»Doch nicht tot genug, als dass ich mich nicht an dem rächen könnte, der mir Unrecht zugefügt hat.«

Die Worte brachten mich zum Weinen.

»Es tut mir so leid«, schluchzte ich, »dass ich dich geschlagen habe, als wir uns das letzte Mal sahen, dass ich dir Kiss weggenommen habe …«

Der Mann antwortete nicht. Er entzündete ein Streichholz. Der Lichtschein fiel auf sein Gesicht und wischte jeden Zweifel weg.

Es war Lennart.

Mit der Zigarette im Mundwinkel lächelte er boshaft. »Nun gut«, sagte er. »Ich weiß dein Geständnis zu schätzen. Das erspart uns eine Menge Zeit.«

Dann packte er mich an der Gurgel und drückte zu.

 

Die Klauen des Monsters

 

Es war mir nicht klar, dass ich geträumt hatte, bis ich Kiss in der Tür stehen sah. Sie hatte Kleid und Seidenstrümpfe abgelegt und stand in einem Korselett mit Büstenhalter aus gemustertem Brokatstoff vor mir. Das eng sitzende Kleidungsstück überließ der Fantasie nur wenig. Ich warf einen gierigen Blick auf ihre festen Brüste und die nackten Schenkel.

Kiss sah mich erschrocken an. »Bist du krank, Erik?«

Plötzlich bemerkte ich, dass ich meine Kehle umklammert hielt, als spürte ich immer noch den Schmerz von Lennarts Würgegriff. Ich blickte verwirrt umher. Das Zimmer war nicht länger stockdunkel wie noch vor wenigen Sekunden, und ich konnte die Morgensonne durch die Gardinen scheinen sehen. Der Stuhl, auf dem Lennarts Geist gesessen hatte, stand - mit meinen Kleidern über das Sitzkissen geworfen - in der Ecke.

»Nein, nein«, sagte ich bloß.

Es war nicht so, dass ich keine Lust hatte, über Lennart zu sprechen. Im Gegenteil. Einer der Gründe, aus denen ich mich auf diese Ferien gefreut hatte, war, dass wir uns gemeinsam erinnern konnten - doch eben daraus war nicht so viel geworden, nachdem Kiss das Thema vermieden hatte. Die Ursache war vermutlich, dass sie mehr über Lennart wusste, als sie verraten wollte.

Der Albtraum, den ich gerade durchlitten hatte, war ein ausgezeichneter Vorwand, sie gesprächig zu machen. Warum wurde ich im Traum ständig von Lennart heimgesucht? Und wieso verhielt er sich immer so unsympathisch? Mein Unterbewusstsein versuchte anscheinend, mir etwas zu erzählen. Ich war sicher, dass Kiss den Schlüssel zu den wiederkehrenden Albträumen in der Hand hielt. Doch eben jetzt war keine Zeit für Psychoanalyse. Offenbar war der Augenblick gekommen, in dem ich für das Holzfällen belohnt werden sollte. Ich lächelte verlegen.

»Ich habe mich gestern Abend schrecklich aufgeführt, Kiss …«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah mich streng an.

»Das kann man wohl sagen. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich geglaubt, dich quälte etwas.«

»Aber da hast du vollkommen recht, mein Kisschen: Da gibt es unbedingt etwas, das mich quält!«

Sie ließ sich sofort auf das Spielchen ein. »Na, hat man so was schon gehört«, sagte sie kopfschüttelnd. »Dann muss ich vermutlich eine entsprechende Kur finden.«

Sie wollte gerade zu mir ins Bett steigen, doch ich hielt sie auf.

»Einen Augenblick, mein Fräulein. Sie verstehen sicher, dass ich Ihnen erst ein paar Fragen im Hinblick auf Ihre Qualifikationen stellen muss.«

»Selbstverständlich. Es beruhigt Sie vielleicht zu hören, dass ich eine Szene in den >Schneeschuh-Banditen< gespielt habe. Als Krankenschwester. Außerdem hatte ich eine recht große Rolle in >Die Straße< …«

»Als Ärztin?«

»Nein, als Freudenmädchen.«

Ich warf die Bettdecke mit einer raschen Bewegung zur Seite. »Steigen Sie ein, Fräulein Lorenz. Nach meinen Begriffen sind Sie ungewöhnlich gut qualifiziert.«

Sobald sie im Bett war, versuchte ich, sie aus der eng sitzenden Hülle zu befreien. Nachdem ich eine ganze Weile daran herumgefummelt hatte, fing Kiss an zu kichern.

»Was ist denn so lustig?«, fragte ich gereizt.

Sie kämpfte tapfer gegen ihr Lachen an.

