»Ja. In ihrem Fall wurde der Ernst der Bedrohung erst erkannt, als es bereits zu spät war. Im Fall von Mrs.

Hintlesham trat ein Problem ein, das alles verkomplizierte.«

»Sie meinen die Verhaftung ihres Mannes?«

»Ja. Ihnen sollte also klar sein, dass Ihre Situation eine völlig andere ist.«

Ich schenkte mir eine weitere Tasse Tee ein. »Grace, ich glaube, Sie haben mich missverstanden. Es geht mir nicht darum, Sie zu kritisieren oder Informationen für eine Beschwerde zu sammeln oder mir von Ihnen bestätigen zu lassen, dass ich Recht habe, aber bitte beleidigen Sie mich nicht, indem Sie behaupten, ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Ich habe das Polizeimemo gesehen, das Ihnen ebenfalls vorgelegen hat und in dem es darum geht, wie im Fall meiner Ermordung mit dem Tatort verfahren werden soll.«

Grace zündete sich eine neue Zigarette an. »Was wollen Sie von mir?«, fragte sie mit ausdrucksloser Miene.

»Ich habe in den Akten keinen Bericht von Ihnen entdeckt. Vielleicht liegt das daran, dass Sie Dinge zu sagen haben, die mir nicht gefallen würden. Ich muss wissen, was Sie wissen.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich irgendetwas weiß, das für Sie von Nutzen sein könnte.«

»Warum ausgerechnet ich? Ich hatte gehofft, dass mir die Akten Aufschluss über Gemeinsamkeiten zwischen uns drei Frauen geben würden, aber abgesehen von unserer Körpergröße konnte ich nichts finden.«

Grace zog nachdenklich an ihrer Zigarette. »Stimmt. Er hat sich drei besonders kleine Frauen ausgesucht. Und drei besonders gut aussehende, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise.«

»Das ist wirklich nett von Ihnen, aber …«

»Drei verwundbare Frauen. Sadistische Sexualverbrecher suchen sich ihre Opfer auf die gleiche Weise aus wie Raubtiere. Sie entscheiden sich für diejenigen, die zurückbleiben, die unsicher wirken. Zoë Haratounian war neu in London und das Leben in der Großstadt noch nicht gewöhnt. Jenny Hintlesham war in einer unglücklichen Ehe gefangen. Sie selbst haben sich vor kurzem von Ihrem Freund getrennt.«

»Ist das alles?«

»Es könnte unter Umständen schon ausreichen.«

»Können Sie mir irgendetwas über ihn sagen?«

Sie schwieg eine Weile.

»Wir werden Anhaltspunkte finden«, antwortete sie schließlich. »Es gibt immer Anhaltspunkte. Die Kunst ist nur, sie als solche zu erkennen. Ein französischer Kriminologe, Dr. Locarde, hat in diesem Zusammenhang einen berühmten Ausspruch geprägt: ›Jeder Verbrecher lässt etwas von sich selbst am Tatort zurück –

irgendetwas, egal, wie klein es auch sein mag – und nimmt immer etwas vom Tatort mit.‹ Bis wir diese Hinweise gefunden haben – und wir werden sie finden –, kann ich Ihnen nur sagen, dass es sich höchstwahrscheinlich um einen Weißen handelt. Er ist vermutlich Anfang zwanzig bis Anfang dreißig. Größer als der Durchschnitt. Kräftig.

Gebildet, möglicherweise sogar mit akademischer Ausbildung. Aber ich bin sicher, das meiste davon haben Sie sich selbst auch schon gedacht.«

»Kenne ich ihn?«

Grace drückte ihre Zigarette aus, setzte zu einer Antwort an, hielt inne. Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, dass ihr die Sache so richtig nahe ging. Ihr war anzusehen, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich wieder zu fangen. »Nadia«, sagte sie schließlich, »ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas sagen, das Ihnen weiterhilft. Ich würde Ihnen gern versichern, dass es niemand sein kann, den Sie gut kennen, weil die Polizei inzwischen – hoffentlich – eine Verbindung zu den beiden anderen Frauen festgestellt hätte. Im Grunde aber könnte es jeder sein: ein enger Freund, jemand, den Sie nur ein einziges Mal getroffen und sofort wieder vergessen haben, oder jemand, den Sie gar nicht kennen und der bloß Sie ein einziges Mal gesehen hat.«

Ich blickte mich um und war froh, dass ich mich dafür entschieden hatte, mich an einem sonnigen Morgen mit ihr zu treffen, an einem Ort, wo Kinder um uns herumliefen.

»Im Schlaf wird er mich jedenfalls nicht überraschen«, erklärte ich. »Im Moment bekomme ich nämlich kein Auge zu. Immer wenn ich es versuche, sehe ich das Foto von Jenny Hintlesham vor mir, wie sie tot daliegt, mit …

Nun, ich bin sicher, Sie haben es auch gesehen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass es in meinem Bekanntenkreis jemanden geben könnte, der herumläuft und ein normales Leben führt, nachdem er so etwas getan hat.«

Grace ließ einen ihrer langen, schlanken Finger über den Rand der Kaffeetasse gleiten. »Der Kerl ist extrem durchorganisiert. Denken Sie nur an die Briefe und die Mühe, die er sich gemacht hat, um sie seinen Opfern zukommen zu lassen.«

»Ich kann noch immer nicht fassen, dass es der Polizei nicht gelungen ist, diese Frauen zu beschützen, obwohl er doch angekündigt hatte, was er ihnen antun wollte.«

Grace nickte heftig. »Ich habe in letzter Zeit ein bisschen recherchiert. Es hat in der Vergangenheit eine Reihe derartiger Fälle gegeben. Einen davon vor ein paar Jahren in Washington DC. Ein Mann schrieb Briefe an Frauen, in denen er explizite Morddrohungen aussprach. Der Ehemann der ersten Frau heuerte bewaffnete Leibwächter an. Trotzdem wurde sie in ihrem eigenen Haus ermordet.

Die zweite Frau wurde rund um die Uhr von der Polizei bewacht und während dieser Zeit in ihrem Schlafzimmer gefoltert und ermordet, und das, obwohl sich ihr Mann ebenfalls im Haus aufhielt. Ich erzähle Ihnen das nur ungern, aber Sie wollten, dass ich ehrlich zu Ihnen bin.

Manche dieser Männer betrachten sich als Genies. Was sie aber nicht sind. Sie ähneln eher Menschen, die eine Leidenschaft für ein bestimmtes Hobby haben. Was sie auszeichnet, ist ihre starke Motivation. Sie haben den Wunsch, Frauen leiden zu sehen und dann zu töten, und sie verwenden ihre ganze Energie, Phantasie und Intelligenz darauf, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen.

Die Polizei tut ihr Bestes, aber es ist schwer, gegen eine solche Zielstrebigkeit anzukommen.«

»Was ist mit dem Washingtoner Mörder passiert?«

»Sie haben ihn schließlich am Tatort gefasst.«

»Konnte die Frau noch gerettet werden?«

Grace wandte den Blick ab. »Das weiß ich nicht mehr«, antwortete sie. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir es hier nicht mit einem Psychopathen zu tun haben, der unter einer Brücke in einer Pappschachtel haust. Wahrscheinlich verhält er sich in diesem Moment wie ein ganz normales Mitglied der Gesellschaft. Ted Bundy kehrte nach Hause zurück, nachdem er zwei voneinander unabhängige Morde begangen hatte, und wirkte seiner Freundin zufolge nicht einmal müde.«

»Wer ist Ted Bundy?«

»Ein weiterer Frauenmörder.«

»Aber warum machen sich diese Männer so viel Mühe?

Warum lauern sie ihren Opfern nicht einfach in einer dunklen Gasse auf?«

»Die Mühe ist ein Teil des Vergnügens. Damit will ich sagen, Nadia, dass Sie hinsichtlich seines Charakters und seiner Motive alle Ihre normalen, auf gesundem Menschenverstand basierenden Vorstellungen aufgeben müssen. Er hat es nicht auf Ihr Geld abgesehen. Er empfindet nicht einmal Hass auf sie. Zumindest wird er es nicht so sehen. Vielleicht hält er seine Gefühle eher für Liebe. Denken Sie an die Briefe, die er schreibt: Auf eine perverse Weise handelt es sich dabei um Liebesbriefe. Er entwickelt eine Obsession für die Frauen, die er sich aussucht.«

»Sie meinen, er ist der Typ, der gern Züge beobachtet, und ich bin der Zug.«

»So könnte man es ausdrücken.«

»Aber warum? Ich verstehe einfach nicht, warum er all diese Anstrengungen unternimmt, Briefe schreibt, eine Zeichnung anfertigt, ein unglaubliches Risiko eingeht, indem er die Briefe zum Teil persönlich durch den Briefschlitz wirft, und seine Opfer, die alle ganz normale Frauen sind, am Ende dann auf so bestialische Weise umbringt. Warum?«

Ich sah Grace in die Augen. Ihr Gesicht wirkte jetzt völlig ausdruckslos, fast wie eine Maske.

»Sie meinen, weil so schreckliche Dinge passieren, müsste es dafür auch besondere Motive geben.

Irgendwann wird dieser Mensch hinter Schloss und Riegel sein, und jemand – vielleicht sogar ich – wird mit ihm über sein Leben reden. Vielleicht wurde er als Kind brutal geschlagen oder von einem Onkel missbraucht oder erlitt eine Kopfverletzung, die eine Schädigung des Gehirns zur Folge hatte. Irgendetwas Derartiges wird der Grund sein.

Natürlich gibt es viele Leute, die als Kind misshandelt oder missbraucht wurden, die aber nicht zu psychopathischen Sexualverbrechern heranwuchsen. Es ist einfach etwas, das er gern tut. Warum tun wir gern, was wir gern tun?«

»Was, glauben Sie, wird passieren?«

Sie zündete sich eine neue Zigarette an.

»Seine Brutalität eskaliert«, antwortete sie. »Sie steigert sich. Beim ersten Mord ist er vergleichsweise zahm vorgegangen. Wahrscheinlich hat er ihr dabei nicht mal ins Gesicht gesehen, sie gar nicht so sehr als Individuum betrachtet. Der zweite war wesentlich brutaler, wesentlich aggressiver. Das ist ein typisches Muster. Die Verbrechen werden immer grausamer und unkontrollierter. Bis der Täter schließlich gefasst wird.«

Plötzlich war mir, als hätte sich eine schwarze Wolke vor die Sonne geschoben. Ich blickte hoch, doch da war keine Wolke. Der Himmel leuchtete strahlend blau.

»Die übernächste Person, die er sich aussucht, könnte davon vielleicht schon profitieren«, stellte ich bitter fest.

Wir standen auf. Ich sah mich nach Lynne um, aber sie wich meinem Blick aus. Ich wandte mich wieder zu Grace. »Was für ein Gefühl haben Sie, wenn Sie an die letzten zwei Monate denken?«, fragte ich. »Sind Sie zufrieden mit der Art, wie Sie die Ermittlungen geführt haben?«

Sie griff nach ihrer Sonnenbrille, den Schlüsseln und der Zigarettenpackung. »Eigentlich habe ich mit dem Rauchen längst aufgehört. Wann war das noch mal? – Vor fünf Jahren, glaube ich. Seit Wochen zermartere ich mir immer wieder das Gehirn und frage mich, was ich hätte anders machen können. Vielleicht werde ich es wissen, wenn er gefasst ist.« Sie warf mir einen wehmütigen Blick zu.

»Keine Angst. Ich bitte Sie nicht um Verständnis.« Sie zog etwas aus ihrer Tasche und hielt es mir hin. Es war eine Visitenkarte. »Sie können mich jederzeit anrufen.«

Ich nahm sie entgegen und betrachtete sie mit dem oberflächlichen, höflichen Interesse, mit dem man solche Karten in der Regel in Empfang nimmt. »Ich glaube nicht, dass Sie es schaffen werden, rechtzeitig da zu sein«, antwortete ich.

15. KAPITEL

ls ich am College war, wo man ja eigentlich lernen sollte, wie m

A

an der wirklichen Welt auf eine

erwachsene Weise begegnet, hatte ich eine Freundin, die an Leukämie starb. Sie hieß Laura, hatte winzige Füße und rosige Apfelwangen. Sie wurde im ersten Studienjahr krank und schaffte es nicht mehr, ihre Abschlussprüfung zu machen. Nach ihrem Tod gewöhnten wir uns erschreckend schnell an die Tatsache, dass sie nicht mehr bei uns war, und erinnerten uns nur noch hin und wieder aus Scham oder Sentimentalität an sie. In meiner jetzigen Situation aber dachte ich sehr viel an Laura. Auf eine seltsame Weise und eigentlich gegen meinen Willen fühlte ich mich ihr – und auch Jenny und Zoë, zwei Frauen, denen ich nie begegnet war – viel näher als meinen lebenden Freunden.

Sogar Zach und Janet waren mir irgendwie fremd geworden. Sie waren entsetzt über das, was mir passierte, aber zugleich auch peinlich berührt. Sie riefen mich häufig an, aber schauten nicht oft genug vorbei, und wenn wir uns doch einmal trafen, gab es nichts, worüber wir richtig reden konnten, weil ich mich im Schatten befand und sie sich in der Sonne. Wir konnten nicht mehr so locker wie früher miteinander umgehen. Es war, als wäre ich ihnen vorausgegangen – an einen Ort, an den sie mir nicht folgen konnten und den ich nicht mehr in der Lage war zu verlassen. Mit einem Schaudern musste ich daran denken, dass Laura etwas ganz Ähnliches gesagt hatte, als es schließlich dem Ende zuging und für uns alle offensichtlich war, dass sie es nicht schaffen würde. Sie hatte gesagt – oder eher geschrien –, dass es ihr vorkomme, als säße sie in einem Wartezimmer und die Tür auf der anderen Seite würde sich bald für sie öffnen.

Ich konnte mich noch gut an das Entsetzen erinnern, das ich bei ihren Worten empfunden hatte. Ich stellte mir vor, dass es jenseits der Tür stockfinster wäre und sie gezwungen sein würde, aus einem erleuchteten Raum in eine tiefe, gähnende Schwärze hinauszutreten.

