TEIL I

 

Die vier am 10. Januar 1934 in Rustads Wagen abgegebenen Schüsse stellten kein isoliertes Verbrechen dar. Sie bildeten den Abschluss einer Transaktion oder einer Serie von Transaktionen. Das absolute Schweigen, das über dieser Untat ruht, die Tatsache, dass nichts durchgesickert ist, das auch nur den geringsten Hinweis auf den Mörder liefern könnte, zeigt, dass der Mord in einem Kreis geplant und durchgeführt worden ist, zu dem Oslos Feld-, Wald- und Wiesengauner keinen Zugang haben.

 

Fridtjof Knutsen, 1937

 

Prolog

 

Wäre der Brief nicht gewesen, den Mr. George mitbrachte, hätte ich das Ganze wohl für einen Albtraum gehalten. Es war der 3. April 1935, ein ungewöhnlich klarer Tag für den zeitigen Frühling. Ich hatte mich die Verandatreppe in der Arendalsgate hinunterschleppen können und saß mit einem Stapel Zeitungen auf dem Schoß vor der Sonnenwand. Mutter hatte einen Wohnzimmerstuhl für mich herausgebracht. Jetzt stand sie klein und eingesunken mit ihrer typischen Gretchenfrisur und der bestickten Simmentalschürze in der Tür, hielt eine Kanne in der Hand und kniff im grellen Licht die Augen zusammen.

»Schätzchen, möchtest du einen Schluck Kaffee?«

»Ja, bitte.«

Am Hang hinunter nach Myralokka lugten die ersten grünen Grasbüschel durch die verstaubte Schicht aus Vorjahrsgras, und Myrens Mekaniske Verksted hatte die Tore der Maschinenhalle für die Frühlingsluft geöffnet. Drinnen leuchtete eisblau ein Schweißapparat auf.

Mein Vater stand nicht mehr dort. Er lag seit dem Herbst 1929 auf dem Friedhof Nordre Gravlund. Zwei Jahre später war mein Bruder Gunnar gestorben. Um mich und Mutter war es danach still geworden, aber jetzt hatte sie immerhin für einige Monate mich pflegen können. Der Arzt im Krankenhaus in Kristiansand hatte mehrere komplizierte Brüche im linken Bein, eine kräftige Gehirnerschütterung und einen Bruch in der Hüftschale festgestellt, weshalb ich mich auf eine lange Zeit der Untätigkeit vorbereiten musste.

Ich weiß nicht mehr, wie ich im Krankenhaus gelandet war, aber eine Schwester erzählte, zwei ausländische Herren hätten mich mit einer Droschke gebracht. Sie hatten berichtet, mir sei an Bord der M/S Bosphorus ein böser Unfall passiert. Das Krankenhaus hatte sich mit dieser Erklärung offenbar zufriedengegeben.

In Wirklichkeit war ich an allem selbst schuld. Im Nachhinein kann ich nur froh sein, dass ich mit etwas über drei Monaten der Rekonvaleszenz davongekommen bin. Den meisten anderen, die mit der Sache zu tun hatten, war weitaus Übleres beschieden.

Rasch durchblätterte ich meinen Zeitungsstapel. Auch diesmal stand nichts drin. Das kam an sich nicht unerwartet. Abgesehen von einer kurzen Meldung gleich vor Weihnachten, wo es um die Verunglückten im Reddalskanal gegangen war, wurden die Ereignisse in der Presse nicht erwähnt. Die Todesfälle an der Südküste wurden als »Liebestragödie« abgetan. In Verbindung mit Sven Elvestads Tod brachten die Zeitungen natürlich lange Nachrufe, aber niemand fand es verdächtig, dass am Ende sein Herz den alkoholisierten Autor im Stich gelassen hatte.

»Hallo, Erik. Da sitzt du jetzt also in der Sonne. Du siehst besser aus.«

Ein kräftiger, jovialer Mann in einem zerknitterten Tweedanzug kam mit einer großen Papiertüte den Hang von Myralokka hoch. Es war Mr. George, mein Kollege von Arbeiderbladet und einer der tüchtigsten Kriminalreporter der Hauptstadt. Ohne auf Antwort zu warten ging er zum Beet am Ende des Gartens, fiel auf die Knie und entfernte verwelkte Blätter von den Pflanzen.

»Bei diesem Wetter können die Blumenzwiebeln früher gesetzt werden als sonst. Ich habe vom Youngstorg einige Krokusse und Zwerggladiolen mitgebracht. Schau her. Jetzt brauche ich einen kleinen Spaten.«

»Da hinten bei der Treppe liegt einer«, sagte ich. »Wie läuft es denn eigentlich in der Redaktion?«

»Ach, du weißt schon, das übliche Chaos …«

Mr. George streifte seine Jacke ab, krempelte die Hemdsärmel hoch und fing an, eine Reihe Löcher für die Zwiebeln zu graben. Sein Traum war es gewesen, Gärtner zu werden, aber ein gebrochenes Gewehr am Revers hatte ihn seine Lehrstelle gekostet. Für einen roten Antimilitaristen waren grüne Finger nicht genug. Also wurde es zu seinem Los im Leben, Sprachzwiebeln zu züchten, wie er oft sagte.

Er murmelte etwas, während er da auf den Knien lag, scheinbar zutiefst konzentriert auf die Gartenarbeit.

»Was hast du gesagt?«

»Ich habe gefragt, wie du derzeit schläfst.«

Als ich mit der Antwort zögerte, legte er den Spaten weg, richtete sich auf und musterte mich mit strengem Blick.

»Es bringt nichts, darüber nachzugrübeln, Erik«, sagte er.

Wie immer überraschte es mich, wie viel er verstanden hatte. Ohne, dass auch nur ein Wort gefallen wäre, begriff er, dass meine schlimmsten Verletzungen nicht die gebrochenen Knochen waren. In der ersten Zeit im Krankenhaus hatten die Erinnerungsbilder mich Tag und Nacht heimgesucht. Jetzt erschienen sie langsam als unwirklich. Vermutlich lag das daran, dass ich niemandem von meinen Erlebnissen erzählt hatte und auch nicht zur Verantwortung gezogen worden war, weder von Polizei noch von Presse oder Bekannten. Mr. Georges Kommentar löste in mir eine Lawine aus. Aufgestaute Trauer, Wut und Schuldgefühle wollten aus mir heraus. Ich erzählte ihm alles.

Er saß stumm auf der Verandatreppe und starrte den Boden an. Als ich endlich fertig war, steckte er sich die Pfeife an und räusperte sich.

»Das ist einfach viel zu groß, Erik«, sagte er seufzend. »Zu groß für dich und mich. Nein, du musst versuchen, einen Schlussstrich zu ziehen. Es wäre nicht das erste Mal. Es war viel schwieriger, mit dem Tod deines Bruders fertigzuwerden, aber du hast es doch auf irgendeine Weise geschafft.«

Als er sah, dass ich zögerte, fügte er hinzu: »Vielleicht könntest du es aufschreiben? Mir hat das oft geholfen, wenn ich starke Eindrücke verarbeiten musste.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Aber das wird nicht so einfach.«

Dann wechselte Mr. George das Gesprächsthema. »Wann kommt der Gips runter?«

»In zwei Wochen.«

»Ausgezeichnet.« Er wischte sich die Knie ab und zog seine Jacke an. »Dann erwarte ich dich im Büro. Wir haben einen Tipp über eine schwedische Bande bekommen, die angeblich in Ostnorwegen operiert. Sie scheinen die Nachfolge von Birger Bay und seinen Kumpanen anzutreten. Brandstiftung und Versicherungsschwindel in großem Stil. Da haben wir einiges zu tun.«

Er zeigte mit der Pfeife auf das Blumenbeet. »Die brauchen Wasser und Dünger.«

Als er schon zum Gartentor ging, blieb er plötzlich stehen.

»Ach, übrigens. Das ist vor zwei Tagen für dich gekommen.«

Mr. George zog einen Briefumschlag aus seiner Jackentasche und reichte ihn mir. Dann ging er den Hang zum Akerselv hinunter.

 

Der Umschlag aus dickem, cremefarbenen Papier stammte von der Anwaltskanzlei Schoenfeld, Hoenigsberg und Schoenfeld, 21 Fleet Street, London. Er war adressiert an »Mr. Erik Erfjord, Arbeiderbladet, Oslo.« Drinnen steckte ein weiterer Umschlag. Ich zog einen zehn Seiten langen Brief hervor, verfasst in elegantem Hochdeutsch und mit schwungvoller Handschrift.

 

Dr. Jaroslav Kubin Spiegelgasse 3 Zürich

 

Lieber Herr Erfiord,

wie Sie sicher verstanden haben, gehören die Ereignisse des vergangenen Jahres zu einem komplizierten Spiel, das sich über lange Zeit und in vielen Ländern entwickelt hat. Es ist Ihnen vielleicht ein Trost zu wissen, dass viele, wie Sie, davon gefangen wurden, ohne ihr Wissen oder ihre Schuld.

Was mich angeht, so liegt es am Bild der Matronita.

Als kleiner Junge flößte es mir ein Gefühl des Unbehagens ein. Es hing im Arbeitszimmer meines Vaters, zwischen Papst Pius IX und dem Heiligen Wenzel. Ich fand, es gehöre nicht in diese fromme Gesellschaft. Die Frau auf dem Bild trug ein tief ausgeschnittenes Kleid mit Spitzenkante und einen kleinen Strohhut mit einer Straußenfeder. Die großen Augen in dem konturenlosen Gesicht hatten einen herausfordernden Blick, und der kleine herzförmige Mund war zu einem ironischen Lächeln verzogen. Ich war überzeugt davon, dass das Bild eine berühmte Kurtisane darstellte, und konnte nicht begreifen, warum mein Vater es an der Wand hängen hatte. Als ich mich zu einer Frage erkühnte, antwortete er ungewöhnlich scharf: »Das ist eine fromme und vornehme Frau, die um ihres Glaubens willen verfolgt wurde.« Ich war nicht beruhigt. Das Gefühl des Unbehagens wollte sich nicht legen, und jedesmal, wenn ich ins Zimmer meines Vaters gerufen wurde, vermied ich es, den Blick auf das Bild zu richten.

In der Welt meiner Kindheit repräsentierte die Matronita etwas Fremdes und Bedrohliches. Im Nachhinein kann ich das als Vorahnung deuten.

Sie, Herr Erßord, der Sie aus der Arbeiterklasse stammen und im Schatten des Großen Krieges aufgewachsen sind, haben sicher keine Vorstellung davon, in welch vorhersagbarer Welt der Sohn eines erfolgreichen katholischen Textilfabrikanten damals lebte. Alles war fest und unerschütterlich, und mein Lebenslauf war von Anfang an festgelegt. In unseren Kreisen wurde erwartet, dass mindestens ein Kind einen Doktortitel tragen würde, und in meiner Geschwisterschar fiel die Wahl auf mich. Ich wurde deshalb auf das angesehene katholische Piaristengymnasium in unserer Stadt und später zum Studium der Jurisprudenz auf die Universität Wien geschickt.

Als ich in den Sommerferien des Jahres 1897 zu Hause in Prag weilte, wurde eines Tages an unserer Tür in der Havelchastraße geklingelt. Draußen standen zwei ältere Herren, die in ihren schwarzen böhmischen Bauerntrachten schwitzten. Sie stellten sich vor als Sendboten aus Horitz, der Heimatstadt meines Vaters, und wollten mit diesem sprechen. Mein Vater, Moritz Kubin, war zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren bettlägerig. Ich erklärte ihnen, in welch gebrechlichem Zustand er sich befand, aber die Männer bestanden auf einem kurzen Gespräch. Ich führte sie in sein Schlafzimmer. Sie verbeugten sich höflich und teilten ihm mit, sie seien gekommen, um die Matronita zu holen. Das von der Krankheit verheerte Gesicht meines Vaters wurde noch bleicher als sonst und er schickte mich aus dem Zimmer. Mit einem Gefühl der Erschütterung, auf das nichts in meinem kurzen und ereignislosen Leben mich vorbereitet hatte, lauschte ich dem Gespräch durch die Tür.

Was ich hörte, stellte meine Welt auf den Kopf. Nach Wien zurückgekehrt, trat ich aus der Kirche aus und gab die Jurisprudenz auf, um mich Philosophie und Literatur zu widmen. Zugleich durchsuchte ich alles vom Gothaer Adelsalmanach bis zu den böhmischen Kirchenbüchern nach der Wirklichkeit, deren Teil ich nunmehr war. Ich konnte damals nicht ahnen, dass diese mühselige Suche mich viele Jahre später von Angesicht zu Angesicht vor die Person führen sollte, die Sie so treffend mit dem Namen der »Spinnenmann« belegt haben …

 

Es begann in Vaterland

 

Zum ersten Mal sah ich ihn an einem grauen und tristen Wintertag vor fast fünfzehn Monaten. Ich kann das Gefühl des Unbehagens, das dieser Anblick mir einflößte, nicht vergessen. Er war ein großer magerer Mann mit Adlernase und ungewöhnlich hoher Stirn. Natürlich ahnte ich noch nichts von den Dimensionen, die die berechnende Bosheit dieses Mannes annehmen konnte, aber ich spürte sogleich das Unnatürliche, das Unmenschliche in seinem Wesen. Das kann an den vielen Anomalien seines Körperbaus gelegen haben, dem schmalen Kopf, den weiblichen Hüften, den Händen, die fast zu lang waren und deren Finger mich an Spinnenbeine erinnerten. Sofort taufte ich ihn den »Spinnenmann«, ohne zu ahnen, wie treffend dieser Spitzname war. Noch ehe das Jahr vorüber war, hatte sein mörderisches Netz ein Dutzend Opfer verschlungen. Und dabei zähle ich nur die offiziell registrierten Todesfälle.

Im Nachhinein sieht es so aus, als hätte das Ungeheuer sich den prosaischsten Tag des Kalenders für seinen Auftritt ausgesucht. Wie so oft hatte ich mir in einem der Cafés am Lilletorg, dem kleinen Platz am Rande des Stadtteils Vaterland, der zugleich der Markt der Hehler, Schnapsbrenner und Schwarzhändler ist, einen Fenstertisch gesucht. Meine Kollegen von der Hauptstadtpresse belegen den Lilletorg bereitwillig mit großen Worten und nennen ihn Oslos Antwort auf Whitechapel, Vieux Port oder Alexanderplatz. Diese Vergleiche sind nicht ganz vor der Hand zu weisen. Der Lilletorg mit seinem Hinterland aus Gassen und Gängen ist das Verbrecherviertel der Stadt, und Oslo kann mit Verbrechern in allen Kategorien und Größen prunken. Dennoch ist diese Umschreibung des Lilletorg wohl vor allem ein Versuch der Kriminalreporter, ihr Metier zu romantisieren. Man vergisst, dass Norwegens Hauptstadt streng genommen eine zu groß gewordene Kleinstadt und ihr Verbrechermilieu klein und durchsichtig ist. Die wichtigste Aufgabe für uns Presseleute ist es, die Kneipen zu kennen, in denen unsere Klientel sich vor und nach einem Coup trifft. Immer gibt es dort jemanden, der etwas weiß.

Ehrlich gesagt, hatte ich meinen Job als Kriminalreporter satt. Ich war einundzwanzig Jahre alt und ungeduldig. Auch wenn die Arbeit ein gewaltiges Tempo und ununterbrochenen Einsatz verlangte, wenn ich mit den Kollegen der anderen Zeitungen Schritt halten wollte, reichten die Herausforderungen dennoch nicht aus. Ich träumte oft davon, etwas anderes zu tun. In nüchterneren Augenblicken stellte ich mir vor, wie der Redakteur mich zum Chef der Sportseiten machte, sodass ich ab und zu einmal ins Ausland reisen könnte. Aber zumeist fabulierte ich davon, eine berühmte Bergsteigerexpedition zu leiten: »Erik Erfjord erobert die Eigernordwand!« Man braucht jedoch mehr als Talent, um es so weit zu bringen. Ein Arbeitersohn aus Sagene hatte nicht einmal Zugang zum etablierten Bergsteigermilieu. Zweimal hatten die Papasöhnchen des Norwegischen Gipfelclubs meinen Aufnahmeantrag bereits abgelehnt. Ich besäße nicht »die nötige Übung für gute Zusammenarbeit am Berg«!

Vermutlich war ich mit solchen Gedanken beschäftigt, als Straken mit lässigem Schritt das Cafe betrat. Er ging an mir vorbei ohne zu grüßen und drehte eine Runde durch das Lokal, um sich einen Überblick über die Gäste zu verschaffen. Das war natürlich nur Schauspielerei. Jens Arntsens Etablissement war Strakens zweites Zuhause, und er wusste sehr gut, dass die Vormittagskundschaft nur aus Leuten von Schlachthof und Viehmarkt bestand, die hereinschauten, um sich den beliebten Eintopf des Wirtes servieren zu lassen.

In den Abendstunden verwandelte sich Arntsens Restaurant jedoch vollständig. Dann machten redliche Arbeitsleute einen großen Bogen um das Cafe, während sich an den Tischen ausrangierte Straßenmädchen und Zuhälter drängten und natürlich auch deren Opfer, betrunkene Bauern und andere Zugereiste, die sich zu einer Studientour durch das viel besprochene Vaterland hatten verlocken lassen.

Straken nickte Arntsen, der dick und gemütlich hinter dem Tresen stand, schweigend zu. Dann kehrte er zu meinem Tisch zurück und ließ sich, beide Hände in die Jackentaschen gestopft, auf einen Stuhl fallen.

Er leckte sich die trockenen Lippen und sagte: »Ich habe etwas, das dich interessieren wird.«

»Ach?«

»Ja. Gerüchte behaupten, dass sich ein besonders wertvolles Gemälde in der Gegend befindet.«

»Gerüchte interessieren mich nicht, Straken. Ich brauche Information aus erster Hand, ich brauche Namen …«

Zum ersten Mal, seit ich das Lokal betreten hatte, erwiderte Straken meinen Blick. Er war groß und stark und hatte die blausten und unschuldigsten Augen, die ich in meinem Leben je gesehen habe. Er wurde deshalb für einen durch und durch ehrlichen Bauernjungen gehalten, was Straken wie gerufen kam. In Wirklichkeit war er in einem Verbrecherhaushalt in der Tomtegate aufgewachsen. Seine Eltern waren zahllose Male vorbestraft, und das galt auch für die meisten in Strakens riesiger Geschwisterschar. Er selbst hatte ebenfalls früh Bekanntschaft mit der Polizei geschlossen. Seine Spezialität waren Taschendiebstähle, seine Leidenschaft jedoch nicht. Straken war nämlich ein notorischer Denunziant und verpfiff immer wieder seine Kumpane. Ja, er denunzierte mit solcher Leidenschaft, dass er einmal sogar seinen eigenen Bruder verriet und ihm dreieinhalb Jahre im Zuchthaus Akershus verschaffte.

»Es ist von einem Ausländer die Rede«, sagte Straken jetzt selbstsicher. »Niemand weiß, worauf er aus sein könnte, aber er hat alle Gelegenheits- und Schrotthändler am Lilletorg aufgesucht. Jeden Tag schaut er bei sämtlichen Pfandleihern vorbei. Immer ist er mit einem Norweger zusammen, der für ihn das Wort führt.«

»Und keiner von den beiden scheint hier aus der Gegend zu kommen?«

»Nein, das ist doch gerade das Rätselhafte.«

»Das muss aber überhaupt nichts Rätselhaftes sein. Bestimmt ist bei dem Ausländer eingebrochen worden. Er findet sicher, dass die Polizei sich zu lange Zeit lässt mit dem Aufspüren des Diebesgutes. Alle wissen doch, dass neunzig Prozent davon hier auf dem Lilletorg umgesetzt werden.«

Ich setzte mich aufrecht. »Nein, jetzt muss ich wohl…«

Straken begriff, dass ich gehen wollte, und sagte rasch: »Was hast du denn da, Erfjord? Hast du dir neue Schuhe gekauft?«

Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich stellte feierlich den Karton, auf den er anspielte, auf den Tisch.

»Jetzt schau mal her … ich habe mir Nagelschuhe machen lassen. Sieht toll aus, oder?«

Ich zog die Stiefel aus dem Karton, damit Straken sie sich genauer ansehen könnte.

»Das sind meine alten Fettlederstiefel«, erklärte ich. »Und siehst du, ich habe mir von Schuhmacher Jensen Nägel an den Rand des Absatzes, in die Mitte und in den vorderen Rand schlagen lassen. Und jetzt bin ich sicher so gut beschuht wie die besten Bergsteiger der Welt.«

»Fantastisch. Und wann wirst du sie ausprobieren?«

Das war ein wunder Punkt. »Ich möchte es im Sommer am Ovre Sydstup versuchen, wenn ich noch andere finde. Es wäre Wahnsinn, da allein zu klettern.«

Arntsen hatte offenbar von Straken ein Zeichen erhalten. Er stellte ein mit einer Serviette bedecktes Tablett auf den Tisch. »Die Geschäfte laufen hervorragend, wie ich sehe. Da ist wohl eine Erfrischung angesagt?«

Ehe ich protestieren konnte, zog Straken ein Schnapsglas unter der Serviette hervor und leerte es auf einen Zug. Widerwillig packte ich meine Bergsteigerschuhe ein und schaute Arntsen verärgert an.

»Ich dachte, du hast kein Schankrecht für Schnaps, Jens?«

»Ach, das geht schon gut, solange niemand zwitschert.« Arntsen sah Straken vielsagend an. Dann wandte er sich mir zu. »Fünf Kronen bitte!«

Ich zog einen Zehner hervor. Arntsen legte den Geldschein auf den Tisch, während er in seiner Jackentasche nach Wechselgeld suchte. Es war nicht gerade die Stärke des guten Jens, mit der Zeit zu gehen. Er hatte es so nachhaltig versäumt, sein Restaurant renovieren zu lassen, dass noch immer vergilbte Fotografien von König Oscar und anderen Größen aus der Zeit der Union mit Schweden die verschossene Tapete schmückten. Eine Kasse hatte er auch nicht. Arntsen bewahrte den täglichen Umsatz immer in den Taschen seiner Alpakajacke auf.

Während ich also bezahlte, leerte Straken in aller Eile auch das zweite Schnapsglas. Ich wollte ihn gerade zur Rede stellen, als ich zufällig aus dem Fenster schaute.

Dort schritt der Spinnenmann durch die Schar der Schnapshändler und Hehler, groß und blond im schwarzen Anzug. Ich sah sofort, dass er einer anderen Welt angehörte. Es war so, als wäre in einem Goldfischteich ein Weißer Hai aufgetaucht.

Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter.

»Dreh dich um und sieh dir das an, Straken. Da geht ein kalter Teufel, das kannst du ihm ansehen.«

Der Mann überquerte die Brogate, ging weiter über den Lilletorg und kam im Abstand von wenigen Metern an Arntsens Lokal vorbei.

»Ist das der Ausländer, den du erwähnt hast?«, mutmaßte ich.

Staken dachte lange und ausgiebig nach.

»Ja«, sagte er endlich. »Ja, verflixt, das glaube ich wirklich!«

Ich packte meinen Schuhkarton und stürzte aus der Tür. Der Nachrichtenhund in mir witterte eine Story und jagte instinktiv los. Ich musste mehr darüber wissen, was dieser unheimliche Mann in Vaterland zu suchen hatte. Und ich musste schneller laufen, um ihm näherzukommen. Er hatte bereits die Ecke Karl XH-gate und Rodfyllgate erreicht.

Ich lief im Zickzack durch die Menge. Plötzlich hörte ich, dass jemand mich rief.

Ich blieb sofort stehen und schaute mich um. Ich sah kein bekanntes Gesicht, niemand in der Menge schien auf mich zuzukommen. Es musste Einbildung gewesen sein.

Abermals nahm ich die Beine in die Hand. Der Spinnenmann war verschwunden. Sicher war er die Rodfyllgate hinabgegangen.

Aber als ich um die Ecke bog, war er nicht zu sehen. Stattdessen zog etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Auf der anderen Seite der Kreuzung mit der Vognmannsgate stand ein schwarzer Chrysler am Bordstein. Ein junger Mann lehnte daran und rauchte eine Zigarette.

Dieser Mann war Lennart Winther.

 

Sofort hatte ich den Spinnenmann vergessen. Ich war so überwältigt von Wiedersehensfreude, dass es mir die Sprache verschlug. Dann rief ich durch den Verkehrslärm: »Du bist das doch, Lennart, ja? Bist du wieder nach Hause gezogen?«

Zuerst glaubte ich, er habe mich nicht gehört. Aber seine Haltung sagte mir etwas anderes. Es machte ihm große Mühe, lässig zu wirken, während er demonstrativ nach vorn schaute.

Wenn er mich demütigen wollte, dann war ihm das gelungen. Jugendfreund oder nicht. Seit Lennart Winther nach Berlin gegangen war, um an deutschen Filmen mitzuwirken, war er offenbar vornehm geworden. Und ich war wohl nur eine unangenehme Erinnerung an seine proletarische Vergangenheit.

Ich machte ihm die Sache aber nicht so leicht. »Siehst du nicht, dass ich es bin, Lennart?«

Doch er trieb sein Schauspiel weiter. Als ich einige Schritte auf die Kreuzung zuging, warf er seine Zigarette weg und setzte sich hinter das Lenkrad. Er schien wegfahren zu wollen, ohne mich auch nur eines einzigen Blickes gewürdigt zu haben.

»Lennart!«, rief ich verzweifelt. »So kannst du einen alten Freund doch nicht behandeln!«

Er ließ den Motor an. Gleich darauf kam der Spinnenmann aus einer Gasse auf der linken Seite gerannt und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Ich blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Lennart trat aufs Gaspedal. Das riesige Fahrzeug fuhr auf die Kreuzung hinaus und verschwand dann in hohem Tempo in Richtung Jernbanetorv.

 

Ich rieche Lunte

 

Seit Lennart mich aus der Affäre mit der »Wurstpelle« gerettet hatte, war er zu hundert Prozent ein loyaler Freund gewesen. Ich muss diese peinliche Geschichte wohl erwähnen, bei der es um eine ungewöhnlich enge und versnobte Hose geht, die meine wohlmeinende Mutter mir zum vierzehnten Geburtstag gekauft hatte. Sie konnte ja nicht ahnen, dass diese Hose meinen Schulalltag zur puren Hölle machen würde. Wo ich auch ging und stand, immer hatte ich eine Traube von Mitschülern hinter mir, die riefen: »Wurstpelle! Wurstpelle!«

Eines Tages mischte Lennart sich ein. Er war mir natürlich schon früher aufgefallen, ein hübscher, selbstsicherer Junge, ein wenig älter als ich und bei beiden Geschlechtern beliebt. Ich war überzeugt davon, dass er sich zu meinen Quälgeistern gesellen würde, und mochte meinen Augen kaum trauen, als er mich stattdessen aus dieser Demütigung rettete.

Es ist nämlich so, dass Lennart einen kleinen Schönheitsfehler hat. Der fällt den wenigsten auf, wenn sein hübsches Gesicht in Großaufnahme auf der Kinoleinwand auftaucht. Ich rede hier von seinen Ohren. Die haben das gleiche Format wie die von Clark Gable, stehen aber bei Weitem nicht so ab. Damals vor sieben Jahren sorgte er dafür, dass die gesamte Bjolsen-Schule sich für den Rest ihres Lebens an seine Kohlblätter erinnern würde. Er legte die Hände hinter die Ohren und klappte sie vor aller Augen vor, dabei sprang er auf und ab und schnitt die albernsten Grimassen. Der ganze Schulhof brüllte vor Lachen. Und Lennart rief triumphierend: »Warum kümmert ihr euch um einen Clown in einer engen Hose, wo ihr doch einen waschechten Affen zur Hand habt?«

Seit jenem Tag waren wir unzertrennlich. Mit Lennart an meiner Seite hätte ich vermutlich auch in Unterhosen über den Schulhof gehen können, ohne dass irgendwer das kommentiert hätte.

Ich habe ihn oft nach der Affengeschichte gefragt, aber niemals eine richtige Erklärung erhalten. Ich glaube allerdings, dass Lennart sich einbildete, ich trüge die Wurstpelle aus freien Stücken. Er hielt mich für einen Rebellen gegen das unerschütterliche Gebot der Jungs von Sagene, niemals anders zu sein als andere. In versnobter Westendkleidung umherzustolzieren war der unverzeihlichste Verstoß gegen diese Regeln. Mit solchem Aufruhr konnte Lennart sich identifizieren.

Später sollte er sich von uns allen distanzieren, indem er seine eigenen Wege ging.

 

Jetzt musste ich also erleben, dass eben dieser Lennart mich wie Luft behandelte! Es war ein Mysterium. Egal, wie sehr ich mir auch den Kopf zerbrach, ich fand keine Erklärung für sein Verhalten.

Ein Anfang war es, festzustellen, woher der Spinnenmann gekommen war. Aber ehe ich die Gasse betreten konnte, verspürte ich einen festen Griff um meinen Arm. Hinter mir stand der Ofenjunge und rang um Atem.

»Du hast es ja vielleicht eilig«, sagte er. »Ich habe dich gerufen, als du bei Arntsen rausgestürzt bist, aber du hast mich nicht gesehen …«

»Ja, ja«, erwiderte ich ungeduldig. »Hast du mir etwas auszurichten?«

Der Ofenjunge war das Faktotum bei Arbeiderbladet. Er döste meistens auf einem Stuhl beim Holzofen, bis der Redakteur entdeckte, dass er ihn brauchte. Dann wurde der Ofenjunge losgeschickt, ob er nun einen Tipp über eine Tabakbeschlagnahmung in der Tollbodgate überprüfen oder ein ausländisches Regierungsmitglied, das zu einem überraschenden Besuch in Norwegen eingetroffen war, interviewen sollte. In der Regel musste er sich aber mit weniger wichtigen Aufgaben begnügen und zum Beispiel Mitteilungen der Redaktion an Mitarbeiter im Feld weiterreichen. So auch an jenem Tag.

»Mr. George sagt, du sollst Bürochef Brodin über den Wilhelmshoi-Brand interviewen«, sagte er. »Und du hast nicht viel Zeit. Brodin erwartet dich in einer halben Stunde an der Brandstelle.«

Da konnte ich nur gehorchen. Ich reichte ihm den Karton mit den Nagelschuhen.