»Als deine persönliche Krankenschwester - und als Freudenmädchen - würde ich doch einen direkteren Vorstoß empfehlen …«

Sie hob ihren Hintern von der Matratze und zog sich das Korselett über die Taille. Sie trug kein Höschen darunter.

Wie hypnotisiert starrte ich auf die glänzenden Schamlippen. Schließlich sagte sie mit träger Stimme: »Nicht, dass ich was gegen das Angucken hätte. Aber sie taugen zu viel mehr, als bloß angeglotzt zu werden.«

Ich verlor keine Zeit, ihrer Aufforderung Folge zu leisten.

 

Hinterher lag ich verschwitzt und glücklich da und hielt Kiss in meinen Armen. Draußen vor dem Fenster schickte sich mein letzter Ferientag an, einen perfekten Abschluss mit strahlender Sonne, klarer Luft und feuchtem Gras zu bilden. Ich stand vor einem gar nicht mal so kleinen Dilemma. Ich hatte nichts dagegen, den Tag im Bett zu verbringen. Andererseits gab es mehr als nur mein Liebesleben, das zum Abschluss der Ferien einer Anregung bedurfte. Mein Körper fühlte sich wie ein überholter Motor an, Arme und Beine sehnten sich nach Gebirgswänden und Felsvorsprüngen.

»Wie war’s mit einem kleinen Frühstück?«, schlug ich vor.

Schlaftrunken schüttelte Kiss den Kopf. »Nein, danke. Ich muss ein bisschen schlafen. Ich hab die halbe Nacht wach gelegen. Mach inzwischen, was du möchtest.«

Ich zog mich an und ging in die Küche. Nachdem ich mir ein ordentliches Frühstück bereitet hatte, warf ich mir den Rucksack über die Schultern und lief in Pachtung Hauktjern. Es dauerte fünfundzwanzig Minuten, bis ich die Kletterwand mit den Bergpfaden verschiedener Schwierigkeitsgrade erreichte. Ich war außer Übung, wählte daher eine mittelschwere Strecke, zog mir die neuen Nagelschuhe an und machte mich an den Aufstieg.

Das Klettern wurde beschwerlicher, als ich erwartet hatte. Eine Trainingseinheit in den Felswänden am Hauktjern ist an sich keine große Leistung, bloß eine nützliche Übung für größere Herausforderungen. Ich war zu ungeduldig, um den nachmittäglichen Schatten abzuwarten, und kletterte in praller Sonne. Es war schwierig, mit verschwitzten Fingerspitzen Halt zu finden, auf halbem Weg nach oben stieß ich zu allem Überfluss auf einen Felsüberhang, den ich nicht zu passieren vermochte. Ursache war eine psychische Hemmschwelle, die ich noch nie hatte überwinden können.

Ich hob den rechten Fuß an und fand dreißig Zentimeter weiter oben guten Halt. Dann stellte ich fest, dass es unmöglich war, mit der rechten Hand woanders hinzugreifen, ohne den zweiten Fuß zu lösen. Sobald ich es versuchte, befand sich mein Körper nicht mehr im Gleichgewicht.

Die Technik besteht darin, das linke Bein lose unterhalb des Körpers hängen zu lassen, sodass sich der Schwerpunkt des Körpers auf einen Bereich direkt oberhalb des rechten Fußes verlagert. Dann wird es ganz einfach, sich nach einem anderen Haltepunkt auszustrecken, denn der Körper ist ausbalanciert. Es handelt sich um einen Standardkniff im Repertoire aller Bergsteiger, die meisten führen diese Technik automatisch aus, sie ist ein Teil des Muskelgedächtnisses.

Mehrere Minuten versuchte ich, mich innerlich aufzuraffen. Der Tag, an dem ich mein störendes Handicap überwinden sollte, war gekommen. Alles sei bereit, redete ich mir ein. Ich hatte gezeigt, dass ich eine norwegische Ausgabe des legendären Holzfällers Paul Bunyan war. Ich war mit einer hübschen Schauspielerin ins Bett gestiegen - und natürlich war ich auch im Stande, den Schwerpunkt des Körpers zu beeinflussen!

Ich stieß einen Schrei aus und schob den linken Fuß weg.

Unmittelbar darauf verlor ich das Gleichgewicht.

Mein Körper begann zu rotieren, und ich hatte den Eindruck, dass die Felswand sich immer stärker herüberneigte. Ich rutschte einen guten Meter ab, doch plötzlich konnte ich mit beiden Händen den Rand einer Felsspalte greifen. Mit pochendem Herzen blieb ich so hängen, bis meine Füße schließlich Halt fanden.

Mein Selbstbewusstsein war vollkommen dahin. Ich wagte weder hinauf- noch hinunterzuklettern. Ich war überzeugt, dass mein Sturz in die Tiefe nur verhindert werden könnte, indem ich in völliger Ruhe verharrte.