Laura hatte alle Stadien durchlaufen, die man angeblich durchläuft, wenn man dem Tod ins Auge blickt: Fassungslosigkeit, Wut, Trauer, Entsetzen, Resignation und schließlich eine Art von Akzeptanz – vielleicht, weil die vielen Behandlungen und das ewige Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung sie so erschöpft hatten. Nachdem sie gestorben war, führten ein paar von uns eines Abends ein unschönes – durch zu viel Alkohol noch zusätzlich angeheiztes – Streitgespräch darüber, ob sie vielleicht überleben oder zumindest länger leben hätte können, wenn sie stärker gegen die Krankheit angekämpft hätte, statt irgendwann einfach aufzugeben und loszulassen. In der Vergangenheit hatte ich mir dieses Loslassen immer so vorgestellt, dass eine Hand sich sanft aus der Hand eines geliebten Menschen löst. Nun, nachdem ich die Fotos gesehen und die Berichte zu den beiden anderen Fällen gelesen hatte, sah ich vor meinem geistigen Auge eher zwei Hände, die sich an einen Mauervorsprung klammern, bis ein schwerer Stiefel sie mit roher Gewalt zum Loslassen zwingt. Damals hatte jemand gemeint, Laura hätte stärker dagegen ankämpfen müssen – als ob Lauras Sterben ihre eigene Schuld gewesen wäre und nicht bloß ein grausamer Schlag des Schicksals.

Ich würde dagegen ankämpfen. Ich wusste nicht, ob es auch nur den geringsten Unterschied machen würde, aber darum ging es gar nicht. Ich wollte bloß nicht starr vor Entsetzen in einem gottverdammten Wartezimmer kauern, ständig auf die gegenüberliegende Tür starren und dabei jene lähmende Angst empfinden, die ich in den letzten Tagen gefühlt hatte und die ständig mein Herz zum Rasen, meinen Mund zum Austrocknen und meinen Magen zum Revoltieren brachte. Ich hatte die Fotos gesehen, die Berichte gelesen und mit Grace gesprochen. Ich setzte nicht viel Vertrauen in Links und Cameron, was teilweise wohl daran lag, dass sie selbst nicht an ihre Fähigkeiten zu glauben schienen und im Grunde mit meinem baldigen Tod rechneten, auch wenn sie es nie zugaben. Ich war also auf mich allein gestellt, konnte mich nur noch auf mich selbst verlassen. Und wenn ich etwas hasse, dann ist es Warten.

Eines stand fest: Ich durfte nicht länger in meiner Wohnung herumsitzen und mich vor Lynne und meiner eigenen Angst verstecken. Das Seltsame war, dass Lynne und ich noch immer nicht über meinen möglichen Tod sprachen. Das war zwischen uns ein absolutes Tabuthema.

Wir redeten nur über Terminpläne und Fragen, die den täglichen Ablauf betrafen, beispielsweise, wo ich als Nächstes hinwollte und wo sie auf mich warten sollte. Wir nahmen auch unsere Mahlzeiten nicht mehr gemeinsam ein. Es kam nicht einmal mehr vor, dass wir uns irgendwo Pommes mitnahmen oder zusammen eine Scheibe Toast zum Frühstück aßen. Ich hatte aufgehört, sie wie eine Art Gast oder Freundin zu behandeln.

Am Tag nach meinem Treffen mit Grace Schilling ging ich mit Claire zum Schlittschuhlaufen. Claire war Schauspielerin, hatte zurzeit aber kein Engagement. Sie konnte rückwärts fahren und Pirouetten drehen, bei denen einem schon vom bloßen Zusehen schwindlig wurde.

Lynne und eine weitere Polizistin saßen missmutig am Rand und sahen zu, wie ich in kleine Kinder krachte und sie wie Kegel zum Umkippen brachte oder wild mit den Armen rudernd über meine eigenen Beine fiel. Am Abend desselben Tages lud ich mich bei Zach ein und bat ihn, noch ein paar andere Freunde dazuzubitten, was er auch tat. Lynne wartete draußen, während wir uns mit Tacos voll stopften und ich so viel Rotwein trank, dass ich irgendwann anfing, laute und blöde Witze zu reißen und um zwei Uhr morgens sturzbetrunken in den wartenden Wagen fiel. Die ganze Zeit über – selbst dann, als ich mich mit Alkohol zudröhnte und mit einem Mann namens Terence flirtete, der ganz offensichtlich schwul war und meine Annäherungsversuche höchst peinlich fand –, versuchte ich darüber nachzudenken, was ich als Nächstes tun sollte. Grace hatte gesagt, dass Menschen wie dieser Mann allen anderen immer ein paar Schritte voraus sind: zielgerichteter, entschlossener, beharrlicher. Ich wollte versuchen, noch einen Schritt schneller zu sein als er.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit starken Kopfschmerzen und einem trockenen Mund. Mir war leicht übel, und als ich die Vorhänge aufzog, hatte ich das Gefühl, als würden meine Augen von Pfeilen durchbohrt.

Ich wankte in die Küche und trank zwei Gläser Wasser, ohne auf Lynnes mitfühlenden, wenn auch etwas vorwurfsvollen Gesichtsausdruck zu achten. Dann machte ich mir eine große Kanne Tee und kehrte damit in mein Schlafzimmer zurück, wo ich mich, bekleidet mit einer Jogginghose und einer schäbigen grauen Weste, im Schneidersitz auf meinen Bett niederließ und mich in der Tür meines Spiegelschranks betrachtete. Neuerdings widmete ich meinem Spiegelbild viel mehr Aufmerksamkeit als früher, wahrscheinlich, weil ich mich und meinen Körper nicht mehr einfach als gegeben betrachtete. Hätte ich inzwischen nicht anders aussehen müssen, dünner und mitgenommener? So weit ich das beurteilen konnte, hatte ich mich rein äußerlich überhaupt nicht verändert. Das war Nadia, wie man sie kannte: Sommersprossen auf der Nase, ungekämmt, total verkatert.

Es klingelte. Ich hörte Lynne zur Tür gehen. Obwohl ich die Ohren spitzte, drangen nur ein paar gemurmelte Worte zu mir herein. Dann klopfte es an der Schlafzimmertür.

»Ja?«

»Da ist jemand, der Sie sprechen möchte.«

»Wer?«

Auf der anderen Seite der Tür zögerte Lynne für den Bruchteil einer Sekunde.

»Josh Hintlesham.« Nach einer kurzen Pause fügte sie leiser hinzu: »Jennys Sohn.«

»O mein Gott! Augenblick!« Ich sprang aus dem Bett.

»Bitten Sie ihn herein.«

»Sind Sie sicher? Ich weiß nicht, was Links davon –«

»Ich brauche bloß eine Minute.«

Ich stürzte ins Bad, schluckte drei Tabletten gegen meine Kopfschmerzen, klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht und putzte mir hektisch die Zähne. Josh. Der Junge auf dem Fensterbrett, der mit der pubertären Akne und Jennys dunklen Augen.

Ich ging ins Wohnzimmer und streckte ihm die Hand entgegen. »Josh, hallo.«

Seine Hand hing kalt und schlaff in meiner. Er wich meinem Blick aus, murmelte etwas und starrte auf den Boden.

»Wären Sie so nett, draußen im Wagen zu warten, Lynne?«, fragte ich.

Bevor sie die Tür hinter sich zuzog, warf sie uns über die Schulter einen besorgten Blick zu. Josh trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Er trug einen Jogginganzug, der ihm ein bisschen zu klein war, und sein fettiges Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Er hätte jemanden gebraucht, der mit ihm einkaufen ging und ihn aufforderte, hin und wieder mal ein Bad zu nehmen, sich die Haare zu waschen und ein Deo zu benutzen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Gloria das tun würde.

»Kaffee oder Tee?«, fragte ich.

»Nichts, Danke schön.« Seine Stimme war nur ein Murmeln.

»Saft?« Ein bisschen zu spät fiel mir ein, dass ich gar keinen im Kühlschrank hatte.

»Nein, danke.«

»Setz dich.«

Ich deutete auf das Sofa.

Verlegen nahm er ganz vorn auf der Kante Platz, während ich ein paar Kaffeebohnen mahlte und wartete, bis das Wasser kochte. Mir fiel auf, wie groß seine Hände und Füße waren und was für knochige Handgelenke er hatte. Sein Gesicht wirkte blass, aber die Ränder seiner Augen waren rot. Ich hatte das Gefühl, dass er ziemlich am Ende war. Allerdings hatte ich schon seit zehn Jahren mit keinem Jungen im Teenageralter mehr zu tun gehabt.

Jungs über neun waren für mich ein Buch mit sieben Siegeln.

»Wie hast du mich gefunden?«

»Ich habe in den Gelben Seiten unter ›Entertainer‹

nachgesehen. Christo hat mir gesagt, dass Sie Clown sind.«

»Ganz schön clever.« Ich nahm meine Kaffeetasse und ließ mich ihm gegenüber nieder. »Hör zu, Josh, das mit deiner Mutter tut mir sehr Leid.«

Er nickte achselzuckend. »Ja.«

Mister Cool.

»Bestimmt fehlt sie dir.«

Gott, warum konnte ich nicht einfach den Mund halten?

Er zuckte zusammen und fing an, auf einem Fingernagel herumzukauen. »Sie hatte nicht viel Zeit für mich«, erklärte er. »Sie war immer in Eile oder wegen irgendwas genervt.«

Ich hatte das Gefühl, ein gutes Wort für sie einlegen zu müssen.

»Ich nehme an, drei Kinder und ein Haus sind ganz schön stressig«, sagte ich und tat so, als würde ich einen Schluck aus meiner Tasse nehmen, obwohl sie schon leer war. Nadia, die Hobby-Therapeutin. »Hast du jemanden, mit dem du über das alles reden kannst?«, fragte ich ihn.

»Freunde oder einen Arzt oder so was?«

»Ich komme schon klar«, antwortete er.

Dann saßen wir eine Weile da, ohne etwas zu sagen. Um das Schweigen zu überbrücken, schenkte ich mir noch eine Tasse Kaffee ein.

»Und Sie?«, fragte er plötzlich.

»Ich?«

»Haben Sie Angst?«

»Ich versuche, optimistisch zu sein.«

»Ich träume dauernd von ihr«, sagte er. »Jede Nacht.

Keine Albträume, in denen sie ermordet wird oder so. Es sind schöne, glückliche Träume, in denen Mom mir übers Haar streicht und mich in den Arm nimmt, lauter solche Sachen, obwohl sie in Wirklichkeit nur Christo übers Haar gestreichelt hat. Sie hat gesagt, dass ich dafür schon zu alt bin.« Er errötete heftig. »Die Träume machen es nur noch schlimmer.« Dann fügte er hinzu:

»Keiner will mir sagen, wie sie genau gestorben ist.«

»Josh …«

»Ich kann die Wahrheit ertragen.«

Während ich den verlegenen, tapferen Jungen vor mir betrachtete, musste ich an das Foto von Jennys Leiche denken.

»Schnell«, sagte ich. »Sie ist schnell gestorben.

Wahrscheinlich hat sie gar nicht mitbekommen, was passiert ist.«

»Sie lügen mich auch an. Ich dachte, Sie würden mir die Wahrheit sagen.«

Ich holte tief Luft. »Josh, die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß. Deine Mutter ist tot. Wie auch immer sie gestorben ist, sie hat jetzt keine Schmerzen mehr.«

Ich schämte mich, weil ich die Situation nicht besser gemeistert hatte. Josh stand abrupt auf und fing an, im Raum herumzuwandern. »Arbeiten Sie wirklich als Clown?«

»Als Unterhalterin.«

Er griff nach meinen Bohnensäckchen.

»Können Sie jonglieren?«

Ich nahm sie ihm aus der Hand und fing an, sie durch die Luft zu wirbeln. Er wirkte nicht sehr beeindruckt.

»Ich meine, richtig jonglieren. Ich kenne eine Menge Leute, die mit drei Bällen jonglieren können.«

»Versuch du es doch mal.«

»Ich bin kein Unterhalter.«

»Nein«, gab ich trocken zurück.

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagte er.

Er nahm seinen Rucksack zur Hand und fischte einen braunen Umschlag heraus.

Der Umschlag enthielt Dutzende von Fotos, hauptsächlich Urlaubsfotos, die im Lauf der Jahre aufgenommen worden waren. Während ich sie betrachtete, war mir auf schreckliche Weise bewusst, dass Josh mir schwer atmend über die Schulter sah. Jenny im gelben Bikini, sehr schlank und braun gebrannt an einem Sandstrand, im Hintergrund ein Stück blauer Himmel.

Jenny in einer ordentlich gebügelten Jeans und einem grünen Poloshirt, Clives steifen Arm um die Schulter, ein hübsches Lächeln für die Kamera auf den Lippen. Sie sah so viel besser aus als er. Jenny, Hand in Hand mit einem viel jüngeren Josh. Jenny mit einem kahlen Baby im Arm, wahrscheinlich Chris. Jenny auf einer Wiese sitzend, umgeben von ihren drei Söhnen. Jenny mit kinnlangem, gestuftem Haar. Jenny beim Skifahren, in sauberer, nach vorn gebeugter Haltung, die Skistöcke unter die Achseln geklemmt. Jenny auf Gruppenfotos, Jenny allein.

Am meisten berührte mich ein Foto, das offensichtlich ohne ihr Wissen aufgenommen worden war, sodass sie ausnahmsweise mal nicht ihre typische skeptische Miene aufgesetzt hatte. Es handelte sich um eine leicht verschwommene Profilaufnahme. Eine Strähne ihres glänzenden Haars hing ihr ins Gesicht. Ihre Wange wirkte glatt, ihre Lippen waren leicht geöffnet, ihre Hand halb erhoben. Sie machte einen nachdenklichen, fast traurigen Eindruck. Ohne ihren üblichen Schutzpanzer sah sie aus wie eine Frau, mit der ich vielleicht doch hätte befreundet sein können. Noch etwas traf mich wie ein Messerstich: Sie hatte etwas Interessantes an sich. Eine besondere Ausstrahlung, die erklärte, warum sie jemandes Aufmerksamkeit erregt hatte. Ich konnte sie mir jetzt durchaus als eine Frau vorstellen, von der die Leute fasziniert gewesen waren. O Gott.

Schweigend legte ich die Fotos auf den Tisch und drehte mich zu Josh um. »Du armer Junge«, sagte ich, woraufhin er zu weinen begann, auch wenn er tapfer versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Er schluckte und schniefte und erstickte fast an seinem Kummer, während er zwischendrin immer wieder leise »Tut mir Leid« vor sich hinmurmelte. Schließlich verbarg er den Kopf in seiner Armbeuge. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte. Nach einer Weile richtete er sich auf, kramte ein zerknülltes Taschentuch hervor und putzte sich lautstark die Nase.