»Kannst du das mit zurück in die Redaktion nehmen? Leg es in meine Schublade, ehe irgendwer sich daran vergreift. Hörst du? Das gilt auch für dich!«

Sowie ich allein war, winkte ich einer Kraftdroschke, die die Vognmannsgate heraufkam. Aber ehe ich hineinspringen konnte, hörte ich den Ofenjungen wieder rufen. Er kam mit einem Briefumschlag in der ausgestreckten Hand zu mir zurückgelaufen.

»Für dich ist heute morgen ein Brief gekommen«, sagte er atemlos.

»Das hab ich in der Eile vergessen. Tut mir leid.«

»Alles klar«, sagte ich und steckte den Brief in meine Manteltasche. »Sei vorsichtig mit dem Karton. Ich will nicht, dass du den Inhalt in der ganzen Straße verstreust!«

 

Auf der Fahrt versank ich in Gedanken. Ich konnte mir die Episode mit Lennart einfach nicht aus dem Kopf schlagen.

Wir fuhren vorbei an Besserud, wo der eigentliche Hang zum Holmenkollen beginnt. Der Wagen wurde in den ersten Gang geschaltet, um die kurvenreiche und immer steilere Straße zu bewältigen. Meine Laune hob sich beim Anblick von Schnee und vereisten Pfützen zwischen den Tannen. Wie alle anderen in Oslo hatte ich es satt, auf den richtigen Winter zu warten. Der war bis Weihnachten ausgeblieben, und jetzt, nach einer knappen Woche des neuen Jahres, war der Boden noch immer schneefrei. Es gibt nichts Deprimierenderes als Winteroslo ohne Schnee! Es ist pechschwarz, wenn du aufstehst, du stapfst durch Matsch ins Büro, arbeitest den ganzen Tag bei Lampenlicht, und wenn du endlich fertig bist, tastest du dich hinaus in die Dunkelheit und fährst resigniert mit der Straßenbahn nach Hause. Es war eine dringend nötige Kur, hier heraufzukommen und die Jahreszeit so zu erleben, wie sie sein sollte.

Beim Holmenkollen-Sanatorium bog der Wagen auf den Keiser Wilhelmsvei ab und rollte durch eine perfekte Winterlandschaft mit hohen Schneewällen am Straßenrand. Auch wenn es ein Werktag war, wurden wir immer wieder von Skiläufern und Kindern auf Schlitten aufgehalten, die sich auf der Fahrbahn bewegten. Endlich hatten wir Wilhelmshoi erreicht und ich stieg die Auffahrt zu Fuß hoch.

Ich hatte Wilhelmshoi schon zwei- oder dreimal besucht und erinnerte mich an das Hotel dort. Es war ein stattliches Gebäude im Schweizer Stil mit überdachter Veranda gewesen. Jetzt gab es nur noch eine Grundmauer und zwei Schornsteine, die aus dem Aschehaufen ragten. Ich hatte bei diesem Anblick ein Dejá-vu-Gefühl. Ich weiß gar nicht mehr, wie off ich zusammen mit Polizisten vor solchen Ruinen gestanden habe. Es roch nicht nur nach Brand, sondern auch nach Brandstiftung. Solche Fälle waren off ebenso offensichtlich wie hoffnungslos, wenn sie aufgeklärt werden sollten. Die Versicherungsgesellschaft blieb mit dem Schwarzen Peter sitzen und musste die Täter auszahlen. Nur gut, dass die Branche einen Mann wie Bürochef Wilhelm Brodin hatte.

»Der ungekrönte Detektivkönig der norwegischen Versicherer« wurde er genannt, und er sah auch so aus. Wie er dastand, erinnerte Brodin an einen amerikanischen Polizisten. Eine breite, kräftige Gestalt, die Melone ein wenig zurückgeschoben, den Stock am Unterarm hängend und die Daumen in die Armlöcher der Weste verhakt. Er hatte mollige Wangen und ein Doppelkinn, und er redete im Tempo eines Maschinengewehrs.

»Von Arbeiderbladet?« Er hielt mir seine Pranke hin. »B-r-r-odin der Name!«

Ich sah mir die Brandstätte an. »Das war doch sicher ein Kurzschluss?«, fragte ich, um ihn ein wenig zu provozieren.

Brodin schnaubte. »Kurzschluss, du meine Güte! Wissen Sie, wie viele Brände ich schon untersucht habe, seit ich bei der Norsk Alliance arbeite? Nicht? An die hundert. Und wissen Sie, wie oft ich feststellen konnte, dass der Brand natürliche Ursachen hatte? In weniger als der Hälfte dieser Fälle.«

Ich zog meinen Notizblock hervor. »Und bei den anderen war es Brandstiftung?«

Brodin nickte. »Sie haben doch sicher von Birger Bay gehört? Ich nehme den Mund nicht zu voll, wenn ich behaupte, dass er allein für zwanzig, vielleicht dreißig dieser Brände die Verantwortung trägt.«

»Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, Brodin. Soviel ich weiß, ist Bay niemals wegen Brandstiftung bestraft worden.«

»Wie viele hierzulande sind das denn wohl? Außerdem verfügt Bay über einen Mitverschworenen mit juristischer Kompetenz. Rechtsanwalt Walter Fredriksen. Wenn man die Unterlagen der Ermittlungen durchsieht, stellt man fest, dass dieser Name immer wieder als Zeuge der Verteidigung oder Teilhaber an Bays Schwindelunternehmen auffaucht.«

»Sie bezeichnen Bay also als Betrüger. Darf ich das schreiben?«

Brodin pflanzte mir den Zeigefinger an die Brust. »Das dürfen Sie schreiben. Vor einem Jahr hat Bay das Gut Omberg in Asker für 170000 Kronen gekauft. Es wurde ihm überschrieben, nachdem er dem früheren Besitzer die Hälfte der Kaufsumme bezahlt hatte. Damit war das Gut brandbereit. Und es brannte. Bay konnte die Versicherungssumme von über 400000 einkassieren. Die Frage ist, wie er vorher überhaupt Omberg die 85000 Kronen bezahlen konnte? Bay lebt nämlich von der Fürsorge und haust in einer Wohnung, die im Monat 25 Kronen kostet.«

»Er kann das Geld doch geliehen haben?«

»Von Rechtsanwalt Fredriksen natürlich! Es wäre nicht das erste und auch nicht das letzte Mal.«

»Haben Sie den Verdacht, dass die beiden auch hinter dem Wilhelmshoi-Brand stecken?«

»Ich möchte das mal so sagen: Bay und seine Bande sind immer meine Hauptverdächtigen, wenn ein wertvolles Gebäude brennt. Aber sie sind nicht die einzigen. Oslo hat mehrere Verbrecherbanden, die gegen Bezahlung Feuer legen und andere Verbrechen ausführen. Die, die das planen, sitzen überall in der Stadt in respektablen Büros.«

»Dieses Bandenphänomen«, sagte ich. »Das stammt wohl noch aus der Schmugglerzeit?«

»Da haben Sie ganz recht. Die Schmugglerbanden haben sich nach und nach ebenso gut organisiert wie das legale Geschäftsleben, mit großen Einkäufen, eigenen Booten, umfassender Korrespondenz und wohlgeordneten Archiven. Sogar ein junger Mann wie Sie hat doch von Alfred Janus gehört?«

»Hatte nicht Janus in Hamburg eine Aktiengesellschaft gegründet, deren Spezialität der Alkoholschmuggel war?«

»Genau. Janus hatte sich mit Fredriksen und Bay zusammengetan und seinen norwegischen Kollegen so einiges über internationale Gangstertätigkeit beigebracht.«

»Und als das Alkoholverbot aufgehoben wurde …«

»… wandte die Mehrzahl der Schmuggler sich wieder ehrsamen bürgerlichen Tätigkeiten zu. Aber drei, vier Bandenführer in der Hauptstadt behielten ihre Organisation und fingen an, sich nach anderen Möglichkeiten umzusehen, um schnelles Geld zu verdienen.«

Brodin verstummte. Er zog seine Zigaretten hervor und warf einen Blick den Keiser Wilhelms vei hinunter. Nach einer Weile begriff ich, warum er plötzlich verstummt war. Ein alter viersitziger Amerikaner tauchte auf. Er war bis zu den Fenstern mit Schlamm bespritzt und vor dem Motor war eine Pappplatte angebracht, um den Kühler zu schützen.

»Mich laust der Affe!«, rief Brodin. »Was zum Teufel will der denn hier?«

»Wer denn?«

Brodin zog mich einige Schritte zurück. Aber ehe wir ein passendes Versteck gefunden hatten, stieg ein dicklicher Mann von etwa sechzig aus dem Wagen. Als er sah, dass sich jemand an der Brandstätte aufhielt, wurde er sichtlich unsicher. Er blieb lange bewegungslos stehen, am Ende schloss er dann die Autotür und lief auf uns zu.

Der Mann kam mir bekannt vor. Er war ziemlich groß, bleich und glattrasiert bis auf einen schmalen Schnurrbart. Der graue Hut war tief in die Stirn gezogen und sein Träger knöpfte sich im Gehen den dunklen Wintermantel zu. Plötzlich erkannte ich ihn.

»Aber das ist doch nur Großhändler Rustad«, flüsterte ich Brodin zu.

Brodin hätte sich fast an seinem Zigarettenrauch verschluckt. »Sie haben gut reden! Wenn ich Ihnen erzählte, mit wem Rustad sich abgibt, würden Sie Ihre Ansicht schnell ändern. Er ist nicht so unschuldig, wie er aussieht.«

»Können Sie das nicht ein wenig erklären?«

»Alles zu seiner Zeit, junger Mann. Wenn ich mich nicht irre, wird bald etwas passieren, wonach ganz Oslo über Großhändler Rustad reden wird. Und dann können Sie und ich eine Runde plaudern …«

Brodin verstummte. Rustad hatte jetzt die Brandstätte erreicht und nickte uns schweigend zu. Dann ging er zu einem Ofen, der halb in der Asche vergraben war.

»Hier gibt es für Sie nichts abzureißen«, rief Brodin ihm zu. »Offenbar hat jemand zu erzählen vergessen, dass Wilhelmshoi abgebrannt ist!«

Rustad winkte, ohne sich umzudrehen. Der Scherz war registriert worden. Rustad ging weiter durch die Ruine und suchte nach Gegenständen, die die Flammen vielleicht verschont hatten.

Brodin versetzte mir einen Rippenstoß. »Kommen Sie, wir verschwinden. Sie können mit mir in die Stadt fahren. Mein Wagen steht beim Kragdenkmal.«

Als wir von Holmenkolläsen in die Stadt fuhren, redete er wieder über Birger Bay. Ich machte mir nicht einmal die Mühe zu notieren. Ich hatte schon viel mehr auf meinem Block stehen, als ich in Druck geben könnte.

Plötzlich fiel mir ein, dass ich einen Brief in der Tasche stecken hatte. Ich öffnete ihn und las. Danach hatte ich das Gefühl, kein einziges Wort verstanden zu haben. Ich machte noch einen Versuch und war eigentlich nur noch verwirrter.

 

Lieber Erik!

Zur Feier meiner Rückkehr aus Berlin und meines Engagements in der neuen Lalla Carlsen-Revue im Chat Noir lade ich alte und neue Freunde zu einem Abend im Rode Molle ein. Da Du mein ältester Freund bist (und zweifellos der beste, den ich je gehabt habe), bist Du natürlich eingeladen. Lass alles stehen und liegen und komm heute Abend um acht. Kleidung: locker (aber keine Manchesterkniehosen und Bergsteigerschuhe!).

 

Dein Lennart

(bekannt aus zahllosen Nebenrollen in billigen deutschen Produktionen )

 

Heißer Jazz, kühle Damen

 

Es brauchte seine Zeit, das Brodin-Interview fertigzuschreiben. Ich hatte es für ausreichend gehalten, Bay und Rechtsanwalt Fredriksen nicht namentlich zu erwähnen, aber da hatte ich mich sehr geirrt. Ich wollte gerade zusammenpacken, als Mr. George kam und das Manuskript vor mich auf den Schreibtisch legte.

Er zeigte mit dem Mundstück seiner Stummelpfeife darauf. »Diese Brandtstifterbande, die du hier erwähnst - das ist die von Birger Bay, nicht wahr?«

»Ja.«

»Dann hat Bürochef Brodin dich falsch informiert. Bay hat schon seit fast einem Jahr keinen Brand mehr gelegt. Stattdessen hat er sein Schmugglerboot wieder zu Wasser gelassen. Es ist schon mehrmals draußen bei Herthas Flak beobachtet worden. Offenbar haben Bay und seine Leute ihr altes Geschäft wieder aufgenommen.«

Resigniert fuhr ich mir mit der Hand durch den Pony.

»Aber Svendsen, hör mal - mit Alkoholschmuggel ist doch nicht mehr viel Geld zu verdienen?«

»Dann geht es wohl um eine andere Art von Schmuggelware.«

»Na gut«, sagte ich. »Aber deshalb brauche ich das Interview ja wohl nicht zu ändern? Die Leser erfahren ja nicht, mit wem Bürochef Brodin den Wilhelmshoi-Brand in Verbindung bringt. Ich erwähne Bay doch nicht mit Namen.«

Mr. George musterte mich mit strengem Blick. Das war offenbar eine elende Entschuldigung dafür, dass ich in der Zeitung Halbwahrheiten weitertragen wollte.

»Streich alle Hinweise auf Bay«, sagte er kurz, »und denk daran, wenn du das nächste Mal mit Brodin zu tun hast. Der hat nichts anderes als Brandstiftung im Kopf.«

Dann verließ er das enge Büro, das wir im Moment mit der Gewerkschaftsredaktion teilten. Mr. George nahm mir gegenüber immer eine Schulmeisterrolle ein - und das durchaus zu Recht. Er hatte in mir das Talent für den Journalismus gewittert. Ich sah mich als blonden und blauäugigen Arbeiterjungen, der Fußball, Hintertreppenromane und Bergsteigen liebte. Kein Wunder, dass ich nach fast drei Jahren bei Arbeiderbladet immer noch eine Art Assistent für Mr. George war. Es half nichts, dass er sich alle Mühe gab, mich ins Licht zu rücken. Für die Leser gab es nur einen Menschen, der für die Kriminalberichte in Arbeiderbladet zuständig war, und das war Mr. George. Ich war nur angestellt, damit der Meister mehr Zeit zum Verfassen seiner virtuosen Artikel hatte.

Er blieb in der Tür stehen und musterte mich mit ernstem Blick durch seine starke Hornbrille.

»Der Faktor möchte mit dem Interview fertig werden, ehe er Feierabend macht. Ich richte aus, dass du es in einer halben Stunde bringst.«

Diese halbe Stunde verbrachte ich vor allem mit der Frage, ob Brodin eigentlich etwas gesagt hatte, das nichts mit Birger Bay zu tun hatte. Am Ende sog ich mir ein paar Gemeinplätze aus den Fingern und lief hoch zur Setzerei. Der Faktor wirkte enttäuscht von meiner Leistung. So enttäuscht, wie die Tabakhändler sein würden, wenn am Nachmittag des nächsten Tages der Bote von Arbeiderbladet käme. Der Vertriebschef sagte, die fragten immer, ob es in der Zeitung des Tages etwas von Mr. George gäbe. Leider nein. Morgen würden sie sich mit dem üblichen nichtssagenden Gefasel seines namenlosen Lehrlings zufriedengeben müssen.

 

Zu allem Überfluss kam ich auch verspätet zu Lennarts Heimkehrfest. Es war schon nach neun, als ich über einen der Kiesgänge auf die riesige Halle ganz hinten im Tivolipark zulief. Der Tanzpalast Rode Molle würde bald abgerissen werden, zusammen mit den anderen beliebten Vergnügungsstätten, die dem neuen Rathaus weichen müssten. Sie sollten »auf dem Altar des Fortschritts« geopfert werden, wie die bürgerliche Presse schrieb. Der war es natürlich wichtiger, dass die Geldsäcke sich amüsieren könnten, als dass die Arbeitsplätze erhalten blieben, die wir diesem Bauprojekt in Piperviken zu verdanken hatten. Aber ich muss zugeben, dass ich nicht so recht wusste, was ich vom Abriss des Rode Molle halten sollte. Alle in Oslo, ob aus dem Osten oder dem Westen, waren stolz auf »Skandinaviens größten und mondänsten Tanzpalast«. Im Rode Molle gab es um die riesige Tanzfläche mit den Musikpodien an beiden Enden über zweihundert Tische. Es gab blinkende Spiegelkugeln unter der Decke, es gab Glitzer und Glanz, muntere Menschen - und nicht zuletzt Jazz von bester Qualität, obwohl die Kapellen nur aus norwegischen Musikern bestanden.

Ich wurde gleich hinter den Glastüren vom Empfangschef angehalten.

»Ich gehöre zu Herrn Winthers Gesellschaft«, sagte ich und reichte ihm die Einladung.

»Sie finden Herrn Winther in der Silver Bar.« Er drehte sich um und wies mir die Richtung. »Danke, ich weiß, wo das ist.«

Gleich darauf stand ich mitten in einer Menge aus Männern im Anzug und Frauen im Abendkleid. Sofort sah ich Lennart.

Er redete mit einem jungen Mann, der die kurze weiße Jacke der Funny Boys mit dem schwarzen Revers trug. Die Hauskapelle legte eine wohlverdiente Pause ein, während am anderen Ende des Saales Schwartz’ Swingorkester aufspielte. Lennart sah mich.

»Aber da haben wir ja Erik!«, rief er. »Komm, du musst Oivind Bergh kennenlernen! Er misshandelt das Saxophon bei den Funny Boys schon, seit er seine Geigenstudien in Deutschland abbrechen musste.« Lennart gab vor, den Rest flüstern zu müssen: »Wegen Hitler!«

»Naja«, protestierte Bergh. »Die Geige war auch nicht gerade mein Instrument…«

Lennart achtete nicht auf ihn. »Bergh behauptet, dass jetzt jeglicher Musikunterricht im Marschrhythmus vor sich geht. Der Führer hat nämlich alle jüdischen Professoren von den Konservatorien gefeuert und durch Parteigenossen ersetzt.«

Er lachte schrill. Dann riss er sich zusammen, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der bleichen Stirn.

Ich drückte Bergh die Hand. »Und so hat der Führer dafür gesorgt, dass die degenerierte Negermusik< noch ein Talent in ihren Reihen aufnehmen konnte.«

Der Scherz fiel auf guten Boden. Ich hatte jedoch einen winzigen Beigeschmack auf der Zunge. Ich zitierte nämlich nicht Hitler, sondern den Vorsitzenden der Arbeiterjugend unseres Bezirks. Dem hatte ich mehrmals erklärt, dass gerade Jazz die Musik der Arbeiterjugend sein müsste, weil er die Freiheitssehnsucht eines unterdrückten Volkes zum Ausdruck bringt. Aber vergeblich.

Bergh bat um Entschuldigung. Er habe es eilig, müsse irgendwelche Noten holen, ehe er weiterspielen könne.

Lennart zog mich in die brechend volle Bar, wo alle wild durcheinander brüllten, um die Kapelle zu übertönen. Es war wie hinter der Bühne des Chat Noir, ich erkannte Lalla Carlsen, Per Kvist, Randi Heide Stehen, Berühmtheiten, mit denen Lennart auf der Bühne stehen würde, wenn im Herbst die Revue Premiere hätte. An einem Tisch saß allein eine blonde junge Frau. Sie schien es nicht weiter interessant zu finden, in einer so prominenten Gesellschaft gelandet zu sein.

»Meine Verlobte, Kiss Lorenz oder Kristin Lorentsen, wie sie eigentlich heißt.«

Fräulein Lorenz würdigte mich eines schlaffen Händedrucks. Ihre träumenden Augen nahmen mich kaum wahr. Sie hatte offenbar die Art träger Eleganz studiert, die gerade modern war.

»Setz dich, Erik!«, sagte Lennart. »Die erste Runde geht auf mich. Wäre dir ein Cognac mit Soda recht? Und du, Kiss, möchtest du noch einen Wermut?«

Beide gaben wir grünes Licht, und er begann, sich einen Weg zum Tresen zu bahnen.

Er hinterließ ein bedrückendes Schweigen. Ich hatte keine Erfahrungen mit Frauen von Fräulein Lorenz’ Kaliber und schon gar nicht damit, den passende Gesprächsbeginn zu finden. Ich bedauerte das. Es wurde nicht leichter dadurch, dass sie so ungeheuer anziehend war. Das soll nicht heißen, dass sie sich auf irgendeine Weise angeboten hätte. Statt einem dieser rückenfreien Abendkleider hatte sie ein eng sitzendes rotes Seidenkleid gewählt, das alle Haut zwischen Hals und Knöcheln bedeckte. Ihre Frisur war schlicht, mit einem tief sitzenden Scheitel auf der linken Seite und einer schräggezogenen roten Baskenmütze. Aber ihre schläfrigen Augen und ihr sinnlicher Mund waren eine ernsthafte Herausforderung für jeden Mann mit ehrlichen Absichten. Und das lange Kleid war eng genug, die kleinen festen Brüste und die schlanke Taille zu betonen.

Als die Zeit verging, ohne dass mir eine Bemerkung eingefallen wäre, verlor Fräulein Lorenz jegliches Interesse. Sie steckte sich eine Zigarette an und ließ ihren Blick durch das Lokal wandern. Ich nahm meinen Mut zusammen: »Bist du auch beim Film?«

»Ja.«

»In welchen Filmen hast du denn mitgemacht?«

»Keine, die Ihnen etwas sagen. Deutsche Filme.«

»Aber ich habe eine Menge deutsche Filme gesehen. >Der große Sprung<, >Sturm über dem Mont Blanc<, >Der Kampf ums Matterhorn< …«

Sie sah mich mit leerem Blick an.

»Du kennst doch das Genre? Luis Trenker und Leni Riefenstahl, Bergsteigerfilme …«

»Leni hat den >Bergfilm< an den Nagel gehängt. Sie arbeitet jetzt hinter der Kamera. Macht Dokumentarfilme für Goebbels.«

»Was du nicht sagst! Da hat sie sich ja wirklich an den Teufel verkauft! Was für eine Tragödie.« Sie zuckte mit den Schultern.

In diesem Moment brachte Lennart die Getränke. »Du langweilst Kiss mit Politik, wie ich höre? Ich habe das schon längst aufgegeben.«

Er beugte sich zu seiner Verlobten vor. »Darf ich ein paar Worte mit Erik wechseln, Liebes? Du weißt, zwei alte Kumpels, die sich seit drei, vier Jahren nicht gesehen haben. Wir brauchen einen Moment unter vier Augen, um wieder zueinander zu finden.«

»Aber was soll ich denn so lange machen?«

»Ich dachte, du hättest vielleicht Lust zu tanzen.«

»Allein?«

»Warum nicht?« Lennart nickte zu der übervölkerten Tanzfläche hinüber. »Du wirst nicht gerade Aufsehen erregen.«

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es war unmöglich, in den wogenden Tabakwolken und den gleitenden Lichtreflexen der rotierenden Spiegelkugeln einzelne Personen zu unterscheiden. Der Tanzboden war bedeckt von einem einzigen großen zappelnden und springenden Gewimmel.

Aber Kiss fühlte sich offenbar provoziert: »Und mein Wermut? Den habe ich doch gerade erst bekommen!«

»Wir passen schon auf, dass er nicht gestohlen wird«, sagte Lennart gereizt. »Also, beweg dich mal ein bisschen. Das hebt die Stimmung.«

Kiss riss das Wermutglas an sich und marschierte los, um sich einen Platz am Tresen zu suchen.

»Frauen«, sagte Lennart und lächelte, wie um sich zu entschuldigen. »Du musst wissen, wie du mit ihnen umzugehen hast.«

»Woher soll ich das schon wissen.«

»Dann schau zu und lern, alter Freund. Aber nicht darüber wollte ich mir dir reden.« Er schob seinen Stuhl näher an meinen. »Es geht um diese dumme Episode vorhin in der Rßdfyllgate.«

Ich nickte stumm. Lennart hatte einen schelmischen Gesichtsausdruck, als wolle er mich davon überzeugen, dass es sich bei dem Zwischenfall um ein lächerliches Missverständnis gehandelt habe. Dann wurde er plötzlich ernst. »Das muss natürlich sehr unangenehm für dich gewesen sein. Und ich kann das nur zutiefst bedauern. Aber für mich war es auch nicht komisch. Meinen besten Freund zu ignorieren, meine ich. Aber so kann es gehen, wenn man sich in den Dienst eines exzentrischen Menschen begibt.«

»Der Spinnenmann«, rutschte es mir heraus.

»Der Spinnenmann!« Lennart kicherte entzückt. »Ja, das muss ich ihm erzählen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe. Gott, was für ein blöder Name!«

»Wie heißt er denn wirklich?«

Lennart gab keine Antwort. Er spielte mit der Goldkette, die er um das Handgelenk trug. Es war offenbar ein Damenschmuck, ein niedliches kleines Teil aus zusammengeketteten Herzen. Ich ärgerte mich, ich hätte ihn zu gern gefragt, ob er im sündigen Berlin in geschlechtliche Verwirrung geraten sei. Aber die Kette war sicher nur ein Geschenk einer Bewunderin, etwas, das er in alle Ewigkeit zu tragen geschworen hatte. Besser, ich blieb bei unserem Thema.

»Also, wie heißt der Mann?«, fragte ich noch einmal.

»Gerade das habe ich geschworen, nicht zu verraten. Vor allem nicht solchen wie dir, mein Freund.«

»Solchen wie mir?«

Lennart sah wütend aus. »Ja, sicher, Journalisten! Der Mann ist ein deutscher Regisseur und hat vor, Hamsuns >Hunger< zu verfilmen. Deshalb habe ich mich bereit erklärt, ihn in Oslo herumzuführen. Damit er in Ruhe arbeiten kann, müssen wir uns bedeckt halten.«

»Aber du hättest mir doch wohl guten Tag sagen können, ohne ihm alles zu verderben?«

Lennart lachte laut. »Wie schon gesagt, der Mann ist Exzentriker. Er besteht während seines Aufenthaltes in Norwegen auf den strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Er hat einen engen Zeitplan und kann für die Presse keine einzige Minute erübrigen.«

Ich tat so, als sei ich mit dieser Erklärung zufrieden. Ich weiß eigentlich nicht, warum. Ich sah wohl, dass die Lage für Lennart unangenehm war, und wollte sie nicht noch verschlimmern.

 

Außerdem hatte er eine glaubwürdige Geschichte konstruiert, eine, bei der ich leicht mitspielen konnte. Aber für jemanden, der Lennart so gut kannte wie ich, bestand kein Zweifel daran, dass er log. Das hörte ich aus seinem Tonfall, sah ich in seinem flackernden Blick.

Aber der wichtigste Grund, warum ich den Mund hielt, war, dass ich eine schockierende Entdeckung gemacht hatte.

Anfangs hatte Lennart gewirkt wie früher - mit seinen scharf gezeichneten Zügen und den dunklen wogenden Haaren, die ihn zum Publikumsliebling gemacht hatten. Aber er war viel launischer als in meiner Erinnerung. Lachen und Wutausbrüche lagen nicht weit auseinander. Bei unserem Gespräch konnte ich auch seine Blässe nicht übersehen. Und als mein Verdacht erst geweckt war, registrierte ich ein vertrautes Symptom nach dem anderen. Ruhelose Hände, dunkle, aufgedunsene Ringe unter den Augen, winzige Pupillen.

Ich musste mit aller Kraft gegen meine Tränen ankämpfen.

 

Die Schüsse auf dem Atlantik

 

Gegen zwei Uhr am Mittwoch, dem 10. Januar, saß ich in einer Droschke und fuhr den Tvetenvei entlang. Es war ein rauer, unfreundlicher Tag ohne Schnee und mit einer roten Sonne, die trübe durch den Frostnebel leuchtete.

Es fiel mir sehr schwer, die Augen offen zu halten. In letzter Zeit hatte ich nicht viel geschlafen. Immer wieder hatte ich mich im Bett auf die andere Seite gewälzt, während die Erinnerungsbilder aufgetaucht waren: Lennart und ich, wie wir uns von der Straßenbahn über die Bentsebrücke ziehen ließen. Lennart und ich an einem frühen Junimorgen oben auf einem Fabrikschlot mit Aussicht über den Oslofjord. Lennart und ich nebeneinander oben auf Myralokka, während die Jungs aus Sagene ungeduldig auf die Prügelei mit dem Pöbel aus Torshov warteten.

Auch in dieser Nacht war Lennart mir immer wieder durch den Kopf gegangen. Erst gegen Morgen war ich in einen schweißnassen, unruhigen Schlaf gesunken.

Gegen elf Uhr rief die Zeitung an. Der Chef vom Dienst wollte mich unbedingt nach Oskroken bei Tveten schicken, um den Fuhrmann Karsten Johansen für die Zeitung des nächsten Tages zu interviewen. Johansen hatte sich bei der Redaktion gemeldet und behauptet, am späten Nachmittag gestern über Ostmarka ein geheimnisvolles Licht gesehen zu haben. Bei allem Aufsehen in der Presse, das das »fliegende X« erregt hatte, durften wir uns diesen Leckerbissen nicht entgehen lassen.

Die Spukflugzeuge, die zuerst unmittelbar vor dem Jahreswechsel in der Gegend von Umeä gesichtet worden waren, waren dann auch über ganz Västerbotten aufgetaucht. Polizei und Zoll wurden für die Jagd nach Schmugglerflugzeugen mobilisiert, danach wurden Verteidigungsminister Vennerström und der Chef der schwedischen Luftwaffe alarmiert. Bald wurde in der Presse lauthals über russische Spionageflieger und eine neue geheime Route zwischen Archangelsk und dem Atlantik spekuliert.

Danach stieg die Menge der Beobachtungen auf beunruhigende Weise. In Tärnaby und Haparanda wurde die Nachtruhe der Menschen immer wieder von diesen Geisterfliegern gestört. Am Bottnischen Meerbusen hatte die berühmte Rennfahrerin Greta Molander in ihrem Autoradio seltsame Signale empfangen. In Karesuando kam es zu Tumulten, als der Prophet Korpela seinen Anhängern mitteilte, der Geisterflieger sei Jesus selbst, auf dem Weg, die Gläubigen zu holen.

Bald griff die Seuche auf die andere Seite der Grenze über. Anfang Januar erblickten Menschen im norwegischen Vika ein klares Licht, das sich rasch in westliche Richtung bewegte, einige Tage danach sah eine Schiffsmannschaft ein geheimnisvolles Flugzeug, das den Nasraysund ansteuerte. Später gab es auch weiter im Süden derartige Beobachtungen. In der Umgebung von Oslo stand uns der Anblick eines Geisterfliegers jedoch noch bevor.