Schließlich begann ich langsam und umständlich mit dem Abstieg. Es dauerte eine Ewigkeit, und als ich wieder am Fuß der Felswand angelangt war, spielte ich mit dem Gedanken, die Nagelschuhe dorthin zu werfen, wo der Pfeffer wuchs. Niemals würde ein Gipfelstürmer aus mir werden, dachte ich.

Nach unzähligen Klettertouren führte ich mich immer noch wie ein Amateur auf.

 

Auf dem Rückweg verlief ich mich in den Felsspalten westlich des Hauktjerns. Nachdem ich mich lange durch sumpfige Tümpel und bis zu den Schenkeln reichendes Farnkraut gekämpft hatte, wurde mein Nervenkostüm immer dünner. Die Sonne stand tief, die Landschaft war wie verwandelt. Hier unten in der windstillen Luft summte es nur so vor lauter Insekten, und der Farnwald um mich herum schien mit jedem Schritt zu wachsen. Es war, wie durch eine der vorzeitlichen, auf Schautafeln gedruckten Landschaften zu wandern, die ich aus der Biologiestunde kannte: ein Sumpf aus der Zeit des Devon, wo riesige Libellen unbewegt über Gefäßpflanzen hingen und schuppige Panzerkröten den Kopf aus dem feuchten Unterholz streckten.

Meine Füße verfingen sich in Wurzeln und Pflanzenresten, ich ritzte mich an scharfen Dornen und fluchte laut und lange. Meine Kleider waren von Schweiß und Schlammwasser durchnässt, und mein Körper war von den Strapazen geschwächt. Plötzlich wurde mir klar, dass ich hier unten umkommen könnte.

Kaum war dieser Gedanke da, entdeckte ich einen schmalen Waldweg.

Ich hatte das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein. Ich folgte dem Weg vorbei an hohen Felsterrassen und Kiefern, bis er auf eine Lichtung führte. Natürlich. Hier in der Nähe hatte Fuhrmann Karsten Johansen im Winter das Geisterflugzeug gesehen.

Ich eilte weiter über steile Hügel und tiefe Abgründe voll tückischer Sumpflöcher und fand mich auf dem Bergrücken wieder, auf dem ich ein halbes Jahr zuvor mit Johansen gestanden hatte. Ich blickte hinunter auf den spiegelblanken Waldsee. Dann hob ich den Kopf und entdeckte Lorentsens Landhaus am entgegengesetzten Ufer des Sees.

Wenn Johansens Geschichte stimmte, hätte das mysteriöse Flugzeug vielleicht auf dem Solvann landen können.

Wahrscheinlich lag es an meinen strapazierten Nerven, ich weiß es nicht, aber Tatsache ist, dass mich diese Entdeckung in Panik versetzte. Ich bildete mir ein, dass Kiss in Gefahr schwebte, und tadelte mich, weil ich sie hier draußen in der Einöde zurückgelassen hatte. Die Pflanzenwildnis am Ufer war fast unmöglich zu überwinden, doch ich mobilisierte die letzten Kräfte und erreichte nach einer halben Stunde das Landhaus. Als ich zur Terrasse kam, sah ich, dass die Tür offen stand. Das musste natürlich nichts bedeuten, doch in meiner überhitzten Fantasie war dies der Beweis, dass meine schlimmsten Befürchtungen eingetreten waren.

Kiss war nicht im Kaminzimmer, auch nicht in einem der Schlafzimmer. Ich öffnete die Tür eines kleinen Zimmers im ersten Stock. Hinten im Raum lag das Badekabinett, das Herr Lorentsen hatte einbauen lassen, mit Abfluss im Zementboden und einer Dusche, die einen dünnen Strahl eiskalten, aus einer Tonne hierher geleiteten Regenwassers ausstieß.

Erleichtert atmete ich auf. Kiss stand hinter dem Duschvorhang und war damit beschäftigt, sich von Kopf bis Fuß abzuschrubben.

Vorsichtig schloss ich die Tür und schlich mich an den Vorhang heran. Kiss stand mit dem Rücken zu mir und seifte sich das Haar ein. Ihre Ohren waren anscheinend so voller Schaum, dass sie es nicht einmal gehört hätte, wenn die Tür eingetreten worden wäre.

Ich riss den Vorhang zur Seite. Ich hatte geplant, >Hände hoch!< zu rufen, um zu sehen, wie schreckhaft sie war.

Doch stattdessen war sie es, die mir den Schreck meines Lebens einjagte.

Sie sah aus wie ein Folteropfer, Rücken und Hinterteil waren von unzähligen Narben übersät. Zwar waren sie nicht neu, legten jedoch deutlich Zeugnis von den Schrecken ab, die Kiss durchlitten hatte. Nie zuvor hatte ich etwas gesehen, das mich mehr erschütterte: Das arme Mädchen war auf altmodische Art gegeißelt worden.