»Tut mir Leid«, sagte er noch einmal.

»Du musst dich nicht entschuldigen«, entgegnete ich.

»Es ist gut, dass es jemanden gibt, der um sie weint.«

»Ich gehe jetzt wohl besser«, sagte er, während er die Fotos einsammelte und zurück in den Umschlag schob.

»Geht’s wieder?«

»Ja.« Er wischte sich mit dem Ärmel über die Nase.

»Ich gebe dir meine Visitenkarte, damit du nicht mehr in den Gelben Seiten nachschauen musst, wenn du mich anrufen möchtest. Augenblick.«

Ich ging ins Schlafzimmer hinüber, wo mein Schreibtisch stand. Josh wartete im Türrahmen. Wieder fiel mir auf, wie dünn er war. Er sah aus, als brauchte er immer was zum Anlehnen, weil er sonst einfach umfallen würde. Ein richtiger Knochenhaufen.

»Besonders ordentlich sind Sie ja nicht gerade«, bemerkte er.

So ein frecher Bengel. »Stimmt. Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich extra für dich aufgeräumt.«

Er grinste verlegen. »Außerdem haben Sie einen richtig altertümlichen Computer.«

»Du bist nicht der Erste, der mir das sagt.«

Ich durchwühlte die Schubladen nach meinen Visitenkarten.

»Sind Sie online?«

»Online? Nicht dass ich wüsste.«

Er setzte sich an den Computer und fing an, auf der Tastatur herumzutippen. Er starrte auf den Bildschirm, als wäre er ein Bullauge, durch das etwas besonders Lustiges zu sehen war.

»Welche Kapazität hat Ihre Festplatte?«

»Frag mich was Leichteres.«

»Das ist das Allerwichtigste. Sie brauchen einfach mehr Power. Diese Kiste hier ist wie eine Mücke, die versucht, einen Lastwagen zu ziehen. Sie brauchen ein System mit einem größeren Arbeitsspeicher.«

»Ja, wahrscheinlich«, antwortete ich in der Hoffnung, ihn dadurch zum Schweigen zu bringen.

»Schnellere Hamster.«

Endlich wurde ich fündig. Ich hielt ihm die Karte unter die Nase.

»Hier! Nadia Blake, Entertainerin für Kinder, Puppenspielerin, Jongleurin, Zauberin und …« Plötzlich erstarrte ich. »Was? Was hast du da gerade gesagt?«

»Nicht böse sein! Es ist nun mal eine Tatsache, dass so ein Computer praktisch nutzlos ist, wenn er keine richtige

…«

»Ja, ja, aber was hast du eben gesagt?«

»Ich habe gesagt, dass Sie mehr Power brauchen.«

»Nein, du hast es irgendwie anders formuliert!«

Nachdem Josh einen Moment überlegt hatte, sah ich ihn zum ersten Mal lachen. »Tut mir Leid, das ist nur so ein blöder Ausdruck. Schnellere Hamster. Damit ist einfach nur mehr Power gemeint.«

»Wo hast du das her?«

»Es ist nur ein bildlicher Ausdruck. Wahrscheinlich bezieht er sich auf Hamster in Laufrädern. Nehme ich zumindest an. Ich habe noch nie wirklich darüber nachgedacht.«

»Nein, das meine ich nicht. Von wem hast du den Begriff?«

»Von wem?« Josh zog ein Gesicht. »Von einem Typen aus dem Computerclub bei uns an der Schule.«

»Was? Einem Schüler?«

»Nein, er heißt Hack und ist einer von den Typen, die den Club betreuen. Er ist wirklich nett zu mir, vor allem, seit Mum gestorben ist.«

Ich zitterte. »Hack? Was ist denn das für ein Name?«

»In Wirklichkeit heißt er ganz anders. Das ist bloß sein Codename.«

Ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Josh«, sagte ich, während ich meine zitternden Hände fest aneinanderpresste, »kennst du seinen richtigen Namen?«

Er runzelte die Stirn. Bitte, bitte, bitte.

»Ich glaube, er heißt Morris. Er kennt sich mit Computern total gut aus, aber er wird Ihnen genau dasselbe sagen wie ich.«

16. KAPITEL

eine Hände zitterten so, dass ich es kaum schaffte, die Telefonnumm

M

er zu wählen. Ich ließ mich zu

Links durchstellen. Inzwischen war ich dahinter gekommen, dass man nur hartnäckig genug sein musste, dann stellte sich am Ende immer heraus, dass er doch zu sprechen war. Er klang distanziert und argwöhnisch. Seit ich ausgebüxt war, wusste er wohl nicht mehr recht, wie er mit mir umgehen sollte. Zweifellos hätte er mich am liebsten wegen irgendeines Verstoßes angezeigt, aber anscheinend hatte ich kein Gesetz gebrochen. Das Einzige, was er aus seiner Position der Schwäche heraus tun konnte, war, mich mit seiner mürrischen Art zu bestrafen.

»Ja?«, fragte er.

»Ich habe mit Joshua Hintlesham gesprochen.«

»Wie bitte?«

»Er ist Jennifer Hintleshams Sohn.«

»Das ist mir bekannt. Wie kommen Sie dazu, mit ihm zu sprechen?«

»Er hat mich besucht.«

»Wieso? Woher weiß er, wer Sie sind?«

Wenn er in Reichweite gewesen wäre, hätte ich mich jetzt zu ihm hinübergebeugt und ihn kräftig geschüttelt oder ihm ein paar Kopfnüsse verabreicht, aber leider war er nicht greifbar.

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Es spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass ich auf jemanden gestoßen bin, den wir beide kennen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Vor ungefähr zwei Wochen hatte ich Probleme mit meinem Computer und habe eine Nummer angerufen, die ich auf einer Visitenkarte unter meinem Scheibenwischer fand. Ein Typ namens Morris ist vorbeigekommen und hat das Ding repariert. Im Grund war es nur eine Kleinigkeit.

Was Computer betrifft, bin ich eine absolute Niete.

Jedenfalls ist mir dieser Typ kürzlich auf der Straße über den Weg gelaufen. Das war an dem Tag, an dem ich Lynne entwischt bin. Er war sehr freundlich, und ich habe mir nichts weiter dabei gedacht, aber heute hat mir Josh von dem Computerclub erzählt, der von seiner Schule organisiert wird, und dabei habe ich erfahren, dass einer von den Typen, die den Club betreuen, dieser Morris ist.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte eine Weile Schweigen. Nun hatte ich ihm etwas zu beißen gegeben.

»Handelt es sich wirklich um dieselbe Person?«

»Es scheint zumindest so.« Ich konnte es mir nicht verkneifen hinzuzufügen: »Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten. Wollen Sie, dass ich das überprüfe?«

»Nein, bloß nicht!«, antwortete er sofort. »Auf keinen Fall. Wir machen das schon. Was wissen Sie sonst noch über ihn?«

»Er heißt Morris Burnside. Ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Ansonsten kann ich nicht viel über ihn sagen. Er macht einen netten, cleveren Eindruck. Allerdings bin ich von jedem Menschen beeindruckt, der in der Lage ist, einen Computer zu bedienen. Josh scheint ihn sehr gern zu mögen. Er wirkt nicht wie ein Spinner. Außerdem sieht er recht gut aus. Mir gegenüber verhielt er sich weder schüchtern noch sonst irgendwie seltsam.«

»Wie gut kennen Sie ihn?«

»Ich kenne ihn überhaupt nicht. Wie ich schon gesagt habe, ich bin ihm bloß zweimal begegnet.«

»Hat er versucht, mit Ihnen in Kontakt zu treten?«

Ich ging unsere kurzen Gespräche im Geist noch einmal durch. Viel war da nicht gewesen.

»Ich glaube, er hat sich zu mir hingezogen gefühlt. Ich habe ihm erzählt, dass ich gerade eine Trennung hinter mir habe. Er hat vorsichtig gefragt, ob ich mal mit ihm ausgehen würde, und ich habe ihm eine ausweichende Antwort gegeben. Das Ganze war überhaupt nicht unangenehm oder peinlich. Er hat mir seine Hilfe beim Kauf eines neuen, leistungsfähigeren Computers angeboten. Ich habe dankend abgelehnt, aber das ist ja wohl auch kein ausreichender Grund, mich gleich umzubringen.«

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Ich habe seine Telefonnummer. Hilft Ihnen das weiter?«

Ich las ihm die Nummer vor, die auf der Karte stand.

Wie froh war ich vor zwei Wochen gewesen, diese Karte zu finden!

»Gut, überlassen Sie die Sache uns. Unternehmen Sie keinen Versuch, sich mit ihm in Verbindung zu setzen.«

»Sie werden mit ihm sprechen?«

»Wir überprüfen ihn.«

»Vielleicht steckt gar nichts dahinter«, gab ich zu bedenken.

»Wir werden sehen.«

»Vielleicht handelt es sich überhaupt nicht um dieselbe Person.«

»Wir überprüfen das.«

Als ich den Hörer auflegte, hätte ich mich am liebsten auf den Boden geworfen und losgeheult. Wie schön wäre es jetzt gewesen, von jemandem ins Bett gebracht und umsorgt zu werden. Aber da war nur Lynne, die ständig um mich herumschwirrte, wie eine lästige Fliege, die ich am liebsten mit der Klatsche erschlagen hätte. Während ich mit Links sprach, hatte sie die Ohren gespitzt. Jetzt sah sie mich erwartungsvoll an. Sie wollte informiert werden.

Ich musste hier raus. Ohne auf ihre stumme Frage zu antworten, griff ich erneut nach dem Telefon.

»Du bist ihm schon mal begegnet.«

Zach blieb stehen, als könnte er nicht gleichzeitig gehen und nachdenken.

»Wann?«

»Vor ungefähr zwei Wochen. Als du bei mir vorbeigeschaut hast und dieser junge Mann meinen Computer repariert hatte. Er war schon am Gehen, als du gekommen bist.«

»Der Typ, der kein Geld nehmen wollte?«

»Genau der.«

»Sandfarbenes Haar.«

»Nein. Ziemlich langes, dunkles Haar.«

»Hast du dir mein Haar schon mal angesehen?«

Zach trat einen Schritt zur Seite und versuchte, sich in einem Schaufenster zu spiegeln. Wir bummelten gerade die Camden High Street entlang. Hin und wieder gingen wir in einen Laden hinein, um etwas zu probieren, kauften aber nichts. Lynne folgte uns in knapp zwanzig Metern Abstand, die Hände in den Hosentaschen.

»Es wird immer dünner«, fuhr er fort. »Eigentlich sollte ich es ganz abrasieren. Was meinst du?«

Er sah mich fragend an.

»Lass es, wie es ist«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass dir ein rasierter Schädel stehen würde.«

»Gefällt dir meine Kopfform nicht?«

»Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, wie sich herausgestellt hat, kennt dieser Morris auch den Sohn einer der ermordeten Frauen.«

»Du meinst, er könnte sie umgebracht haben?«

»Zumindest ist er das einzige Bindeglied, das wir gefunden haben.«

»Aber das kann nicht sein. Ich weiß, dass ich ihn nur ungefähr acht Sekunden gesehen habe, aber er ist mir völlig normal erschienen.«

»Und wenn schon? Ich habe mit der Psychologin gesprochen, die sich auf diesem Gebiet auskennt. Sie hat gesagt, dass solche Typen oft einen ganz normalen Eindruck machen. Ich hoffe jedenfalls, dass es dieser Morris ist. Wenn sie ihn doch einfach wegsperren würden, sodass ich in Ruhe weiterleben könnte!«

Ich griff nach Zachs Hand. »Weißt du, ich war ganz und gar davon überzeugt, dass ich sterben würde. Die Polizei hat schließlich auch versucht, die beiden anderen Frauen zu beschützen, und es ist ihnen nicht gelungen. Sie sind beide ermordet worden. Ich muss die ganze Zeit ans Sterben denken. An den Tod. Ich habe solche Angst gehabt!«

Die Tränen begannen mir übers Gesicht zu laufen. Es war weder der richtige Zeitpunkt noch der optimale Ort für einen Heulanfall. Ständig schoben sich Leute mit Einkaufstüten an uns vorbei. Zach nahm mich in den Arm und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Manchmal konnte er richtig nett sein. Er zog ein paar halbwegs saubere Taschentücher aus seiner Jacke und reichte sie mir. Ich wischte mir das Gesicht ab und putzte mir die Nase.

»Warum hast du mich nicht um Hilfe gebeten?«, fragte er.

»Was hättest du denn tun können?«

»Irgendwas wäre mir schon eingefallen«, antwortete er.

»Wir hätten zusammen übers Totsein sprechen können.

Denk an die Zeit, bevor du auf die Welt gekommen bist.

Da warst du Millionen und Billionen von Jahren tot.

Dieser Gedanke macht dir doch auch keine Angst, oder?«

»Doch, und wie!«

Plötzlich berührte mich jemand am Ellbogen. Lynne.

»Ich habe für Sie eine Nachricht von DCI Links. Er möchte, dass Sie sofort aufs Revier kommen.«

»Was ist passiert?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Er hat nur gesagt, dass er mit Ihnen sprechen möchte.«

Auf dem Revier waren alle unheimlich nett zu mir. Ich wurde sofort in Empfang genommen und in ein luxuriöses Büro geführt, das von dem Großraumbüro abgetrennt war.

Dann forderte man mich auf, in dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen, versorgte mich mit Tee und Keksen auf einem kleinen Tablett und sagte mir, Links werde gleich kommen. Ich hatte kaum an meinem Tee genippt und den ersten Keks eingetunkt, als Links und Cameron schon den Raum betraten. Sie hatten beide eine ernste, offizielle Miene aufgesetzt. Cameron ließ sich auf dem Sofa nieder, das an einer Seite des Raums stand, und Links nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Demnach war es also sein Büro.

»Hat man Ihnen Tee gebracht?«, fragte er.

Statt einer Antwort hielt ich meine Tasse hoch.

»Ich wollte Sie so schnell wie möglich informieren«, erklärte er. »Wir haben Morris Burnside verhört und von der Liste der Verdächtigen gestrichen.«

Der Raum schien sich um mich zu drehen. Benommen starrte ich ihn an.