Ich war inzwischen so sehr zum Pressemann geworden, dass mir der Nachrichtenwert bewusst war, so groß Fuhrmann Johansens Fantasie auch sein mochte.

 

Die Stadt lag jetzt hinter uns, und wir fuhren durch das breite, trostlose Tal in Richtung Bryn durch eine Mischung aus Industriegebiet und Bauernland, wo große Fabrikkomplexe aus Stein und Beton sich als dunkle Silhouetten vor den winternackten Feldern abzeichneten. Nachdem wir am Kristiania Teglverk und der Zinkhvidtfabrik vorbeigekommen waren, bog die Droschke auf eine Seitenstraße ab. Die führte vorbei an einer Brandstätte, wo stinkender, brennender Rauchgestank meine Nase füllte. Dort musste eine chemische Fabrik gelegen haben. Der Wagen schaukelte die Straße weiter, die sich nun zu zwei gefrorenen Lehmspuren in einer weiten Ebene verengte. »Jetzt fahren wir falsch«, sagte ich.

Der Fahrer lächelte mir im Rückspiegel zu. »Wollten Sie nicht nach Oskroken?«

»Doch.«

»Ja, dann müssen wir über den Atlantik.«

»Den Atlantik?«

»Ja, so wird das hier genannt. Man kann sich nicht aufrecht halten, wenn der Wind weht, wissen Sie. Genau wie auf dem Atlantischen Ozean.«

Nach einigen hundert Metern umrundeten wir einen großen Schlackehaufen mit steifgefrorenen Disteln und Strandnelken. Vor uns lagen mitten auf der windigen Ebene drei zweistöckige Häuser aus unbemaltem Holz mit Laubengängen an den Längsseiten.

»Oskroken«, sagte der Fahrer.

Wir fuhren langsam auf den Hofplatz unter den Wäscheleinen, die kreuz und quer zwischen den Gebäuden gespannt waren.

Ich bezahlte den Fahrer und blieb mitten auf dem Hofplatz stehen. Oben in einem der Laubengänge beugte sich ein dreizehn oder vierzehn Jahre altes Mädchen über das Geländer und musterte mich mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen.

»Alma! Herkommen!«

Eine Frau mit einer karierten Schürze tauchte in einer Türöffnung auf. Aus der Wohnung hinter ihr strömten Dampf und der Geruch von gekochtem Kohl. Das Mädchen verschwand im Haus und die Tür wurde so heftig zugeknallt, dass die Hauswände bebten.

Ich drehte mich um und sah einen kleinen, untersetzten Mann von Ende fünfzig. Er kam aus einem der Häuser auf der anderen Hofseite auf mich zu, trug eine grüne Strickjacke und eine speckige Hose, die einst zu einem Anzug gehört hatte.

Eine Vorstellung war nicht nötig. Er schüttelte energisch meine Hand. »Schön, dass Sie so schnell gekommen sind. Dann können wir, ehe es dunkel wird, vielleicht die Stelle finden, wo ich das Flugzeug gesehen habe. Wir können meinen Wagen nehmen.«

Er zeigte auf einen alten Chevrolet-Lastwagen, der vor der Querseite des Hauses stand. Dann fügte er etwas unlogisch hinzu: »Aber kommen Sie zuerst herein. Ich habe schon Kaffee aufgesetzt.«

Die kleine Wohnung mit Küche, Stube und Schlafalkoven bildete einen scharfen Kontrast zu der trostlosen Umgebung draußen. Hier war alles ordentlich und sauber, und es duftete nach frisch gekochtem Kaffee. Rotkarierte Vorhänge und Blumentöpfe auf der Fensterbank zeugten von Frauenhand, aber Johansen war an diesem Tag offenbar allein zu Hause. Er deutete auf den Küchentisch, der mit Tassen, Untertassen und einer Schüssel voll Plätzchen gedeckt war.

»Bitte, greifen Sie zu.«

Johansen erwies sich weder als überspannt noch als fantasievoll. Als wir erst einmal saßen, hatte er es nicht eilig mit seinem Bericht über den Geisterflieger. Als treuer Leser von Arbeiderbladet wollte er zuerst alles über den Brand in der Redaktion hören, dazu über Redakteur Tranmaels Ansichten über die laufenden Verhandlungen im Randsfjord-Konflikt und über die öffentlichen Mittel für den Arbeitersport. Ich war durchgefroren und fühlte mich wegen meines Schlafmangels unwohl, aber der Kaffee, den er servierte, war stark und hielt mich so weit wach, dass ich alle Fragen geduldig beantworten konnte. Als sich im Laufe des Gesprächs herausstellte, dass ich für Georg Svendsen arbeitete, strahlte er.

»Der ist mit dem Vaterlandskönig ja vielleicht Schlitten gefahren!« Er lächelte hämisch und schlug sich mit der Faust in die Handfläche. »Ich habe selbst in einer dieser baufälligen Mietskasernen in der Rodfyllgate gewohnt, ich weiß, dass Mr. George ihm verpasst hat, was er verdient!«

Johansen stand auf und ging zum Herd, um neuen Kaffee zu holen. Ich wollte gerade die Gelegenheit nutzen und das Gespräch auf die Geisterflieger lenken, als draußen kurz hintereinander vier scharfe Schüsse ertönten.

»Haben Sie das gehört?«, rief ich.

Johansen ging zum Küchenfenster und zeigte hinaus.

»Da wird sicher hinten auf dem Arnesen-Grundstück gesprengt. Die Grundarbeiten für das neue Haus.«

Ich schaute hinaus und sah am Rand der Ebene an die fünfhundert Meter weiter nach Nordosten ein Baugrundstück.

»Nein«, sagte ich entschieden. »Das kam nicht von dort, das waren Schüsse.«

Johansen grinste mich über seine Kaffeetasse an. »Ja, Sie als Kriminalreporter müssen das wohl wissen.«

»Vielleicht irre ich mich ja doch«, murmelte ich leicht beschämt und überrascht, weil ich so sicher gewesen war. Ich schaute auf die Armbanduhr, stellte fest, dass es schon zwanzig nach zwei war, und erinnerte Johansen daran, dass er mir die Stelle zeigen wollte, wo er das geheimnisvolle Licht gesehen hatte.

 

Im Nachhinein kann ich nicht erklären, warum ich so sicher war, dass es sich um Schüsse gehandelt hatte. Vielleicht lag es an meiner Müdigkeit, vielleicht einfach nur an Wetter und Umgebung.

Auf jeden Fall wirkten die scharfen Schüsse in dem gefrorenen Tiefland auf mich bedrohlich und unheilschwanger.

 

War es Raubmord?

 

Die Jagd nach dem fliegenden X blieb wie erwartet ohne Ergebnisse.

Eine holprige Fahrt mit Johansens Lastwagen brachte uns über den Tvetenvei nach Osten und von dort weiter über einen schmalen Waldweg. Etwa zwanzig Minuten lang rollten wir langsam zwischen hohen Felsrücken und krummen Kiefern, bis der Weg eine Lichtung erreichte.

Johansen würgte den Motor ab. »Genau hier war es. Ich hatte da bei der Sägemühle Bretter geholt, dann sah ich das Licht.«

Er zeigte auf die Baumwipfel. »Ja, es wurde gerade dunkel«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu. »Aber es war ein Licht, das kann ich beschwören, mit einem zigarettenförmigen Schatten dahinter. Und dann hörte ich ein Brummen, ehe es hinter dem Hügelkamm dort verschwand.«

»Was befindet sich denn da?«

»Nur Wald, möchte ich meinen.«

»Na, dann sehen wir doch mal nach.«

Johansen öffnete die Autotür und stieg ein: »Ja, dann müssen wir die Beine in die Hand nehmen.«

Ich folge ihm zögernd. Ehrlich gesagt war ich unsicher, ob ich die richtigen Schuhe für diese Expedition trug. Nachdem ich mein einziges Paar Fettlederstiefel in Nagelschuhe verwandelt hatte, hatte ich heimlich das Schuhwerk des verstorbenen Gatten meiner Vermieterin ausgeliehen. Es hatte ihm offenbar sein Leben lang treu gedient, hatte Schuhschoner und Eisenbeschlage an der Spitze. Ich hoffte bei Gott, dass sie die Feuchtigkeit abhalten würden.

Wir brachten mehrere steile Hügelkuppen und tiefe Senken mit gefrorenen Moorlöchern hinter uns. Mehrmals brach ich durch das dünne Eis und trat ins Schlammwasser - meine Füße wurden natürlich triefnass. Endlich konnten wir den Hügelkamm hochklettern, den Johansen mir gezeigt hatte. Dahinter lag ein Waldsee, wo der Frostnebel dicht über dem dunklen Wasserspiegel hing. Über eine Stunde lang bahnten wir uns einen Weg durch die Wildnis am Ufer, im vergeblichen Versuch, dann Geisterflieger zu finden - oder überhaupt irgendetwas Außergewöhnliches -, bis die Dunkelheit es unmöglich machte weiterzusuchen.

 

Danach fuhr Johansen mich zum frisch errichteten Haus von Möbelhändler Agnaess in der Mollergate 12, wo Arbeiterbladet seit dem Brand im November des Vorjahres seine Redaktionsräume hatte. Ich erinnere mich voller Graus an diese Anfänge. Das Zeitungspersonal musste sich zwischen den Zimmerleuten einschleichen, die Wände aufstellten, zwischen den Klempnern, die Abzugstrichter für die Satzmaschinen einrichteten. Aber Gott sei Dank war alles fertig geworden. Die Büros waren eng und unpraktisch, aber nachdem die Handwerker verschwunden waren, senkte sich immerhin eine wohltuende Stille über die Räume.

An jenem Mittwochabend war es stiller denn je. Erschöpft und mit bis zu den Knien durchweichten Hosenbeinen ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen und hackte einige Spalten über Johansens »geheimnisvolle Beobachtungen« für die Donnerstagsausgabe in die Maschine. Es war acht Uhr, als ich endlich mein Zimmer in Grünerlokka aufsuchen konnte.

Damals hatte ich mich bei Frau Ragnhild Weger eingemietet. Sie ist eine Freundin meiner Mutter, aber das ist vielleicht ein wenig übertrieben. Trotz des klaren Klassenunterschiedes hatte die Witwe meine Mutter ins Herz geschlossen, weil sie »Schweizerin« war. Frau Weger war mit einem Schweizer Ingenieur von Spikerfabrikken verheiratet gewesen und hielt alles, was aus der Schweiz kam, für ebenso fein und kultiviert wie ihren seligen Gatten. Als ich mein erstes Interesse am Journalismus zeigte, hielt Frau Weger auch das für einen Beweis für meine nationalen Erbanlagen und bot mir sofort für billiges Geld ihr Mädchenzimmer an.

Frau Weger wohnte in einem vierstöckigen Mietshaus am Ende der Nedregate. Warum irgendwer es seinerzeit für sinnvoll befunden hatte, ein vornehmes Frognerhaus mit Stuckranken und verschnörkeltem schmiedeeisernen Tor ausgerechnet dort unten aufzustellen, ist mir ein Rätsel. Aber hier stand es nun in einsamer Majestät zwischen einer Klempnerwerkstatt und einem Schrottlagerplatz am Akerselv.

Frau Weger hatte sich mit dieser Lage nie ganz abfinden können. Deshalb hatte sie die Aussicht mit schweren tiefroten Samtportieren versperrt. Dahinter lebte sie in einer protzigen und übermöblierten Welt. Das Wohnzimmer erinnerte an einen Antiquitätenladen mit einer köstlichen Mischung aus mehrteiligen Rokokospiegeln, dickbäuchigen altdeutschen Piedestalen und bestickten Empiresesseln. Viele der zahllosen Gegenstände, mit denen sie im Laufe der Jahre ihre Wohnung gefüllt hatte, segelten unter falscher Flagge. Eine imponierende Gutenberg-Bibel entpuppte sich als Nähkasten. Ein funkelnder Römerhelm war ein Aschenbecher. Auf dem Büffet im Esszimmer stand ein Bierkrug in Gestalt eines Mönchs, der bei jedem Schluck geköpft wurde. Ein livrierter hölzerner Neger in der Diele diente als Schirmständer.

Damals war die ganze Herrlichkeit meiner Obhut übergeben worden, denn wie es sich für feinere Damen gehört, hatte Frau Weger eine Schwäche auf der Lunge und verbrachte lange Perioden im Sanatorium in Hakadal. Ich ließ mich auf die Biedermeierchaiselongue fallen und schlief sofort ein.

Hier lag ich noch immer, als um halb eins das Telefon in der Diele klingelte. Es war Holt, der Nachtredakteur. »Erfjord, rein in die Klamotten! Am Grev Wedels plass ist eine Leiche gefunden worden. Svendsen erwartet dich dort.«

Ehe ich mich fassen konnte, hatte er aufgelegt.

 

Der Grev Wedels plass liegt zurückgezogen am Südostende der Quadratur, unterhalb des Bankplass. Er ist ein Park mit Kastanien und Pyramidenpappeln und den ältesten Wasserbecken der Stadt, Straßen umgeben ihn auf drei Seiten. Wenn keine Veranstaltungen in den Räumlichkeiten der alten Loge stattfinden, wird die Umgebung geprägt von den Heuerkontoren der Reedereien, dem Lokal Sjofartskafeen sowie dem »Mottloch«, das seinen Namen angeblich trägt, weil der Platz in früheren Zeiten eine zur Bucht Bjorvika gelegene Sumpfgegend war. Jetzt passte der Name ebenso gut zur Kundschaft. Abgesehen von dem einen oder anderen taumelnden Nachtschwärmer war die Gegend um diese Zeit eigentlich menschenleer. Aber schon als die Droschke in die Kirkegate einbog, sah ich, dass diese Nacht eine Ausnahme bildete. Die ganze Straße war blockiert von abgestellten Droschken. Ich beschloss, das letzte Stück zu Fuß zurückzulegen.

Die Polizei hatte die ganze Südseite des Grev Wedel plass abgesperrt. Hinter der Sperre, schräg vor der Loge, stand ein großer Dodge älteren Jahrgangs. Das Verdeck und die Vorhänge der Seitenfenster waren geöffnet. Türen und Trittbrett waren schlammverschmiert, was andeutete, dass dieser Wagen weit und schnell gefahren war.

Neben dem Wagen stand Hauptkommissar Redvald Larssen, ins Gespräch vertieft mit Birkelund, dem Fingerabdruckexperten der Kriminalpolizei. Einige Meter weiter hatte Polizeifotograf Nygaard seine Kamera aufgestellt, um ein Übersichtsbild zu machen. Das blauweiße Licht der Magnesiumbomben ließ die nackten Bäume plötzliche Schatten über den Park werfen.

Vor der Sperre, etwa zwanzig Meter vom Auto entfernt, stand eine Gruppe von Presseleuten und schaulustigen Droschkenfahrern - vermutlich hatten Letztere die Zeitungen über den Leichenfund informiert. Ich entdeckte Mr. George. Schon auf diese Entfernung konnte ich sehen, dass er wütend war. Mit gespanntem Rücken und hochgezogenen Schultern beugte er sich über das Absperrseil und gestikulierte. Hinter dem Seil, Mr. George unmittelbar gegenüber, stand Kriminalrat Sverre Riisnass, hochaufgerichtet und äußerst sorgfältig gekleidet. Es war deutlich, dass ihm die ganze Situation überaus peinlich war. Als ich näher kam, hörte ich ihn sagen: »Die Presse wird wie immer von Hauptkommissar Larssen informiert werden. Darüber hinaus haben wir zum jetzigen Zeitpunkt …«

»Und was ist mit dem jungen Spund da?«, fiel Mr. George ihm wütend ins Wort. »Ist der vielleicht zum jetzigen Zeitpunkt in die polizeiliche Ermittlungsgruppe aufgenommen worden, oder was!«

Er fuchtelte mit dem Finger in Richtung Dodge.

Dessen eine Hintertür war jetzt geöffnet. Drinnen konnte ich einen Mann sehen, der gerade das Wageninnere durchsuchte. Ich kannte ihn von früher: Aftenpostens junger Kriminalreporter Steinar Medb0e.

Riisnaes schaute über unsere Köpfe hinweg und räusperte sich.

»Aftenposten ist aus diesem Anlass eine Sonderabmachung eingegangen, durch die …«

»Sonderabmachung! Blödsinn!«

Mr. Georges Blick fiel auf mich. »Merk dir das hier, Erfjord. Wenn es unseren Freunden von der Polizei so passt, lassen sie also ihre Lieblinge von der bürgerlichen Presse mitten auf den Tatort spazieren. So eine Schweinerei habe ich wirklich noch nie erlebt!«

Er zog die Oberlippe so straff, dass sein kurzer Schnurrbart sich wie eine Schuhbürste sträubte. »Das ist nicht nur ein grober Verstoß gegen alle Vereinbarungen zur Gleichbehandlung der Presse, sondern widerspricht auch grundlegenden Ermittlungsmethoden.«

Riisnaes nutzte die Gelegenheit dazu, das Gespräch abzubrechen. Er machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte zu einem Polizisten hinüber, der mit einem angeleinten Schäferhund näherkam.

Inzwischen hatte sich unsere Gruppe um weitere Schaulustige vergrößert. Es waren zumeist frisch eingetroffene Droschkenfahrer, dazu heruntergekommene Existenzen aus der Gegend, überraschenderweise waren aber auch andere in dieser eiskalten Winternacht unterwegs gewesen. Zwei ältere Damen im Pelz hatten sich auf Fridtjof Knutsen von Tidens Tegn gestürzt.

»Raubmord! War das wirklich Raubmord?«, riefen sie immer wieder entzückt.

Ein Stück weiter weg, in Richtung Skippergate, lehnte ein gut angezogener Herr mit Melone und schwarzem Mantel an einer Hausfassade und sah sich das Ganze mit einer Zigarette im Mundwinkel an.

Der Polizeifotograf war auf die Motorhaube geklettert, während zwei Polizisten das Verdeck herunterhoben. Die Umstehenden reckten den Hals. Auf dem Beifahrersitz konnte ich ein großes Bündel sehen, das in eine karierte Decke gehüllt war. Ein Polizist schlug die Decke vorsichtig zur Seite. Alle schnappten nach Luft, als eine dunkle Gestalt zu sehen war. Der Mann war offenbar leblos, sein rechter Arm ragte steif vom Körper ab und sein Kopf hing nach hinten links. Selbst hinter der Absperrung konnten wir sehen, dass die Nackenhaare von geronnenem Blut durchtränkt waren.

»Erschossen?«, flüsterte ich.

»Vermutlich«, brummte Mr. George. »Aber wer zum Henker kann …«

Ein Fotograf ließ eine Magnesiumbombe die Dunkelheit zerreißen, und ich konnte einen Blick auf das verdreckte Nummernschild werfen. »Die Autonummer ist A 3133.«

»Aha.« Mr. George schrieb die Nummer in seinen Notizblock, riss die Seite heraus und gab sie mir. »Da die Polizei nicht vorhat, uns behilflich zu sein, müssen wir uns die nötigen Auskünfte selbst verschaffen. Du musst Vang in der Verkehrsabteilung wecken.«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte ich.

Ich hatte soeben etwas anderes bemerkt: Vorn auf der Motorhaube war eine dicke Platte aus Pappe angebracht.

»Ich habe dieses Auto vor ein paar Tagen oben auf Willhelmshoi gesehen. Es gehört Großhändler Rustad - dem Schrotthändler.«

»Großartig, Erik.« Mr. George zog seine Uhr aus der Westentasche. »Dann haben wir einen Vorsprung. Er wohnt irgendwo draußen in Baerum, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Versuch, seine Familie und die Nachbarn zu interviewen.«

Hinter der Sperre tauchten immer neue Polizisten auf. An die fünfzehn, zwanzig von ihnen untersuchten jetzt die Umgebung des Autos. Als ich zu einer der Taxen lief, die in der Kirkegate standen, hörte ich, wie Riisnaes allen befahl, sich zurückzuziehen, um dem Polizeihund Platz zu machen. Zugleich schlug die Uhr im Postamt eins.

 

Der Einbruch in die Villa Borgheim

 

Ich ließ die Droschke an der Ecke des Westbahnhofs halten und lief zur Telefonzelle. Dem Telefonbuch nach wohnten Großhändler Edvard Rustad und Frau in der Villa Borgheim, Jenshaugvei 9 in Hovik.

Eine Viertelstunde darauf, gleich hinter Ramstadsletta, bogen wir vom Drammensvei ab und durchfuhren schmale, fast vollständig dunkle Wohnstraßen. Beim Jenshaugvei bezahlte ich den Fahrer und ging das letzte schmale Wegstück zu Fuß.

Nummer 9 war ein großes, gelb angestrichenes Holzhaus, das zwischen hohen Tannen zurückgezogen auf einer kleinen Felskuppe lag. Borgheim. Hinter dem Haus schlossen die Bäume sich zu engem dichten Wald zusammen. Auf der Türschwelle, erleuchtet von der Lampe über der Haustür, stand eine Gruppe von Menschen. Zwei davon waren Wachtmeister aus Asker und Basrum, die die Todesbotschaft zu überbringen hatten.

Sie stützten eine beleibte ältere Dame, bei der es sich um Frau Rustad handeln musste. Sie jammerte laut und sank immer mehr in sich zusammen, sodass es den Männern arge Probleme machte, sie auf den Beinen zu halten. Eine etwas jüngere Frau, die sich einen Morgenrock über ihr Nachthemd geworfen hatte, versuchte vergeblich, die Witwe zu trösten. Hinter ihr stand ein bleicher Mann und schien zu frösteln, während er die Haustür offen hielt. Dahinter sah ich eine Treppe, die in den ersten Stock führte. Bei der Villa Borgheim handelte es sich um ein Zweiparteienhaus. Die anderen waren vermutlich die Nachbarn des Ehepaars Rustad.

Die Nachbarn blieben vor der Tür stehen, als die Polizisten Frau Rustad langsam über den Gartenweg zum dort wartenden Streifenwagen führten. Als sie das Tor erreicht hatten, sprang ich vor.

»Frau Rustad!«

Sie schaute mich aus schmalen verweinten Augen überrascht an.

»Ist Ihr Mann bedroht worden?«

Als Antwort erhielt ich nur ein verzweifeltes Heulen.

»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«, fragte ich nun. »War er …«

»Jetzt reicht es aber!«, brummte der ältere Polizist. »Siehst du nicht, dass die gnädige Frau unter Schock steht!« Er wandte sich an seinen jüngeren Kollegen. »Krogsveen. Ich kümmere mich um Frau Rustad, und du sorgst solange dafür, dass dieser Zeitungsschmierer erst mal spazieren geht.«

Krogsveen packte mich am Arm und zog mich über den Weg. »Hier hast du nichts zu suchen, junger Mann! Du wartest auf die Verlautbarungen der Polizei wie alle anderen.«

Dann ging er zu seinem Kollegen zurück, der die Frau inzwischen ins Auto bugsiert hatte. Sie stiegen ein, ließen den Motor an und rollten langsam an mir vorbei auf den Jenshaugvei zu. Auf der Rückbank saß Frau Rustad und lehnte apathisch den Kopf ans Fenster.

Vor meinem inneren Auge sah ich ihren Mann auf dem Vordersitz des Dodge.

Mit dem Streifenwagen verschwand auch meine Aussicht auf eine exklusive Geschichte. Ich drehte mich erwartungsvoll zu dem Paar oben beim Haus um, aber die beiden wichen sofort erschrocken zurück und knallten die Tür zu. Gleich darauf sah ich, dass im ersten Stock Licht gemacht wurde. Ich machte nicht einmal den Versuch, anzuklopfen. Auch hier war nichts zu holen.

Die nächtliche Stille kehrte zurück in den Jenshaugvei. Ich blieb eine Weile unschlüssig in der Dunkelheit beim Gartentor stehen. Irgendetwas musste ich doch für die Morgenausgabe besorgen. Ich ging zur nächsten Laterne, zog meinen Notizblock hervor und kritzelte einige Eindrücke: Wachtmeister überbringen Todesnachricht, Frau Rustad unter Schock, die Nachbarn außer sich. Ich versuchte, mir noch mehr zu überlegen, aber es gelang mir nicht.

Ich stand vielleicht seit einer Viertelstunde da, als ein prickelndes Gefühl in der Schläfe mich veranlasste, den Blick zum Haus zu heben. Im ersten Stock waren jetzt alle Lampen gelöscht. Auch das Erdgeschoss war dunkel.

Oder …

Ich konnte die Querwand auf der Ostseite nicht sehen, aber plötzlich bemerkte ich einen schwachen Lichtstreifen, der über den Stamm einer zwei Meter vom Haus entfernt stehenden Tanne fiel. Konnte das Licht aus einem Fenster auf dieser Seite stammen? Als der Lichtstrahl ein weiteres Mal über den Baumstamm schweifte, war ich sicher.

Jemand lief im Erdgeschoss mit einer Taschenlampe umher! In Rustads Wohnung!

Vorsichtig schlich ich durch den Garten zur Rückseite des Grundstücks, das auf das Wäldchen zulief. Als ich mich unterhalb der Felskuppe zusammenkauerte, hatte ich einen guten Blick auf die Wohnzimmerfenster im ersten Stock. Kein Licht. Nach zwei Minuten bewegte ich mich vorsichtig die Felskuppe hoch und weiter bis zum Haus. Von dort folgte ich der Wand bis zur Hausecke und schaute vorn herum. Die Vorhänge hinter den Fenstern in der Querseite waren geschlossen. Drinnen war es dunkel.

Hatte ich mich geirrt?

Ich ging zu einem Fenster und sah sofort, dass die Haken nicht fest saßen. Natürlich konnte Frau Rustad vergessen haben, das Fenster zu schließen. Trotzdem war ich sicher, dass hier soeben jemand herausgestiegen war. Jemand, der eben noch mit einer Taschenlampe durch die Wohnung gelaufen war.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und konnte das Fenster aufstochern. Ohne zu überlegen setzte ich den Fuß auf ein an der Hauswand befestigtes Rosenspalier, zog mich auf die Fensterbank und ließ mich ins Zimmer gleiten.

Ein schwerer Geruch nach billigen Zigarren schlug mir entgegen. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, begriff ich, dass es sich um das Arbeitszimmer des Großhändlers handeln musste. Mitten im Zimmer stand ein großer Schreibtisch, ein wenig weiter weg ahnte ich einige Bücherregale und zwei tiefe Ledersessel an einem Kaffeetisch. Das Zimmer war offenbar durchsucht worden. Die Schreibtischschubladen waren herausgezogen, auf der Tischplatte lagen wild verstreut Papierstapel, Bücher waren aus dem Regal gerissen und ein großes Gemälde von der Wand genommen worden. Der Eindringling hatte irgendetwas gesucht.

Aber was?

Ich schloss die Vorhänge, knipste die Schreibtischlampe an und blätterte ziellos in den Papieren: Nur Quittungen und andere geschäftliche Unterlagen.

Ich wollte mir schon die Bücherregale ansehen, als ich von oben Geräusche hörte. Eine Tür wurde geöffnet, eine Männerstimme murmelte etwas, dann kamen schwere Schritte die Treppe herunter.

Die Nachbarn!

Voller Panik versuchte ich, die Schreibtischlampe auszuschalten, aber die kippte mit einem Knall um. Ich stürzte zum Fenster, riss die Vorhänge zur Seite und sprang hinaus. Ich fiel, kam aber gleich wieder auf die Beine, schlüpfte um die Hausecke und rutschte die Felskuppe hinunter in den Garten. Als ich auf das Wäldchen zurannte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass in Rustads Wohnzimmer die Lampen eingeschaltet wurden.

Es heißt ja oft, dass man Mond und Sterne sieht, wenn man zu Boden geschlagen wird. Bei mir war es eher wie eine Magnesiumbombe, die dicht vor meinen Augen gezündet wurde. Zugleich wurde alle Luft aus mir hinausgepresst. Eine Sekunde darauf lag ich hilflos auf dem Boden, festgehalten durch zwei schwere Knie auf meinen Oberarmen. Ich spürte, wie meine Jacke hochgeschoben und meine Brieftasche herausgezogen wurde. Ehe ich überhaupt wieder zu Atem gekommen war, war die Gestalt lautlos im Wald verschwunden.

Stöhnend kam ich auf alle Viere und kroch unter eine Tanne. Dort entdeckte ich meine Brieftasche, die mein Angreifer weggeworfen hatte. Ihm war es offenbar nicht um Geld gegangen. Banknoten und Münzen waren noch vorhanden. Mein Presseausweis dagegen war verschwunden. Ich kam mühsam auf die Beine, wischte mir Tannennadeln und Erde von den Kleidern und zog mich noch weiter vom Haus zurück. Es wäre doch möglich, dass Rustads Nachbarn herauskämen, um nach dem Einbrecher zu suchen.

Auf der anderen Seite des Wäldchens fand ich einen Weg, der zum Drammensvei hochführte. Gegen drei Uhr erreichte ich nach einer knappen halben Stunde Fußmarsch den Bahnhof Blommenholm. Hier saß ich dann fröstelnd und wartete auf den Vorortzug, der mich nach Oslo zurückbringen sollte.

 

Wer in aller Welt konnte dieser geheimnisvolle Einbrecher sein? Einer, der in Rustads Wohnung einbricht, nur wenige Minuten, nachdem die Polizei das Grundstück verlassen hat, und der mich mit einem einfachen Handgriff ausschaltet. Das war kein schlichter Dieb aus Vika - das stand jedenfalls fest.

Die Gestalt, die einige Sekunden lang im Wäldchen hinter Großhändler Rustads Haus über mir aufgeragt hatte, hatte etwas Sorgloses und Eiskaltes an sich gehabt.

 

Cafe Kielland

 

Es war Viertel nach sechs, als ich mit dem ersten Zug aus Blommenholm am Westbahnhof eintraf. Ich rief von der Telefonzelle aus bei der Zeitung an. Es waren noch fast zwei Stunden bis zur Morgenbesprechung, aber wie ich Mr. George kannte, saß er hinter dem Schreibtisch und schüttete sich nach einer in der Redaktion durchwachten Nacht mit dynamitstarkem Kaffee voll. Er meldete sich sofort.