Kiss fuhr herum und sah mich zu Tode erschrocken an. Ich brachte kein Wort heraus. Langsam begann ich zu verstehen.

Wenn ich ihr ganzes Ich sähe, hatte sie gesagt, würde ich verstehen, dass sie überhaupt nicht schön sei.

 

Sie hatte auf die Narben angespielt.

Das Blut gefror mir in den Adern, als ich mich an eine andere Unheil verkündende Äußerung erinnerte: >Ich bin immer noch so, wie Lennart mich haben wollte<.

Das war unmöglich.

Der Mann, der die Peitsche auf ihr hatte tanzen lassen, konnte doch wohl nicht…?

Kiss hatte die Fassung wiedererlangt. Nachdem sie die Seife abgespült hatte, bat sie mich, ihr den Bademantel zu reichen. Dann wollte sie ein Handtuch. Erst, als sie es zu einem Turban um ihr feuchtes Haar knotete, beantwortete sie die Frage, die ich nie gestellt hatte.

»Du hast richtig geraten«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Lennart hatte eine Vorliebe für Sadismus. Nur eine seiner vielen abscheulichen Angewohnheiten.«

 

Ein Salon in der Giesebrechtstraße

 

Wir saßen unten im Kaminzimmer und redeten die ganze Nacht. Kiss enthüllte höchst schockierende Geheimnisse über Lennart. Was sie erzählte, passte so schlecht zu dem mir bekannten humorvollen und freundlichen Jungen, dass ich unwillkürlich ausrief: »Das kann Lennart nicht getan haben, Kiss. Es kommt mir vor, als ob du von jemand völlig anderem sprichst!«

Sie lächelte milde, so als schmerze es sie, meine glänzende Vorstellung von Lennart zu beschmutzen.

»Vermutlich könnten alle Frauen, die Lennarts Charme erlagen, ganz ähnliche Geschichten erzählen. Er war vollständig in der Gewalt seiner Triebe und betrachtete mich bloß als ein Mittel, um Befriedigung zu erlangen. Außerdem waren seine Liebesqualitäten völlig verpfuscht. Das einzige, was ihn erregte, war, mich zu erniedrigen.«

»Auf welche Weise?«

»Er tat alles, um mein Selbstbewusstsein zu zerstören. Es konnte zum Beispiel passieren, dass wir ein Abendessen mit gutem Wein geplant hatten, und dann klingelt das Telefon, kurz bevor wir uns an den Tisch setzen wollen. Ich höre, wie Lennart den Hörer abnimmt und begreife, dass er mit einer seiner Freundinnen spricht. Als Nächstes bläst er das ganze Abendessen ab, weil er unbedingt dieses Frauenzimmer treffen muss.«

»Aber warst du denn sicher, dass es sich um eine andere Frau handelte?«

»Ja, natürlich. Und anscheinend war das Ganze geplant. Als Lennart spät in der Nacht zurückkam, hatte ich das volle Gefühlsregister von Wutanfällen bis hin zu Selbstmitleid durchlaufen und befand mich in einem Zustand, in dem ich vor absolut allem Angst hatte. Angst vor der Macht, die Lennart über mich hatte. Angst davor, dass er mich psychisch zugrunde richtete…«

Kiss sah mir entschieden in die Augen, so als erwarte sie, dass ich es nicht verstehen würde: »Doch am meisten hatte ich Angst davor, dass Lennart mich verlassen könnte.«

Unschlüssig räusperte ich mich. »Also hast du ihn deshalb …«

»Die Peitsche benutzen lassen? Ja, eigentlich war das gar nicht so schlimm. Die gefühlsmäßige Misshandlung war weitaus schlimmer.«

Ich starrte sie verständnislos an. »Ich habe die Narben gesehen, Kiss. Es muss doch schrecklich gewesen sein, auf diese Weise bis aufs Blut geschlagen zu werden.«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Das sagst du, weil du ein Mann bist. Männer können körperliche Schmerzen nicht ertragen. Aber die Narben verschwinden mit der Zeit. Unsicherheit und Angst hingegen nicht.«

Ich grübelte lange vor mich hin, ohne den Sinn ihrer Worte zu verstehen. Kiss musste es mir angesehen haben, denn plötzlich sagte sie: »Das Komische ist, dass ich ihn geliebt habe, Erik. Tief und innig. In gewisser Weise tue ich das noch immer.«

Diese Bemerkung hätte sie sich sparen können. Sie erweckte in mir wieder das Gefühl, dass ich sie mit Lennart teilte.