»Was?«

»Seien Sie versichert, dass es sich dabei durchaus um einen positiven Schritt handelt.«

»Aber wie konnten Sie ihn so schnell von der Liste streichen?«

Gleich zu Beginn unseres Gesprächs hatte er angefangen, mit einer Büroklammer herumzuspielen.

Zuerst hatte er sie auseinander gebogen. Jetzt versuchte er gerade, ihr wieder die alte Form zu geben. Ich hatte das auch schon mal probiert. Man bekommt die Klammer nie mehr so hin, wie sie war. Immerhin hatte er auf diese Weise etwas zu tun und brauchte mir nicht in die Augen zu sehen.

»Wie Dr.

Schilling mir mitgeteilt hat, haben Sie erfahren, dass zwei weitere Frauen ermordet worden sind, nein, ich wollte sagen, dass wir in unsere Ermittlungen zwei Mordfälle mit einbeziehen. Unsere Dokumentenanalysen haben mit hundertprozentiger Sicherheit ergeben, dass dieselbe Person, die Ihnen Drohbriefe geschickt hat, auch in die Ermordung von Zoë Haratounian und Jennifer Hintlesham verwickelt ist. Dafür gibt es außer den Briefen noch weitere eindeutige Hinweise.«

Inzwischen machte Links ein Gesicht, als würde ihm das Sprechen große Schmerzen bereiten. »Wir wissen, dass sich der Mörder die Mühe gemacht hat, einen Gegenstand aus Mrs. Hintleshams Besitz in der Wohnung von Miss Haratounian zu deponieren … wahrscheinlich in der Absicht, ähm … alles noch ein wenig verwirrender zu machen.« Er bog die Büroklammer wieder auseinander.

»An dem Morgen, als Zoë Haratounian ermordet wurde, befand sich Morris Burnside auf einer Informatikkonferenz in Birmingham, die das ganze Wochenende dauerte. Er war dort für einen Stand zuständig und hat Produkte präsentiert. Wir haben das überprüft. Es gibt eine ganze Reihe von Personen, die bezeugen können, dass er sich den ganzen Sonntag dort aufgehalten hat, von morgens bis abends.«

»Kann er sich nicht für eine Weile abgeseilt haben?«

»Nein, völlig ausgeschlossen.«

»Wie hat er reagiert, als Sie ihm mitgeteilt haben, dass Sie ihn befragen wollten?«

»Anfangs war er natürlich geschockt, dann aber sehr höflich und kooperativ. Ein netter junger Mann.«

»War er wütend?«

»Überhaupt nicht. Außerdem haben wir nicht erwähnt, dass wir seinen Namen von Ihnen haben.«

Ich lehnte mich vor und stellte meine Teetasse auf dem Schreibtisch ab.

»Kann ich sie einfach da stehen lassen?«

»Ja, natürlich.«

Ich hatte keine Kraft mehr, fühlte mich wie leer gepumpt. Für kurze Zeit hatte ich geglaubt, in Sicherheit zu sein. Jetzt ging das Bangen wieder von vorn los. Ich fühlte mich dem allen nicht mehr gewachsen. Ich war müde. »Ich habe gedacht, es wäre vorbei«, sagte ich mit tonloser Stimme.

»Ihnen wird nichts geschehen«, entgegnete Links, wich dabei aber nach wie vor meinem Blick aus. »Wir werden weiterhin auf Sie aufpassen.«

Benommen stand ich auf und blickte mich nach der Tür um.

»Sie müssen das Ganze als positiven Schritt betrachten.

Wir können einen potenziellen Verdächtigen von der Liste streichen. Das ist durchaus ein Fortschritt.«

Ich drehte mich wieder zu ihm um.

»Was?«, fragte ich.

»Einer weniger, um den wir uns Sorgen machen müssen.«

»Bleiben ja nur noch sechs Billionen«, gab ich zurück.

»Oh, nein, ich nehme an, Frauen und Kinder können wir auch streichen. Damit wären wir wohl bei zwei Billionen minus einem.«

Links stand auf. »Stadler wird Sie hinausbegleiten.«

Er musste mich halb führen, halb tragen. In einem ruhigen Teil des Gangs blieb er stehen. »Geht es wieder?«, fragte er.

Statt einer Antwort stöhnte ich nur.

»Ich muss dich sehen«, erklärte er.

»Was?«

»Ich denke die ganze Zeit an dich. Ich möchte dir helfen, Nadia. Ich brauche dich, und ich glaube, du brauchst mich auch.«

Er berührte meinen Arm.

»Was?« Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was er da tat. Mit einem leisen Stöhnen schüttelte ich ihn ab. »Fass mich nie wieder an«, sagte ich. »Fass mich nie wieder an!«

17. KAPITEL

ie Angst zog mir den Boden unter den Füßen weg.

Gleichzeitig

D

hatte ich das Gefühl, als würde sie mich von innen heraus auffressen. Ich kroch in mein Bett, starrte zur Decke hinauf und versuchte, nicht nachzudenken. Trotzdem rasten meine Gedanken. Ein paar Stunden der Hoffnung und des Hochgefühls, und nun?

Jetzt stand ich wieder da, wo ich vor ein paar Tagen angefangen hatte, oder war es schon eine Woche her? Nur dass es mir nicht wie Tage vorkam, sondern wie Monate und Jahre, eine triste, entsetzliche Ewigkeit der Angst. Ich schlief ein, wachte auf, schlief wieder ein. Es war nur ein leichter, nervöser Schlaf, in dem Träume lauerten, die einen festhalten konnten wie dicke, unter der Wasseroberfläche hin und her wogende Schlingpflanzen.

Erst war es dunkel, dann wurde es langsam heller, und schließlich war wieder Tag. Draußen vor dem Fenster konnte ich den stahlgrauen Himmel sehen. Eine Weile lauschte ich dem Gesang eines Vogels. Dann warf ich einen Blick auf die Uhr. Halb sieben. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf. Was sollte ich heute bloß mit mir anfangen?

Als Erstes rief ich Zach an. Seine Stimme klang verschlafen.

»Hallo Zach, ich bin’s, Nadia. Tut mir Leid, aber ich musste dich einfach anrufen. Er war es doch nicht! Es war nicht Morris. Er kann es nicht gewesen sein.«

»So ein Mist!«, sagte er.

»Stimmt. Was soll ich denn jetzt tun?« Zu meiner eigenen Überraschung stellte ich fest, dass ich weinte. Die Tränen liefen mir in den Mund, brachten meine Nase zum Jucken, bahnten sich ihren Weg meinen Hals hinunter.

»Ist die Polizei ganz sicher?«

»Ja, er war es nicht.«

»So ein Mist!«, sagte er noch einmal. Ich wusste, dass er krampfhaft überlegte, was er noch hinzufügen konnte, um mich ein wenig aufzubauen.

»Ich bin völlig ratlos, Zach. Er wird mich kriegen. Ich kann nicht mehr. Ich kann so nicht mehr weitermachen. Es hat keinen Sinn.«

»Doch, du kannst, Nadia. Du kannst.«

»Nein.« Ich wischte mit dem Ärmel meines Nachthemds über mein tränennasses Gesicht. Mein Hals und meine Lymphknoten schmerzten. »Nein, ich kann nicht mehr.«

»Hör zu, Nadia. Du bist tapfer. Ich glaube an dich.«

Das wiederholte er immer wieder: »Ich glaube an dich.

Du bist tapfer.« Ich weinte weiter und widersprach ihm hin und wieder schniefend. »Ich bin nicht tapfer« und:

»Nein, ich kann nicht mehr.« Aber irgendwie taten mir seine Worte gut, sodass ich immer weniger protestierte.

Irgendwann hörte ich mich sogar lachen, weil Zach mir beteuerte, dass ich ganz bestimmt hundert Jahre alt werden würde. Ich musste ihm versprechen, etwas zum Frühstück zu essen. Er sagte, er werde mich in einer Stunde oder so noch einmal anrufen und später vorbeikommen, um nach mir zu sehen.

Gehorsam toastete ich mir etwas Weißbrot, das schon ziemlich altbacken aussah, und aß es zu einer großen Tasse schwarzem Kaffee. Ich saß in der Küche und starrte aus dem Fenster. Draußen ging ein Typ mit einer Baseballkappe und einer weiten Hose vorbei. Er hatte die Lippen gespitzt und pfiff eine Melodie vor sich hin. Der könnte es sein, dachte ich. Oder der mit dem Kopfhörer, der einen kläffenden Hund hinter sich herzog. Oder der Typ mit dem struppigen Bart und dem schütter werdenden Haar, der an einem brütend heißen Augustnachmittag einen Steppanorak trug. Im Grunde konnte es jeder sein.

Ich versuchte, nicht an die tote Jenny zu denken. Wenn ich mir dieses Foto ins Gedächtnis rief, schnürte mir die Panik fast die Kehle zu. Bevor ich die Akten gesehen hatte, war der Killer eine vage drohende Gefahr gewesen, etwas Abstraktes und fast Irreales. Zoës liebes Gesicht hingegen hatte nichts Abstraktes, ebenso wenig wie Jennys grotesk verunstaltete Leiche. Ich spürte, wie sich zögernd ein Teil von mir regte, der einen ganz persönlichen Hass auf diesen Killer zu empfinden begann: ein intimes, zielgerichtetes Gefühl. Ich saß am Küchentisch und hielt dieses Gefühl fest, bis es in meinem Kopf deutlicher Gestalt annahm. Er war keine Wolke, kein Schatten, keine schreckliche Präsenz in der Luft – er war ein Mann, der zwei junge Frauen getötet hatte und nun mich töten wollte. Er gegen mich.

Ich griff nach einem ungeöffneten Brief, der mich schon auf dem Umschlag darüber informierte, dass ich bereits einen Preis gewonnen hatte. Ich begann mir auf der Rückseite des Kuverts Notizen zu machen. Was wusste ich über den Mann? Er hatte Zoë Mitte Juli umgebracht, Jenny Anfang August. Grace zu Folge handelte es sich um einen Fall »eskalierender Gewalt«. Ein silbernes Medaillon, das Jenny wochenlang vermisst hatte, war in Zoës Wohnung gefunden worden, ein Foto von Zoë zwischen Clives Papieren, aber das waren die einzigen Dinge, die eine Verbindung zwischen den beiden Frauen herstellte. Das einzige schwache – und wie sich herausstellte, bedeutungslose – Bindeglied zwischen mir und Jenny war Morris. Ich ging im Geist die anderen Leute durch, die befragt worden waren: Fred natürlich, wenn auch nie als Verdächtiger, weil er bereits überprüft worden war, bevor der Mord überhaupt passierte. Clive, der Immobilienmakler Guy, ein Geschäftsmann namens Nick Shale, ein früherer Freund von Zoë, der gerade von einer Weltreise zurückgekehrt war, außerdem ein paar Architekten, Bauarbeiter, Gärtner und Reinigungskräfte, die für Jenny gearbeitet hatten. Und jetzt Morris. In meinen Augen hatte die Polizei bisher nichts anderes getan, als einen Verdächtigen nach dem anderen von der Liste zu streichen.

Ich nippte an meinem kalt gewordenen Kaffee. Was bedeutete das für mich? Dass ich weiterhin an meinem Küchentisch sitzen und erbärmliche Versuche unternehmen müsste, selbst Detektiv zu spielen? Um währenddessen bei jedem Mann, der draußen vorbeiging, zu denken: der oder der oder keiner von denen? Ich rannte mit dem Kopf gegen dieselbe Wand, gegen die die Polizei schon seit Wochen anlief.

Ich holte den Zettel mit den Namen und Adressen, die ich mir aus den Polizeiakten herausgeschrieben hatte. Ich starrte auf sie hinunter, bis die Schrift vor meinen Augen verschwamm. Dann holte ich tief Luft und griff nach dem Telefonhörer. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.

»Guten Morgen, Clarke’s. Kann ich Ihnen helfen?« Eine Frauenstimme, der man anhörte, dass ihr eifriger Tonfall bloß geheuchelt war.

»Ich habe gehört, dass Sie eine Wohnung in der Holloway Road verkaufen. Meinen Sie, ich könnte sie mir mal ansehen?«

»Einen Moment bitte!« Ein paar Minuten lang saß ich da und lauschte einer Melodie von Bach, gespielt auf einer elektronischen Kinderorgel.

Dann meldete sich eine Männerstimme, die ihre Anwesenheit in der Leitung zunächst durch ein diskretes Hüsteln ankündigte.

»Hier spricht Guy. Kann ich Ihnen helfen?«

Ich wiederholte mein Anliegen.

»Großartig«, sagte er. »Eine äußerst günstig gelegene Wohnung.«

»Kann ich sie mir heute ansehen?«

»Auf jeden Fall. Wir wär’s mit heute Nachmittag?«

»Hat der Besitzer denn da Zeit?«

»Ich werde selbst kommen und sie Ihnen zeigen.«

Was war ich doch für ein Glückspilz.

Ich rief auch noch die nächste Nummer auf meinem Zettel an. Warum, weiß ich nicht genau. Vielleicht weil die dazugehörige Frau die einzige Person in den ganzen Akten gewesen war, die traurig geklungen hatte.

»Hallo?«

Wie sollte ich nur beginnen. Ich entschied mich dafür, offen und ehrlich zu sein.

»Ich bin Nadia Blake. Sie kennen mich nicht. Ich wollte mit Ihnen über Zoë sprechen.« Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment Schweigen. Ich konnte sie nicht mal atmen hören. »Entschuldigen Sie«, sagte ich.

»Ich wollte Sie nicht aufregen.«

»Wer sind Sie? Eine Journalistin?«

»Nein. Ich bin wie sie. Ich meine, ich bekomme auch Briefe von dem Mann, der sie umgebracht hat.«

»O mein Gott! Das ist ja schrecklich. Nadia, sagen Sie?«

»Ja.«

»Kann ich irgendwas für Sie tun?«

»Ich dachte, wir könnten uns vielleicht treffen?«

»Ja, natürlich. Ich habe noch Ferien. Ich bin Lehrerin.«

»Wie wär’s heute Nachmittag um zwei, in Zoës Wohnung?«

»Zoës Wohnung?«

»Ich habe mir einen Termin für eine

Wohnungsbesichtigung geben lassen.«

»Warum denn das?«

»Ich wollte sie sehen.«

»Sind Sie sicher?« Sie klang skeptisch. Vielleicht hielt sie mich für verrückt.