»Morgen«, sagte ich. »Hier ist Erik.«

Mr. George kam sofort zur Sache: »Ich hatte früher mit dir gerechnet.«

Ich zögerte einige Sekunden: »Äh … es gibt nicht viel zu berichten«, sagte ich. »Die Polizei holte Frau Rustad gerade ab, als ich gekommen bin. Ich konnte ihr zwar noch zwei Fragen stellen, ehe sie ins Auto stieg, aber sie stand unter Schock.«

»Na gut. Dann besprechen wir unser weiteres Vorgehen, wenn du hier bist.«

»Ich habe eine Idee«, sagte ich rasch, für den Fall, dass er auflegen wollte. »Ich schwänze gleich die Besprechung und fahre sofort zu Rustads Lagerplatz in der Uelands gate. Ich würde gern mit seinen Angestellten sprechen. Vielleicht kann ich ja auch einen Blick ins Büro des Großhändlers werfen.«

Mr. George stimmte zu. Ich kaufte alle Morgenzeitungen am Kiosk und ging hinaus auf den leeren Droschkenhalteplatz. Ich überflog die Schlagzeilen. Aftenposten füllte natürlich die halbe Vorderseite mit dem Mord. Die Konkurrenz hatte es nicht einmal geschafft, den Fall überhaupt zu melden.

Der Fahrer setzte mich an der Kreuzung Uelands gate und Bjerregaards gate ab. Der Lagerplatz war umgeben von einem zwei Meter hohen Bretterzaun. Auf einem großen Schild über dem Tor konnte ich lesen: »Baumaterialien. Kohle. Koks. Holz. Edv. Rustad. Tel: 11147.«

Ich zog am Tor. Wie erwartet, war es verschlossen. Ich stieß einige Male energisch dagegen, in der Hoffnung, Aufmerksamkeit zu erregen. Die riesigen Türflügel bebten und ächzten, aber niemand dahinter reagierte.

Auf der anderen Seite der Bjerregaards gate lag das Cafe Kielland. Ich nahm an, dass sie gerade erst geöffnet hatten. Im Lokal saßen keine Gäste, obwohl die Serviererin Thermoskannen mit heißem Kaffee bereitgestellt und frisch geschmierte Brötchen auf das Tablett gelegt hatte. Ich fühlte mich arg versucht, bei beidem zuzugreifen, so weit mein Geld das erlaubte. Ich hatte fast zwölf Stunden nichts mehr zu mir genommen. Aber ich begnügte mich mit einem Käsebrötchen zu meiner Tasse Kaffee.

Nachdem ich bezahlt hatte, stellte ich mich der Kellnerin vor. »Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht etwas über den verstorbenen Edvard Rustad erzählen?«

Sie reagierte, als ob ich sie um die Erlaubnis gebeten hätte, sie auf der ersten Seite abzubilden. Das wäre an sich keine schlechte Idee gewesen. Sie war eine schlanke, hübsche Frau von Mitte zwanzig. Nachdem sie sich die Frisur und die Schürze glattgestrichen hatte, war sie bereit, sich für die »Zeitung zu äußern«. »Ja, Rustad, ja. Der war oft hier. Vorsichtiger Herr. Genügsam, das war er.«

»Sie meinen, wenn er ging, war er so nüchtern, wie er gekommen war?«

»Das wäre ja sonst noch schöner gewesen! Das hier ist ein alkoholfreies Cafe, wissen Sie!«

»War Rustad gestern Nachmittag hier?«

»Ja, sicher, klar war er das. Er kam um Viertel vor eins und ging um Viertel nach.«

»War er allein?«

»Ja. Er hat zum Kaffee zwei Brötchen gegessen.«

»Er hatte es nicht eilig, mit anderen Worten?«

»Nein, gar nicht. Er hat die Zeitung gelesen, nachdem er gegessen hatte, und sich dabei ganz schön viel Zeit gelassen.«

»Vielen Dank, Fräulein.«

»FRAU, müssen Sie schreiben. Frau Bergliot Jensen.«

Vermutlich würde sie enttäuscht werden. Ich glaubte kam, dass ich ihre Auskünfte verwenden könnte.

Ich setzte mich an einen Tisch und faltete Aftenposten auseinander. Ich musste nicht viele Zeilen lesen, bis ich vor Neid grün anlief. Kriminalrat Riisnaes hatte seinem jungen Freund von der Presse genug Auskünfte für ein ganzes Buch über den Mord gegeben. Als die Ermittler Rustad von der Decke befreit hatten, stellten sie fest, dass sein Hinterkopf blutverschmiert war. Am Mantelkragen des Leichnams fanden sie Gehirnsubstanz. Im Hinterkopf gab es vier Einschusslöcher, die gleich nebeneinander saßen, was bedeuten musste, dass er mit einer Automatikpistole erschossen worden war. Rustad habe in einer seltsam verdrehten Stellung gelegen, schrieb Medboe, als habe »der Fahrer ihn halbwegs zu Boden gedrückt, nachdem er von hinten erschossen worden war.«

Diese Beobachtung stimmte mich nachdenklich. Und bald ging mir auf, dass sie verschiedene Tathergänge ermöglichte. Neben Rustad mussten noch zwei Personen im Auto gewesen sein: eine hinter dem Lenkrad und eine auf der Rückbank neben Rustad. Allem Anschein nach hatte Letztere die tödlichen Schüsse abgegeben, und das konnte passiert sein, während das Auto sich bewegte. Der Mann hinter dem Lenkrad schob die Leiche auf den Boden, damit sie für Fußgänger und andere Autofahrer nicht zu sehen war. Erst nachdem die Täter am Grev Wedels plass gehalten hatten, deckten sie den Leichnam zu. Sie hatten sich Zeit gelassen, gründliche Arbeit zu verrichten. Die Ränder der Decke waren unter der Rücklehne festgestopft, schrieb Medb0e.

Ich las weiter. Die Polizei fand Rustads grauen Filzhut mit vier Löchern in der Krempe zwischen seinen Füßen. Ansonsten trug er einen Mantel und einen graugrünen Anzug und hatte verhältnismäßig neue Wanderstiefel an den Füßen. Seine Brieftasche, die nach Meinung der Polizei fünfhundert Kronen enthalten hatte, war verschwunden.

Dann kam ich zu einem Abschnitt, bei dem ich vom Stuhl hochfuhr. Zuverlässige Zeugen hatten Rustads Wagen am Vortag gegen zwei Uhr nachmittags beobachtet, als er auf dem Trondhjemsvei nach Norden fuhr. Zwanzig Minuten später hatten andere im Südosten des Bahnhofs Alnabru vier Schüsse gehört.

Es gab keinen Zweifel: Als die tödlichen Schüsse auf Edvard Rustad abgegeben worden waren, hatte ich weniger als einen Kilometer davon entfernt bei Fuhrmann Johansen Kaffee getrunken.

Das war ein großartiger Einstieg in die Mordreportage. Ich spielte mit dem Gedanken, zum Atlantik zurückzufahren, den Tatort zu suchen und mit Personen zu sprechen, die sich möglicherweise in der Nähe aufgehalten hatten. Aber die Gefahr, dass ich nur Ödland finden würde, war zu groß. Ich beschloss, erst Mr. Georges Meinung einzuholen.

In diesem Moment kam ein Junge in das Cafe gestürzt. Aus dem Gespräch mit Frau Jensen entnahm ich, dass er die Kaffeeflasche für die Lackiererwerkstatt im Maridalsvei holen sollte. Der Junge war spät dran. Als er aus der Tür jagte, wäre er fast mit einem hereinkommenden Gast zusammengestoßen. Ich erkannte den kleinen, beleibten Herrn mit der runden Brille und der wilden Mähne sofort. Es war Albin Eines.

Ich hatte diesen Mann noch nie leiden können. Sechs Jahre zuvor hatte Eines seine Stellung als Redakteur von Norges Kommunistblad gekündigt, um eine Stellung bei der faschistoiden Zeitschrift Tidens Tegn anzutreten und bei Fedrelandslaget Karriere zu machen. Um solche Leute sollte man natürlich einen großen Bogen machen, aber Eines war trotz allem eine Art Kollege, und einen Kollegen ignoriert man nicht, wenn er höflich grüßt.

»Können wir uns hierhin setzen?«

Ich nickte stumm, vermutlich aus Schock darüber, dass das Ego dieses Wichts so gewachsen war, dass er von sich im Pluralis Majestatis sprach. Irgendwann konnte ich mich dann zusammenreißen. »Willst du dir auch Rustads Grundstück ansehen?«, fragte ich.

»Da waren wir schon.«

»Aber da ist doch noch gar nicht geöffnet?«

Eines grinste: »Richtig«, sagte er. »Und was macht ein tüchtiger Journalist in einer solchen Lage? Na, er ruft Rustads Vorarbeiter an und bittet höflich um Einlass. Wenn das nichts hilft, bietet er eine kleine Entschädigung für die Mühe an.«

Und nun ließ eine gewaltige Stimme das Lokal erbeben. »Meine Kehle ist so trocken wie die eines Wüstenbeduinen, sage ich. JETZT BRAUCH ICH VERDAMMTE PEST EINEN COGNAC MIT SODA!«

Ich fuhr zur Tür herum, die Eines hatte offen stehen lassen. Dort fand ich die Erklärung dafür, dass er die ganze Zeit »wir« gesagt hatte. Die Türöffnung wurde gefüllt von einem ungewohnlich großen, dicken Mann in einem weiten, unförmigen Wintermantel. Er sah absolut lebensgefährlich aus mit seinem feuerroten Gesicht und der blauschwarzen Nase von annähernder Tapirgröße. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern waren riesig, aber dennoch musste er lange die Augen zusammenkneifen, ehe er uns entdeckt hatte. Er watschelte auf außergewöhnlich langen Beinen durch das Lokal und warf seinen Hut auf den Tisch.

»Ich brauche einen Cognac, sonst krepiere ich, Albin. Das ist kein Witz.«

»Das muss warten, Sven. Hier wird kein Alkohol verkauft.«

Ich hatte es geahnt, sowie ich ihn gesehen hatte. Ich hatte diesen Mann bewundert, so weit ich mich zurück erinnern konnte. Als Junge hatte ich die Kriminalromane verschlungen, die er unter dem Pseudonym Stein Riverton geschrieben hatte, und als ich bei Arbeiderbladet angefangen hatte, ging mir sehr rasch auf, dass er auch in dieser Branche der ungekrönte König war: Der Starjournalist Sven Elvestad. Endlich hatte ich die Gelegenheit, diese lebende Legende kennenzulernen.

Elvestad setzte sich den breitkrempigen Hut wieder auf den Kopf.

»Dann müssen wir uns ein richtiges Restaurant suchen.«

»Setz dich einen Moment, Sven«, sagte Eines. »Du möchtest doch sicher unseren jungen Kollegen begrüßen.«

Ob »jung« oder »Kollege« den Ausschlag gab, soll unerwähnt bleiben, aber Elvestad nahm ohne Widerspruch Platz. Er reichte mir die Hand und stellte sich vor.

»Erik Erfjord, Kriminalreporter von Arbeiderbladet.«

Elvestad zwinkerte Eines vielsagend zu.

»Da haben wir wohl Mr. Georges Geheimnis entlarvt, Albin. Der Grund, aus dem er immer allen anderen Kriminaljournalisten um Haupteslänge voran liegt, ist, dass dieser junge Herr seine Artikel schreibt, während George die ganze Woche damit verbringt, Oslos Unterwelt zu infiltrieren.«

Ich lächelte. »Ganz so läuft unsere Zusammenarbeit nicht. Svendsen gibt mir die Fälle, zu denen seine eigene Zeit nicht reicht.«

»Und jetzt hat Mr. George dich im Zusammenhang mit dem Fall Rustad hergeschickt?« Elvestad sah mich abwartend an.

Ich nickte. »Ich habe mit der Kellnerin hier gesprochen. Sie hat erzählt, dass Rustad gestern so gegen eins hier war. Und da schien er endlos viel Zeit zu haben.«

Die beiden Reporter von Tidens Tegn wechselten einen vielsagenden Blick. Dann fing Elvestad an, fieberhaft in seinen Manteltaschen zu wühlen.

Eines zwinkerte mir lustig zu. »Auf diesen Augenblick freue ich mich immer, wenn ich mit Sven Elvestad im Einsatz bin. Der größte Journalist in Norwegens Geschichte, aber noch nie hat er einen Notizblock besessen …«

Elvestad grunzte und setzte seine Suche fort.

»Er besteht darauf, Berühmtheiten im Grand zu interviewen, weil er dort auf die Servietten schreiben kann. Wenn es im Restaurant zwischendurch keine mehr gibt, muss er sich etwas aus den Fingern saugen, wenn er wieder in der Redaktion ist. Das sind dann übrigens immer die besten Interviews. Einmal hat er einen ganzen Riverton-Roman auf die Speisekarte geschrieben. Der Verlag hätte ihn fast unter dem Titel >Mord in Mayonnaise< herausgebracht.«

Elvestad gab auf.

»Gib mir ein paar Zettel, Albin«, bat er. »Aber hattest du nicht eben erst einen brauchbaren Zettel gefunden?«

»Den hab ich verloren! Meine Notizen sind spurlos verschwunden! Bestimmt hab ich ihn in Rustads Büro vergessen.«

Eines riss zwei Blätter aus seinem Block und reichte sie Elvestad, der zu Frau Jensen ging, um sich Informationen aus erster Hand zu holen. Ich erhob mich ebenfalls. Ich musste zur Stelle sein, wenn das Tor zu Rustads Grundstück geöffnet wurde.

»Ich muss los. Grüßen Sie Elvestad von mir und sagen Sie ihm, dass es ein Erlebnis war, ihn kennenzulernen.«

Ich betrat den Bürgersteig in dem Moment, in dem ein Bus in der Uelands gate hielt. Ein eleganter Herr stieg aus und faltete einen großen Stadtplan auseinander. Ich blieb stehen und sah ihn an. Der Mann war mittelgroß und kräftig, mit breitem Mund und Boxernase. Das einzige, was ihn vor der Schublade »nicht gerade hübsch« rettete, waren seine Augen, sie waren dunkel und tief und hatten Wimpern, um die jede Frau ihn beneidet hätte. Die Kleider wiesen auf Klasse hin, mit seinem Bowlerhut, dem gestreiften dunkelgrauen Anzug und dem schwarzen Mantel erinnerte er an einen Adligen.

Ich wollte ihm gerade meine Hilfe anbieten, um einige Worte mit ihm wechseln zu können, da faltete der Mann den Stadtplan zusammen und ging mit raschen Schritten durch die Straße weiter. Ich wollte ihm schon folgen, aber in diesem Moment wurde das Tor zum Lager von einem großen sehnigen Mann in Blaumann und Stiefeln geöffnet.

Er entpuppte sich als Harald Henriksrud, Rustads Vorarbeiter. Er hatte offenbar die Nase voll von neugierigen Reportern, ließ sich aber am Ende doch überreden, mich auf dem Grundstück herumzuführen.

Seltsamerweise stimmte es mich traurig, die Welt zu betrachten, die den Rahmen für den Rustadmord gebildet hatte, eine Welt aus rostigen Eisenhaufen, Bretterstapeln, Schlammpfützen und tiefen Räderspuren. Ein albernes Gefühl, natürlich. Als Kind waren Abbruchhäuser, Baulücken und düstere Hinterhöfe für mich die spannendsten Spielplätze gewesen, die ich mir hatte vorstellen können. Sie boten die Möglichkeit zu immer neuen Expeditionen und Abenteuern.

Ich musste zu all meinen Überredungskünsten greifen, ehe Henriksrud sich bereit erklärte, mir das Büro des Großhändlers zu zeigen. Es gab nicht viel zu sehen, ein Schuppen mit einem abgenutzten Sofa und einem kleinen Schreibtisch. An der Wand waren ein Telefon und Eisenhaken für Papiere befestigt. Rustad hatte seine Buchhaltung in der Brieftasche gehabt, erzählte Henriksrud, und dort hatte er auch die ganze Kasse aufbewahrt.

Danach gingen wir Rustads Bewegungen am Mordtag durch, während wir draußen im Schlamm standen, zwischen Stapeln aus Türen, Fenstern und Materialien aus abgerissenen Häusern. Ich warf zufällig einen Blick durch das offene Tor. Auf der anderen Seite der Uelands gate stand der Mann mit der Boxernase - ganz und gar bewegungslos, als wolle er mich auf seine Anwesenheit aufmerksam machen.

Henriksrud frage, ob ich mit den anderen Angestellten sprechen wollte.

»Nein, danke«, sagte ich eilig. »Auf Wiedersehen.« Als ich aus dem Tor kam, war kein Mensch zu sehen. Der Mann war verschwunden wie durch Zauberhand.

 

One-way Ride

 

Ich rief Mr. George aus dem Telefonhäuschen auf dem Alexander Kiellandsplass an. Wir verabredeten uns im Justisen, um die Informationen zu vergleichen, die wir, jeder für sich, zusammengebracht hatten.

Seine Wahl des Treffpunktes überraschte mich nicht. Wegen seiner Lage zwischen dem Justizministerium und der Hauptwache in der Mollergate 19 war das Restaurant an der Ecke Grubbegate und Ploens gate seit Jahren unter Journalisten und Polizisten überaus beliebt. Auch die Kriminalreporter kehrten im Justisen ein, um neue Informationen zu überprüfen, um nach Tipps zu fischen oder einfach mit Freunden bei Polizei und Rechtswesen ein Bier zu trinken. Es kam durchaus vor, alle Stars der Branche an einem Tisch sitzen zu sehen, wo sie darüber sprachen, wie ein Fall präsentiert werden sollte. Knutsen von Tidens Tegn, Kielland von Dagbladet und Jacobsen von Morgenbladet.

Auch der überaus mäßige Mr. George musste sich regelmäßig ins Justisen begeben, um mit seinen Konkurrenten Schritt halten zu können. Nachdem der Brand Setzerei und Klischeeanstalt von Arbeiderbladet zerstört hatte, machte er dieses biergeschwängerte Lokal mehr oder weniger zu seinem festen Arbeitsplatz. Das hatte seine natürliche Erklärung. In unseren provisorischen Redaktionsräumen waren die verschiedenen Abteilungen auf viel zu kleinem Raum zusammengepfercht. Oft hatten wir nur eine Tischkante als Arbeitsfläche. Unmittelbar vor Drucklegung der Zeitung wurde die Redaktion zu einer unvorstellbaren Hexenküche.

Als ich das Justisen betrat, war Mr. George der einzige Pressemann, der dort saß. An sich hatte ich mit so etwas gerechnet. Es war der Tag, an dem alle Osloer Zeitungen ihre Leute in alle Himmelsrichtungen aussandten, um exklusive Neuigkeiten über den Rustadmord aufzuspüren.

Mr. George saß auf einem der hohen roten Ledersofas auf der Seite zur Ploens gate. Er winkte mich zu sich, füllte zwei Gläser mit Malzbier und schob das eine über den Tisch.

»Wir nehmen uns zuerst die Zeitpunkte vor«, sagte er.

Ich griff zu meinen Notizen. »Rustad wird um kurz nach halb eins in seinem Büro angerufen. Niemand weiß, von wem. Seinem Vorarbeiter auf dem Lagerplatz, Henriksrud, sagt er nur, er müsse in fünf Minuten jemanden treffen. Danach fährt er auf die andere Straßenseite und hält in der Nähe des Cafe Kielland. Hier trinkt er Kaffee, isst Brötchen und liest danach Zeitung. Frau Jensen, die das Cafe betreibt, sagt, dass er um Viertel nach eins gegangen ist, vermutlich zu seinem Wagen. Danach …«

Mr. George fiel mir ins Wort. »Rustad war also mit diesem Mann im Cafe Kielland verabredet. Danach wollten sie mit dem Wagen des Großhändlers weiterfahren?«

»Sieht so aus. Aber der Mann hat nicht vor, zusammen mit Rustad gesehen zu werden. Ich vermute, er hat beim Auto auf den Großhändler gewartet. Es sieht außerdem so aus, als sei der Mann nicht allein gewesen.«

Mr. George nickte. »Das kann stimmen. Ein älterer Mann hat den Dodge A 3133 um fünf nach halb drei in Richtung Stadt über den Trondhjemsvei fahren sehen. Hinter dem Lenkrad saß ein junger Mann mit schwarzem Mantel und grauem Hut. Er war sehr blass. Neben dem Fahrer sah der Zeuge ein großes dunkles Bündel. Auf dem Rücksitz saß jemand, den der Zeuge nicht beschreiben konnte. Die beiden Verbrecher hatten Rustad vermutlich in Ostre Aker erschossen, wo es etliche einsame Stellen gibt, an denen der Mord begangen worden sein kann.«

Ich hatte dazu einen Trumpf im Ärmel: »Rustad wurde irgendwo im Süden von Alnabru ermordet«, sagte ich. »Und hör dir das an. Ich war in der Nähe, als es passiert ist. In Tveten.«

»Das kannst du nicht wissen.«

»Rustad wurde von vier Kugeln aus einer Automatikpistole getötet. Und ich habe ungefähr um Viertel nach zwei vier Schüsse gehört. Ungefähr so: Peng-Peng. Peng. Peng. Ich habe einen Vorschlag, Svendsen. Lass mich zurückfahren und den Tatort suchen.«

»Du weißt sehr gut, wie ich das sehe: Wenn du der Polizei ins Handwerk pfuschst, legst du dich mit deinem besten Freund und deiner Quelle an. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ein Kriminalreporter niemals den Detektiv spielen darf?«

Ich hatte natürlich gewusst, dass er so reagieren würde. Ich hörte mich wirklich an wie ein Anfänger. Nur gut, dass Mr. George nicht wusste, dass ich mich auch wie einer verhielt - und das immer häufiger. Gott weiß, warum. Vielleicht versuchte ich unbewusst, Mr. George herauszufordern? Oder vielleicht lag es daran, dass ich die Kriminalberichterstattung satt hatte?

»Aftenposten schreibt, Zeugen beim Bahnhof Alnabru hätten der Polizei von den Schüssen erzählt«, sagte ich kleinlaut. »Die Gegend ist bestimmt schon durchsucht worden.«

Aber das versetzte Mr. George nur in noch üblere Laune.

»Erwähne diese Reportage nicht vor meinen Ohren«, sagte er.

»Tut mir leid«, sagte ich.

Mr. George beruhigte sich. »Du hast sie ja nicht geschrieben.«

Er ließ sich zurücksinken und fing an, seine Pfeife zu stopfen. »Na, Erik. Wie siehst du diesen Fall nach allem, was wir bisher wissen?«

»Ich glaube wie Medboe, dass es ein Raubmord war. Die beiden Männer haben Rustad vermutlich eingeredet, sie hätten eine Fabrik, die abgerissen werden soll. Als sie dort ankommen, schießen sie ihm in den Hinterkopf und stehlen seine Brieftasche.«

»Du glaubst also, dass es bei dem Mord um Geld ging?«

Ich nickte. »Aber die Mörder haben bestimmt mit einer größeren Beute gerechnet als fünfhundert Kronen. Henriksrud hat erzählt, dass Rustad immer dicke Notenbündel in seiner Brieftasche hatte.«

Mr. George zündete seine Stummelpfeife an.

»Aber warum haben die Täter Rustads Uhr in seiner Westentasche liegen lassen?«

»Haben sie das getan? Na, die haben sie in der Eile sicher übersehen, stelle ich mir vor.«

»Für mich sieht es nicht so aus, als ob die Mörder es sonderlich eilig hatten. Wir haben doch gesehen, dass sie ihn sorgfältig in die Decke gewickelt haben. Und sie haben sich sogar die Zeit gelassen, die Decke hinter seinem Rücken festzustopfen, ehe sie das Mordfahrzeug verließen.«

Er zeigte mit dem Mundstück der Pfeife auf mich. »Das ist übrigens noch ein Zeitpunkt, den wir im Kopf haben müssen. Ein Seemann hat um halb vier gesehen, dass Rustads Dodge durch die Kirkegate fuhr und dann in der Glacisgate hielt. Leider hat er nicht abgewartet, ob jemand ausstieg. Mit anderen Worten: Der Wagen hat länger als zehn Stunden auf dem Grev Wedelsplass gestanden, ehe die Leiche entdeckt wurde.«

Das notierte ich. »Na gut, und wie lautet deine Theorie?«

Mr. George ließ sich zurücksinken und musterte mich durch den Tabaksrauch mit scharfem Blick. »Hast du dich gefragt, wie viele Automatikpistolen es in Oslo gibt? Welche Personen könnten eine solche Waffe besitzen? Und dann ist da die Mordmethode …«

»Was ist damit?«

Mr. George rauchte eine Weile schweigend, ehe er antwortete.

»Hast du je von einem >One-way Ride< gehört oder von >Taking Someone For A Ride<? Das ist die Lieblingsliquidiermethode der Gangster in Chicago. Der Revolvermann lockt jemanden an eine einsam gelegene Stelle, erschießt ihn vom Rücksitz her und wirft die Leiche aus dem Wagen.«

»Du meinst, Rustad ist von Auftragsmördern aus Chicago umgebracht worden?«

Mr. George sah mich abwartend an.

»Bürochef Brodin …« Ich stockte. Der Versicherungsdetektiv stand bei Mr. George nicht gerade in hohem Ansehen. »Red nur weiter!«

»Bürochef Brodin hat angedeutet, dass Rustad mit einer Osloer Bande zusammengearbeitet hat. Es ist nicht unmöglich, dass solche Leute Kontakte mit Erfahrungen aus der amerikanischen Unterwelt haben. Aber glaubst du wirklich, ein Gangster aus Chicago würde für fünfhundert Kronen einen Mord begehen?«

»Vergiss die fünfhundert Kronen. Die Tatsache, dass die Mörder Rustads Brieftasche mitgenommen haben, muss nicht bedeuten, dass es ihnen um Geld ging.«

Mr. George überlegte, dann fügte er hinzu: »Ich habe das Gefühl, dass das hier mehr ist als nur ein simpler Raubmord. Es wirkt eher wie ein sorgsam durchdachter, gut vorbereiteter Mord, durch den ein unangenehmer Mitwisser zum Schweigen gebracht werden soll. Oder einer, der einem großen Gewinn im Weg steht.«

Ich überlegte eine Weile, worauf er wohl hinauswollte. Dann kam mir ein Gedanke. »Aber Rustad war kein Opfer eines >One-way Rides<. Wir reden hier wirklich von einem >Two-way Ride<. Warum in aller Welt sind die Täter mit der Leiche von Alnabru zurück nach Oslo gefahren?«

Mr. George deutete ein Lächeln an. »Wenn du die Antwort auf diese Frage findest«, sagte er, »dann hast du den Rustadmörder. Das garantiere ich dir.« Sein Lächeln wurde herzlicher. »Betrachte das bitte nicht als Aufforderung. Lass dich bloß nicht dabei erwischen, wie du Detektiv spielst, dann geht es gleich in die Ofenecke.« Mr. George zog sein Notizbuch hervor. »Na gut, Erik, mach dich auf irgendeine Weise nützlich, während ich den Artikel für die erste Seite schreibe. Um zwölf Uhr verteilt die Polizei ein Infoblatt an die Presse. Also sorg dafür, dass wir ein Exemplar kriegen.«

 

Die Eingangspartie der Mollergate 19 war überfüllt. Ohne allzu großes Aufsehen zu erregen, bahnte ich mir einen Weg zu einem Stehplatz in der hintersten Ecke. Nach einer Weile versetzte jemand mir einen Rippenstoß. Ich schaute auf und sah, dass Fridtjof Knutsen neben mir stand. Wie immer erinnerte er mich an einen zurückhaltenden und vergesslichen Buchprüfer, bleich, dünn, mit abgewetzten Knien und einem nachdenklichen Blick hinter dem Lorgnon. Er machte einige rasche Handbewegungen, um festzustellen, ob ich mir vorher Mut angetrunken hatte.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin seit gestern Morgen auf den Beinen. Ich bin todmüde.«

Knutsen nickte mitfühlend. Dann wurden wir auf andere Gedanken gebracht.

Ein Summen durchlief die versammelten Presseleute und kündigte den Augenblick an, auf den alle gewartet hatten. Oberkommissar Larssen betrat den Raum und brachte die sorgfältig in zehnfacher Ausfertigung abgezogene Pressemitteilung mit. Er las sie vor, dann wurde sie verteilt. Es gab vier Abschnitte, verfasst im nüchternen Stil des Hauptkommissars. Soweit ich den Inhalt mitbekam, enthielten sie wenig Neues.

Larssen hielt eine kurze Ansprache an die erwartungsvoll Versammelten. »Alles, was wir bekanntgeben können, steht in diesem Rundschreiben«, sagte er. »Zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir auf keinerlei Fragen ein.«

»Wann wird Professor Harbitzens Obduktionsbericht veröffentlicht?« Das war Axel Kielland von Dagbladet.

Redvald Larssen winkte ab und verließ den Raum.

Knutsen beugte sich zu mir vor. »Hast du sowas schon mal erlebt?« Er machte eine Kopfbewegung hinüber zu den Büros der Ermittlungspolizei. »Und jetzt wird das da drinnen ganz schön hektisch zugehen.«

Ich nickte und gab vor, mich in die Pressemitteilung zu vertiefen. Ich plante einen Besuch »da drinnen«, sowie ich im Empfangsraum allein wäre.

 

Die Türen auf beiden Seiten des langen Ganges standen offen, und ich musste immer wieder eiligen Beamten ausweichen, die mit einem Bericht in der Hand oder einer Schreibmaschine unter dem Arm von einem Büro ins andere liefen. Überall klingelten Telefone. In einem Raum saß etwa ein Dutzend Beamte und vernahm Zeugen, durch spanische Wände voneinander getrennt. Endlich fand ich Chefermittler Reidar Sveens Büro. Die Tür war angelehnt.

Ich versetzte ihr einen leichten Stoß. Sveen saß hinter seinem Schreibtisch, umgeben von Papierstapeln, während seine Vorgänger in ovalen Rahmen hinter ihm an der Wand hingen. Er erinnerte mit seinen blonden Haaren und seinem gutmütigen Aussehen an einen reichen Bauern. Er hatte ein zufriedenes Gesicht, als ob er sich nach einem guten Frühstück wohlfühlte, und nippte an einer Tasse Tee, während er sich mit einem Mann unterhielt, der mir den Rücken zukehrte.

Sveen schaute auf. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, fragte er ernst.

Ehe ich antworten konnte, drehte sich der Mann im Besuchersessel um. Es war Sven Elvestad. Der Meister selbst hatte mich auf der Zielgeraden überholt.