Ich wechselte das Thema. »Wie war eigentlich Lennarts Verbindung zu Manteuffel?«

Sie blickte zu Boden. »Wie ich schon sagte, ich weiß nicht viel darüber.«

»Du hast doch erzählt, dass Lennart Manteuffel in Berlin kennengelernt hat. Wie ist es dazu gekommen?«

Kiss holte tief Luft. »Lennart besuchte öfter einen kleinen Salon in der Giesebrechtstraße, nicht weit vom Kurfürstendamm. Es handelte sich um so ein Etablissement, wo reiche und mächtige Männer in diskreter Umgebung mit Prostituierten verkehren konnten. Der Salon war ein paar Auserwählten vorbehalten, man brauchte ein Codewort, um eingelassen zu werden. Lennart mochte diesen Ort, weil er dort ganz ungehindert seinen Lüsten nachgehen konnte. Solange er dafür bezahlte.«

»Du meinst also, er kaufte Frauen, die bereit waren, sich auspeitschen zu lassen?« Sie nickte.

»Der Salon wurde von einer Frau geführt, Madame Keller. Doch es war nicht ihr Salon, der Besitzer war nämlich Hans von Manteuffel…«

Ich verstand, worauf sie hinauswollte.

»Und Manteuffel hat Lennart erpresst und gezwungen, für ihn zu arbeiten?«

»Ja, ich vermute, dass es so passiert ist.«

Ich dachte einen Augenblick nach.

»Und womit hat er ihn erpresst?«

Mit ernster Miene sah mich Kiss eine Weile an. »Ich kann dir nur erzählen, was ich für die Wahrheit halte, Erik. Beweisen kann ich es nicht. Aber so, wie ich es verstanden habe, hat Lennart einmal im Salon Keller ordentlich über die Stränge geschlagen. Es hatte zur Folge, dass ein Mädchen starb …«

»Was sagst du da?«

»Manteuffel verzichtete darauf, ihn anzuzeigen. Stattdessen verlangte er gewisse Gefälligkeiten.«

»Welcher Art denn?«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß auch nicht mehr als du. Lennart hat mir so gut wie nichts über seine Geschäfte mit Manteuffel erzählt. Und jetzt ist er tot. Wir können nur Vermutungen anstellen.«

Lange saßen wir schweigend da.

»Es tut mir leid, Erik«, sagte Kiss schließlich. »Du hättest das alles gar nicht zu erfahren brauchen. Ich weiß, wie sehr du Lennart geschätzt hast.«

»Das hast du doch sicher auch«, erwiderte ich leicht verschnupft. »Obwohl er dich so behandelt hat.«

Sie sah mir in die Augen. »Armer Erik. Ich hätte nicht sagen sollen, dass ich Lennart immer noch liebe. Zumindest hätte ich mich anders ausdrücken müssen. Lennart war - was soll ich sagen? - ein verführerischer und hübscher Dämon. Ich bin immer noch von ihm besessen, und das werde ich so lange sein, bis du ihn mir endgültig austreibst.«

Ich stand auf und trat zu ihr. »Ich verspreche, mein Bestes zu tun.«

Ich wollte sie umarmen, aber Kiss hielt mich ab. »Eins muss ich dir noch gestehen«, sagte sie. »Ich habe dich zum Narren gehalten.«

»Hast du? Inwiefern?«

Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht. »Ich habe dir weisgemacht, ich hätte meine Tage. Als ich merkte, wie sehr du dich darüber geärgert hast, hätte ich dir reinen Wein einschenken sollen.«

»Du hattest Angst, ich könnte die Narben sehen, meinst du? Denn dann hättest du die Wahrheit über Lennart sagen müssen …«

Sie nickte schuldbewusst.

»Aber ich verstehe es doch. Ich vergebe dir, Liebling.«

»Du hast noch nicht alles gehört.«

 

»Nein?«

Kiss sah zu mir auf.

»Wie man sich bettet, so liegt man«, sagte sie. »Ich hatte noch nie so großes Verlangen nach dir wie jetzt. Aber es geht nicht.«

Ich verstand, worauf sie hinauswollte. »Weil du jetzt tatsächlich deine Tage hast?«

Mit dem unglücklichsten Gesicht der Welt sah sie mich an. Ich war in der Tat auch nicht gerade begeistert. Doch nach einer Weile erkannte ich das Komische der Situation.

»Umso besser, dass ich in ein paar Stunden zur Arbeit muss«, sagte ich lachend. »Beim Gedanken an noch mehr Holzfällen wird mir übel.«

Kiss wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Es endete damit, dass sie beides gleichzeitig tat. Es war ein Anblick, den ich nie vergessen werde.