»Ich wollte einfach etwas über Zoë erfahren.«

»Ich werde da sein.«

Bis zu dem Termin blieben mir noch vier Stunden. An diesem Tag passte eine andere Beamtin auf mich auf, Bernice. Als ich ihr erklärte, dass ich mir kurz vor zwei eine Wohnung in der Holloway Road ansehen wollte, zuckte sie nicht mal mit der Wimper, sondern nickte nur gleichgültig und vermerkte den Termin in dem Notizbuch, das sie mit sich herumtrug. Vielleicht kannte sie Zoës ehemalige Adresse nicht, oder es wurde ihr und allen anderen allmählich zu langweilig, darauf zu warten, dass etwas geschah. Ich ließ mir ein Bad ein, wusch mir die Haare und blieb dann so lange in dem öligen Wasser liegen, bis die Haut an meinen Fingern und Zehen weich und schrumpelig geworden war. Anschließend lackierte ich mir die Zehennägel und schlüpfte in ein Kleid, das ich höchstens ein- oder zweimal getragen hatte. Ich hatte es mir für eine besondere Gelegenheit aufgespart, irgendeine tolle Party, auf der ich meinen nächsten Mr. Right kennen lernen würde, aber inzwischen erschien es mir albern, auf so etwas zu warten. Genauso gut konnte ich es zur Besichtigung von Zoës Wohnung anziehen, für Louise und Guy. Es hatte eine sehr schöne Farbe – einen edlen, blassen Türkiston – und war auf Figur geschnitten, mit kurzen Ärmeln und einem U-Ausschnitt. Als Accessoires wählte ich eine Kette und kleine Ohrringe. Zum Schluss schlüpfte ich in ein paar leichte Sandalen. Fertig. Ich wirkte frisch und schick, als wollte ich zu einem Sommerfest. Wenn es nur so wäre, dachte ich. Um das Bild abzurunden, legte ich ein wenig Lippenstift auf.

Gegen Mittag kam Bernice herein und informierte mich, dass ich Besuch von zwei jungen Männern hätte. Ich spähte aus dem Dielenfenster und sah einen nervösen Josh vor der Tür stehen, neben ihm ein Mann mit dunklen, zerzausten Haaren, der eine schwarze Stoffjacke trug.

Bewaffnet mit einer Schachtel Zigaretten und einem Strauß Blumen, lächelte er die Tür an, in der ich gleich erscheinen würde.

Als ich ein paar Stunden lang der Meinung gewesen war, Morris sei der Killer, hatte ich sein Gesicht als das eines Mörders in Erinnerung gehabt: listig und verschlagen, mit den toten, ausdruckslosen Augen eines Hais. Jetzt stellte ich fest, dass er ziemlich jungenhaft aussah, durchaus attraktiv. Ich fand es ziemlich süß, wie er seinen Blumenstrauß hoch hielt und darauf wartete, mich mit seinem Lächeln zu begrüßen.

»Herein mit euch beiden!«

Josh murmelte etwas und setzte sich in Bewegung.

Dabei stieg er auf seine offenen Schuhbänder, sodass er ins Stolpern geriet. Morris überreichte mir den Blumenstrauß.

»Eigentlich sollte ich Ihnen Blumen schenken, um mich für meinen Verdacht zu entschuldigen«, sagte ich. »Aber vielen Dank, sie sind wunderschön!« Aus einem spontanen Impuls heraus stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.

Bernice schloss wie eine Gefängniswärterin die Tür hinter uns.

»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass wir einfach so hereinschneien«, meinte Morris, während er zusah, wie ich einen Krug mit Wasser füllte und die Blumen hineinstellte.

»Hack meinte, wir drei sollten uns mal kurzschließen«, fügte Josh hinzu.

Unruhig wanderte er im Wohnzimmer herum, hob hier und dort etwas auf, ließ seine Hände an meinen Regalfächern entlanggleiten.

»Setz dich, Josh, du machst mich ganz nervös. Ich freue mich, euch beide zu sehen. Auch wenn es irgendwie ein komisches Gefühl ist.«

»Wieso?«

»Na ja, ich finde, wir geben schon ein seltsames Grüppchen ab!« Ich brach in ein freudloses Kichern aus, und Josh stimmte aus Nervosität oder Höflichkeit mit ein.

Morris starrte uns beide stirnrunzelnd an.

»Wie können Sie da noch lachen?«, fragte er, nachdem mein hysterischer Lachanfall abgeklungen war. »Wo es doch da draußen jemanden gibt, der Sie töten möchte!«

»Sie hätten mich heute Morgen sehen sollen. Oder gestern, als ich erfuhr, dass Sie es doch nicht waren. Ich hoffe, Sie verstehen mich nicht falsch, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass ich mir wirklich ganz fest gewünscht habe, Sie wären es.«

»Hoffnung ist etwas Grausames«, sagte Morris mit einem ernsten Nicken.

Ich warf Josh einen besorgten Blick zu. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja.«

Er sah aber nicht aus, als wäre alles in Ordnung mit ihm.

Seine Augen waren blutunterlaufen, die Haut so blass, dass sie fast grün wirkte. Ich stand auf, schob ihn zum Sofa hinüber und drückte ihn in die Kissen. »Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Ich mache dir jetzt trotzdem was zu essen. Vielleicht ein paar Nudeln, wenn ich welche finde. Möchten Sie auch was?«, fragte ich Morris.

»Ich helfe Ihnen«, antwortete er. »Du bleibst einfach hier sitzen und ruhst dich aus«, sagte er zu Josh und gab ihm einen leichten Klaps auf die Schulter. »Sammle deine Kräfte.«

Josh lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ein schwaches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Morris schnitt die Tomaten auf. Ich fand eine halbe Tüte Spiralnudeln, kippte sie in einen Topf und schaltete den Wasserkocher an.

»Haben Sie sehr große Angst?«, fragte er mich, wie Josh es beim letzten Mal getan hatte.

»Sie kommt und geht«, antwortete ich. »Ich versuche, stark zu bleiben.«

»Das ist gut«, meinte er, während er sich weiter den Tomaten widmete. »Helfen sie Ihnen?«

»Wer?«

»Die von der Polizei.«

»Sie versuchen es«, antwortete ich knapp. Ich wollte jetzt nicht über dieses Thema sprechen.

Im Kühlschrank hatte ich eine Dose entsteinte schwarze Oliven gefunden. Als die Nudeln fertig waren, gab ich eine Hand voll darüber und beträufelte das Ganze mit ein wenig Öl. Allerdings hätte ich noch ein bisschen Parmesan und schwarzen Pfeffer gebraucht, um das Bild abzurunden. Egal. Morris war immer noch damit beschäftigt, die Tomaten – sehr langsam und methodisch –

in kleine Würfel zu schneiden.

»Wie stellen Sie sich ihn vor?«, fragte er.

»Gar nicht.« Ich war selbst überrascht über meinen entschiedenen Ton. »Ich denke bloß an die Frauen. Zoë und Jenny.«

Er gab die Tomaten in eine Schüssel.

»Wenn ich irgendwas für Sie tun kann«, meinte er,

»dann sagen Sie es einfach.«

»Danke.« Ich achtete bewusst darauf, nicht allzu viel Begeisterung in meine Stimme zu legen. Ich hatte schon genug Freunde.

Während wir aßen, erzählte ich Josh und Morris von meinem Vorhaben, mir Zoës Wohnung anzusehen. Beide waren ziemlich verblüfft über meine Idee. »Warum kommt ihr nicht mit?«, fragte ich spontan. Kaum hatte ich diesen Vorschlag ausgesprochen, bereute ich ihn schon wieder halb.

Josh schüttelte den Kopf. »Gloria fährt heute mit uns zu ihrer Mutter, damit wir sie kennen lernen«, erklärte er bitter.

Nachdem er seine Nudeln gegessen hatte, schien es ihm viel besser zu gehen, auch wenn er sämtliche Oliven am Rand seines Tellers zu einem ordentlichen Haufen gestapelt hatte.

»Gern«, sagte Morris mit einem Lächeln. »Ich komme mit.«

»Ich treffe mich dort mit einer Freundin von Zoë«, erklärte ich. »Einer Frau namens Louise.«

»Wie seltsam«, sagte Morris.

»Was ist daran seltsam?«

Morris wirkte überrascht. »Erst lernen Sie Leute kennen, die Joshs Mutter gekannt haben. Und jetzt auch noch Bekannte von Zoë. Das finde ich seltsam.«

»Wirklich? Ich halte das irgendwie für wichtig.«

Er murmelte etwas, das nach vager Zustimmung klang.

Als er mit dem Essen fertig war, stand er auf und fischte ein Handy aus seiner Jackentasche.

»Mal sehen, ob ich irgendwelche Nachrichten bekommen habe«, sagte er. Er stellte sich ans Fenster, drückte an seinem Telefon verschiedene Knöpfe und lauschte mir gerunzelter Stirn.

»Mist«, sagte er und begann, seine Jacke zuzuknöpfen.

»Ich werde dringend gebraucht. Ich fürchte, ich muss die Wohnungsbesichtigung ausfallen lassen. Tut mir Leid.

Und das, nachdem ich Ihnen gerade versprochen habe zu helfen. Jetzt habe ich wirklich ein schlechtes Gewissen.«

»Das brauchen Sie nicht.«

Bevor er ging, nahm er meine Hand und drückte sie. Er stand auf mich, das war nicht zu übersehen. Er hatte mich gleich auf Anhieb sympathisch gefunden, schon an dem Tag, als er vorbeigekommen war, um meinen Computer zu reparieren. War ihm denn nicht klar, dass das das Letzte war, wonach mir jetzt der Sinn stand? Im Moment erschien es mir absolut unvorstellbar, eines Tages wieder einen Mann sexuell zu begehren.

Kurz darauf brach auch Josh auf. Als ich ihn an der Tür auf die Wange küsste, traten ihm Tränen in die Augen.

»Bis bald mal wieder«, sagte ich, um einen möglichst fröhlichen Ton bemüht. »Pass auf dich auf!«

Mit hängenden Schultern setzte er sich in Bewegung.

Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um und stieß hervor: »Selber! Ich meine, passen Sie auf sich auf!«

18. KAPITEL

uy trug einen schokoladebraunen Anzug sowie eine Bart-Sim

G

pson-Krawatte und lächelte. Er hatte sehr weiße Zähne und war extrem braun gebrannt. Nachdem er mir kräftig die Hand geschüttelt hatte, fragte er mich, ob er Nadia zu mir sagen dürfe, und nannte mich von da an ständig beim Namen. Wahrscheinlich hatte er das in einem Kurs gelernt. Als er die Haustür aufschloss, sagte eine Stimme hinter uns: »Nadia?«

Ich drehte mich um. Vor mir stand eine Frau in meinem Alter, die auch etwa die gleiche Größe und Figur hatte wie ich. Sie trug ein ärmelloses gelbes Top und einen knallroten Rock, der so kurz war, dass ich fast die Rundung ihrer Pobacken sehen konnte. Ihre nackten braunen Beine waren kräftig und wohl geformt. Sie hatte ihr glänzendes dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und einen Lippenstift aufgelegt, der im Farbton genau zum Rock passte. Sie wirkte intelligent, lebhaft und energisch. Bei ihrem Anblick ging es mir gleich besser.

»Louise? Ich bin froh, dass Sie gekommen sind.«

Sie lächelte mich aufmunternd an. Zusammen betraten wir einen düsteren Gang und stiegen eine schmale Treppe hinauf.

»Das ist das Wohnzimmer«, erklärte Guy überflüssigerweise, während wir einen engen Raum betraten, der muffig und unbewohnt roch.

Die dünnen orangefarbenen Vorhänge waren halb zugezogen. Ich trat an das kleine Fenster und öffnete es.

Was für eine deprimierende kleine Wohnung. »Hören Sie«, wandte ich mich an Guy, »würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns allein ein wenig umsehen?

Vielleicht könnten Sie draußen auf uns warten?«

»Brauchen Sie mich denn …«

»Nein«, fiel ihm Louise ins Wort. Nachdem er gegangen war, fügte sie hinzu: »Ein fieser Typ. Zoë konnte ihn nicht ausstehen. Er wollte unbedingt mit ihr ausgehen, hat sie immer wieder angemacht.«

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Zoë mit dem lieben Lächeln hatte hier gelebt. Im Zimmer nebenan war sie gestorben.

»Nach allem, was ich über sie gehört habe, muss sie sehr nett gewesen sein«, sagte ich. »Ich wünschte …« Ich hielt inne.

»Sie war ein wundervoller Mensch«, erklärte Louise.

»Ich hasse es zu sagen: ›war‹. Ihre Schüler haben sie vergöttert. Die meisten Männer waren auch ziemlich angetan von ihr. Sie hatte etwas an sich …«

»Ja?«

Louise wanderte gedankenverloren durch den Raum. Es war offensichtlich, dass ihre Augen Dinge sahen, die ich nicht sehen konnte. Als sie wieder zu sprechen begann, schien es mir, als würde sie zu sich selbst reden. »Sie hatte sehr früh ihre Mutter verloren, und irgendwie sah man ihr das an. Man hatte immer das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Vielleicht ist das der Grund, warum …«

»Ja?«

»Wer weiß? Warum sucht sich so ein Typ eine ganz bestimmte Frau aus?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, erwiderte ich.

Ich wanderte durch das Zimmer und sah mich um.

Anscheinend hatte jemand aufgeräumt, ansonsten aber alles so gelassen, wie es gewesen war. Die Bücher, die herumlagen, waren sauber gestapelt. Auf dem kleinen Tisch neben dem Fenster entdeckte ich ein liniertes Heft, auf dem ein paar Stifte, ein Lineal und ein Radiergummi lagen. Ich griff nach dem Heft und schlug es auf. Auf der ersten Seite waren ein paar Ideen für eine Unterrichtsstunde aufgelistet. Die einzelnen Stichpunkte waren sauber untereinander geschrieben und nummeriert.

Zoës kleine runde Buchstaben wirkten sehr ordentlich. An der Wand hing eine gerahmte Zeitungsseite mit einem Bild von Zoë. Sie hielt eine riesige Wassermelone und war von dutzenden kleiner Kinder umringt.