»Nein, nein«, stammelte ich. »Ich habe mich in der Tür geirrt. Entschuldigung.«

Ich schloss die Tür und wollte gehen, da legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter. Es war Kriminalrat Sverre Riisnaes. Er musterte mich mit strengem Blick von Kopf bis Fuß. »Erik Erfjord, nicht wahr?«

»Ja, ja, das ist schon richtig.«

»Würden Sie für einen Moment mit in mein Büro kommen?« Riisnaes packte meinen Arm. »Ich muss etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen.«

 

Bei Riisnaes mit dem eisernen Absatz

 

Ich hatte nie gewusst, was ich von Riisnaes halten sollte. Dieses Gefühl teilte ich wohl mit den meisten Kriminalreportern in der Stadt. Er war überspannt und empfindlich. Eine total unschuldige Frage konnte ihn dazu bringen, auf den Tisch zu schlagen und die Fragerunde mit einer langen und scheinbar gänzlich unmotivierten Verteidigungsrede abzubrechen. Bei einem Gespräch mit Riisnaes saß man immer wie auf Nadeln.

Und heute war alles noch viel schlimmer als sonst. Die Vorstellung, dass er von meinem Einbruch in Rustads Haus gehört haben könnte, ließ meinen Rücken nass werden.

Riisnaes stellte sich mit dem Profil vor das Fenster zum Youngstorg und winkte zu einem Stuhl hinüber. »Setzen Sie sich.«

Ich setzte mich.

»Die Osloer Polizei ist immer um ein gutes Verhältnis zur Presse bemüht. Nicht wahr, Erfjord?«

»Doch …«

»Genau! Aber ein solches Arbeitsklima erheischt Respekt auf beiden Seiten. Und es gibt gewisse Grenzen, die niemals überschritten werden dürfen!«

Er wandte sich um und starrte mich mürrisch an.

Mein Magen krampfte sich zusammen. Jetzt kommt es, dachte ich. Beim Einbruch erwischt! Meine journalistische Karriere war zu Ende, noch ehe sie richtig angefangen hatte. Bei diesem Gedanken vergaß ich glatt das Zuhören.

»Verzeihung … was haben Sie gesagt?«

»Ich habe gesagt, dass Svendsen dieses gute Verhältnis in Gefahr bringt.«

»Svendsen? Das verstehe ich nicht?«

»Natürlich tun Sie das. Er muss auf seine Steckenpferde verzichten.«

» Steckenpferde?«

»Ja, zum Henker. Seine politischen Steckenpferde! Svendsen denkt nur in Schwarzweiß, wenn er behauptet, dass die Polizei die bürgerliche Presse bevorzugt. Dem ist nicht so, das kann ich Ihnen sagen!«

Ich merkte, wie sich der Knoten in meinem Magen langsam löste.

»Aber Medboe«, murmelte ich. »Aftenposten durfte doch …«

»Eine Ausnahme«, fiel Riisnaes mir ins Wort, »diktiert von besonderen Umständen, aber durchaus kein Anzeichen von Bevorzugung.«

Er blieb schweigend am Fenster stehen. Dann ließ er sich in den Schreibtischsessel fallen. Die straffen Muskeln in seinem Gesicht gaben plötzlich nach und er sah resigniert, fast traurig aus.

»Hat sich Svendsen zum Beispiel jemals gefragt, welche Partei ich wähle?«

»Nein? Sollte er?«

»Vielleicht. Das würde ihn sicher auf andere Gedanken bringen.«

Riisnaes’ Tonfall wurde fast vertraulich: »Aber sagen Sie mir, Erfjord, hat er vor, die Episode von heute Nacht weiterzuverfolgen?«

»Die Episode?«

»Ja, unsere kleine Meinungsverschiedenheit am Tatort.«

Ich begriff plötzlich, dass der Mann sich unter Druck gesetzt fühlte. Das könnte ich mir zunutze machen.

Ich räusperte mich feierlich. »Naja, ich habe ihn andeuten hören, dass die Sache politische Folgen haben könnte.«

Riisnaes rutschte unbehaglich hin und her. »Äh … vielleicht würde er sich das noch einmal überlegen, wenn ihm Informationen über den Einbruch in Rustads Haus zuflossen?«

»Den Einbruch?«

»Ja, das Ehepaar Rustad hat den ersten Stock vermietet. Gleich nachdem Frau Rustad von der Polizei geholt worden war, hörten die Mieter unten Geräusche. Als sie sich unten umsahen, stellten sie fest, dass in die Wohnung eingebrochen worden war.«

Ich machte mir an meinem Notizblock zu schaffen. »Und der Täter?«

»… ist leider entkommen. Die Ermittlungspolizei wurde natürlich gerufen, zusammen mit einer Gruppe unter Leitung von Hauptkommissar Birkelund.«

»Birkelund? Der Fingerabdruckexperte?«

»Ja, genau. Einer unserer besten Leute.«

»Ich weiß, aber hat er denn Fingerabdrücke gefunden?« Fieberhaft ging ich meine Bewegungen in der vergangenen Nacht durch.

»Ja, auf der Fensterscheibe und am Rahmen, wo sie eingestiegen sind. Die Einbrecher waren überaus unvorsichtig. Es wird aber dennoch Zeit brauchen, sie zu entlarven, falls das überhaupt möglich ist. Wie Sie wissen, sind in der Identifizierungszentrale der Ermittlungspolizei zweihunderttausend Fingerabdrücke registriert und klassifiziert. Es ist eine Menge Arbeit, das Register durchzugehen, und wenn die Einbrecher nicht vorbestraft sind, sind ihre Abdrücke nicht vorhanden.«

Ich pries mich glücklich, weil ich nie einen schwerwiegenden Gesetzesbruch begangen hatte.

»Sie reden die ganze Zeit von mehreren Einbrechern. Wie können Sie so sicher sein, dass es nicht nur einer war?«

»Weil wir zwei verschiedene Fußabdrücke gefunden haben.«

Riisnaes schob ein graues Foto über den Schreibtisch. »Hier haben Sie den einen, im Rosenbeet unter dem Fenster. Wie Sie vielleicht sehen, sind die Schuhe ganz neu, ohne Spuren von Abnutzung oder anderen Details. Damit haben sie geringen Identifizierungswert. Aber diese hier …« Er schob ein weiteres Bild über den Schreibtisch. »Hier sind die Sohlen beschlagen mit Schuhschonern, Eisenabsatz und Eisenplatten an den Spitzen, die mit Schrauben befestigt sind. Schuhschoner werden immer per Hand angebracht, und die Entfernung zwischen ihnen fällt immer unterschiedlich aus. Auch die Eisenbeschläge des Absatzes sind wichtig, die Zahl der Schrauben und ihre Stellung sind auf dem Foto deutlich zu sehen. Der hätte auch gleich seine Visitenkarte hinterlassen können!«

Ich versuchte, meine Maske nicht fallen zu lassen. Wenn Riisnaes unter den Schreibtisch geschaut hätte, hätte er die Visitenkarte entdeckt: die alten Wanderschuhe des seligen Herrn Weger.

 

Nach der Audienz lief ich sofort los und kaufte mir neue Wanderstiefel. Herrn Wegers alte Schuhe versenkte ich diskret im Akerselv, als ich über Nybrua ging. Zuhause angekommen, bemerkte ich als Erstes den süßlichen Geruch von Virginiazigaretten. Danach entdeckte ich, dass mein Presseausweis gut sichtbar auf dem Büfett im Esszimmer abgelegt worden war. Mir wurde eiskalt. Mein unbekannter Angreifer war zu Besuch gewesen!

Mit hämmerndem Herzen durchsuchte ich alle Zimmer.

 

Die Wohnung war verlassen. Soweit ich sehen konnte, war nichts gestohlen worden. Die Wohnungstür war fest verschlossen gewesen, als ich nach Hause gekommen war. Die Tür zur Küchentreppe schien auch nicht aufgestochert oder aufgebrochen worden zu sein. Wie in aller Welt war er hereingekommen?

Ein Fenster im Salon war angelehnt, von dort war es möglich, auf die Feuerleiter zu steigen.

Als ich in den Hinterhof ging, um mir die Treppe genauer anzusehen, entdeckte ich, dass sie baufällig und lebensgefährlich war. Einige der Eisensprossen waren durchgerostet. An mehreren Stellen hatten die Bolzen sich aus der Wand gelöst, Teile der Leiter hingen lose in der Luft.

An die Mauer darunter hatten die Bengel der Gegend überaus treffend geschrieben: »Gott wird gebeten, die Feuerleiter zu benutzen.«

 

Der Schneefall

 

Als ich noch im Halbdunkel hinter den schweren tiefroten Portieren lag, hatte ich ein Gefühl von Schnee. Das wenige Licht, das ins Mädchenzimmer durchsickerte, war blau, frostfarben, die Geräusche von draußen waren gedämpft. Für einen Moment hatte ich das absurde Gefühl, eine Lawine habe die Stadt begraben. Ich stand auf und öffnete die Vorhänge. Schnee fiel aus dem grauen Himmel, legte sich wie eine dicke weiße Decke über Straßen, Häuser und Fabriken. Sogar Dagbladet würde zögern, das als Schneelawine zu bezeichnen, aber ich lag nicht ganz falsch. Innerhalb einiger Morgenstunden hatte ein graues, verdrecktes Oslo sich in eine Polarstadt verwandelt.

Ich setzte Kaffeewasser auf und füllte die Waschschüssel. Ich merkte, dass der Schnee mich bedrückte. Das sah mir gar nicht ähnlich. Meistens macht der Anblick von Oslo im winterlichen Gewand mich fröhlich, ich denke an Weihnachtsfeiern und Skitouren in der Umgebung. Jetzt aber dachte ich an den Rustadmord.

Erst als ich frisch gewaschen und neu rasiert am dampfenden Kaffee nippte, begriff ich, warum. Ich hatte das Gefühl, dass der Schnee dem Mörder zu Hilfe gekommen war. Alle Spuren, die ihn hätten entlarven können - am Tatort, auf den verschlammten Wegen, die er mit Rustads Leichnam neben sich gefahren war, und die Strecke, die er gegangen war, nachdem er den Mordwagen am Grev Wedels plass verlassen hatte -, verbargen sich jetzt unter mehreren Zentimetern Neuschnee.

Jetzt ist es zu spät, dachte ich. Jetzt kriegen sie ihn nie.

Wie vernünftig diese Überlegung war, weiß ich gar nicht. Ich versuchte, die düsteren Gedanken wegzuschieben, aber sie ließen sich nicht bewegen. Eine unerklärliche Unruhe hatte sich in mir festgebissen. Ich musste irgendetwas unternehmen.

Nachdem ich in der Redaktion mitgeteilt hatte, dass ich mich verspäten würde, rief ich den Droschkenhalteplatz bei Birkelunden an. Ich hatte vor, die Regel Nr. 1 im Handbuch des Kriminalreporters zu brechen. Ich würde mir Mr. George, Redvald Larssen und die gesamte Ermittlungsabteilung auf den Hals holen, wenn ich auf eigene Faust nach dem Tatort suchte. Wie ich das machen wollte, wusste ich nicht genau. Vermutlich hatte ich vor, den Atlantik vom Schnee zu befreien, bis ich den Fußabdruck des Mörders gefunden hatte.

Der dicke Mann mit dem roten Gesicht, der mich zum Bahnhof Bryn fuhr, brachte das übliche Zusatzangebot. Seit dem Rustadmord konnte man keine Droschke finden, in der kein Kriminalist hinter dem Lenkrad saß. Alle Fahrer wussten etwas über den Mord, was sonst noch niemand gehört hatte, und die meisten hatten ihre private Theorie aufgestellt. Als der Fettsack hörte, dass ich Journalist war und zum Tvetenvei wollte, schüttelte er resigniert den Kopf.

»Da ist der Rustad nicht abgemurkst worden, wissen Sie. Alle glauben, dass er in Ostre Aker war, um sich ein Abbruchhaus anzusehen. Aber die wenigsten wissen, dass Rustad seinen alten Dodge verkaufen wollte.«

»Woher wissen Sie das denn?«

Er grinste zufrieden. »Ja, das wüssten Sie wohl gern. Das wissen wirklich nicht viele, das kann ich Ihnen sagen. Aber wenn Sie Zeitung lesen, und davon gehe ich doch aus, dann war es nicht im Süden von Alnabru, wo an dem Tag Schüsse gehört worden sind.«

»Aber dann …«

»Nein, das war in der Nähe von Grorud. In Fossumdalen. Da gibt’s keine ausgebrannten Gebäude, die Rustad abreißen könnte. Was wollte er also da? Na, der war mit zwei Typen unterwegs, die ihm eingeredet hatten, sie wollten seinen alten Klapperkasten kaufen. Und als der eine für eine Probefahrt hinter dem Lenkrad saß und Rustad sich neben ihn setzte, zog der auf der Rückbank die Pistole: Peng. So war das. Das können Sie mir glauben.«

Wir fuhren an den Fabriken vorbei nach Bryn hinauf. Nachdem wir die Zinkhvidtfabrik passiert hatten, bogen wir auf die Hauptstraße ab. Einige Minuten darauf sahen wir einen Wachtmeister, der vor einer ausgebrannten Fabrik Wache stand. Ich wusste noch gut, dass ich am Mordtag hier vorbeigekommen war. Der Rauchgestank hing noch immer in der Luft.

»Können Sie hier halten?«, rief ich dem Fahrer zu. »Hier? Was wollen Sie denn hier?« Ich beugte mich zum Vordersitz vor. »Wissen Sie etwas über die Fabrik, die hier gestanden hat?«

Der Fahrer nickte ernst. »Sicher doch. Das war die Farbfabrik der Boston Blacking Company.«

»Na gut«, sagte ich und öffnete die Wagentür. »Können Sie hier ein paar Minuten warten, während ich mit der Polizei rede?«

Das war leichter gesagt als getan. Der Wachtmeister vor dem Fabrikgebäude war ein junger Dachs, der seine Arbeit offenbar sehr ernst nahm.

»Sofort stehenbleiben«, schrie er. »Unbefugten ist der Zutritt verboten!«

»Ich bin Erfjord von …«

»Kein Widerspruch!«, bellte der Grünschnabel. »Gehen Sie sofort zur Droschke zurück und tun Sie nichts Übereiltes. Ganz ruhig jetzt, ruhig.«

Gerichtschemiker Charles M. Bruff und Ermittler Olai Andersen traten in die Fabriktür. Ich konnte ein Großteil des Gebäudes hinter ihnen sehen. Die Flammen hatten dort übel gewütet, und die Bretterwände am Südende, wo eine Reihe von Maschinen stand, waren vollständig abgebrannt. Das Dach war eingestürzt und der Fabrikboden war mit Schnee bedeckt. Vor den Maschinen war ein großes rechteckiges Feld geräumt worden, sodass Bruff die verkohlten und vom Feuer durchlöcherten Bodenbretter untersuchen konnte.

Ich wandte mich an Andersen. »Kann ich kurz mit Ihnen sprechen, Herr Kommissar?«

Andersen überlegte einige Sekunden, dann kam er mit den Händen in den Hosentaschen und in den Nacken geschobenem Hut auf mich zugeschlendert. Er war ein Mann von Mitte sechzig, mit traurigen Augen, molligen Wangen und riesiger Nase. Er war einer der erfahrensten Ermittler in Oslo, nicht zuletzt, wenn es um den Umgang mit der Presse ging.

»Ich kann Ihnen leider jetzt noch keine Auskünfte erteilen«, sagte er. »Larssen hat beschlossen, dass in vier Tagen in Nummer 19 eine Pressekonferenz abgehalten wird. Dann wird die Osloer Presse einen Bericht erhalten.«

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Einen Bericht darüber, dass der Tatort für den Rustadmord feststeht?«

»Dazu kann ich nichts sagen.«

»Bruff hat unter Rustads Stiefeln Reste von Holzkohle gefunden und wird jetzt feststellen wollen, ob die von diesem Brand stammen.«

Andersen musterte mich gelassen. »Ich kann aus Rücksicht auf die Ermittlungen keine weiteren Auskünfte erteilen.«

 

»Nein, das können Sie wohl nicht. Aber vielleicht könnte ich Ihnen Auskünfte erteilen?«

Ich hatte angenommen, er würde sich über dieses Angebot freuen, aber da hatte ich mich nun wirklich geirrt. Andersen sah trauriger aus denn je. »Ich war nämlich am Mordtag hier in der Nähe«, sagte ich und zeigte hinaus auf die Ebene. »Ich war da drüben, in Oskroken, um ein Interview zu machen. Und als wir dort saßen, hörten wir Schüsse.«

»Die Schüsse, die Rustad getötet haben, meinen Sie?«

»Ja, das müssen sie gewesen sein. Sie kamen von Nordosten, und der Zeitpunkt stimmt. Ich habe deutlich gehört, dass es vier Schüsse waren.«

Andersen griff zu seinem Notizblock. »Und wie war der Name des anderen Zeugen?«

»Der, den ich interviewt habe? Fuhrmann Karsten Johansen.«

Andersen notierte den Namen und steckte den Block in die Tasche.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Erfjord. Aber jetzt muss ich Sie bitten, das Gelände zu verlassen. Ich muss Sie auch bitten, keine der Informationen zu veröffentlichen, die Sie von mir erhalten haben.«

Ich lächelte.

»Dieses Versprechen ist leicht zu halten. Sie haben mir doch rein gar nichts erzählt.«

Ich reichte ihm zum Abschied die Hand und ging zur Droschke zurück.

 

Fredriksens Festung

 

Wenn ich mich nicht irre, wird bald etwas passieren, wonach ganz Oslo über Großhändler Rustad reden wird. Und dann können Sie und ich eine Runde plaudern.

Ich hatte Bürochef Brodins Weissagung total vergessen. Wie das möglich sein konnte, kann ich selbst kaum begreifen. Ich hätte zumindest an die Weissagung denken müssen, die durch den Rustadmord in Erfüllung zu gehen schien. Aber wenn man zuviel im Kopf hat, vergisst man die wichtigen Dinge oft zuerst. So ist es einfach. Ich ging auf geradem Wege in die Redaktion, um anzurufen.

»Hier B-r-r-r-odin!«

»Ja, guten Tag, hier ist Erfjord von Arbeiderbladet.«

»Guten Morgen, du. Ich hab mich schon gefragt, wann du dich melden würdest.«

»Ja, sicher. Wir wollten über Rustad sprechen, war das nicht so?«

»Das habe ich wohl versprochen.«

»Sie haben eine Theorie über den Mord, wenn ich das richtig verstanden habe?«

Brodin schwieg für einen Moment. Dann sagte er: »Es ist schon mehr als eine Theorie. Ich bin nämlich mit dem Tod bedroht worden, und ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Drohung von der anonymen, mir jedoch ziemlich bekannten Brandstifterbande hier in der Stadt stammt, die Birger Bay anführt. Und das weist daraufhin, dass ich recht habe, wenn ich von einer Verbindung zwischen der Bay-Bande und dem Rustadmord ausgehe.«

Ich musste zugeben, dass ich enttäuscht war. »Ist das alles, wovon Sie ausgehen können - eine anonyme Drohung?«

»Sie empfinden das also als Kleinigkeit? Und ansonsten ist die Antwort nein. Vor dem Mord habe ich von Frau Rustad interessante Auskünfte erhalten, als ich ihren Laden aufgesucht habe …«

»Als da wären?«

»Frau Rustad hat zugegeben, dass ihr Mann oft viele Stunden auf dem Diwan lag und sich Sorgen machte. Die Bemerkung, dass er Angst hatte, es könne böse mit ihm enden, deutet doch absolut daraufhin, dass mit den Leuten, mit denen er zu tun hatte, nicht zu spaßen war.«

»Und da haben Sie sofort an die Bay-Bande gedacht?«

»Rustad selbst soll gesagt haben, dass er sich für einen größeren Hof mit Wald interessierte. Und wenn sich jemand mit Immobilien auskennt, dann Walter Fredriksen und Birger Bay. Frau Rustad hat angedeutet, dass ihr Mann in der Zeit vor dem Mord in allerlei zweifelhafte Geschäfte verwickelt war.«

»Bay hatte ihn überredet, in einen überversicherten Hof zu investieren, meinen Sie? Und dann kam Rustad der Gedanke, dass Bay die ganze Pracht abfackeln wollte?«

»Genau. Als Edvard Rustad dann klargestellt hat, dass er da nicht mitmachen wollte, und sogar mit der Polizei drohte, wurde er ermordet.«

»Das sind bemerkenswerte Behauptungen, Brodin. Ihnen ist doch klar, dass ich Aussagen von Fredriksen und Bay brauche, ehe das gedruckt werden kann?«

»Natürlich. Von mir aus können Sie das gern versuchen. Sie finden die Bande im Hauptquartier.«

»Ich weiß, wo das ist. Ich gehe nicht zum ersten Mal hin.«

»In der Dronningens gate 63.«

»Ja, danke, ich weiß, wo das ist. Bis dann.«

Ich legte auf.

 

Rechtsanwalt Walter Fredriksen hatte das Grundstück Dronningens gate 63 im November 1931 gekauft. Aus irgendeinem Grund verzichtete er auf bedeutende Einnahmen, denn er ließ das Geschäftshaus leer stehen, mit Ausnahme der beiden oberen Etagen. Ganz oben hatte er für sich eine Junggesellenwohnung eingerichtet, begnügte sich jedoch mit einem einzigen Zimmer, während Birger Bays Bande das andere Zimmer und die Küche benutzte, wann immer sie wollten. Einen Stock tiefer lag Fredriksens Büro. Hier hatte die Bay-Bande eine Art Clubheim eingerichtet. Sie verbrachten die Tage mit Pokern und Biertrinken, während Fredriksen hinter einer spanischen Wand seine zweifelhaften Kunden empfing. Hier wurden Pläne geschmiedet für Erpressung, Wucher, Betrug und Brandstiftung, ohne dass die Gefahr einer Entlarvung sonderlich groß gewesen wäre. Die Haustür unten war rund um die Uhr abgeschlossen, und wenn es doch jemand geschafft hätte, sich ins Gebäude einzuschleichen, hätte der Fahrstuhl ihn entlarvt. In dem leeren Haus war das Rasseln im Fahrstuhlschacht so durchdringend wie eine elektrische Bohrmaschine.

Ich sah mir von der Straße aus Fredriksens Festung genauer an. Alle Fenster waren dunkel. Zum Schein versetzte ich der Haustür einen Stoß. Das Schnappschloss war aufgebrochen. Ein schlechtes Zeichen.

Ich ging ins Treppenhaus und zog vorsichtig die Tür hinter mir zu. Der Fahrstuhl stand im Erdgeschoss. Nach kurzem Nachdenken beschloss ich, ihn zu nehmen. Ich war ja schließlich ganz legal hier, auch wenn es mir nicht so vorkam.

Ich schloss die Tür und drückte auf den Knopf für den zweiten Stock. Es klirrte und ächzte. Als der Fahrstuhl endlich anhielt, rechnete ich mit einem Empfangskomitee vor der Tür. Aber der dunkle Gang war leer. Ich ging zu Fredriksens Bürotür. Die war offen.

Im Büro bot sich mir ein unerwarteter Anblick. Die Bande hatte das Lokal offenbar in aller Eile geräumt. Der Wandschirm war umgestürzt, alle Archivschubladen standen offen und überall auf dem Boden waren Papiere verstreut. Leere Flaschen lagen herum, ein Tisch war bedeckt von halbleeren Gläsern und überlaufenden Aschenbechern. Ich las vom Boden eine Handvoll Papiere auf. Es schien sich um weniger wichtige Unterlagen zu handeln, weshalb sie sich nicht die Mühe gemacht hatten, sie mitzunehmen. Ich ging zum Aktenschrank und warf einen Blick in die offenen Schubladen. Rechnungsbücher, Mappen mit Kopien und Wechselvordrucke waren verschwunden.

Ich blieb mitten im Raum stehen und kratzte mich nachdenklich im Nacken. Was konnte die Bande wohl in die Flucht geschlagen haben? Der einzige Grund, den ich mir vorstellen konnte, war die Angst vor einer polizeilichen Aktion. Aber dann hätte im Justisen doch das Gerücht umgehen müssen, dass die Obrigkeit gegen das Hauptquartier der Bande aktiv werden wollte?

Weiter kam ich nicht in meinen Überlegungen.

Ich entdeckte einen Arm, der hinter dem Wandschirm hervorragte.

Ich war wie gelähmt, mein Herz hämmerte dermaßen, dass mein ganzer Körper zu pulsieren schien. Wie in Trance ging ich hinüber und hob die spanische Wand hoch.

Auf dem Boden lag eine Gestalt mit dem Gesicht nach unten, der Wintermantel war halb abgestreift. Ich erkannte das scharfe Profil sofort. Es war Rechtsanwalt Walter Fredriksen.

Er hatte eine tiefe Wunde im Hinterkopf. Von der Portweinflasche, die ihn getroffen hatte, war nur noch der Hals vorhanden. Unzählige Glassplitter steckten in der Wunde und ragten aus der Blutlache, die sich um den Kopf herum ausbreitete.

Ich kniete neben ihm nieder und horchte. Keine Atemzüge, soweit ich hören konnte. Ich betastete die Halsschlagader: Doch, sicher, der alte Gauner war tot.

Als ich die Nummer der Polizei wählen wollte, bekam ich kein Freizeichen. Erst nachdem ich mehrmals auf die Gabel gedrückt hatte, entdeckte ich, dass die Leitung durchgeschnitten war. Unschlüssig stand ich da mit dem stummen Hörer in der Hand.

Dann hörte ich in der Wohnung über mir ein lautes Pochen. Es klang wie eine zu Boden fallende Billardkugel. Dann fing sie an zu rollen und ich hätte schwören können, dass ich leichte Schritte hörte, als laufe jemand auf Socken los, um die Kugel einzufangen.

Ich war außer mir vor Angst, eine ganz natürliche Reaktion, wenn man mit einem Toten allein ist. Ich war ganz sicher, dass ich Fredriksens Mörder gehört hatte, ich konnte mir einfach nichts anderes vorstellen. Ich war fest entschlossen, mich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen, aber die Neugier war dann doch stärker.

Ich verließ das Büro und schlich mich die Treppe zu Fredriksens Wohnung hoch.

Lange presste ich das Ohr an die Tür, ohne drinnen auch nur einen Laut zu hören. Dann drückte ich die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen.

Ich klopfte an. Als niemand antwortete, schlug ich noch einmal energisch gegen die Tür.

Danach schlich ich zum Treppenabsatz weiter unten und versuchte, mich hinter dem Geländer zu verstecken, so gut ich konnte.

 

Es dauerte lange. Dann hörte ich, wie das Schnappschloss geöffnet wurde.

Die Tür ging auf und eine junge Frau kam heraus. Sie mochte Mitte zwanzig sein, hatte schwarze Haare und eine graue Strickjacke über einem schlichten hellblauen Kleid. Sie trug zerfetzte Herrenpantoffel an den nackten Füßen.

Die Frau wollte gerade die Tür schließen, als eine Krocketkugel durch den Türspalt und dann die Treppe hinunter rollte. Ein drei, vier Jahre altes Mädchen drängte sich an der Frau vorbei und konnte die Kugel nach wenigen Stufen einholen.

Die Frau rannte hinterher und bekam den Flüchtling zu fassen. Die Kleine hielt das offenbar für ein witziges Spiel und lachte glücklich, als sie hochgehoben wurde. Die Erwachsene schien das ganz anders zu sehen.

Sie hatte mich entdeckt und war im Gesicht kalkweiß geworden.

Ich erhob mich langsam zu meiner vollen Größe. Die Frau schrie auf und stürzte mit dem Kind auf dem Arm zurück in die Wohnung.

Ich lief hinterher und erreichte sie, ehe sie die Tür ganz schließen konnte. Ich versuchte mit aller Kraft hineinzugelangen, aber die Tür ließ sich nicht mehr bewegen. Ich konnte auch nicht verhindern, dass sie dann zugeschoben wurde.

Abermals stand ich da und kratzte mich im Nacken.

Die junge Frau konnte die Tür unmöglich allein festgehalten haben. Ich hatte das Gefühl gehabt, meine Kräfte mit vielen Personen gemessen zu haben. Wer sie waren und warum sie sich in der Wohnung aufhielten, war mir ein Rätsel.

 

Die Entführung aus der Kristian Augustsgate

 

Ich ging wieder nach unten und suchte in Fredriksens Taschen nach den Wohnungsschlüsseln. Ich fand sie nicht. Das kam mir seltsam vor. Weder Brieftasche noch Armbanduhr waren verschwunden.

Ich verließ das Geschäftshaus und ging zum weiter unten in der Dronningens gate gelegenen Hotel Veronica. In dem kleinen Glaskasten im ersten Stock saß der alte Reiersen und las die Anzeigen auf der ersten Seite von Morgenbladet. Er war wie immer glattrasiert und sorgfältig gekämmt und trug seinen abgenutzten Anzug, der nach allen Regeln der Kunst geplättet war. Ich nahm den Geruch des billigen Rasierwassers schon wahr, als ich seinen Schalter noch längst nicht erreicht hatte.

Er schaute auf und lächelte, als er mich sah. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«

Ich schob ihm einen Fünfkronenschein über den Tresen. »Danke für die Frage, Jakob. Du kannst Nr. 19 anrufen und mitteilen, dass Rechtsanwalt Fredriksen ermordet worden ist. Er liegt in seinem Büro in der Dronningens gate 63.«

Reiersen musterte den Fünfkronenschein lange. Dann steckte er ihn in die Brusttasche.

»Du hast nicht gerade große Lust, selbst anzurufen, wenn ich das richtig verstanden habe?«

Ich lächelte. »Lieber nicht.«

Reiersen hob den Hörer ab. Er sah mich fragend an.

»Aber was soll ich sagen, wenn die Polizei wissen will, woher ich weiß, dass Fredriksen von uns gegangen ist?«

»Nichts. Dann legst du auf.«

Ich vergewisserte mich davon, dass er tat, wie ihm geheißen. Reiersen legte auf.

»Könnte es interessant sein, mit Schröder zu sprechen?«, fragte er.

»Natürlich«, sagte ich überrascht. »Weißt du, wo er steckt?«

»Sicher doch. Er wohnt seit zwei Tagen hier. Zimmer 302.« Ich bedankte mich und steuerte die Treppe an. »Es steht aber nicht fest, dass er aufmacht!«, rief Reiersen hinter mir her. Ich blieb stehen. »Nicht?«

»Nein, er ist mit einem Frauenzimmer zusammen.«

»Mit was für einem Frauenzimmer?«

»Angeblich seiner Verlobten. Fräulein Leopoldsen. Seit sie hier sind, trinken sie die ganze Zeit.«

Reiersen hatte sich geirrt, wenn er angenommen hatte, Schröder werde mir nicht die Tür öffnen. Ihre Sauftour hatte dem fröhlichen Paar offenbar das Kapital geraubt, denn er bat mich sofort, ihm einen Zehner zu pumpen. Er deutete sogar an, er könne sich für eine halbe Stunde ins Postcafe setzen, während seine Verlobte mir das Geld in Naturalien zurückzahlte.