 

Dies ist eine der drei Erinnerungen, die mich noch immer heimsuchen. Die zweite ist die an ihre Reaktion, als ich ihr Angebot annahm, meine Ferien am Solvann zu verbringen. Sie legte ihre Wange an meine Brust und blickte verträumt in die Luft. Damals war ich sicher, dass sie uns beide für den Rest des Lebens vereint sah.

Das dritte Erinnerungsbild stammt von Kiss in dem schwarzen Chrysler.

Tot.

Mit erloschenen Augen, leichenblassem Gesicht und einem Messer in der Brust.

 

Eine Speed-Kippe im Römerhelm

 

Obwohl wir bis zum Sonnenaufgang redeten, erwähnten wir nie den Wermutspakt.

Erst im Bus auf dem Weg ins Zentrum wurde mir klar, dass die Bedingungen für seine Existenz weggefallen waren. Nachdem ich erfahren hatte, wer Lennart eigentlich gewesen war, brauchte ich mich nicht länger dafür zu schämen, dass ich ihn der Beteiligung an der Ermordung Rustads verdächtigt hatte. Nach Beendigung der Morgenkonferenz rief ich den Chefermittler der Polizei an und verabredete einen Termin.

Reidar Sveen begrüßte mich freundlich und stellte mir die junge Frau vor, die er zum Stenografieren hinzugezogen hatte. Es war nicht zu vermeiden, dass ihre Anwesenheit meine Aufgabe erschwerte. Ich hätte es wohl am liebsten gesehen, wenn die Informationen zwischen Sveen und mir geblieben wären, aber so arbeitet die Polizei nun einmal nicht.

Ich machte meine Aussage, zunächst unsicher nach Worten suchend, doch nach und nach begann Sveens berühmte Jovialität Wirkung zu zeigen. Stein Riverton hatte ihn einmal als freundlich, ruhig, nordisch blond und vertrauenerweckend beschrieben. Er hatte hinzugefügt, dass es Sveen als Typus an jedweder Eigenheit mangle und er daher für einen Kriminalschriftsteller völlig unergiebig sei. Zum Ausgleich wirke er jedoch überzeugend durch seine >völlige Zuverlässigkeit als Mensch<.

»Hans von Manteuffel wollte ein Miniaturporträt kaufen,

das sich im Besitz von Großhändler Rustad befand«, sagte ich. »Lennart war nur ein Mittelsmann, Manteuffel spricht kein Norwegisch, verstehen Sie?«

»Ja, gewiss. Sie sagen, er kommt aus Berlin«, warf Sveen ein. »Er ist demnach Kunstsammler?«

Ich wurde unsicher.

»Nein, Bordellbesitzer, wie ich es verstanden habe. Aber wir müssen wohl davon ausgehen, dass er sich auch mit anderen Formen der Kriminalität beschäftigt hat. Ein Anruf beim Polizeipräsidenten in Berlin wird die Frage sicher beantworten.«

»Vielen Dank für Ihren Rat«, sagte Sveen bar jeder Ironie. »Aber zurück zu Ihrer Theorie, den Mord betreffend …«

Ich nickte ernst. »Irgendwie muss es Lennart geschafft haben, den ganzen Handel zu verpfuschen. Vermutlich hat er Rustad Grund zu der Annahme gegeben, das Gemälde wäre besonders wertvoll, was dazu führte, dass Rustad den Preis immer weiter in die Höhe trieb. Am Ende verlor Manteuffel die Geduld und veranlasste Lennart, ein Treffen mit dem Großhändler zu vereinbaren.«

Ich sah unsicher zu Sveen. Er nickte und lächelte mich aufmunternd an.

»Lennart verabredete sich mit Rustad im Caß Kielland«, fuhr ich fort. »Doch es war nie beabsichtigt, dass Lennart die Verabredung einhalten sollte …«

Sveen unterbrach mich mit einer Handbewegung. »Es geht hier um den Tag des Mordes?«

»Ja.«

»Okay. Ich verstehe das nicht so ganz. Herr Winther verabredete sich mit Rustad, sagen Sie. Um über den Preis eines wertvollen Gemäldes zu verhandeln …«

Ich fiel ihm ins Wort. »Ich habe nicht gesagt, dass das Gemälde wertvoll war, sondern nur, dass Rustad es vermutete.

Ganz im Gegenteil, es würde höchstens ein paar Hunderter bringen.«

»Mit anderen Worten: wertlos.«

»Ja, für alle anderen, bis auf Manteuffel.«

»Manteuffel ist also ein Kunstsammler aus Berlin, der sich auf wertlose Gemälde spezialisiert hat?«

»Das habe ich nicht gesagt. Kunstsammler war Ihre Idee. Ich habe eigentlich gar keine Ahnung, was er macht, abgesehen davon, dass er ganz klar ein Verbrecher ist. Ein Schwerverbrecher!«

Sveen bat mich fortzufahren.