Wir gingen in die Küche. Auf dem Abtropfbrett standen mehrere Tassen. In einer Vase auf dem Tisch ließen ein paar verwelkte Blumen die Köpfe hängen. Neben dem Wasserkocher stand eine einzelne Flasche Weißwein. Der Kühlschrank war offen, leer und blitzblank geputzt.

»Die Wohnung gehört jetzt ihrer Tante«, erklärte Louise.

Ich griff nach einem Taschenrechner, der auf der Arbeitsfläche lag, drückte gedankenverloren ein paar Knöpfe und starrte auf die Summe, die auf dem Display erschien. »Hatte sie Angst?«

»Ja. Zum Schluss hat sie bei mir übernachtet.

Irgendwann war sie vor Angst völlig außer sich, aber an jenem letzten Tag erschien sie mir ruhiger. Sie hatte wieder Hoffnung geschöpft, fühlte sich ein wenig sicherer.

Ich habe draußen auf sie gewartet, müssen Sie wissen.«

Louise machte eine Kopfbewegung in Richtung Straße.

»Mein Wagen stand im absoluten Halteverbot. Ich wartete und wartete. Als es mir zu lange dauerte, habe ich wütend auf die Hupe gedrückt und noch mal ein paar Minuten gewartet. Dann bin ich ausgestiegen und habe geklingelt.

Als sie noch immer nicht auftauchte, habe ich die Polizei gerufen.«

»Sie haben ihre Leiche also nicht gesehen?«

Louise starrte mich blinzelnd an.

»Nein«, antwortete sie schließlich. »Sie haben mich nicht gelassen. Später sind sie dann mit mir in die Wohnung gefahren. Sie wollten wissen, ob irgendwas anders war als vorher. Ich konnte es einfach nicht glauben.

Sie wollte doch bloß schnell ihr Zeug holen. Als sie ausstieg, sagte sie, sie wäre in einer Minute wieder zurück.«

»Kommen die Damen da drinnen zurecht?«, rief Guy vom Treppenhaus herein.

»Wir sind gleich fertig!«, antwortete ich.

Zusammen gingen wir in das Schlafzimmer. Das Bett war abgezogen, und auf einem Sessel türmte sich ein Stapel Bettlaken und Kissen. Ich öffnete den Schrank. Ihre Kleider waren noch da. Sie hatte nicht viele besessen. Auf dem Schrankboden standen drei Paar Schuhe. Ich streckte die Hand aus und strich über den Stoff eines hellblauen Kleides. Daneben hing eine Baumwolljacke mit aufgetrenntem Saum.

»Haben Sie auch Fred gekannt?«, fragte ich Louise.

»Klar. Ein recht charmanter Typ. Obwohl Zoë ohne ihn besser dran war. Er hat ihr nicht direkt geholfen. Sie war richtig erleichtert, als sie ihm endlich gesagt hatte, dass es vorbei sei.«

»Das habe ich nicht gewusst.«

Für einen Moment schloss ich die Augen und rief mir das Bild ihrer Leiche ins Gedächtnis, die so friedlich auf dem Boden lag, als wäre sie dort eingeschlafen. Vielleicht hatte sie nicht gelitten. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, dass Louise mich besorgt anstarrte.

»Warum sind Sie hergekommen?«, fragte sie. »Was erwarten Sie sich davon?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Ich hatte gehofft, auf diese Weise irgendwas zu erfahren, aber ich habe keine Ahnung, was. Vielleicht halte ich nur Ausschau nach Zoë.«

Sie lächelte. »Suchen Sie nach Hinweisen?«, fragte sie.

»Blöd, nicht wahr? Fehlt denn was?«

Louise blickte sich um. »Das hat mich die Polizei auch schon gefragt. Ich konnte ihnen nicht wirklich weiterhelfen. Das Einzige, was mir einfiel, war, dass der Wandbehang nicht mehr da war, den Fred ihr geschenkt hatte.«

»Ja. Das stand auch im Bericht der Spurensicherung.«

»Ich finde es seltsam, dass der Mörder ausgerechnet dieses Ding hat mitgehen lassen. Es war bestimmt nicht viel wert.«

»Die Polizei vermutet, dass er ihn dazu verwendet hat, andere Sachen wegzutragen.«

Louise sah mich verblüfft an. »Warum hat er nicht einfach eine Plastiktüte aus der Küche benutzt?«

»Keine Ahnung. Ich nehme an, ein Mensch, der gerade jemanden umgebracht hat, denkt nicht mehr so rational.«

»Wie auch immer, sie hat nicht viel besessen. Vielleicht hat sich ihre Tante schon bedient. Die Polizei wird natürlich auch etwas mitgenommen haben. Im Großen und Ganzen sieht aber noch alles so aus, wie ich es in Erinnerung habe. Ein trister Ort, finden Sie nicht auch?«

»Ja.«

»Sie hat die Wohnung gehasst, vor allem zum Schluss.

Diese Räume spiegeln überhaupt nicht wieder, wie Zoë war.« Wir gingen zurück ins Wohnzimmer und setzten uns aufs Sofa. »An ihrem letzten Tag sind wir zusammen einkaufen gegangen. Sie wollte sich ein paar Sachen besorgen, die sie tragen konnte, bis sie ihr ganzes Zeug aus der Wohnung geholt hatte. Wir suchten mehrere Slips für sie aus, außerdem einen BH und einige Paar Socken.

Dann sagte sie, sie wolle sich ein T-Shirt kaufen. Meine waren ihr alle zu groß. Sie war sehr dünn, und die ständige Angst hatte sie noch mehr abmagern lassen. Deswegen landeten wir am Ende in einem Kinderladen ganz in der Nähe meiner Wohnung, wo sie ein leichtes Sommerkleid und ein weißes T-Shirt mit kleinen aufgestickten Blumen fand. Zehn bis elf Jahre, stand auf dem Etikett. Zehn bis elf Jahre – es passte ihr wie angegossen. Sie probierte es an, und als sie damit aus der Umkleidekabine kam, sah sie so … so unglaublich süß aus, mit ihrem zerzausten Haar, den dünnen Armen, ihrem lebhaften Gesicht und dem Kinder-T-Shirt. Sie musste selbst ein bisschen lachen.«

Während Louise sprach, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Sie unternahm keinen Versuch, sie wegzuwischen.

»So habe ich sie in Erinnerung«, fügte sie hinzu. »Sie war dreiundzwanzig, eine junge Frau mit einem richtigen Erwachsenenberuf, einer Wohnung und allem, was sonst noch dazugehört. Aber immer, wenn ich an sie denke, sehe ich sie wieder in ihren Kindersachen vor mir stehen und mich anlachen. Sie war so klein, so jung.« Louise fischte ein Kleenex aus ihrer Tasche und wischte sich damit übers Gesicht. »So sah sie aus, als sie starb. Hübsch herausgeputzt, in lauter brandneuen Sachen. Sauber und frisch wie ein Gänseblümchen.«

»Meine Damen!« Guy streckte den Kopf zur Tür herein.

Er machte ein ziemlich verdutztes Gesicht, als er uns eng umschlungen und mit tränenüberströmten Gesichtern auf der Couch sitzen sah. Ich wusste nicht genau, um wen ich trauerte, aber wir blieben trotzdem noch eine Weile sitzen und weinten weiter. Als wir schließlich gingen, nahm Louise mein Gesicht in beide Hände, hielt mich einen Moment fest und starrte mich an.

»Viel Glück, Nadia, meine neue Freundin«, sagte sie.

»Ich werde an dich denken.«

19. KAPITEL

ls es am nächsten Abend kurz vor sieben an meiner Haustür k

A

lingelte, lag ich gerade auf dem Sofa. Bis dahin war dieser Tag nicht besonders gut verlaufen. In den frühen Morgenstunden hatte ich wach gelegen und an Zoë und Jenny gedacht. Inzwischen waren die beiden für mich fast so etwas wie Freundinnen geworden, vielleicht sogar mehr als das. Während ich so dalag, stellte ich mir vor, wie ich einen Weg entlangging, von dem ich genau wusste, dass die beiden anderen Frauen ihn vor mir gegangen waren, erst Zoë und dann Jenny. Manchmal konnte ich sogar noch ihre Spuren erkennen. Ich wusste, dass sie alles gesehen hatten, was ich gerade sah. Sie waren mir vorausgegangen, und während der Himmel hinter meinen Vorhängen langsam heller wurde, stellte ich mir vor, dass sie dort draußen im dunklen Nichts auf mich warteten.

Hatten sie sich ebenfalls Gedanken übers Sterben gemacht? Was hatten sie getan? Damit meinte ich nicht die Sicherheitsvorkehrungen, die sie getroffen hatten.

Nein, ich fragte mich vielmehr, ob sie ihre Lebensweise geändert hatten. Was macht man, wenn man vielleicht nur noch einen Tag oder eine Woche zu leben hat? Angeblich erscheint einem das Leben dann plötzlich viel kostbarer.

Wahrscheinlich sollte ich versuchen, klar zu denken und große Werke der Weltliteratur zu lesen. Ich war nicht sicher, ob ich überhaupt solche großen Werke besaß.

Nachdem ich aufgestanden war und mir eine Kanne Kaffee gekocht hatte, ließ ich den Blick mein Bücherregal entlangwandern und stieß dabei auf einen Gedichtband, den mir mal jemand zum Geburtstag geschenkt hatte.

Angeblich handelte es sich dabei um Gedichte, die sich besonders gut zum Auswendiglernen eigneten, aber mir bereitete allein schon das Lesen Schwierigkeiten.

Irgendwas schien mit meinem Gehirn nicht in Ordnung zu sein. Der Sinn der Gedichte blieb mir völlig verschlossen.

Ich stellte das Buch zurück ins Regal und schaltete den Fernseher an.

Noch vor kurzem hatte ich darüber nachgedacht, wie ich den Rest meines Lebens auf konstruktive Weise nutzen könnte. Nun sah ich mir eine Talkshow an, in der Frauen zu Wort kamen, die eine Affäre mit dem Freund ihrer Schwester gehabt hatten. Danach kam eine Kochsendung, die zugleich eine Gameshow war, dann die Wiederholung einer Sitcom aus den Siebzigerjahren und schließlich eine ebenfalls ziemlich angestaubt wirkende Dokumentation über ein Korallenriff. Außerdem sah ich eine Menge Wetterberichte.

Falls ich tatsächlich mit achtundzwanzig Jahren sterben sollte und jemand einen Nachruf auf mich schreiben würde – was bestimmt niemand tat –, was würde dem Betreffenden dann zu meinem Leben einfallen? »In ihren späteren Jahren fand sie eine Nische als mäßig erfolgreiche Kinderunterhalterin.« Zoë, die selbst fast noch ein Kind gewesen war, hatte bereits als Lehrerin gearbeitet. Und Jenny hatte drei Kindern das Leben geschenkt. Sie hatte Josh großgezogen, ein Kind, das fast schon ein Mann war.

Irgendwann schlief ich auf meinem Sofa ein, und als ich wieder aufwachte, sah ich mir den Schluss eines Western an, dann eine Sendung über Kegelbahnen, anschließend eine Quizsendung. Gerade als ich umschalten wollte, klingelte es an der Tür. Ich machte auf. Vor mir standen Josh und Morris. Der Duft von indischem Essen wehte herein. Morris war gerade in eine Diskussion mit einer Polizistin verwickelt.

»Ja, sie kennt uns. Ihre Kollegin, die letztes Mal da war, hat bereits unsere Namen und Adressen notiert. Wir können sie Ihnen aber gern noch mal geben, wenn Sie wollen.« Er drehte sich um und sah mich in der Tür stehen. »Wir haben uns was zum Essen geholt, und weil wir gerade in der Nähe waren, dachten wir, wir schauen mal vorbei.«

Ich starrte die beiden überrascht an. Es hatte nichts mit ihnen zu tun, nur damit, dass ich den ganzen Tag vor dem Fernseher verbracht hatte. Ich fühlte mich, als hätte ich irgendwelche Beruhigungspillen genommen.

»Kein Problem«, fuhr Morris fort. »Wenn wir ungelegen kommen, können wir auch irgendwo auf einer Parkbank essen. Oder in einem Hauseingang. Nein, noch besser: unter einer Straßenlampe. Im strömenden Regen.«

Gegen meinen Willen musste ich lächeln. Es war noch immer ein schöner, sonniger Tag.

»Blödsinn! Rein mit euch!« Die Beamtin wirkte nicht gerade begeistert. »Ist schon gut. Ich kenne die beiden.«

Sie traten ein und luden drei große Tüten, aus denen es verführerisch duftete, auf dem Tisch ab.

»Wahrscheinlich sind Sie heute irgendwo zum Essen eingeladen, oder?«

»Nein, ehrlich gesagt nicht«, gestand ich.

Sie zogen ihre Jacken aus und warfen sie in eine Ecke.

Sie schienen sich bei mir recht wohl zu fühlen.

»Bei Josh zu Hause steigt heute eine albtraumhafte Soiree. Da habe ich ihn gerettet, und wir sind gemeinsam auf Frauenfang gegangen.«

Josh lächelte so verlegen, dass ich ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. Sie fingen an, die Schälchen aus Alufolie zu verteilen.

»Wir wussten nicht so genau, wie viel Schärfe Sie vertragen«, erklärte Morris, während er die Pappdeckel abzog, »deswegen haben wir uns für die ganze Bandbreite entschieden, von extrem mild bis hin zu mörderisch scharf, mit sämtlichen Abstufungen dazwischen, außerdem mehrere Brotsorten, phal und verschiedene Gemüse. Die Erwachsenen dürfen dazu starkes Bier trinken, während Josh sich mit leichtem Lager begnügen muss.«

Ich hob eine Augenbraue. »Darfst du überhaupt schon Alkohol trinken, Josh?«

»Klar«, antwortete er trotzig.

Na ja, was soll’s, dachte ich. Ich hatte auch so schon genug Probleme. Ich holte Teller, Gläser und Besteck aus dem Schrank.

»Was hättet ihr gemacht, wenn ich nicht da gewesen wäre?«, fragte ich.

»Morris war sich ganz sicher, dass Sie zu Hause sein würden«, antwortete Josh.

»Ach ja?« Ich drehte mich mit gespielt ironischer Miene zu Morris um.