Ich warf einen Blick über seine Schulter. Fräulein Leopoldsen lag im Unterrock auf dem Bett und schlief mit sperrangelweit offenem Mund.

»Das wäre jetzt aber wirklich unpassend, Tore. Ich habe schlechte Nachrichten. Es geht um Fredriksen …«

Schröder starrte mich misstrauisch an. Er war ein kleiner, dunkler und verlebter Typ, der ab und zu für Fredriksen gearbeitet hatte. Er hütete das Telefon und half im Büro aus, gegen Bezahlung in Form von Lebensmitteln, Zigaretten und der Erlaubnis, in Fredriksens Wohnung zu übernachten. Trotzdem wurde Schröder nicht als vollwertiges Mitglied der Bande behandelt, er war zu charakterschwach, um andere Aufgaben übertragen zu bekommen, als in den staatlichen Alkoholladen zu gehen und dafür zu sorgen, dass die Gläser gefüllt waren. Oft erfuhr er als Letzter, dass die Bande einen Coup gelandet hatte.

»Was ist denn passiert?«, fragte er endlich.

Ich machte eine vage Handbewegung.

»Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Vermutlich hat jemand Fredriksen angefallen, als der gerade das Büro verlassen wollte. Als ich ihn gefunden habe, lag er mit einer riesigen Wunde im Hinterkopf in einer Blutlache. Tot.«

Schröder sagte nichts, er schüttelte nur ungläubig den Kopf.

»Weißt du übrigens, warum Fredriksens Büro ausgeräumt worden ist?«

Er wirkte überrascht. »Das Büro ist leer? Ich war seit vielen Wochen nicht mehr bei Fredriksen. Aus irgendeinem Grund bin ich plötzlich unerwünscht. Ich weiß nur, was ich in der Stadt so höre.«

»Was weißt du über die Leute in Fredriksens Wohnung?«

Plötzlich wirkte er verängstigt. »Rein gar nichts!«

Er knallte die Tür zu, aber nur, um sie gleich darauf wieder zu öffnen. »Lass es mich mal so sagen: Wenn es herauskommt, dass ich bei dir über diese Leute gezwitschert habe, dann bin ich fertig, und dir wird das auch so gehen, wenn die Richtigen erfahren, dass du sie entdeckt hast.«

»Und mit >die Richtigen< meinst du Bays Bande?«

Aber Schröder wollte nichts mehr sagen. Wieder knallte er die Tür zu, und diesmal endgültig.

Ich ging ins Cecil und holte mir zum Nachdenken ein Bier. Was mir zu schaffen machte, waren die Menschen in Fredriksens Wohnung. Ich war ziemlich sicher, dass die Polizei nur zu gern erfahren würde, dass sie sich dort aufhielten. Ich hatte mich schon fast zu einem anonymen Anruf in der Mollergate 19 entschieden, als mir aufging, dass das vollständig überflüssig sein würde. Wenn die Polizei Fredriksens Leichnam fand, würden sie doch den Tatort untersuchen. Und dann würden sie auch die Wohnung darüber aufsuchen, das war klar.

Nachdem ich das Restaurant verlassen hatte, lief ich ohne ein bestimmtes Ziel durch die verschneiten Straßen. In der Kristian Augusts gate fuhr ein dunkelblauer Citroen an mir vorbei und drosselte sein Tempo augenblicklich. Dann fuhr er an den Bordstein und blieb einige Meter vor mir stehen.

Ich war sofort auf der Hut, riss mich aber zusammen und ging weiter.

Ich war fast an dem Auto vorbei, als ein kleiner, madenhaft fetter Mann ausstieg und mir den Weg verstellte. Ich erkannte ihn sofort. Martin Engers Aussehen vergaß man nicht so leicht, er litt an einem Ekzem, das seine Haut auf dem Kopf und hinter den Ohren in großen Flocken abblättern ließ.

»Hast du Lust auf eine kleine Autofahrt, Erfjord?«, fragte er auf seine übliche schleppende Weise.

Der Mann prunkte geradezu mit seiner Trägheit, aber seine Augen waren ungewöhnlich lebhaft, denen entging nichts.

»Nicht besonders, nein.«

Enger spielte den Enttäuschten. »Aber möchtest du nicht sehen, wer dich einlädt, ehe du dich entscheidest?«

Ich war dumm genug, dieser Aufforderung zu folgen.

Hinter dem Lenkrad saß ein großer magerer Mann in Seidenhemd und hellem Anzug. Sein Gesicht war schmal und knochig und hatte kalte graue Augen. Es war Birger Bay.

 

Er grinste breit. »Spring rein, Erfjord, damit wir miteinander reden können!«

Ein kräftiger Stoß in den Rücken ließ mich fast auf ihn fallen. Enger knallte die Tür zu und setzte sich hinter mich.

Bay ließ den Motor an und fuhr langsam durch die Frederiks gate.

Ich hielt den Augenblick für gekommen, es mit einem Witz zu probieren. »Ja, zum Teufel, Jungs! Wollt ihr mich etwa kidnappen, oder was?«

Bay wandte sich zu Enger um.

»Hörst du, Martin? Der glaubt, wir wollten ihn kidnappen - wie um alles in der Welt kann er denn auf die Idee gekommen sein?«

Ich spürte einen Revolverlauf im Nacken.

»Vielleicht leidet er unter Zwangsvorstellungen«, sagte Enger. »Wir wollen ihn doch nur ein wenig durch die Gegend fahren, oder was?«

»Aber sicher doch«, sagte Bay grinsend. »>Taking him for a ride<, wie sie in den Staaten sagen.«

 

Während Groß-Oslo schläft

 

Nach einigen Minuten hatte ich den ärgsten Schock abgeschüttelt. Mein Gehirn fing sofort an, meine Überlebenschancen zu kalkulieren.

Bay fuhr durch den Ruselokkvei und bog beim Westbahnhof nach links ab. Bisher war die Rechnung einfach. So lange Martin Enger mir nur in den Hinterkopf zu schießen brauchte, hatte ich keine Chance. Ich konnte nur darauf hoffen, dass irgendwer ihn ablenken würde.

Wir fuhren weiter durch die Rädhusgate und bogen in die Skippergate ein. Keine Menschenseele war in dem feuchten Schnee unterwegs und auf auf Vippetangbryggen herrschte keinerlei Aktivität. Aber Bays Wagen wurde erwartet. In der Einfahrt zum Kistenlager standen zwei Männer bereit, um die Türen zu schließen, sowie wir vorbeigerollt waren. Dasselbe wiederholte sich, als wir zu einem dreißig Meter langen Fischkastenlager kamen. Bay fuhr in das rote Holzhaus und schaltete den Motor aus. Hinter uns konnte ich hören, wie die Türen geschlossen wurden. Es wurde stockfinster.

Das war die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte. Ich warf mich mit meinem vollen Gewicht auf Bay, der mit dem Kopf gegen die Autotür knallte. Er stöhnte, sank in sich zusammen und presste die Hand gegen die Schläfe. Ich suchte verzweifelt nach dem Türgriff. Dann spürte ich Engers kräftigen Unterarm um meinen Hals. Er riss mich brutal von der Tür weg und bohrte mir den Revolverlauf in die Wange.

»Das war ja nicht gerade höflich«, sagte er ruhig. »Da wirst du zu einem Fest geholt und gehst als erstes auf den Gastgeber los.«

»Hör auf mit dem Schauspiel, Enger!«, rief ich außer mir vor Angst. »Kannst du nicht lieber offen sagen, dass du mich erschießen willst?«

»Dich erschießen?« Enger spannte den Revolverhahn.

»Wie kommst du denn auf den Gedanken? Hast du das gehört, Birger? Unser Freund hier hat ja seltsame Ideen.«

Bays Antwort war ein harter Schlag auf meine Nasenwurzel.

»Er hält sich für verdammt clever«, fauchte er. »Ich wollte ihm klarmachen, dass er die Finger aus unseren Angelegenheiten zu lassen hat. Aber nach diese Nummer habe ich nicht übel Lust, ihn umzubringen.«

Bay stieg aus dem Auto.

»Na gut, Jungs, gebt uns mal Licht!«

Zwei riesige Scheinwerfer wurden gleichzeitig eingeschaltet. Die Wirkung war umwerfend. Ich konnte eine große Anzahl von Menschen außerhalb des Lichtkreises sehen, konnte sie aber nicht erkennen. Ich kam mir vor wie umgeben von drohenden Schatten, einem Tribunal aus gesichtslosen Phantomen. Zugleich bekam ich einen gewissen Eindruck von den Verletzungen, die Bay mir zugefügt hatte. Mein Hemd war von Nasenblut durchtränkt.

»Holt ihn aus dem Auto, Jungs!«, befahl Bay.

Die »Jungs« befolgten diesen Befehl mit vorbildlichem Eifer. Ich wurde aus dem Auto gezerrt und Bay vor die Füße geworfen. Die Trag- und Schleppmannschaft verschmolz mit den Schatten, ehe ich sie mir richtig ansehen konnte.

Ich blickte zu Bay hoch. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an.

»Und jetzt erzähl mir, für wen du arbeitest, Erfjord«, sagte er.

»Für wen ich arbeite? Ich bin Journalist, das weißt du doch wohl.«

Bay lächelte höhnisch. »Aber sicher doch. Du schreibst für Arbeiderbladet, das weiß ich schon. Aber du gehörst du denen, die zwei Herren dienen, nicht wahr?«

»Und neben Martin Tranmsel, da denkst du an …«

»Hans von Manteuffel.«

Ich konnte mich auf alle Viere quälen. »Wen?«

Bay gab Enger ein Zeichen, und der trat neben ihn. Er hielt den Revolver in der Hand, zielte aber nicht auf mich.

»Ich mache keine Witze«, sagte ich verzweifelt. »Ich habe keine Ahnung, wen du meinst.«

»Hans von Manteuffel ist ein Kunstsammler. Aus Deutschland.«

»Nagut…«

»Du weißt genau, wen ich meine. Mir ist berichtet worden, dass du es ganz schön eilig hattest, als du vor Kurzem Manteuffel hier auf dem Lilletorg gesehen hast.«

Der Spinnenmann also. Natürlich musste Straken Bay von meinem Interesse für diesen Kerl erzählt haben!

»Das bedeutet nicht, dass ich ihn kenne«, sagte ich. »Im Gegenteil, ich habe nie mit ihm geredet.«

»Warum bist du ihm dann nachgelaufen?«

Das war schwieriger zu beantworten.

»Naja, du weißt schon. Ich fand ihn wohl irgendwie komisch …«

Bay lachte laut.

»Ja, so arbeitet wohl ein Kriminalreporter, stelle ich mir vor. Sowie du einen komischen Typen siehst, rennst du hinter ihm her, um zu sehen, was er so ausheckt.«

Plötzlich holte er mit dem Bein aus und versetzte mir einen heftigen Tritt gegen die Schulter. Ich biss mir in die Lippe, um nicht aufzuschreien, ich hatte das Gefühl, als sei jeder Knochen in Schulter und Oberarm gebrochen. Ich hätte mich fast übergeben.

»Dann erklär mir das mal«, sagte Bay unbeeindruckt. »Kaum bedroht Manteuffel uns mit dem Tod, schon tauchst du in Fredriksens Büro auf.«

»Das war ein purer Zufall«, stöhnte ich. »Ich wollte Fredriksen nur ein paar Fragen stellen …«

Enger trat mir in die Seite. Jetzt versuchte ich nicht mehr, stark und mutig zu sein. Ich krümmte mich auf dem Boden in Embryostellung und heulte vor Schmerz.

»Scheiß auf euch! Ihr lasst mich ja nicht mal ausreden!«

»Weil du lügst!«, brüllte Bay. »Und ich habe keine Zeit für Lügen. Versuch lieber, die Wahrheit zu sagen. Manteuffel hat dir aufgetragen, Fredriksen den Ernst der Lage klarzumachen, und sicherheitshalber hast du ihn umgebracht!«

»Herrgott, Bay, das ist doch der pure Blödsinn. Du kannst nicht beweisen, dass ich Fredriksen umgebracht habe. Du kannst nicht einmal behaupten, dass ich Manteuffel kenne, denn das tue ich nämlich nicht.«

Bay packte meine Jacke und zog mich auf die Beine. »Nicht? Ich kann jedenfalls beweisen, dass du mit Manteuffel gemeinsame Bekannte hast. Oder willst du auch bestreiten, dass du vor Kurzem mit Lennart Winther im Molla zusammen warst?«

»Winther ist ein alter Freund. Ich weiß nichts darüber, was er mit diesem Deutschen zu tun hast«, log ich.

»Ja, ja«, sagte Bay. »Dir ging es nur um Interviews. Deshalb bist du auf dem Lilletorg hinter Manteuffel hergerannt und deshalb wolltest du heute zu Fredriksen. Bist du noch nicht auf die Idee gekommen, dass das nicht gerade Leute sind, die gern Interviews geben?«

»Ich muss mir doch Kontakte besorgen, oder was?«

Bay musterte mich lange. »Ich an deiner Stelle würde einen großen Bogen um Hans von Manteuffel machen.«

Ich konnte mich nicht mehr halten. Die Kotze spritzte über den Betonboden. Mir brach am ganzen Leib der Schweiß aus und mir liefen nur so die Tränen aus den Augen. Ich sah kaum, dass Bay zurückweichen musste, um sich nicht die Gamaschen zu versauen.

»Schafft ihn weg, Jungs«, rief er irritiert. »Ich komme morgen zurück, um zu sehen, ob er in besserer Form ist.«

Ich konnte nicht mehr protestieren, als Enger mir mit dem Revolverschaft gegen den Hinterkopf schlug. Ich fiel auf die Knie und mein Oberkörper bewegte sich hilflos hin und her, ich war sicher, dass ich das Bewusstsein verlieren würde. Aber das geschah nicht. Ich merkte, wie eifrige Hände mich an Armen und Beinen fesselten. Von Widerstand konnte keine Rede sein. Ich war restlos benebelt und hätte nicht einen einzigen Muskel anspannen können.

Die Schatten hoben mich hoch und trugen mich durch eine Tür. Ich wurde auf die Knie gedrückt und geknebelt, dann versetzte mir jemand einen heftigen Stoß. Ich fiel auf den Boden. Die Tür wurde zugeschlagen und von außen verschlossen. Erst jetzt wurde alles schwarz.

Was mich weckte, waren die Schmerzen in der Schulter. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich weg gewesen war, es konnten fünf Minuten oder fünf Stunden gewesen sein. Ich lag in der Finsternis und lauschte. Auf der anderen Seite der Tür war alles still.

Die Nacht verging. Zwischendurch war ich bewusstlos. Ich weiß nicht, ob ich einschlief oder in Ohnmacht fiel, jedenfalls wurde ich jedes Mal von meiner verletzten Schulter geweckt, bis mich dann zur Abwechslung lautes Krachen vor dem Lagerhaus hochschrecken ließ. Die Arbeit auf Vippetangbryggen hatte begonnen. Dem Lärm nach zu urteilen wurden Eisenplatten gelöscht.

Ich musste die Gelegenheit beim Schopf ergreifen, so gering meine Chancen auch sein mochten. Ich wollte mich zur Tür schleppen und so heftig dagegentreten, wie ich nur konnte. Wenn ich Glück hätte, würden mich die Hafenarbeiter entdecken, ehe Bays Leute zurückkämen. Aber ehe ich die Tür erreicht hatte, wurde sie aufgeschlossen. Ein kleiner dunkler Typ schlich herein. Es war Tore Schröder.

Er schloss vorsichtig die Tür hinter sich zu und ging in die Hocke. »Nicht einen Mucks, Erfjord«, flüsterte er. »Die Knaben da draußen sind endlich eingeschlafen, und so sollte das besser auch bleiben. Steh auf, damit ich dich losbinden kann.«

Ich gehorchte. Die Scheinwerfer von Vippetangbryggen leuchteten durch ein kleines Fenster unter der Decke. Zum ersten Mal konnte ich mich im Raum umsehen. Fredriksens Archiv war auf dem Boden aufgestapelt, aber das war noch nicht alles. Der Raum war vollgestellt mit Stühlen, Tischen, Sofas, Spiegeln und Gemälden.

Schröder nahm mir den Knebel ab.

»Hat Bay sich auf die Möbelbranche verlegt?«, fragte ich.

»Wenn ich die Frage beantworte, sind wir beide erledigt.«

Ich blickte ihn überrascht an. Es war deutlich, dass Schröder das ernst gemeint hatte. Er musterte mich aus ängstlichen Augen und fuhr sich mit einer zitternden Hand über den Mund. Vermutlich konnte er es nach seiner Sauftour nicht ertragen, nüchtern zu werden.

»Ich hatte es nicht für so gefährlich gehalten, Möbel zu verkaufen?«

»Es gibt nichts Gefährlicheres. Komm jetzt mit und sei still.« Wir schlichen uns an den Wachen vorbei. Sie saßen in Sesseln, die sie aus dem Möbellager geholt hatten, und schliefen,

umgeben von leeren Flaschen. Schröder musste sich die ganze Nacht nüchtern gehalten haben, um mich irgendwann befreien zu können.

Er schloss vorsichtig die Tür des Lagerhauses und machte mir ein Zeichen, mich zu beeilen. Als wir die Fischverkaufshalle erreicht hatten, packte ich ihn mit meinem unversehrten Arm.

»Warum hast du dir die Sache anders überlegt, Tore?«

»Anders überlegt?«

Er versuchte, sich loszureißen, aber ich hielt ihn nur noch fester.

»Versuch nicht, dich hier rauszureden, Tore. Du hast mir Ärger gemacht, indem du Bay von meinem Besuch bei Fredriksen erzählt hast - es kann kein anderer gewesen sein. Du hast sicher eine Chance gesehen, wieder in Gnaden aufgenommen zu werden, stelle ich mir vor. Und jetzt hast du dir alles ruiniert, indem du mir bei der Flucht geholfen hast. Warum, Tore?«

Er schüttelte lange und ausgiebig den Kopf. Dann schaute er mich aus zwei verängstigten Augen an. »Weil alles sich geändert hat. Wir sind in etwas hineingerutscht, das viel zu groß für uns ist. Alle haben Todesangst.«

»Auch Bay?«

»Ja, auch Bay. Ich hab ihn noch nie so gesehen wie dir gegenüber. Ich hätte schwören können, dass Bay kein Mörder ist, aber jetzt würde er über Leichen gehen, um seine Haut zu retten. Ich habe dir das Leben gerettet, Erfjord. Und zugleich dafür gesorgt, dass mein eigenes keinen sauren Hering mehr wert ist. Ich komme mir vor wie zum Tode verurteilt.«

»Aber das ist doch ein besseres Gefühl, als an einem Mord mitschuldig zu sein?«

Er nickte.

»Was hast du jetzt vor?«

Er riss sich los. »Ich habe vor, zu verduften. Wenn es sein muss, für immer.«

Er verschwand in der Nacht. Und ich hatte ihn zum letzten Mal gesehen.

Sein Abschiedsgruß sollte sich als prophetisch erweisen, wenn auch auf ganz andere Weise, als Tore Schröder sich das vorgestellt hatte.

 

Die Organisation

 

Im Krankenhaus wurde eine ausgerenkte Schulter festgestellt. Zuerst war ich erleichtert, weil es nicht schlimmer war, aber da wusste ich noch nicht, wie die Behandlung aussehen würde. Der Arzt sagte, ich solle ganz locker bleiben, packte den Stuhlsitz und renkte mir die Schulter wieder ein. Mein Geschrei hallte an den Wänden wider. Danach flickte er die hässliche Wunde über der Nasenwurzel zusammen.

Vom Empfang im Erdgeschoss aus bestellte ich mir eine Droschke. Wir fuhren durch ein Oslo, das sich von seiner schlimmsten Seite zeigte. Der weiße Schnee, der die Straßen bedeckt hatte, war hohem Matsch gewichen, die Häuser standen da wie todtraurige Kästen und die Fußgänger waren im Nebel kaum zu sehen. Der Himmel lag wie eine schwere Bedrohung über der Stadt.

Als wir die Nedre gate erreicht hatten, bezahlte ich und lief ins Haus. Erst in der Wohnung konnte ich mich entspannen. Ich fühlte mich geborgen, als ich auf die Chaiselongue sank wie nach einem ganz normalen Arbeitstag.

Nach einer Weile fiel mir auf, dass es im Zimmer ungewöhnlich kühl war. Zugleich nahm ich einen leichten Tabakgeruch wahr.

Ich setzte mich auf und ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen auf der Suche nach etwas, das nicht hierher gehörte.

Die schweren Samtportieren vor dem Fenster waren geschlossen. Darunter lugten zwei elegante Schuhspitzen hervor.

Würde ich die Wohnung unbemerkt verlassen können? Lautlos richtete ich mich auf.

»Wollen Sie schon wieder fort, Herr Erfjord? Ich hatte auf einen kleinen Plausch gehofft.«

Das war langsam gesagt worden, mit leichtem deutschen, möglicherweise südosteuropäischem Akzent.

»Was wollen Sie hier?«, frage ich nervös.

Die Vorhänge wurden zur Seite geschoben. Es war der Mann mit der Boxernase. Er stand am offenen Fenster und rauchte eine Zigarette. Er sah nicht aus, als ob er üble Absichten hegte. Stattdessen wirkte er ziemlich unschuldig mit seinen langen Wimpern und den dunklen Locken.

Der Mann lächelte. »Wie gesagt. Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen wechseln.«

»Sie können mit mir Deutsch sprechen - meine Mutter ist aus der Schweiz«, fiel ich ihm auf Deutsch ins Wort.

»Vielen Dank, junger Mann, aber in Henrik Wergelands schönem Heimatland ziehe ich dessen Sprache vor.«

Der Mann schnippte die Zigarette aus dem Fenster und schloss es.

»Mein Name ist Jacob Bondi.«

Ich fuhr zusammen, als er die Hand in sein Jackett schob. Bondi lächelte und schüttelte den Kopf. Dann zog er ein Zigarettenetui hervor und öffnete es.

»Was rauchen Sie am liebsten, Herr Erfjord? Marmara links, Speed rechts. Ich kaufe immer Zigaretten von Glotts Tabakfabrik, wenn ich hier in Norwegen bin.«

»Nein danke, ich rauche nicht.«

»Stört es Sie dann, wenn ich …?«

»Bitte sehr.«

Er suchte sich im Etui eine Zigarette auf der Virginiaseite aus. Dann zeigte er auf mein blutiges Hemd.

»Sie scheinen einen anstrengenden Tag hinter sich zu haben. Vielleicht sollten Sie sich setzen?«

Eine gute Idee. Ich merkte plötzlich, dass der Schmerz in meinem Hinterkopf sich verschlimmert hatte, seit die Schulter wieder eingerenkt war. Ich ließ mich wieder auf die Chaiselongue sinken, während Bondi sich auf die andere Seite des Couchtischs setzte.

»Der Grund, aus dem ich mit Ihnen sprechen möchte, Herr Erfjord, ist, dass Sie mehrmals mein Interesse geweckt haben. Ich denke da nicht nur an unsere … sagen wir mal so, unsere unglückliche Begegnung vor dem Haus von Großhändler Rustad.«

»Sie waren das also! Es ging Ihnen offenbar um meinen Presseausweis. Was wollten Sie eigentlich damit?«

Er sprach weiter, als ob er niemals unterbrochen worden wäre. »Ich denke auch an Ihren Besuch in Rustads Lager. Ich weiß natürlich, dass Sie Reporter sind und dass solche Untersuchungen zu Ihren Aufgaben gehören. Aber als Sie dann angefangen haben, Interesse für Birger Bays Aktivitäten zu zeigen …«

»Wenn Bay Sie geschickt hat«, unterbrach ich ihn, »dann können Sie ihm das hier ausrichten: Was immer er glauben mag, ich habe absolut nichts mit Fredriksens Tod zu tun.«

Bondi klopfte mit der Zigarette auf den Deckel des Etuis, dann schob er sie sich zwischen die Lippen.

»Das ist natürlich durchaus interessant. Aber Sie erzählen das dem Falschen. Ich bin keiner von Birger Bays Männern.«

»Nicht?«

Bondi gab sich Feuer.

»Nein. Die Organisation, zu der ich gehöre, ist … was soll ich sagen? Sie ist von einer ganz anderen Beschaffenheit. Würden Sie mir glauben, wenn ich sagte, dass sie über zweihundert Jahre alt ist und in den meisten Ländern Niederlassungen besitzt?«

»Vielleicht. Hat diese Organisation einen Namen?«

Bondi hob Frau Wegers römischen Helm hoch und musterte ihn eingehend.

»Die Bezeichnung variiert, auch unter Eingeweihten. Wir arbeiten im Stillen, wissen Sie. Selbst unsere Mitglieder wissen in der Regel nichts, ehe wir Kontakt aufnehmen.«

Er klopfte die Asche ab.

»Aber lassen Sie mich Ihre Frage so beantworten: Persönlich ziehe ich die Bezeichnung Organisation vor. Dabei gibt es weder religiöse noch ideologische Assoziationen.«

Ich lächelte unsicher. »So, wie Sie das beschreiben, klingt es überhaupt nicht wie irgendeine Organisation.«

Bondi nickte.

»Das ist korrekt. Unser Programm ist aber auch äußerst pragmatisch.«

»Und was machen Sie nun eigentlich?«

»Wir beschützen uns selbst.«

Ich sah ihn überrascht an. »Genau wie alle anderen, also. Warum reden Sie dann von einer Organisation?«

»Aus dem einfachen Grund, dass wir eine sind. Die Organisation hat einen Gründer und eine gemeinsame Geschichte. Wir haben auch eine Lehre und gewisse Rituale, die ich Außenstehenden gegenüber jedoch nicht beschreiben darf.« Bondi lächelte. »Verzeihen Sie mir meinen kindlichen Hang zur Geheimniskrämerei«, sagte er dann. »Aber es liegt nicht nur an dieser irritierenden Unsitte, wenn ich mich so vage ausdrücke. Als Mitglied habe ich mir das Joch des Schweigens auferlegen lassen, verstehen Sie?«

Ich sah mir meinen theatralischen Gast genau an. Er sprach offenbar über eine Art Freimaurertum, aber er trug keine anderen Symbole als einen Ring mit einen ungewöhnlichen Kreuz (f).

»Sie sind also nicht gekommen, um mich anzuwerben?«

Bondi schüttelte den Kopf. »Nein. Entweder man wird als Mitglied geboren oder nicht. Außerdem finden solche Gespräche immer an dem Tag statt, an dem der Anwärter heiraten will.«

Für einen Moment war ich sicher, dass ich es mit einem Verrückten zu tun hatte. Wenn er sich in Privatwohnungen einschlich und behauptete, einer uralten weltumspannenden Vereinigung anzugehören, verbrachte Jacob Bondi seine übrigen Tage vermutlich in der Zwangsjacke.

Dann fing ich seinen Blick ein.

Nein, dieser Mann konnte unmöglich geisteskrank sein. Ich würde das, was er sagte, ernst nehmen müssen, so fantastisch es sich auch anhören mochte.

Er drückte seine Zigarette aus.

»Ich bin gekommen, um Sie zu warnen.« Er zögerte, suchte seine Worte mit großer Sorgfalt aus. »Vor einem engen Freund von Ihnen, vor Herrn Lennart Winther.«

Ich spürte, wie es mir eiskalt den Rücken hinablief.

»Was ist mit Lennart?«

Bondi musterte mich mit strengem Blick. »Sie sollten ihm aus dem Weg gehen. Das ist zu Ihrem Besten …«

Ich lachte nervös. »Keine Sorge. Birger Bay hat es auf mein Leben abgesehen. Bis er sich also eines Besseren besinnt, werde ich mich bedeckt halten. Ich werde in der nächsten Zeit keinen Kontakt zu Lennart oder zu irgendjemandem sonst aufnehmen.«

Jacob Bondi schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein. Er setzte seinen Hut auf.

»Es beruhigt mich, das zu hören. Aber was Bay angeht, können Sie ganz entspannt bleiben. Der wird bald andere Sorgen haben. Er wird Sie nicht mehr belästigen.«

Er ging zur Tür, blieb aber kurz davor stehen. »Das Einzige, was Ihre Sicherheit bedroht, ist Herr Winther. Er steht am Rande des Abgrunds, um es so zu sagen. Wenn Sie versuchen, ihm zu helfen, werden Sie beim Sturz möglicherweise mitgerissen.«

Er hob höflich den Hut. »Leben Sie wohl, Herr Erfjord!«

 

Diesmal benutzte er nicht die marode Feuerleiter. Ich blieb bewegungslos sitzen, während er die Wohnungstür schloss. Ich konnte seine Schritte auf der Treppe noch eine Weile hören, dann wurde es still. Eine ganze Zeit danach nahm ich nicht das geringste Geräusch wahr, dann fiel die Haustür unten ins Schloss. Mit großer Mühe schleppte ich meinen geschundenen Körper von der Chaiselongue zum Fenster. Bondi ging in Richtung Mollervei. Die Bahn war frei.

Ich ging in den Flur hinaus und wählte die Nummer des Chat Noir.

Ein junger Mann meldete sich. »Klingenberg Theater, bitte sehr!«

»Hier spricht Erfjord von Arbeiderbladet«, sagte ich. »Ich würde gern mal vorbeischauen, um Lennart Winther Guten Tag zu sagen. Wissen Sie, ob er sich gerade im Theater aufhält?«

»Das tut er ganz bestimmt. Nachdem er am Mittwoch gewaltig zusammengestaucht worden ist, sitzt er zwischen den Proben nur noch schmollend in der Garderobe.«

»Warum ist er denn zusammengestaucht worden?«

»Er war nicht da, als die Nachmittagsprobe um drei Uhr anfangen sollte. Das ist in diesem Theater eine Todsünde. Herr Winther hat es geschafft, nicht weniger als eine Dreiviertelstunde zu spät zu kommen. Ich rechnete schon damit, dass Amble-Naess platzen würde, so wütend war er.«

»Was Sie nicht sagen! Hat Lennart denn jetzt Pause?«

»Ja, sicher. Soll ich oben im Schauspielerfoyer anrufen und fragen, ob jemand ihn holen kann?«

»Nein, danke«, sagte ich. »Soll die Primadonna nur weiterschmollen. Umso besser wird seine Laune sein, wenn ich auftauche.«

Ich rief beim nächsten Droschkenhalteplatz an und bat um einen Wagen. Danach goss ich Wasser in die Waschschüssel, zog meine blutige Kleidung aus und wusch mir gründlich den Oberkörper. Als die Türklingel ertönte, war ich so präsentabel, wie mein Zustand es überhaupt erlaubte, in hellgrauer Windjacke und zimtbrauner Kniebundhose. Ich ließ die Tür ins Schloss fallen und ging mit steifen Schritten die Treppe hinunter zur wartenden Droschke.