»Als Rustad zurück zu seinem Wagen kam, haben Manteuffel und Lennart auf ihn gewartet. Manteuffel hatte eine Pistole und zwang den Großhändler, sich auf den Beifahrersitz zu setzen. Er selbst kletterte auf die Rückbank, während Lennart hinter dem Lenkrad Platz nahm. Er bekam dann den Befehl, nach Ostre Aker zu fahren.«

Ich legte eine Kunstpause ein. Sveen sah mich wortlos an. Es war völlig still im Raum, nur das Ticken einer Uhr und das Gekritzel der Stenotypistin waren zu hören.

»Manteuffel befiehlt Lennart, an der abgebrannten Fabrik der Boston Blacking Company anzuhalten«, sagte ich.

»Moment mal«, unterbrach mich Sveen. »Bruff konnte keinerlei technische Spuren mit dieser Brandstelle in Verbindung bringen.«

»Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Streng genommen war der Tatort ja Rustads Dodge.«

Sveen lächelte gutmütig: »Der Großhändler hat den Wagen nie verlassen, nein. Wir sind bis jetzt zu demselben Ergebnis gekommen.«

Vom Kommentar des Chefermittlers ermuntert, fuhr ich fort. »Ja, Manteuffel bedroht Rustad von hinten mit der Waffe, nicht wahr? Dann befiehlt er dem Großhändler, das Gemälde rauszurücken. Rustad erwidert, dass er es zu Kunsthändler A. M. Vik gebracht hat, um sich Klarheit über den tatsächlichen Wert zu verschaffen. Die Quittung hat er in der Jackentasche, sagt er. Und dann passiert es vermutlich ganz plötzlich, ohne dass Lennart etwas vorausahnen konnte. Sobald Lennart für Manteuffel übersetzt, was Rustad gesagt hat, feuert Manteuffel dem Großhändler vier Mal in den Hinterkopf. Dann bittet er Lennart, nach der Quittung zu suchen …«

»Aber wozu sollte er Rustad erschießen, wenn dieser bereit war, die Quittung auszuhändigen?«

Darauf hatte ich keine Antwort. Ich dachte lange nach, bevor ich resigniert mit den Achseln zuckte.

Auf Sveens Stirn erschien eine kleine kummervolle Falte. »Aber Sie haben festgestellt, dass die Miniatur von geringem künstlerischen Wert ist?«

»Ja, doch sie ist alt. Gemalt um 1800 in Zentraleuropa. Sie stellt eine adlige Dame namens Eva Frank Matronita dar.«

»Und wo befindet sie sich jetzt?«

»Ich habe ein Foto des Gemäldes in der Zeitung veröffentlichen lassen. Ich hoffte, dass mir jemand Auskünfte geben könnte. Als sich niemand meldete, nahm ich die Miniatur mit nach Hause und legte sie in eine Gutenberg-Bibel. Die ist eigentlich ein Kästchen, aber von außen sieht es exakt wie eine alte Bibel aus. Verstehen Sie, was ich meine?«

Sveen nickte.

»Nun gut. Kennen Sie die Antwort auf die Frage, die uns alle beschäftigt? Warum wurde Rustads Leichnam in die Osloer Innenstadt gebracht?«

Ich grinste. »Ich glaube, ja. Als Lennart die Quittung in der Geldbörse des Toten gefunden hatte, fiel Manteuffel auf, dass sich fünfhundert Meter weiter auf einem Grundstück Arbeiter aufhielten.«

»Sie meinen die Arbeiter auf dem Arnesen-Grundstück? Ja, der Ermittlungsbeamte Andersen hat mit denen gesprochen, nachdem Sie uns den Tipp gegeben haben. Die waren an jenem Tag mit Sprengarbeiten beschäftigt, niemand hat irgendwelche Schüsse gehört. Die haben nicht einmal Rustads Wagen bemerkt.«

»Aber das konnte Manteuffel ja nicht wissen! Er nahm an, dass sie reagieren würden, und bat daher Lennart, den Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Lennart drückte Rustads Leichnam auf den Boden und fuhr zurück in den Trondhjemsvei. Irgendwo auf dem Weg zum Grev Wedels plass stieg Manteuffel aus dem Wagen und überließ es Lennart, sich der Leiche zu entledigen. Aber Lennart konnte keinen klaren Gedanken fassen, er dachte nur daran, pünktlich zur Nachmittagsprobe im Chat Noir zu erscheinen. Wenn ihm das gelänge, so glaubte er wohl, würde niemand auf die Idee kommen, dass er etwas mit dem Mord an Rustad zu tun hätte.«

»Aber dennoch kam Herr Winther eine Dreiviertelstunde zu spät zur Probe.«

»Das stimmt.«

Sveen betrachte die Stenotypistin mit unerschütterlicher Miene. Als sie fertig war, nahm er den Bericht und legte ihn oben auf einen großen Aktenstapel.