Er lächelte. »Ich wollte mich damit nicht über Sie lustig machen«, sagte er. »Ich dachte bloß, dass Sie wahrscheinlich ein bisschen angeschlagen sind.«

»Das bin ich in der Tat«, gab ich zu. »Ich habe im Moment keine besonders gute Phase.«

»Das merkt man«, meinte er. »Also langen Sie kräftig zu!«

Was wir auch taten. Das Essen war genau das, was ich jetzt brauchte: eine gute, chaotische, stillose Mahlzeit, bei der man alles Mögliche durcheinander essen konnte.

Zwischendrin nahm ich mir immer wieder ein Stück Brot und tauchte es in die verschiedenen Saucen. Wir forderten einander heraus, möglichst viel von dem scharfen phal in den Mund zu nehmen, achteten aber darauf, dass kaltes Bier zum Löschen bereit stand. Ich hatte den Eindruck, dass Morris schummelte und nur ein winziges Stück hineinschob, obwohl er uns gegenüber recht tapfer tat.

Josh dagegen holte ein paar Mal tief Luft, schob sich tatsächlich eine ansehnliche Menge Fleisch in den Mund, kaute ein wenig darauf herum und schluckte es hinunter.

Fasziniert beobachteten wir, wie kurz darauf kleine Schweißtröpfchen auf seine Stirn traten.

»Bestimmt wird es dich gleich zerreissen«, meinte ich.

»Morris, wir müssen uns in Sicherheit bringen.«

»Nein, ich habe alles im Griff«, stieß Josh mit gepresster Stimme hervor, woraufhin wir alle drei lachten.

Es war das erste Mal, dass ich Josh mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck gesehen hatte. Sonst wirkte er immer so verkniffen und gehemmt. Ich selbst hatte auch schon lange nicht mehr so unbekümmert gelacht.

»Jetzt Sie«, sagte Josh.

Mit einem übertriebenen, eleganten Schwung nahm ich einen großen Löffel voll und schob ihn mir in den Mund.

Sie starrten mich an, als wäre ich ein Feuerwerkskörper, der erst mit einiger Verspätung explodierte.

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Morris schließlich.

»Ich liebe scharfes Essen«, erklärte ich. »Und ich kann damit umgehen wie eine Lady.«

»Wir sind beeindruckt«, meinte Josh voller Bewunderung.

Hastig griff ich nach meinem Glas und nahm einen großen Schluck von dem kalten Bier.

»Sind Sie okay?«, fragte Josh.

»Klar. Ich bin bloß sehr durstig«, gab ich lässig zurück.

Dann fügte ich spontan hinzu: »Sagt mal, Jungs, wie wär’s, wenn wir uns alle duzen?«

Natürlich waren sie einverstanden.

Überraschend schnell hatten wir das meiste verputzt. Es waren nur noch ein paar kalt gewordene Reste übrig.

Während ich den Tisch abräumte, was im Wesentlichen bedeutete, dass ich die Aluschälchen ineinanderstapelte, wanderten die Jungs zu meinem berühmt-berüchtigten Computer hinüber. Bald hockten sie beide vor dem Ding, und hin und wieder hörte ich sie ungläubig nach Luft schnappen oder losprusten. Schließlich gesellte ich mich mit einem frischen Glas Bier zu ihnen. Ich fühlte mich angenehm benebelt. »Ich weiß, dass ihr das komisch findet«, sagte ich.

»Nein, es ist großartig«, widersprach Josh, während er fachmännisch auf der Maus herumklickte. »Du hast all diese vorsintflutlichen Programme, lauter 1.1.- und 1.2-Versionen. Es ist wie ein Software-Dinosaurierpark.

Augenblick mal, was ist denn das?«

Wie sich herausstellte, steckte irgendwo in meinem Computer ein Solitaire-Kartenspiel, von dem ich nicht mal was geahnt hatte. »Kennst du die Regeln?«, riefen sie.

Nein, ich kannte sie nicht. Mit viel Geschrei und Geraufe um die Maus begannen sie zu spielen.

»Es ist, als würde ich den Abend mit zwei Dreizehnjährigen verbringen«, stellte ich fest.

»Na und?«, gab Josh zurück.

Er wurde immer lockerer. Zumindest mir gegenüber verhielt er sich inzwischen viel entspannter. Von der Zurückhaltung und dem Respekt, mit dem er mich anfangs behandelt hatte, war zum Glück nichts mehr zu spüren. Sie verlangten nach mehr Bier, und ich brachte ihnen zwei kalte Dosen aus dem Kühlschrank.

»Allmählich fühle ich mich in diesem Szenario fast wie Prinzessin Leia«, sagte ich.

Josh wandte den Blick vom Bildschirm ab und musterte mich nachdenklich. »Ich finde, du siehst eher aus wie Chewbacca.«

»Wer?«

»Vergiss es!«

Vielleicht sollte ich mir meinen Wuschelkopf doch mal ein bisschen stutzen lassen. Ich ging in die Küche hinüber und kochte eine Kanne Kaffee. Nachdem ich mir selbst eine Tasse eingeschenkt hatte – sehr schwarz und sehr heiß –, rief ich zu den Jungs hinüber: »Es gibt Kaffee!«

Josh war von dem Spiel so fasziniert, dass er meine Existenz vorübergehend völlig vergessen hatte, aber Morris wollte eine Tasse.

»Hast du Milch?«, fragte er.

»Augenblick, ich bring dir gleich welche.«

»Nein, bleib hier, ich hole sie mir selbst.«

Während Morris in die Küche verschwand, betrachtete ich Josh, der mit höchster Konzentration auf den Bildschirm starrte. Seine Arme wirkten dünn und bleich.

Er war trotz seiner Größe noch immer ein kleiner Junge.

Morris kam zurück.

»Eine nette Wohnung ist das«, bemerkte er. »Sehr ruhig.«

»Bist du auf Wohnungssuche?«, fragte ich ihn. »In dem Fall solltest du mal einen Blick auf die werfen, die ich mir gestern angesehen habe. Allerdings ist die nicht besonders ruhig.«

»Wie ist es denn gelaufen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Ich weiß nicht mal genau, was ich eigentlich dort wollte. Wahrscheinlich war es eine Schnapsidee, aber irgendwie erschien es mir wichtig. Immerhin hatte ich Gelegenheit, mit Zoës Freundin zu sprechen, Louise. Sie ist sehr nett. Das hat mir Zoë ein bisschen näher gebracht.«

Morris nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Wie kann man sich für jemanden interessieren, den man nie kennen gelernt hat?«

»Na ja, weißt du, ich fühle mich Zoë und Jenny durchaus auf eine gewisse Weise verbunden.«

»Hast du letzte Woche die Zeitungsberichte über den Erdrutsch in Honduras verfolgt?«

»Nein.«

»Sie haben mehr als zweihundert Leichen geborgen. Es steht noch nicht fest, wie viele Menschen noch unter den Erdmassen begraben liegen.«

»Wie schrecklich.«

»Es war nur ein ganz kleiner Bericht im Auslandsteil meiner Zeitung. Wenn das Unglück in Frankreich passiert wäre, hätte es eine große Story gegeben. Wäre England der Schauplatz gewesen, hätte man es uns auf der Titelseite präsentiert.«

»Tut mir Leid«, sagte ich. »Du musst entschuldigen, wenn ich im Moment ein bisschen zu sehr mit mir selbst beschäftigt bin. Das hat mit diesem ständigen Gefühl der Angst zu tun. Da wird man einfach so.«

Morris beugte sich vor und stellte seine Kaffeetasse ganz behutsam auf einer Zeitung ab, als wäre es tatsächlich möglich, den Wert meines ramponierten Tisches noch zu mindern.

»Hast du wirklich solche Angst?«, fragte er mitfühlend.

»Ja«, antwortete ich. »Ich versuche nicht daran zu denken, die Angst zumindest zeitweise zu verdrängen, aber sie ist immer da. Du kennst bestimmt das Gefühl, wenn man mit Grippe im Bett liegt und alles, was man isst, so einen komischen Beigeschmack hat. So ähnlich fühlt sich das auch an.«

»Wenn du darüber reden möchtest, dann tu’s. Erzähl mir, was du empfindest. Du kannst mir alles sagen.

Wirklich alles.«

»Nett von dir, aber so kompliziert ist das nicht. Ich möchte einfach nur, dass es ein Ende hat.«

Morris blickte sich um. Josh war noch immer in das Spiel vertieft.

»Was wirst du als Nächstes tun?«, fragte er.

»Keine Ahnung. Ich hatte mir irgendwie in den Kopf gesetzt, selbst nach Hinweisen zu suchen, aber das war wohl eine ziemlich blöde Idee. Reine Zeitverschwendung.

Die Polizei hat schon alles gründlich untersucht.«

»Wonach hast du denn gesucht?«

»Keine Ahnung. Das ist wahrscheinlich das Allerlächerlichste daran. In einem Heuhaufen nach einer Stecknadel zu suchen ist eine Sache, aber was, wenn man nicht mal weiß, wonach man den Heuhaufen durchwühlt?

Vielleicht suche ich ja nach einem Strohhalm. Ich hatte übrigens Gelegenheit, einen kurzen Blick in einen Teil der Polizeiakten zu werfen.«

»Sie haben dich ihre Akten einsehen lassen?«, fragte Morris in scharfem Tonfall.

Ich lachte.

»Na ja, sozusagen.«

»Worum hat es sich dabei im Einzelnen gehandelt?

Waren auch Autopsieberichte darunter?«

»Hauptsächlich war es bürokratisches Zeug, aber ich habe auch ein paar schreckliche Fotos gesehen. Was er Jenny angetan hat. Glaub mir, du willst es nicht wissen.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich es noch immer vor mir.«

»Das kann ich mir vorstellen. Hast du sonst was Interessantes erfahren?«

»Eigentlich nicht. Oh, eine Menge Details, aber nichts, was mir wirklich weiterhilft. Es war schrecklich, aber im Grunde völlig umsonst. Ich hatte wohl gehofft, auf irgendetwas zu stoßen, irgendeine Verbindung zwischen uns: Zoë, Jenny und Nadia, den drei seltsamen Stiefschwestern.«

»Du hast mich gefunden«, sagte er lächelnd.

»Stimmt. Keine Angst, Morris, ich habe dich noch immer im Visier. Außerdem ist da noch dieser Immobilienmakler, Guy, der ebenfalls ein Bindeglied zwischen Zoë und Jenny gewesen sein könnte. Er scheint ein ziemlich schräger Vogel zu sein. Aber selbst wenn er tatsächlich beide Frauen gekannt hat, muss das nicht notwendigerweise etwas bedeuten. Schließlich haben auch Zoë und Jenny in Nord-London gelebt, genau wie ich. Da ist es im Grunde sogar ziemlich wahrscheinlich, dass es Verbindungen zwischen uns gibt. Es wäre geradezu seltsam, wenn es keine gäbe. Wer weiß, vielleicht haben wir in denselben Läden eingekauft oder sind uns sogar hin und wieder auf der Straße begegnet. Aber das ist gar nicht das Entscheidende. Was mir zu schaffen macht, ist einfach die Tatsache, dass ich ständig vor mich hingrüble. Es muss irgendeinen Hinweis geben. Irgendetwas muss es geben.

Ich habe mich kürzlich mit einer Psychologin unterhalten, und sie hat bei der Gelegenheit von so einer Art Prinzip gesprochen. Demnach lässt jeder Verbrecher irgendwas von sich am Tatort zurück, nimmt aber auch immer etwas mit. Eine faszinierende Idee, findest du nicht?«

Morris zuckte mit den Achseln.

»Na ja«, fuhr ich fort, » mich lässt sie jedenfalls nicht mehr los.

Es kommt mir vor, als würde ich besagten Heuhaufen in meinem Kopf herumtragen. Ich habe das Gefühl, dass es dort zwei entscheidende Strohhalme gibt, und wenn es mir gelingt, diese beiden zusammenzubringen, wird es mir vielleicht auch gelingen, mein Leben zu retten.«

»Natürlich wird dir das gelingen«, sagte Morris. »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben.«

»Manchmal bin ich nah dran. Weißt du, was ich als das Schlimmste empfinde? Die wenigen Momente, in denen ich fühle, wie es sein könnte, das alles zu überstehen, ein normales Leben zu führen und alt zu werden.« Ich musste aufhören und mich zusammenreißen, bevor mir die Tränen kamen. Plötzlich wurde mir bewusst, dass jemand neben mir stand. Josh. Ich schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein.

»Den heutigen Abend habe ich auch ein bisschen so empfunden«, fuhr ich fort.

»Ich hätte nicht damit gerechnet, es hatte sich einfach so ergeben.«

Einen Moment lang schwiegen wir. Josh sah jetzt wieder aus wie ein Erwachsener, der mit zwei anderen Erwachsenen auf dem Sofa saß. Wir tranken unseren Kaffee und warfen uns dabei immer wieder lächelnde Blicke zu.

»Demnach hast du also versucht«, begann Morris, »eine Verbindung zwischen dir und den anderen zwei Frauen herzustellen, Zoë und … ähm … Joshs Mum.«

»Genau.«

»Ich habe auch über das Ganze nachgedacht, und mir ist da ein wirklich blöder Gedanke gekommen. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich dir trotzdem davon erzähle.«

»Schieß los!«, sagte ich. »Es wird mir gut tun, zur Abwechslung mal den Mund zu halten. Ich rede sowieso viel zu viel.«

»Mir ist aufgefallen, dass es sehr wohl eine Verbindung zwischen euch dreien gibt.«

»Wie bitte?«

»Es klingt fast wie eine Scherzfrage, aber wer sind die Personen, die ihr drei gemeinsam habt?«

»Wer?«

Ich blickte von Morris zu Josh. Josh begann zu lächeln, als wäre ihm gerade ein Licht aufgegangen.

»Ich hab’s«, erklärte er selbstgefällig.

»Dann sag’s mir! Wer ist es?«

»Ich finde, du solltest noch ein bisschen länger raten.«

Jetzt zog er mich doch tatsächlich auf wie ein jüngerer Bruder.

»Verdammt, Josh, nun sag’s mir endlich, oder ich zieh dir die Löffel lang!« Ich hob drohend die Hand.

»Also gut, also gut! Die Polizei.«

»Haben die Beamten, die du kennst, auch in den beiden anderen Fällen ermittelt?«, fragte Morris.