Jetzt sollte Lennart gefälligst die Karten auf den Tisch legen!

 

Im Chat Noir

 

Eine Viertelstunde darauf stand ich vor dem viereckigen Theatergebäude mit dem Mansardendach und den Zwiebelkuppeln zu beiden Seiten der Eingangspartie. Der Tivoligarten war düster und deprimierend mit seinen leeren Häusern, nackten Bäumen und stillgelegten Springbrunnen, alles hier schien resigniert zu haben und nur noch darauf zu warten, dass es vom Fortschritt hinweggefegt würde. Gleich hinter dem Klingenberg-Theater ragte das Skelett des neuen Rathauses in den Himmel. In einigen Jahren würde dieser Klinkerriese ganz allein über einen von modernen Geschäftshäusern umsäumten Platz herrschen, dachte ich. Der Tivoligarten, diese bezaubernde grüne Oase mitten in der Stadt, würde von den Füßen des Giganten zertreten werden. Eine neue Zeit für die Stadt zog herauf.

Im Restaurant des Klingenberg-Theaters saßen Bias Bernhoft und Arild Feldborg, eifrig in die Bearbeitung eines Revuetextes vertieft. Sie bemerkten nicht einmal, dass ich durch das Lokal ging und dann die Tür zum Treppenhaus hinter der Vorbühne öffnete. Dahinter war die Orientierung schwieriger. In der Dunkelheit spendete eine blaue Lampe gerade so viel Licht, dass ich die schmale Treppe ahnen konnte, die zu den Etagen für Schauspielerfoyer, Nähstube und Malersaal hinaufführte.

Zögernd stieg ich die ersten Stufen hoch, aber bald tauchten verschmutzte Glühbirnen in alten Fassungen auf, was es mir ermöglichte, mein Tempo zu steigern. Ich erreichte eine Tür, die auf einen Gang mit Garderoben auf beiden Seiten führte. Es war, wie durch ein langes schmales Lager zu gehen, in allen Winkeln und Nischen standen alte Requisiten, ausrangierte Möbel und mit noch verwendbaren Kostümen überhäufte Garderobenständer. Ich hatte das Gefühl, hier stundenlang umherirren zu können, ohne die richtige Garderobe zu finden. Aber am Ende hatte ich Glück und fand eine Tür, an der Lennarts Name stand.

Ich klopfte an und ging hinein, ohne auf Antwort gewartet zu haben.

Lennart saß da mit dem Rücken zu einem großen Spiegel mit Glühbirnen am Rahmen. Oben am Spiegel und an einer Tafel daneben waren Briefe befestigt, die er von seinen Bewunderinnen erhalten hatte. Er trug einen leuchtenden dunkelroten Schlafrock und stützte den Ellbogen auf einen von Schminke, Cremetöpfen und Puderquasten bedeckten Tisch. In der Hand hielt er ein Glas Rotwein, das er diskret auf den Tisch setzte, als er mich entdeckte.

»Was zum Teufel, Erik, wie siehst du denn aus!«

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich beugte mich über ihn, um einen Blick in den Spiegel zu werfen. Unter dem Pflaster war mein Nasenrücken geschwollen und verfärbt an der Stelle, wo Bays Faust ihn getroffen hatte. Ich sah aus, als ob ich gerade nach einem gediegenen Knock-out zu mir gekommen wäre.

»Nicht der Rede wert«, sagte ich. »Sprechen wir lieber über dich. Ich will alles wissen über Hans von Manteuffel und über den Teufelskram, den ihr zwei mit der Bay-Bande am Laufen habt.«

Lennart starrte mich mit offenem Mund an. Nach einer Weile wich dieser Ausdruck einem höhnischen Grinsen.

»Manteuffel ist Filmregisseur, das habe ich dir doch schon gesagt. Ich helfe ihm bei den Vorbereitungen zu Dreharbeiten in Oslo - aber auch das weißt du. Wir haben durchaus nicht vor, irgendeine Bay-Bande als Statisten zu engagieren. Was sind das eigentlich für finstere Typen?«

Ich beugte mich weiter vor. »Birger Bay war einer der bekanntesten Schmuggler hierzulande. Nachdem das Alkoholverbot aufgehoben worden war, hat er versucht, sich durch andere Verbrechen zu ernähren: Versicherungsschwindel, Erpressung und Ähnliches. Aber jetzt hat er die alte Schmugglerroute wieder eröffnet …«

Lennart musterte mich aus dem Augenwinkel. Ich konnte sehen, dass er auf die Gelegenheit wartete, das alles als Witz abzutun.

»Und was schmuggelt er denn jetzt?«

»Ich würde wetten, Kokain.«

Lennart wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Du hattest immer schon eine lebhafte Fantasie, Erik.«

»Diesmal nicht. Und du kannst aufhören, dein Weinglas zu verstecken. Ich habe es schon längst gesehen.«

Er zuckte zusammen. Aber schon Sekunden darauf war die überlegene Miene wieder da.

»Wenn du darüber reden willst, dass ich ab und zu ein wenig Kokain schnupfe, dann brauchst du nicht um den heißen Brei herumzureden, Erik. Wir kennen uns lange genug, um alles offen sagen zu können. Findest du nicht?«

Das kam überraschend für mich. Und ehe ich antworten konnte, hatte er schon sein Glas gepackt.

»Prost!«, sagte er und leerte es auf einen Zug.

Ich sah ihn lange an. Seine Hand war nicht ganz sicher gewesen, als er mir zugetrunken hatte, und jetzt hatte er den Kopf gesenkt, als graue ihm davor, was ich als Nächstes sagen würde. Plötzlich wurde ich von Mitleid überwältigt. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Na gut«, sagte ich, so ruhig ich konnte. »Ich werde ganz offen sein. Ich glaube, dein Kokainkonsum macht dich kaputt. Sicher ist er der Grund dafür, dass deine Filmkarriere in Deutschland ein plötzliches Ende genommen hat, und jetzt höre ich, dass sie auch hier im Chat Noir Probleme mit dir haben. Du kümmerst dich nicht mehr richtig um deine Arbeit. Und du lässt dich von gefährlichen Leuten ausnutzen wie diesem Manteuffel, wer immer das sein mag.«

Lennart spielte nervös mit der Kette um sein Handgelenk.

»Wie kommst du denn bloß auf diese Ideen?«, fragte er versuchsweise.

Ich packte seine Schulter fester. »Vielleicht wäre es an der Zeit, dass auch du einen Blick in den Spiegel wirfst. Tu das. Dreh dich um und sieh dich an.«

Widerwillig folgt er dieser Aufforderung. Ich sah, wie er sich wand beim Anblick des mageren bleichen Gesichts mit den dunklen Augenhöhlen.

»Alle können sehen, dass du Probleme hast, Lennart. Man braucht mehr als Schminke und schaupielerisches Talent, um das zu kaschieren. Außerdem ist mir ganz offen gesagt worden, dass du in argen Schwierigkeiten steckst.«

»Und wer hat das gesagt?«

»Jacob Bondi.«

Gespannt wartete ich auf seine Reaktion. Ein kleines Zucken des Mundwinkels war alles. »Nie von dem Kerl gehört.«

»Das kannst du mir nicht einreden, Lennart.«

Er riss sich los und kehrte dem Spiegel wieder den Rücken zu. Wortlos fing er an, sein Glas erneut zu füllen.

»Jacob Bondi, Lennart. Ich gehe erst, wenn du mir gesagt hast, wer das ist.«

Lennart zog eine Tüte mit weißem Pulver hervor und kippte es in seinen Wein.

»Na los, Lennart.«

Er verrührte das Kokain mit einem Teelöffel und prostete mir lächelnd zu. Ich packte sein Handgelenk. »Was zum Teufel machst du da!«

Er lächelte mir weiter zu. »Loslassen. Erik, dann erzähle ich dir von Bondi.«

Ich gehorchte.

Lennart schüttete den Wein in sich hinein und fuhr sich mit dem Mittelfinger über die Lippen. »Vielen Dank, Erik. Jetzt kannst du gehen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«

Mich überkam ein heftiger Zorn. Und ehe ich mich versah, hatte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Als er die Arme hob, um sich zu schützen, schlug ich ihm das Glas aus der Hand. Es zerschellte an der Wand mit einem Knall, bei dem Lennart aus dem Sessel auffuhr. Ich wollte zum dritten Mal ausholen, konnte mich dann aber beherrschen. Gleich darauf merkte ich, wie meine Augen sich mit Tränen füllten. Ich konnte die Garderobe verlassen, ehe Lennart das bemerkte.

Ich verließ das Theater durch den Bühneneingang neben dem Cirkus Verdensteater, lief weiter durch das Tor mit der Medinareklame und vorbei am Kartenkiosk, dann blieb ich in der Klingenberggate stehen. Ich kämpfte mehrere Minuten lang mit den Tränen. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich die Besinnung verloren hatte, weil ich in einem fatalen Augenblick vergessen hatte, dass Lennart nicht mehr Herr seiner selbst war. Ein Mensch in der tödlichen Umarmung des Kokains ist egoistisch, tückisch, verlogen und den Gefühlen anderer gegenüber gleichgültig. Dass alles war mir absolut bewusst gewesen, aber dennoch hatte ich mich verletzt gefühlt. Deshalb hatte ich Lennart angegriffen, obwohl ich doch keinen dringlicheren Wunsch hatte, als ihm zu helfen.

Ich machte kehrt und ging zurück. Ich stieg die dunkle enge Treppe hoch und klopfte an Lennarts Garderobentür. Von drinnen war nichts zu hören. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit. Lennart war verschwunden.

Ich vermutete ihn unten im Restaurant. Aber als ich die Tür zur Vorbühne öffnete, hörte ich von oben Stimmen. Aus irgendeinem Grund war ich sofort auf der Hut, als ob ich instinktiv begriffen hätte, dass das Gespräch wichtig war.

Ich schloss die Tür vorsichtig und machte einen Schritt auf die dunkle Bühne hinaus. Ich schaute hoch zum Schnürboden, sah aber nur Scheinwerfer, Vorhänge, wacklige Gehsteige und Tauwerk. Dann begriff ich, woher die Stimmen kamen. Ich ließ meinen Blick nach oben wandern und entdeckte Lennart und Manteuffel auf der Schnürmeistergalerie. Lennart lehnte am Geländer, während Manteuffel über ihm aufragte. Mein Rücken wurde eiskalt, als ich die Stimme des Deutschen hörte. Sie war unnatürlich hell für einen erwachsenen Mann, und er redete nervös und abgehackt.

»Fall Sie recht haben, Herr Winther, dass Bondi im Lande ist, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen. Sabotage, Spionage und andere Wühlarbeit sind seine zweite Natur. Nur wenn wir zu den brutalsten Mitteln greifen, können wir uns vor ihm schützen. Das gilt natürlich auch für seine Leute.«

Lennart richtete sich auf und fuchtelte verzweifelt mit den Armen. »Ja, aber was Bondi auch getan haben mag, ist das eine …«

Manteuffel fiel ihm ins Wort. »Muss ich Sie daran erinnern, welche Verbrechen Bondi und seine Leute begangen haben? Seit Jahrhunderten führen sie Attentate gegen Staatsoberhäupter aus, sprengen sie öffentliche Gebäude, verursachen Unfälle und Schiffbrüche. Ihr Ziel ist es, die ganze Welt in Anarchie zu stürzen …«

»Das weiß ich, das weiß ich, aber dennoch …«

 

Manteuffel brachte ihn mit einer drohenden Handbewegung zum Schweigen.

»Die Frage ist, Herr Winther, kann ich auf Sie zählen oder nicht?«

Leider konnte ich Lennarts Antwort nicht mehr hören. Die Tür auf der anderen Seite der Bühne wurde geöffnet und Bernhoft und Feldborg kamen herausmarschiert.

»Weg mit diesen trockenen, bleichen, gelben«, rief Bernhoft zufrieden.

Feldborg sah das anders. »Nein, bleichen, sauren, gelben klingt besser!«

»Na, von mir aus. Weg mit diesen trockenen, bleichen, sauren, gelben, erst dann kommt Schwung in die Sache.«

»Großartig. Einfach großartig!« Ich schaute zur Galerie hoch. Manteuffel und Lennart waren verschwunden.

 

Die Brandkatastrophe

 

Es war später Nachmittag, als ich in der Redaktion eintraf. Ich ließ mir im Vorzimmer die Ausgabe des Tages geben und ging weiter in die Redaktionsräume. Unter den Mitarbeitern herrschte Aufbruchsstimmung, niemand achtete sonderlich auf mich. Ich öffnete die Tür zu dem Büro, das Mr. George und ich mit der Gewerkschaftsredaktion teilten. Hier hatten offenbar alle schon Feierabend gemacht.

Ich setzte mich an einen Schreibtisch und fing an, Arbeiderbladet vom 13. Januar 1934 zu lesen. Mein Blick fiel auf einen Artikel über den Schneefall des Vortages. Der hatte zu mindestens tausend Fehlschaltungen im Osloer Telefonsystem geführt. 193 Männer waren eingesetzt worden, um die Straßen vom Schnee zu befreien, was in harte Schufterei umschlug, als es dann später am Tag milder geworden war.

Meine Aufgabe an diesem Abend bestand wie üblich darin, ausländische Nachrichtentelegramme zu übersetzen. Plötzlich merkte ich, wie erschöpft ich war. Mir fielen die Augen zu und immer wieder musste ich einen Satz mehrmals lesen.

Über den Schreibtisch gebeugt versank ich im grauen Raum zwischen Schlafen und Wachen. Ich hatte keinen Halt mehr unter den Füßen und baumelte an einem Arm an der brüchigen Eisenleiter des Fabrikschlotes. Verzweifelt streckte ich die Hand zu Lennart aus, der grinsend auf mich herabblickte. Gleich darauflag ich auf dem lehmigen Boden von Myralokka, während drei Jungen aus Torshov mit den Fäusten auf mich einhämmerten. Aus dem Augenwinkel sah ich Lennart, der das alles mit verschränkten Armen beobachtete.

Im Vorzimmer des Redakteurs klingelte ein Telefon. Ich war zu schläfrig, um zu reagieren. Als der Lärm sich endlich legte, war ich sofort wieder weit weg.

Es schien nur Sekunden später zu sein, als das Telefon auf meinem Schreibtisch ertönte. Ich riss den Hörer von der Gabel. »Was’n los?«

Es kam keine Antwort, und ich versuchte es mit einer förmlicheren Variante: »Arbeiderbladets Redaktion, bitte sehr.«

Eine aufgeregte Frauenstimme rief am anderen Ende: »Wisst ihr überhaupt, dass es brennt?«

»Wo brennt es?«

»In der Dronningens gate.«

»Verstanden«, sagte ich. »Wir kommen sofort.«

Als ich zu Holt hinüberstürzte, ging mir auf, dass es spät sein musste. Er lag in tiefem Schlaf über seinem Schreibtisch, vor ihm stand eine leere Schnapsflasche. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Viertel nach zwei. Ich machte einen halbherzigen Versuch, den sturzbetrunkenen Mann zu wecken, dann schnappte ich mir die Telefonliste. Ich hatte Glück. Fotograf Sorensen war wach und angezogen und versprach, umgehend eine Droschke in die Dronningens gate zu bestellen. Ich lief los.

Draußen auf der Straße nahm ich sofort die Katastrophenstimmung wahr. Kein Mensch war zu sehen, obwohl es Samstagabend war. Es war nicht schwer zu erraten, wo alle steckten. Die Leute in Oslo, die noch keinen Schlaf gefunden hatten, waren von der riesigen grauen Rauchwolke angezogen worden, die über dem Zentrum aufstieg. Der Brand beleuchtete den Nachthimmel und man hätte meinen können, der Morgen ziehe bereits herauf.

Als ich in der Dronningens gate angekommen war, sah ich, dass der oberste Stock von Fredriksens Geschäftshaus in Flammen stand. Hoch oben auf den Leitern standen Feuerwehrleute und spritzten Wasser auf das brennende Dach, während zwei oder drei Polizisten die Evakuierung der Nachbarhäuser leiteten. Menschen, die aus dem Schlaf gerissen worden waren, drängten sich unten auf der Straße und froren in ihrer Nachtkleidung. Ein lahmes Mädchen wurde aus dem Haus getragen und war gleich darauf umringt von weinenden und dankbaren Verwandten.

Plötzlich krampfte sich mein Magen zusammen.

Für einen Moment sah ich vor mir die junge dunkeläugige Frau, die am Tag zuvor Fredriksens Wohnungstür geöffnet hatte. Ich hatte sie vollständig vergessen. Hatte sie sich noch in der Wohnung aufgehalten, als das Feuer ausgebrochen war? Und was war mit dem Mädchen?

Ich schaute zur Wohnung hoch. Das Feuer hatte jetzt alle Räume erfasst. Immer wieder knallte es, weil Teile des Dachs einbrachen. Ein Feuerwerk aus Funken wirbelte hoch und wurde vom Wind mitgerissen. Dachziegel rutschten durch die nächtliche Dunkelheit und zerbrachen auf dem Bürgersteig.

Aber in Fredriksens Wohnung gab es keine Anzeichen von Leben.

Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge. Das war nicht leicht, die Leute versperrten mir den Weg und wollten ihre Logenplätze am Rand der Katastrophe nicht hergeben. Alle redeten wild durcheinander, über die Ursache des Brandes, über die Löscharbeiten und über die Frage, ob Menschenleben verloren gegangen seien. Dann entdeckte ich Bürochef Brodin und Kriminalrat Riisnaes. Mit großer Mühe konnte ich ihnen nahe genug kommen, um zu hören, was sie sagten.

»Natürlich ist Versicherungsschwindel eine häufige Ursache für Brandstiftung«, dozierte Riisnaes wie auf einem Polizeikongress. »Aber durchaus nicht die einzige. Untersuchungen zeigen, dass im Nachkriegsdeutschland etliche Pyromanen ihr Unwesen getrieben haben, einzelne haben mehr als siebzig Brände gelegt…«

»Ich glaube, deine Beispiele aus Deutschland kannst du in diesem Fall mit gutem Gewissen vergessen«, wandte Brodin ein. »Dieser Brand ist von Birger Bay gelegt worden. Ich weiß, er hat vorher alle Wertgegenstände aus dem Haus entfernen lassen. Wenn meine Quellen recht haben, hat die Bande ihre Aktivitäten in ein neues Hauptquartier verlegt.«

»Aber das Haus ist nicht leer!«, rief ich.

Brodin hatte mich nicht gehört. Er richtete seinen mahnenden Zeigefinger auf Riisnaes. »Deshalb ist es wichtig, dass Bruff an dieser Brandstätte gründliche Arbeit leistet. Wenn er keine Spuren findet von Petroleum, Leinöl oder was immer Bay benutzt hat, muss er sich alles eben noch mal ansehen, denn dieser Brand ist gelegt worden. Das steht verdammt noch mal fest.«

»Und der Mord an Fredriksen?«, fragte Riisnaes.

»Liegt daran, dass er Bay dieses Haus vermacht hat. Ich kann mitteilen, dass es für 300 000 Kronen versichert ist. Du kannst davon ausgehen, dass ich auf diesen Brand schon gewartet habe.«

Ich reckte den Hals und rief so laut ich konnte: »Hallo, Riisnaes! Ich habe wichtige Auskünfte!«

Diesmal hörten mich die beiden Streithähne. Riisnaes befahl der Menge, mich durchzulassen. Ich vergeudete keine Zeit. »In Fredriksens Wohnung wohnt jemand. Ich war gestern dort.«

Riisnaes und Brodin sahen mich an wie einen Verrückten. Ich ging zu ihnen und legte ihnen die Hände auf die Schultern, während ich einem nach dem anderen ernst ins Gesicht blickte. »Ich bin nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube, es sind ziemlich viele. Sie können da oben im Flammenmeer umgekommen sein. Wirklich alle.«

Wir schauten unwillkürllich alle drei zu der Wohnung hoch. In diesem Moment zersprang ein Fenster und die Scherben klirrten über die Fassade, gefolgt von einem Funkenregen, der in die Dunkelheit hinausstob. Gleich darauf wurde der Wind durch das zerbrochene Fenster gesaugt und ließ die Flammen drinnen mit aller Kraft hochlodern. Die Decke in der Wohnung war vernebelt von dunkelgrauem wogenden Rauch.

Brodin brach die Stille. Er wandte sich an Riisnaes: »Aber nach dem Mord an Fredriksen hat die Polizei doch sicher alles durchsucht?«

Riisnaes starrte noch immer zu der brennenden Wohnung hoch. »Die war abgeschlossen«, sagte er mit gepresster Stimme.

Ich konnte sehen, dass er vor Zorn bebte.

Dann schaute er mich an und rief hysterisch: »Die Wohnung war verschlossen, und wir konnten bei Fredriksen keinen Schlüssel finden. Da wir nicht wussten, dass sie bewohnt war, bestand kein Grund, die Tür aufzubrechen.« Er packte vor Wut bebend meinen Arm. »Ich sollte Sie hier und jetzt festnehmen!«

»Und warum?«

»Weil Sie wichtige Informationen zurückgehalten haben. Sie können mitschuldig daran sein, dass Menschenleben verloren gegangen sind, Herr Erfjord.«

Mehrere Schaulustige hatten die Szene beobachtet. Ich merkte zu meinem Entsetzen, dass ich mich zu einer größeren Attraktion entwickelte als der Brand an sich. Egal, wohin ich schaute, überall sah ich misstrauische Blicke.

»Ganz ruhig jetzt, Riisnaes«, sagte Brodin. »Wenn in der Wohnung da oben Menschen waren, dann hätten sie versucht, sich zu retten. Und wir hätten sie gesehen!«

»Ach was. Es hat eine halbe Minute gedauert, bis die ganze Wohnung brannte. Wenn dort Menschen waren, haben sie es einfach nicht geschafft, herauszukommen.«

»Sie können mich jetzt aber nicht festnehmen, Herr Riisnaes«, sagte ich. »Ich bin hier, um über die Brandkatastrophe zu berichten.«

»Na gut, na gut…« Riisnaes winkte mich irritiert fort.

»Natürlich sollen Sie Ihre Arbeit tun. Aber bei der ersten Gelegenheit kommen Sie in mein Büro. Ist das klar?«

Ich hatte fürs Erste genug Aufmerksamkeit erregt. Ich schlich durch die Menschenmenge und suchte mir ganz hinten einen Platz. Nach kurzer Zeit kam Fotograf Sorensen zu mir. Er wirkte wie hypnotisiert von dem brennenden Gebäude.

»Ich habe mehr als genug dramatische Bilder«, sagte er, ohne die Augen von dem Flammenmeer zu lösen. »Da kann ich mich auch gleich ans Entwickeln machen.«

»Na gut«, sagte ich.

»Wir sehen uns in der Redaktion.«

Er verschwand in der Menge.

Aber die ganze Nacht sollte verstreichen, ohne dass ich in die Redaktion gehen konnte. Ich brachte es nicht über mich, die Brandstätte zu verlassen, solange ich nicht wusste, was aus den Menschen in Fredriksens Wohnung geworden war. Erst gegen vier war der Brand endlich unter Kontrolle. Inzwischen hatten die Gaffer sich längst verzogen. Ich stand fröstelnd in der Kälte. Das war inzwischen zu einer Buße geworden. Wenn ich nur lange genug aushalte, sagte ich mir, dann wird sich herausstellen, dass die Wohnung leer war, als der Brand ausgebrochen ist.

Um Punkt neun Uhr trafen die Brandexperten der Polizei ein, die Kommissare Thorgersen und Stenerud, zusammen mit Gerichtschemiker Bruff. Sie diskutierten kurz mit Feuerwehrhauptmann Erling Hagen, der die Löscharbeiten geleitet hatte. Dann gingen alle vier durch die Haustür in Fredriksens Haus.

Ich hatte damit gerechnet, dass sie lange im Haus bleiben würden. Meine Überraschung war deshalb groß, als die vier schon nach zehn Minuten wieder herauskamen. Zuerst dachte ich, die Treppe sei eingestürzt oder der Boden der Wohnung oben im Haus zu unsicher, aber dann fiel mir die Haltung der Brandexperten auf. Sie wirkten allesamt erschüttert, einige starrten wie gelähmt vor sich hin, andere kämpften mit den Tränen. Sogar der erfahrene Bruff hatte offenbar den Schock seines Lebens erlitten. Normalerweise trat er auf wie ein britischer Gentleman mit messerscharfem Scheitel in seinen glattgekämmten Haaren und seinem Clark-Gable-Schnurrbart, aber jetzt fiel er aus seiner Rolle, als er sich eine Zigarre anstecken wollte. Seine Hände zitterten dermaßen, dass die Streichhölzer immer wieder erloschen.

Ich lief über die Straße, ohne bemerkt zu werden. Zwei Feuerwehrleute stellten den Experten wild durcheinander Fragen. Hagen winkte nur zur Tür hinüber, sie sollten selbst nachsehen.

Ich schlich mich hinterher, als die beiden Feuerwehrleute ins Treppenhaus liefen. Sie blieben erst im dritten Stock stehen. Die Tür der ausgebrannten Wohnung war aufgebrochen und stand halb offen. Ich konnte nicht verstehen, warum die Männer nicht einfach hineingingen. Ich reckte mich, um dem einen über die Schulter zu schauen.

Hinter der Tür gab es eine kleine Diele mit einer verkohlten Türöffnung. Aber die zu erreichen, war unmöglich. Teilweise von der Wohnungstür verdeckt lag auf dem Boden der Diele ungefähr ein Dutzend verkohlter Menschenkörper, zumeist Erwachsene, aber es waren auch Kinder dabei, verbrannte, ineinander verschlungene Kadaver in den seltsamsten Stellungen, sie lagen in mehreren Schichten aufeinander, mit klaffenden schwarzen Schädelhöhlen und Gliedern aus Asche.

Die Menschen waren in ihrer Panik nur wenige Zentimeter von der Rettung entfernt ums Leben gekommen. Die Katastrophe hätte sich auch ereignet, wenn die Wohnungstür nicht abgeschlossen gewesen wäre. Sie ging nach innen und wäre unmöglich zu öffnen gewesen, wenn die Menschen hinten die anderen vor sich hergepresst hätten.

Kein Wunder, dass die Brandexperten unter Schock standen. Sie hatten sich bestimmt gefragt, warum sie die Tür zur Wohnung nicht öffnen konnten. Als es ihnen endlich gelungen war, hatten sie das gesehen.

Ich wandte mich ab und begann, die Treppe hinunterzugehen. Der Weg kam mir endlos vor. Meine Beine zitterten und ich konnte kaum klar sehen. Ich war sicher, dass ich in Ohnmacht fallen würde, aber plötzlich spürte ich frische Luft in meinem Gesicht. Ich taumelte hinaus und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Mauer. Dann sank ich in die Hocke und schlug die Hände vors Gesicht.

So verharrte ich, bis die Brandexperten mich bemerkten.

 

Interview mit Professor Harbitz

 

Ich kam auf irgendeine Weise durch den Sonntag. Ich konnte sogar fünf Spalten über den Brand liefern, ehe die Zeitung um zwei Uhr in Druck ging. Danach verbrachte ich etwas mehr als eine Stunde in Riisnaes’ Büro. Ich versuchte mich so nah an die Wahrheit zu halten wie möglich: dass ich am 12. Januar aufgrund eines Tipps von Brodin die Dronningens gate aufgesucht hätte. Ich hätte Rechtsanwalt Fredriksen tot in seinem Büro aufgefunden und weil sein Telefon nicht funktioniert habe aus einem nahe gelegenen Hotel die Polizei informiert.

Riisnaes musterte mich misstrauisch. »Aber dieses Telefongespräch wurde als anonym registriert.«

»Ja«, erwiderte ich. »Ich war so erschüttert von dem, was ich in Fredriksens Büro gesehen hatte, dass ich möglicherweise aufgelegt habe, ohne meinen Namen zu nennen. So kann das gewesen sein.«

Wie ich denn erfahren hätte, dass Fredriksens Räume bewohnt gewesen seien?

Ich erzählte von der Frau mit den Herrenpantoffeln und dem kleinen Mädchen. Ich ließ mir Zeit und gab mir Mühe, alle Details aufzuzählen, um die Identifizierungsarbeit der Polizei zu unterstützen.

Danach ließ Riisnaes mich meine gesamte Aussage wiederholen, vermutlich in der Hoffnung, dass ich mich in Widersprüche verwickeln würde. Ich hätte vielleicht begreifen müssen, dass die Polizei sich für die Leute in Fredriksens Wohnung interessieren würde, gab ich zu. Andererseits hätte ich ja nicht wissen können, dass die in Lebensgefahr schwebten. Man könne mir vielleicht vorwerfen, dass ich die Ermittlungsabteilung nicht angerufen hätte, viel mehr aber auch nicht.

Riisnaes brummte. Es ärgerte ihn offenbar, dass er hier keinen Paragrafen auf den Tisch knallen konnte. Am Ende ließ er mich zur Redaktion zurückgehen. Dort blieb ich aber nicht lange. Mr. George schickte mich nach Hause, um mich von meinem Schock zu erholen.

Das erwies sich als die vollkommen falsche Therapie. Obwohl mir nichts verlockender erschien als eine lange Nacht im eigenen Bett, fiel mir das Einschlafen schwer. Die ganze Zeit sah ich die junge dunkeläugige Frau mit dem kleinen Mädchen auf dem Arm vor mir.

An den folgenden Tagen vermied ich es, den Brand zu erwähnen, ich verließ das Büro, wenn das Thema zur Sprache kam. Trotzdem aber konnte ich an nichts anderes denken. Ich hatte das Gefühl, persönlich für die verkohlten Leichen verantwortlich zu sein. Ich musste feststellen, wer sie waren, woher sie gekommen waren, warum sie in einer Wohnung in der Dronningens gate gestorben waren. Sonst würden sie mich bis ans Ende meines Lebens verfolgen.