»Ja, ja«, seufzte er. »Das war Rustad-Mörder Nr. 81.«

 

Es war sicher verständlich, dass Chefermittler Sveen kein Interesse an Hans von Manteuffel zeigte. Immerhin hatte er achtzig weitere Verdächtige aus dem kleinkriminellen Milieu, das den Hintergrund für den Mord an Rustad bildete: Versicherungsbetrüger, Brandstifter, Tagelöhner, Pferdetrainer und Automechaniker. Ein deutscher Schwerverbrecher mit exzentrischem Kunstgeschmack erinnerte ihn wohl doch zu sehr an einen Hintertreppenroman. Ehrlich gesagt war ich erleichtert. Ich hatte meine Pflicht getan, ohne auch nur eine einzige Seele wissen zu lassen, dass ich das Ansehen eines verstorbenen Freundes in den Schmutz gezogen hatte. Jetzt war es ausschließlich eine Sache zwischen mir und meinem Gewissen.

Im August hatte >Willkommen im Grünen< Premiere. Es wurde augenblicklich zu einem Erfolg, die Kritiker sprachen von der besten norwegischen Revue aller Zeiten. Lalla war nie besser gewesen, Aase Bye beeindruckte durch ihr Debüt im Chat Noir. Steinar Joraandstad, der aus Stockholm nach Hause geholt worden war, um Lennart zu ersetzen, glänzte in den Szenen >Funktionalistisches Elternhaus< und >Mein Ideal<. Zumindest war dies die Meinung der Rezensenten, ich selbst habe die Vorstellung nie gesehen.

Schließlich rückte der Umzug von Arbeiderbladet in die neuen Räumlichkeiten näher. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Wochen, und neben den festen Pflichten in der Zeitung mussten alle Mitarbeiter mit anpacken, um das Archiv und die Buchhaltung im Gebäude des Folketeaters unterzubringen.

Im Oktober konnte ich endlich mein neues Ein-Personen-Büro mit eigenem Waschbecken und eigenem Garderobenschrank beziehen. Ich hatte sowohl Telefon als auch Haustelefon sowie eine versenkbare Remington-Maschine in der Schreibtischschublade. Das Büro lag in der fünften Etage, mit Blick über den Youngstorv. Nach gut und gerne dreizehn Monaten der Zwangsunterbringung in der Mollergate 12 war das, wie von der Rezeption in die Chefetage einer internationalen Firma aufzusteigen.

So oft es sich machen ließ, war ich mit Kiss zusammen.

Wir trafen uns weiterhin zweimal pro Woche in der Innenstadt, und jeden Samstagnachmittag nahm ich den Bus zum Solvann. Zu weiteren aufreibenden Szenen oder Enthüllungen kam es im Laufe des Herbstes nicht. Es schien, als wäre es mir gelungen, Lennart zu verdrängen.

Nach einer Weile ließ er mich in Frieden. Es konnten Tage vergehen, ohne dass mir angesichts seines tragischen Todes grauste. Auch die anderen schrecklichen Dinge, die im Januar geschehen waren, verblassten langsam. Ich bekam keinen Schock mehr, wenn ich auf der Straße einen Mann mit Spinnenfingern oder Boxernase entdeckte.

 

Eines Abends Anfang Dezember hatte ich wieder einmal die Wohnung für mich allein. Frau Weger war nach Genf gereist, um Weihnachten mit ihrer Schwägerin zu verbringen, und wollte erst eine Weile nach Neujahr zurückkehren.

Nach einem hektischen Tag in der Redaktion war ich erschöpft und warf mich auf die Chaiselongue. Ein paar Minuten später war ich beinahe eingeschlafen. Doch dann spürte ich, wie meine Nackenhaare sich sträubten.

Ein schwacher Duft nach Tabak hing im Zimmer.

Lautlos setzte ich mich auf. Mein Blick fiel auf den Aschenbecher.

Auf dem Boden des glänzenden Römerhelms lagen zwei Zigarettenkippen. Ich nahm eine heraus. Die Marke war Speed.

Leise schlich ich weiter, um einen Blick hinter die Vorhänge zu werfen: kein Bondi. Danach untersuchte ich die anderen Zimmer, doch das Ergebnis war dasselbe. Der geheimnisvolle Eindringling war hier gewesen und wieder gegangen.

Plötzlich wurde mir klar, weswegen er in die Wohnung eingebrochen war.

Ich lief ins Wohnzimmer und riss die Schublade auf, in der die falsche Gutenberg-Bibel lag. Mit zitternden Händen öffnete ich das Kästchen.

Das Porträt der Eva Frank Matronita war verschwunden!