Schließlich beschloss ich, den Stier bei den Hörnern zu packen. Am Dienstagnachmittag rief ich Professor Francis Harbitz an. Ich hätte ihn wohl kaum zu einem unpassenderen Zeitpunkt ansprechen können. Die Zeitungen hatten geschrieben, Harbitz, sein Assistent und zwei Experten für Odontologie arbeiteten seit zwei Tagen rund um die Uhr, um die Umgekommenen zu identifizieren. Ich wollte einen Vorwand finden, um ihn treffen zu können. Vermutlich würde das in dieser Situation nichts bringen, aber ich konnte zumindest einen Versuch starten.

Harbitz ging ans Telefon.

»Guten Tag, hier spricht Erik Erfjord von Arbeiderbladet. Ich habe einen Vorschlag für Sie und Sie müssen dann sagen, was Sie davon halten.«

»Sprechen Sie.«

»Ich habe über Ihre Pläne für ein eigenes gerichtsmedizinisches Institut gelesen, die Sie auszuführen hoffen, ehe Sie in drei Jahren in Pension gehen. Verstehen Sie das bitte nicht falsch, aber die Arbeit in Verbindung mit der Brandkatastrophe hat wohl deutlicher denn je demonstriert, dass Sie mehr Platz brauchen?«

Er schwieg lange. Harbitz war bekannt als durch und durch freundlicher und entgegenkommender Mann, und ich war sicher, dass er eine höfliche Art und Weise suchte, mich abzuweisen. Aber dann sagte er: »Erfjord war der Name, ja?«

»Ja, Erik Erfjord. Ich bin …«

Er fiel mir ins Wort. »Können Sie sofort herkommen?«

»Sicher. Ich …«

»Dann treffen wir uns in der gerichtsmedizinischen Sammlung, in sagen wir … ja, einer Viertelstunde?«

Harbitz spielte auf die große Schädelsammlung an, die er in seinen vierunddreißig Berufsjahren zusammengetragen hatte und die im pathologisch-anatomischen Institut einen eigenen Raum einnahm. Dort lagen die Schädel in Regalen, sorgfältig auf schwarz lackierte Holzklötze montiert und jeweils mit Namen und Katalognummer versehen. Alle Schädel hatten auf den Nackenwirbeln eines Mordopfers gesessen, sie waren von Kugeln durchsiebt oder von Äxten zerschmettert worden. Es war, wie ein Horrorkabinett zu betreten.

Nachdem wir uns die Hand geschüttelt hatten, fragte Harbitz, ob ich zum ersten Mal die Sammlung besuchte. Das konnte ich bestätigen.

Der weißhaarige Herr ging zu einem Regal und suchte sich einen großen braunen Schädel aus.

»Sie müssen entschuldigen«, sagte er lächelnd. »Aber wenn ich Besuch von Kriminalreportern bekomme, muss ich deren Wissen einfach auf die Probe stellen. Also, wer ist das hier?«

Ich blieb stehen, drehte und wendete den Schädel. Dann fand ich im Hinterkopf ein Kugelloch.

»Ich bin ja kein Experte für Kriminalgeschichte, aber ich will einen Versuch machen.«

Harbitz wartete gespannt.

»Ich glaube, das ist der alte Prestruden«, sagte ich.

»Höchstpersönlich«, rief er, sichtlich beeindruckt.

Es wäre sicher besser gewesen, wenn ich falsch geraten hätte. Ich musste mein Glück auch noch mit Julius Olsen Bjerknaes und Marit Jarstadbräten versuchen, ehe wir im Programm weitermachen konnten.

Ich zog meinen Notizblock hervor.

»Warum braucht das Land ein eigenes gerichtsmedizinisches Institut?«, fragte ich.

Harbitz leierte seinen üblichen Spruch herunter. »Die pathologische Anatomie ist bekanntlich ein Studienfach von so wesentlicher Bedeutung, dass dem Lehrstuhlinhaber die außerordentlich belastende Mehrarbeit, die die Gerichtsmedizin mit sich bringt, erspart bleiben muss.«

»Aber Sie schaffen es doch, beides zu kombinieren.«

Er lächelte. »Ich bin ein alter Herr, wissen Sie. Ich schwimme sozusagen auf meiner Routine …« Er packte mich ungeduldig am Arm. »Aber jetzt muss ich zurück zu den Brandopfern. Wir können unser Gespräch im Operationssaal fortsetzen.«

Er sah, dass ich zögerte. »Ich habe das so verstanden, dass Sie über die kritikwürdigen Arbeitsverhältnisse während der Identifizierung berichten wollen?«

Ich nickte.

»Na gut, dann kommen Sie mit.«

Ich konnte nur mühsam mit ihm Schritt halten, als er die Treppe in den ersten Stock hochlief. Ich bereute mein Kommen zutiefst. Die Sache wurde auch nicht besser, als Harbitz die Tür zu einem der Säle öffnete. Ein Übelkeit erregender Geruch nach verbranntem Fleisch, vermischt mit Formalin, schlug mir entgegen. Ich fuhr zurück.

Harbitz hielt die Tür offen.

»Bitte, treten Sie ein. Es ist eng hier, wie Sie sehen.«

Ich fasste mir ein Herz und ging hinein. Ich zählte sechs Leichen, zwei auf dem großen Operationstisch und vier jeweils auf einer Bahre, alle bedeckt mit einem weißen Laken, während zu ihren Füßen ein Karton stand.

»Wo ist der Rest?«, fragte ich.

»Wir haben drei im Saal nebenan. Drei Kinder - zwei Mädchen und ein kleiner Junge.«

»Wie läuft die Identifizierungsarbeit?«

»Wir wissen noch nicht, wo wir anfangen sollen. Die Polizei hat uns alle Vermisstenmeldungen der letzten Jahre übergeben, und nach einer im Rundfunk ausgestrahlten Aufforderung sind uns die Zahnarztunterlagen dieser Vermissten ausgehändigt worden. Das hat nichts gebracht. Da stehen wir also - mit den Überresten von neun Personen, deren Verschwinden niemandem aufgefallen ist.«

»Seltsam.«

Harbitz nickte zerstreut. Er ging zu einem Leichnam und schaute in den Karton am Fußende.

»Hier sind persönliche Gegenstände, die die Flammen teilweise verschont haben. Uhren, Schmuck, solche Dinge.«

Er ging weiter zum nächsten Tisch. Ich wollte eigentlich bei der Tür stehen bleiben, aber nun wurde meine Neugier zu stark. Mit zögernden Schritten näherte ich mich dem Tisch, den Harbitz verlassen hatte. Ich konnte Konturen des Leichnams unter dem Laken deutlich sehen, konnte mir jedoch seine Haltung nicht vorstellen.

Ich warf einen Blick auf die Gegenstände im Karton.

»Zumindest müssten wir zwei Räume hier in der pathologischen Anatomie bekommen«, sagte Harbitz. »Was es derzeit hier an Gerichtsmedizin gibt, existiert aus purer Gastfreundschaft. Ich persönlich finde, auf diesem Grundstück sollte ein neues Gebäude errichtet werden. Das könnte dann eine Reihe von wissenschaftlichen Instituten enthalten, auch Gerichtsmedizin … stimmt etwas nicht?«

Ich hatte im Karton eine goldene Kette gefunden. Das meiste davon war geschmolzen, aber etwas war noch erhalten: drei aneinander gekettete Herzen.

Harbitz kam zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter.

»Stimmt etwas nicht, Erfjord«, fragte er noch einmal.

Ich hörte ihn zwar deutlich, zugleich aber schien er unendlich weit entfernt.

»Sagen Sie«, erwiderte ich und zeigte auf den Leichnam vor mir. »Ist das da eine Frau?«

»Nein, es sollte jedenfalls keine sein.«

Harbitz wurde von fachlicher Neugier erfasst. Ohne an meine mögliche Reaktion zu denken, nahm er das Laken weg. Beim Anblick des kohlschwarzen Leichnams wurde mir schwindlig. Der Tote lag halb auf der Seite und hatte ein Bein angezogen. Sein Kopf war nach hinten gebeugt wie auch sein Rücken, aber das Entsetzlichste war die Haltung der Arme. Sie waren mit abgewinkelten Ellbogen und geballten Fäusten erhoben. Es sah fast aus, als werde der verbrannte Kadaver im nächsten Moment vom Tisch springen und auf uns einschlagen.

Harbitz hatte meine Gedanken offenbar erraten.

»Wir nennen das die >Boxerstellung<«, dozierte er. »Die kommt bei Brandopfern häufig vor. Es liegt an der Wirkung der Hitze auf die Muskulatur.«

»Und das ist also ein Mann?«

»Ja, das steht absolut fest. Er lag ganz unten im Haufen und ist deshalb das am wenigsten verbrannte von den Opfern. Vermutlich war er zuerst bei der Tür, wurde aber zu Boden getrampelt, ehe er aufmachen konnte. Haben Sie irgendeine Vorstellung, wer das sein kann?«

Ich starrte verzweifelt die Kette an.

»Ich kenne nur einen Mann, der so einen Schmuck trägt: Lennart Winther.« Ich zeigte auf den Toten. »Aber das ist er nicht. Das kann er nicht sein. Lennart ist doch überhaupt nicht verschwunden.«

Harbitz sah mich mit ernster Miene an. Dann ging er zu einem Schreibtisch und blätterte dort in irgendwelchen Unterlagen. Er kam mit einem Blatt Papier in der Hand zurück.

»Lennart Winther wurde heute früh vermisst gemeldet«, sagte er düster. »Er ist seit dem 13. Januar nicht mehr im Chat Noir gesehen worden.«

Er musterte mich mitfühlend. »Und das war vor dem Brand in der Dronningens gate.«

 

Die Thermitbombe

 

Ich stand in einem von Säulengängen aus Klinker umgebenen Innenhof. Das Licht war künstlich gelb und gedämpft. Ich drehte mich um und sah unter einem der dunklen Bögen eine Gestalt. Eine Zigarette glühte. Bondi trat aus dem Schatten, hob mit eleganter Bewegung seinen Hut und zeigte auf die Mitte des gepflasterten Platzes. »Sehen Sie das Joch des Schweigens.«

Ich drehte mich um und sah einen großen Aschehaufen, wo eben noch ein Springbrunnen gestanden hatte. Der Aschehaufen bewegte sich, als ob er atmete. Im Rhythmus der Atemzüge quollen schwarzverbrannte Klumpen aus der Mitte. Ein Kopf tauchte auf. Die Gesichtshaut war brüchig und verkohlt, aber ich wusste doch, dass es Lennart war.

»Erik!«

Als er lächelte, platzte die Haut, und das Muskelgewebe unter der schwarzen Kruste glänzte rot. »Erik!«

Mr. George stand neben dem Schreibtisch und beugte sich über mich.

»Hier liegst du also?« Er musterte mich streng und mit hinter seiner Hornbrille zusammengekniffenen Augen. »Du gehörst ins Bett. Harbitz hat uns angerufen und von deinem Unwohlsein berichtet. Ich habe versucht, dich zu Hause zu erreichen, aber als sich da niemand meldete, wusste ich ja, dass du so dumm gewesen bist, herzukommen.«

»Ich, ich … ich wollte nur einen Nachruf auf Lennart schreiben. Ich dachte, ich müsste …«

»Unsinn. Du solltest zumindest warten, bis er offiziell identifiziert ist.«

Er zog den halbgeschriebenen Nachruf aus der Schreibmaschine, faltete das Blatt zusammen und legte es in eine Schublade in seinem Schreibtisch.

»Warte einen Moment…«

Mr. George verließ dass Zimmer, und ich hörte, wie er nebenan im Büro des Nachtredakteurs herumwühlte. Gleich danach trat er mit einer Schnapsflasche in der Hand in die Tür.

»Schau her! Holt hat ein paar Schlucke übrig gelassen. Und jetzt nimmst du einen ordentlichen Zug.«

Ich schluckte gehorsam. Die Wärme stieg mir vom Magen in die Wangen.

»So, ja.« Mr. George lächelte mitfühlend. »Aber jetzt zu etwas anderem und um einiges Handfesterem. Ich habe mit Gerichtschemiker Bruff gesprochen. Er kann berichten, dass in Fredriksens Wohnung die Reste einer zylinderförmigen Thermitbombe gefunden worden sind.«

»Thermitbombe?«

»Ja, die wurden während des Weltkriegs von Spionen benutzt. Bruff hat sie in Verbindung mit der Rautenfels-Affaire kennengelernt.« Mr. George zog seinen Notizblock aus der Jackentasche und las vor: »Thermit ist eine Mischung aus Metalloxyden und Aluminium, und wenn es mit einer Patrone gezündet wird, entwickelt sich sofort eine Temperatur von dreitausend Grad. Rotglühende Metallpartikel werden in alle Richtungen geschleudert.«

»Ach?«

Meine Neugier war geweckt. Auf seine spitzfindige Weise hatte Mr. George es geschafft, mich Lennart für eine Weile vergessen zu lassen.

»Eine überaus effektive Methode also, um etwas abzufackeln«, sagte ich.

»Ja, aber zum Glück bleibt immer ein Teil der Bombe als harter Metallkuchen am Brandherd zurück. Bruff hat diesen Rest zur Analyse an Professor August Brüning in Berlin geschickt.«

»Das scheint auf professionelle Täter hinzuweisen. Hat sie irgendwer gesehen?«

Mr. George schüttelte den Kopf. »Nein, die Polizei hat an die zwanzig Personen vernommen, aber bisher hat noch keine Beobachtung irgendetwas getaugt.«

Ich schaute ihn ein wenig verwundert an.

»Du klingst plötzlich so gut informiert. Zuerst die Mitteilung von Bruff, dann Details über Zeugen. Ist Riisnaes weich geworden?«

Mr. George lächelte. »Naja, Erik, wenn ich das richtig verstanden habe, ist das auch dein Verdienst. Er hat sich wohl aus Angst vor den politischen Folgen für eine Zusammenarbeit entschieden. Deshalb habe ich ihn auch überreden können zu vergessen, dass du den Mord an Fredriksen nicht persönlich gemeldet hast.«

»Äh, das… das war alles ein bisschen kompliziert.«

Ich griff wieder zur Flasche des Nachtredakteurs und goss den Rest in mich hinein. »Ich wollte ja später Bescheid sagen, aber …«

Mr. George hob abwehrend die Hand. »Das reicht jetzt wirklich. Und es ist wohl auch besser, wenn ich dich nicht nach dem Einbruch im Jenshaugvei frage.«

»Aber woher weißt du …«

Er seufzte und zeigte auf mein Gesicht. »Ich vermute, du wirst mir irgendwann sagen, woher du diese blauen Flecken hast?«

Ich murmelte etwas über Birger Bay. Mr. George lächelte traurig. »Erik, die letzte Zeit war ganz schön hart für dich. Eine kleine Pause würde dir guttun. Ich habe mit Helgesen gesprochen und er ist bereit, dich in die Sportabteilung zu versetzen. Die brauchen gerade Leute, und du hast doch immer schon dahin gewollt, oder?«

Das war genau das Angebot, auf das ich so lange gehofft hatte. Aber unter diesen Umständen hielt meine Freude sich in Grenzen.

»Ja, ich verstehe ja, dass du keinen brauchen kannst, der unbedingt den Detektiv spielen will«, sagte ich und seufzte. »Und der noch dazu einfach umkippt, sowie er eine Leiche sieht.«

»Daran gibt es nichts auszusetzen, Erik«, sagte Mr. George. »Habe ich dir von meiner ersten Mordreportage erzählt? Nicht? Na, die Leiche lag in einer Scheune unter einigen Säcken versteckt. Als die Polizei die Säcke wegnahm, sah ich das übel zugerichtete Gesicht des Opfers. Ich stürzte hinaus und übergab mich.«

Er deutete ein Lächeln an. »Ich möchte dir noch eins anvertrauen: Nach all diesen Jahren gibt es noch immer eins, vor dem mir graust. Und zwar, dass der Redaktionssekretär sagt: Du übernimmst den Mord, Svendsen!«

Mr. George beugt sich vor und streichelte unbeholfen meine Schulter.

»Man wird das nie ganz los, weißt du, Erik. Und vielleicht ist das auch nur gut so.«

 

Das Portrait

 

Ich dachte gerade über meine neue Situation als Sportreporter nach, als Möbelhändler Agnaess hereinschaute.

»Gut, dass du noch hier bist, Erfjord. Das ist heute morgen gekommen. Tut mir leid, aber ich hatte es total vergessen.«

Er reichte mir ein ziemlich flaches viereckiges Päckchen. Es gab keinen Absender, auf das Packpapier war gekritzelt: »Erfjord. Arbeiderbladet«.

»Wer hat das gebracht?«

»Keine Ahnung. Das lehnte einfach plötzlich am Tresen.«

Agnaess lächelte, zuckte mit den Schultern und verschwand.

Ich schnitt den Bindfaden durch und riss das Papier weg. Das Päckchen enthielt ein kleines Gemälde von vielleicht 25 Quadratzentimetern. Es musste alt sein. Der breite Holzrahmen war wurmstichig und hatte keine Vergoldung oder Dekoration. Auf der Rückseite war die Leinwand von einer dunklen Furnierplatte versteckt, die mit vier kleinen Nägeln am Rahmen befestigt war. In Größe und Ausformung erinnerte das Bild an eine Ikone. Es stellte jedoch keine Heilige dar, sondern eine recht unschöne Dame mittleren Alters, die ein tief ausgeschnittenes blaues Kleid und einen albernen kleinen Federhut trug.

Warum in aller Welt hatte irgendwer mir dieses Portrait geschickt?

Ich saß noch überrascht mit dem Bild auf den Knien da, als mein Blick auf einen Zettel im Packpapier fiel. Es war eine Quittung aus dem Kunsthandel von A. M. Vik, Tordenskiolds gate 5, datiert vom 8. Januar.

Ich wickelte das Bild wieder ein, klemmte es mir unter den Arm und ging los.

 

Viks Laden entpuppte sich als identisch mit dem ehrwürdigen Kunsthandel Blomqvist, der den Besitzer gewechselt hatte. Er lag in einem seltsam tempelhaften zweistöckigen Haus, in dem nur das Erdgeschoss Fenster zur Straße hatte. Rechts vor einem geschwungenen und blankpolierten Mahagonitresen mit Rahmen und Passepartouts stand Anders M. Vik. Er war ein kleiner dicklicher Mann von Mitte fünfzig, der einen dunklen Anzug trug. Sowie er mich sah, zog er seine Manschetten einige Zoll aus seinen Jackenärmeln hervor und kam mit einem breiten Lächeln auf mich zu.

»Und wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Ich nahm das Packpapier weg und legte das Bild auf den Tresen.

»Dieses hier ist vor einiger Zeit bei Ihnen abgegeben worden.«

Das Lächeln verschwand aus dem rötlichen Gesicht. »Nun ja, solche Informationen …«

»Ich bin Journalist bei Arbeiderbladet«, sagte ich eilig. »Und es kann wichtig sein, den Besitzer ausfindig zu machen.«

Nach kurzem Zögern seufzte Vik und legte sein Gesicht in teilnahmsvolle Falten. »Ja, das ist wirklich nicht leicht zu vergessen, das kann ich Ihnen sagen. Das war nämlich der selige Großhändler Rustad.«

»Rustad? Und Sie sind sich da ganz sicher?«

»O ja, ich habe ihn recht gut gekannt.«

»Und das haben Sie der Polizei nicht gesagt?«

»Naja … es war doch mehrere Tage, bevor er tot aufgefunden worden ist … und streng genommen war es nicht weiter aufsehenerregend, dass er hier gewesen war. Der Großhändler hat immer wieder Geschäfte mit uns gemacht. Ja, mein Bruder und ich betreiben auch ein Auktionshaus, und er hat uns immer wieder Gegenstände auf Kommission gebracht.«

»Rustad hat also nicht nur mit Abbruchteilen und Baumaterial gehandelt?«

»Nein, vor allem im vergangenen Jahr hat er oft Antiquitäten verkauft. Gleich vor Weihnachten zum Beispiel hat er etliche hervorragende Empiremöbelstücke geliefert. Sie haben bei unserer Weihnachtsauktion eine nette Summe erbracht.«

»Hat er etwas darüber gesagt, woher die Möbel stammten?«

»Nein, Rustad war ein wortkarger Herr. Und solche Dinge sollte man auch mit Diskretion behandeln. Oft stammen diese Gegenstände aus feinen Familien in finanziellen Schwierigkeiten oder von Witwen, die zum Verkauf gezwungen sind, um ihren gewohnten Lebensstil aufrechterhalten zu können. Aber ich weiß noch, dass er für die Februarauktion noch mehr bringen wollte.«

»Und das hat er getan?«

»Nein, eigentlich nicht. Aber als er hier war, um dieses Gemälde taxieren zu lassen, hatte ich das deutliche Gefühl, dass es aus derselben Quelle stammte. Hat es mit dem Mord zu tun, dass Sie …«

»Und wann hat Rustad das Bild zurückgeholt?«

»Ja, gute Frage. Daran kann ich mich nicht erinnern.«

Ich legte die Quittung auf den Tresen. »Die hier stammt vom 8. Januar. Das war der Montag vor dem Mord.«

Vik zog eine goldgefasste Brille aus der Westentasche und betrachtete die Quittung. »Nur einen Moment…«

Der dickliche Herr trippelte in einen Raum hinter dem Laden und kam zwei Minuten darauf zusammen mit einem älteren Mann wieder zum Vorschein. Dieser Mann trug einen Lagerkittel und weiße Baumwollhandschuhe. Er brachte den Geruch nach Terpentin mit sich.

»Das ist unser technischer Konservator Bergström. Er hat das Gemälde taxiert. Na, was sagst du dazu?«, fragte Vik und nickte zu dem Bild hinüber.

Bergström hob es hoch und musterte es mit Kennermiene.

»Können Sie mir sagen, wie alt es ist?«, fragte ich.

»Vornehme Kleidung, Empirekleid mit Musselinbesatz. Und ein Strohhut mit Straußenfeder. Also Empire oder möglicherweise Directoire. Also nicht älter als von 1790«, sagte Bergström auf Schwedisch.

»Und der Wert?«

Bergström schaute rasch zu Vik hinüber. Der nickte diskret.

»Eine feine Arbeit an sich«, sagte der Schwede ein wenig zögerlich. »Aber absolut nicht einzigartig.«

Vik griff ein. »Solche Miniaturen wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts ziemlich üblich. Einige hundert Kronen vielleicht. Oder was, Bergström?«

Der Schwede nickte. »Genau. Das habe ich dem Kunden auch gesagt.«

»Also kein hoher finanzieller Wert«, sagte ich. Dann kam mir eine Idee. »Kann sich hinter dem Portrait noch ein Bild verstecken? Oder vielleicht…«

Bergström schüttelte den Kopf.

»Ich kann Ihnen versichern, dass das Bild keinerlei Geheimnis verbirgt. Jedenfalls keines von solcher Art. Auch Herr Rustad hat das untersuchen lassen. Deshalb habe ich das Bild auseinandergenommen.«

»Aber was ist dann das Besondere an dem Bild«, murmelte ich, vor allem an mich selbst gerichtet. »Wenn ich nur wüsste, wen es darstellt.«

»Sie hieß Eva Soundso«, sagte Bergström.

»Was?«

»Eben.«

Bergström hob das Bild hoch und drehte es um. Er zog ein Vergrößerungsglas aus der Tasche und legte es auf die Furnierplatte auf der Rückseite.

»Schauen Sie.«

Durch das Vergrößerungsglas sah ich, dass dort in kleinen verschnörkelten und fast verwischten Buchstaben stand: »Eva Frank Matronita«.

»Davon werde ich auch nicht klüger«, seufzte ich.

Vik lächelte bedauernd. »Nein, da können wir Ihnen auch nicht helfen, oder was, Bergström?«

»Nein, irgendeine mitteleuropäische Adlige, nehme ich an. Das habe ich dem jungen Herrn auch gesagt.«

Ich fuhr zusammen. »Dem jungen Herrn, sagen Sie? Aber hat denn nicht Rustad das Bild geholt?«

»Nein. Ein junger Mann war mit der Quittung hier und hat es geholt.«

»Wie sah er aus?«

Bergström zögerte. »Leider weiß ich das nicht mehr. Es war kalt, er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut in die Stirn gezogen …«

»Wann hat er das Bild denn geholt?«

»Ja, das weiß ich noch genau. Das war zwei Tage vor dem großen Brand in der Dronningens gate.«

»Aha. Am Tag nach dem Mord an Rustad also …«

Ich bedankte mich bei Vik und Bergström für die Hilfe, steckte das Portrait wieder ins Packpapier und ging zur Ausgangstür, doch der Schwede rief mich zurück.

»Wenn Ihnen das weiterhelfen kann, dann weiß ich noch, dass er eine Art Armband trug, eine goldene Kette aus Herzen.«

 

Ich taumelte fast hinaus und blieb wie gelähmt auf dem Bürgersteig stehen, während die Menschen in nachmittäglicher Hektik an mir vorübereilten.

Jetzt hatte ich keinen Zweifel mehr. Auf irgendeine Weise war Lennart in den Rustadmord verwickelt gewesen. Wie hätte ich sonst erklären können, dass er am Tag nach dem Mord das Gemälde des Großhändlers geholt hatte?

 

Die Beerdigung

 

Zwei Wochen darauf stand Professor Harbitzens Ergebnis fest: Lennarts Zahnarztunterlagen stimmten mit den erhalten gebliebenen Plomben der Leiche überein. Er gehörte also zu den in der Dronningens gate Umgekommenen.

Lennart wurde an einem Freitagnachmittag begraben. Auf dem Nordre Gravlund lag der Schnee weiß und schwer zwischen den dunklen Grabsteinen. Ich ging ganz hinten im Trauerzug und stützte meine Mutter über den verdreckten Pfad, der hin zur Grabstätte der Familie Winther ausgetreten war.

Mutter hatte Lennart immer gern gemocht, und ihre Begeisterung hatte nicht abgenommen, als sie in den Illustrierten über seinen Erfolg auf Bühne und Leinwand lesen konnte. Sie hatte deshalb unbedingt dabei sein wollen, wenn er zur letzten Ruhe gebettet würde. Der kurze Weg von der Arendalsgate hierher hatte jedoch im Schneematsch seine Zeit gebraucht und wir waren erst in letzter Minute in der Kapelle eingetroffen. Aus der hintersten Bankreihe konnte ich die Anwesenden nicht erkennen. Erst am Grab stellte ich fest, dass nur Theaterleute gekommen waren.

Abgesehen von uns und Lennarts Vater.

Oskar Winther war in meiner Kindheit mein Idol gewesen. Der intellektuelle Arbeiter, dessen Gedichte in der Zeitung gedruckt waren und der am 1. Mai flammende Appelle vortrug. Als Lennart und ich beschlossen, im Kaysaal, dem alten Lagerhaus hinter dem Folkvang Kafe, eine Revue für die Arbeiterjugend zu inszenieren, schrieb er die Texte für den Sprechchor. Jetzt ging er als Erster im Trauerzug, bleich und eingesunken in seinem abgenutzten blauen Anzug. Er wirkte fehl am Platze, der Arme, zwischen so vielen Salonlöwen.

Am Grab ergriff auch nicht er das Wort, sondern der Schauspieler Per Kvist. Das kugelrunde rote Gesicht, das sonst vor schelmischer Munterkeit nur so strahlte, war düster und verhärmt. Die fantastische Rednergabe, die ihn so berühmt gemacht hatte, blieb jedoch unversehrt. Mit wohlmodulierter Stimme und kunstfertigen Pausen verbreitete er sich über Lennarts Talent, Humor und Schlagfertigkeit und würzte seine Rede mit Anekdoten aus Theater und Salon. Aber es fiel kein Wort über Lennarts frühe Karriere im dramatischen Theater der Arbeitervereine.

»Es ist ein schmerzlicher Verlust für die Kunst«, endete Kvist. »Lennart Winter gehörte zu Thaliens Kometen, die am Firmament der Kunst leuchten und Funken sprühen. Jetzt ist der Nachthimmel auf einmal für uns so finster und leer geworden.« Jemand schluchzte hinter mir auf. Ich schaute mich um und sah Kiss Lorenz mit einem schwarzen breitkrempigen Hut, rauchfarbenen Strümpfen und einem kurzen Persianerjäckchen. Sie stand zusammen mit Leif Amble-Naess, der ihr teilnahmsvoll den Arm um die Schulter gelegt hatte. Nach unserer ersten Begegnung verspürte ich keinen besonderen Drang, sie zu begrüßen. Aber sie war ja schließlich Lennarts Verlobte, deshalb riss ich mich zusammen, nachdem die Zeremonie mit einem Lied und einigen Schaufeln Erde abgeschlossen worden war. Ich ließ Mutter sich um Oskar Winther kümmern und bahnte mir einen Weg durch die Menge der teilnehmenden Bewunderer.

»Fräulein Lorenz, ich …«

»Ach, Erik!«

 

Zu meinem großen Schrecken fiel sie mir um den Hals und flüsterte mit tränenerstickter Stimme: »Das ist so ungerecht. All die schönen Worte - die sind so leer, nicht wahr? Von allen hier haben nur du und ich Lennart gekannt, den wirklichen Lennart.«

Der intime Ton, der Duft des Parfüms und das Gefühl der tränennassen Wange an meiner ließen mich hilflos losstottern. »Ich, ich …«

»Du musst mein Verhalten von neulich wirklich entschuldigen«, sagte sie jetzt. »Ich kann manchmal einfach gemein sein. Und dann bei einem so netten jungen Mann wie dir. Aber es war nur Verlegenheit, sonst nichts. Wie dumm von mir, die Begegnung mit dem Menschen zu ruinieren, der Lennart am wichtigsten war.«

Ich versuchte fieberhaft, etwas Sinnvolles zu sagen. Dann kamen Mutter und Oskar auf uns zu.

»Und wer ist die junge Dame, Erik?«, fragte Mutter.

»Kiss … ich meine, Kristin Lorentsen, Lennarts Verlobte«, antwortete ich.

»Dann muss ich Ihnen mein herzlichstes Beileid aussprechen dürfen.«

Mutter drehte sich zu Oskar um, der einige Schritte hinter ihr stand. »Ich wusste gar nicht, dass Lennart verlobt war.« Da war sie nicht die Einzige.

Oskar schwieg einige Sekunden, dann ging er zu Kiss. »Oskar Winther«, sagte er und hielt ihr die Hand hin. »Ich bin Lennarts Vater.«