»Ich glaube schon«, antwortete ich. »Aber … also wirklich …«

»Meine brillante Theorie hat tatsächlich einen entscheidenden Schönheitsfehler.«

»Und der wäre?«

»Das erste Opfer. Zoë. Die Polizei kann erst nach dem ersten Brief auf sie aufmerksam geworden sein.«

»O ja, stimmt.«

Wir schwiegen wieder. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als würde es in meinem Hinterkopf zu kribbeln anfangen.

Endlich war das passiert, worauf ich gehofft hatte. »Das stimmt nicht«, sagte ich.

»Was?«, fragte Morris.

»Was du gesagt hast. Dass sie erst nach dem ersten Brief auf der Bildfläche erschienen sind.«

»Wie meinst du das? Wie hätte die Polizei vorher von ihr wissen sollen?«

»Es stand in den Akten. Kurz bevor das Ganze anfing, ist ein Bericht über Zoë durch die Zeitungen gegangen. Sie hat sich auf der Straße mit einem Handtaschendieb angelegt. Ihn mit einer Wassermelone k.o. geschlagen. Sie war ein paar Tage lang berühmt, ihr Foto in allen Zeitungen. Die Polizei hat schon von ihr gewusst.«

»So ernst habe ich das mit meiner Theorie eigentlich gar nicht gemeint«, erklärte Morris. »Trotzdem … vielleicht solltest du wirklich mal darüber nachdenken, ob sie dich irgendwie seltsam behandelt haben. Ich nehme an, das Ganze ist ziemlich förmlich und unpersönlich abgelaufen, wie bei der Polizei halt so üblich.«

Ich warf ihm einen leicht nervösen Blick zu. Ich durfte mir jetzt nichts anmerken lassen.

»Ja, genau. Wie das so üblich ist.« Ich weiß, dass ich keine gute Lügnerin bin. Was hätte jemand, der keinen Grund zum Lügen hatte, an meiner Stelle wohl gesagt?

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Morris.

»Doch, natürlich, warum sollte es mir nicht gut gehen?«

Inzwischen rasten meine Gedanken. Es gab zu viel, worüber ich nachdenken, zu viel, das ich im Geiste Revue passieren lassen musste. »Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass es ein Polizist sein könnte?«

»Was denkst du, Josh?«

Josh schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Das ist einfach zu verrückt. Obwohl ich … nein, das ist ein blöder Gedanke.«

»Was?«, fragte ich. »Raus damit!«

»Ich weiß nicht, ob du davon schon gehört hast: Bevor meine Mum, nun ja, du weißt schon … auf jeden Fall hatten sie für kurze Zeit meinen Dad in Verdacht, weil etwas, das meiner Mum gehört hatte, in der Wohnung der anderen Frau, dieser Zoë, aufgetaucht war. Wer sonst hätte es dort hinschaffen können?«

Diesmal hatte unser Schweigen etwas Düsteres.

»Da muss ich erst mal drüber nachdenken«, sagte ich.

»Das ist ja wie ein Kreuzworträtsel. Ich bin nicht intelligent genug.«

»Tut mir Leid«, entschuldigte sich Morris. »Ich habe euch da wohl einen Floh ins Ohr gesetzt. Ich hätte den Mund halten sollen.«

»Nein«, widersprach ich. »Nun sei nicht albern. Das Ganze ist gar nicht so abwegig. Ich kann es bloß noch nicht glauben. Was soll ich denn jetzt tun?«

Morris und Josh sahen sich an und zuckten mit den Achseln.

»Auf jeden Fall solltest du gut auf dich aufpassen«, meinte Morris. »Halt die Augen offen!« Er gab Josh ein Zeichen zum Aufbruch. »Wir sollten jetzt gehen«, erklärte er.

Ich brachte sie zur Tür.

»Was soll ich denn jetzt tun?«, wiederholte ich kläglich.

»Denk in Ruhe über alles nach«, antwortete Morris.

»Wir werden das Gleiche tun. Vielleicht fällt uns etwas ein. Vergiss nicht, wir sind auf deiner Seite.«

Nachdem ich die Tür hinter ihnen abgeschlossen hatte, nahm ich mir nicht mal die Zeit, mich hinzusetzen. Ich blieb an der Tür stehen und begann nachzudenken.

Krampfhaft versuchte ich, das alles in eine Form zu bringen, die einen Sinn ergab. Mein Kopf schmerzte.

Ich befinde mich direkt im Zentrum des Geschehens.

Unsichtbar. Ich stehe vor ihr, und sie sieht mich mit diesem ganz eigenen Lächeln an, bei dem sich so hübsche Fältchen um ihre Augen bilden. Sie lacht über meine Witze. Sie legt die Hände auf meine Schulter. Sie hat mir sogar schon einen Kuss auf die Wange gegeben: einen weichen, trockenen Kuss, der sich in meine Haut eingebrannt hat. Wenn ihr Tränen in die Augen treten, wischt sie sie nicht weg. Es gibt nicht mehr viele Leute, denen sie noch vertraut, aber mir vertraut sie. Ja, sie vertraut mir vollkommen. Wenn ich mit ihr zusammen bin, darf ich nicht lachen. Das Lachen baut sich in mir auf wie eine Flutwelle.

Sie ist stark, richtet sich immer wieder auf. Sie ist noch nicht zusammengebrochen. Aber ich bin auch stark. Ich bin stärker als sie, stärker als alle anderen. Und ich bin clever, cleverer als diese Narren, die nach Hinweisen suchen, die nicht da sind. Außerdem bin ich geduldig. Ich kann warten, so lange es nötig ist. Ich beobachte und warte, und innerlich lache ich.

20. KAPITEL

u«, sagte ich.

D »Ich«, antwortete Cameron. Wir starrten uns an.

»Ich bin heute Lynne. Befehl von oben.«

»Oh.« Ich war im kurzen Bademantel und mit ungebürsteten Haaren an die Tür gegangen, weil ich mit Lynne oder Bernice gerechnet hatte. Ich wollte nicht, dass er mich so sah. Seine Augen wanderten von meinem Gesicht zu meinen Brüsten hinunter und von dort weiter zu meinen nackten Beinen. Instinktiv legte ich die Hand an den Hals, worauf er mit einem kleinen Lächeln reagierte. »Ich ziehe mich an«, erklärte ich.

Ich entschied mich für ein schlichtes Outfit: Jeans und TShirt. Dann bürstete ich mir das Haar aus dem Gesicht und band es zusammen. Draußen war es heute etwas kühler.

Ich hatte fast das Gefühl, einen Hauch von Herbst in der Luft zu spüren. Ich wollte so gern erleben, wie es Herbst wurde: wie die Blätter der Bäume die Farbe wechselten, graue Wolken am Himmel dahinjagten und der Wind den Regen durch die Luft peitschte. Ich wollte die Birnen draußen im Garten ernten und die Brombeeren pflücken, die auf dem nahe gelegenen Friedhof wuchsen. Ich stellte mir das Rascheln des trockenen Laubes vor, wenn ich mit meinen Stiefeln durch das kleine Wäldchen in der Nähe meines Elternhauses stapfte. Ich sah mich in Janets Haus am Kamin sitzen und gebutterten Toast essen. Kleine Dinge.

Ich hörte Cameron in der Küche hantieren. Er kannte sich bei mir ja bestens aus. Ich musste an das denken, was Morris gestern gesagt hatte, und dachte: Ja, es könnte sein, es könnte stimmen. Während Cameron nebenan mit dem Geschirr klapperte, dachte ich an das, was zwischen uns passiert war, ließ unsere gemeinsamen Stunden noch einmal Revue passieren. Er hatte stöhnend den Kopf zwischen meinen Brüsten vergraben, mich mit seinem Gewicht aufs Bett gedrückt, mich wild, brutal und zärtlich geliebt. Wenn er mich mit seinen hungrigen Augen angestarrt hatte, was glaubte er da zu sehen? Was sah er jetzt? Musste ich Angst vor ihm haben?

Ich atmete einmal tief durch und ging zu ihm in die Küche.

»Kaffee?«, fragte er.

»Danke.«

Einen Moment lang schwiegen wir, dann sagte ich: »Ich habe mich für heute bei meinen Eltern angekündigt. Sie leben in der Nähe von Reading.«

»Gut.«

»Ich hätte gern, dass du draußen wartest. Ich werde ihnen nichts von dir erzählen.«

»Machen Sie sich große Sorgen um dich?«

»Nicht wegen dieser Sache. Sie wissen nichts davon. Ich habe es ihnen nicht erzählt.«

Allerdings machten sie sich prinzipiell Sorgen um mich.

Das war auch der Grund, warum ich ihnen nichts gesagt hatte. Jedes Mal, wenn ich nach dem Hörer gegriffen hatte, hatte ich mir die sanfte, besorgte Stimme meiner Mutter vorgestellt, in der ständig ein panischer Unterton mitschwang. Immer wenn sie am anderen Ende der Leitung meine Stimme hörte, stellte sie sich darauf ein, dass ich ihr gleich irgendeine Hiobsbotschaft mitteilen würde. Sie hatte schon immer an mir gezweifelt, warum, wusste ich nicht. Sie traute mir einfach nicht zu, dass ich in der Lage war, selbst auf mich aufzupassen und meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Heute aber würde ich es ihnen sagen. Es ging nicht anders.

»Nadia, wir müssen reden …« Er stellte seine Tasse ab und lehnte sich zu mir herüber.

»Ich möchte dich etwas fragen …«

»Über uns. Dich und mich.«

»Meine Frage betrifft Zoë und Jenny.«

»Nadia, wir müssen über das reden, was passiert ist.«

»Nein, das müssen wir nicht.« Ich bemühte mich, meine Stimme möglichst geschäftsmäßig klingen zu lassen. Ich konzentrierte mich darauf, die Tasse in meinen Händen ruhig zu halten.

»Das meinst du doch nicht so«, sagte er.

Ich sah ihn an. Groß und kräftig stand er wie eine Wand zwischen mir und dem Rest der Welt. Er hatte starke, fleischige Hände mit Haaren auf den Knöcheln. Diese Hände hatten mich gehalten, mich berührt, nach allen meinen Geheimnissen getastet. Auch jetzt starrte er mich wieder mit hungrigen Augen an, zog mich mit seinen Blicken aus.

»Ich habe mich in dich verliebt«, flüsterte er heiser.

»Hast du es deiner Frau schon gesagt?«

Er zuckte zusammen. »Sie hat damit nichts zu tun«, erklärte er.

»Es geht dabei nur um dich und mich, hier in deiner Wohnung.«

»Berichte mir von Zoë und Jenny«, wiederholte ich hartnäckig. »Du hast mir nie von ihnen erzählt. Wie waren sie?« Er schüttelte verärgert den Kopf, aber ich ließ nicht locker. »Das bist du mir schuldig.«

»Ich bin dir gar nichts schuldig«, entgegnete er, hob aber gleichzeitig mit einer Geste der Kapitulation die Hände.

Dann schloss er für einen Moment die Augen. »Über Zoë weiß ich nicht viel. Ich hatte kaum Gelegenheit, sie kennen zu lernen … Das erste Mal habe ich sie auf einem Foto gesehen, das bei uns im Revier an der Wand hing, nachdem sie mit einer Wassermelone einen Taschendieb niedergestreckt hatte. Sie war für unsere Jungs so eine Art Heldin. Natürlich haben sie auch eine Menge schmutzige Witze über sie gerissen.«

»Ja, aber was für ein Typ war sie?«

»Ich bin ihr nie begegnet.«

»Und Jenny? Jenny musst du ziemlich gut gekannt haben.«

Ich beobachtete sein Gesicht.

»Ja, bei Jenny lag der Fall anders.« Beim Gedanken an sie musste er fast ein bisschen grinsen, riss sich dann aber zusammen. »Sie war auch sehr klein. Genau so klein wie du«, fügte er nachdenklich hinzu. »Aber stark, voller Energie und Tatendrang. Manchmal auch sehr unzugänglich und wütend. Klug. Ungeduldig.

Gelegentlich am Rande des Wahnsinns.«

»Unglücklich?«

»Das auch.« Er legte mir eine Hand aufs Knie. Ich ließ ihn gewähren, obwohl seine Berührung mich abstieß. »Sie hätte einem aber den Kopf abgerissen, wenn man gewagt hätte, dieses Thema anzusprechen. Sie konnte ein ziemlicher Drachen sein.«

Ich stand auf, um seine Hand loszuwerden. Schenkte mir Kaffee nach.

»Wir sollten bald aufbrechen«, drängte ich.

»Nadia.«

»Ich möchte nicht zu spät kommen.«

»Wenn ich nachts im Bett wach liege, sehe ich ständig dich, dein Gesicht, deinen Körper.«

»Lass mich in Ruhe!«

»Ich kenne dich.«

»Du glaubst, dass ich sterben werde.«

Bevor wir aufbrachen, rief ich Links an. Ich achtete darauf, dass Cameron im Raum war und das Gespräch mit anhörte. Ich erklärte Links, dass Detective Inspector Stadler mich zu meinen Eltern fahren werde und wir aller Voraussicht nach am Spätnachmittag zurück wären. Ich registrierte die Verwunderung in Links’ Stimme. Er verstand nicht, wieso ich ihn anrief und ihm meine Pläne mitteilte, aber das war mir egal. Ich wiederholte meine Worte laut und deutlich, sodass er nicht umhin konnte, sie zur Kenntnis zu nehmen, ebenso wie Cameron.

Wir sprachen nicht viel, während wir die M4 und dann eine schmale Landstraße entlangfuhren. Ich gab ihm kurze Anweisungen, während er den Wagen lenkte. Hin und wieder sah er mit seinem Schlafzimmerblick zu mir herüber. Ich hatte die Hände in den Schoß gelegt und tat, als würde ich die ganze Zeit aus dem Fenster starren, merkte es aber immer, wenn er den Kopf zu mir drehte und mich nachdenklich musterte.

»Was machen deine Eltern?«, fragte er mich kurz bevor wir ankamen.

»Dad war Lehrer für Geographie, ist aber früh in Pension gegangen. Meine Mum hat alles Mögliche gemacht, aber die meiste Zeit war sie Hausfrau und passte auf mich und meinen Bruder auf. So, jetzt sind wir fast schon da. Vergiss nicht, du bleibst draußen.«

Das Haus stammte aus den Dreißigerjahren, war eigentlich eine Doppelhaushälfte und sah aus wie die meisten anderen, die zu beiden Seiten der Sackgasse standen. Cameron brachte den Wagen zum Stehen.

»Warte«, sagte er, als ich aussteigen wollte.

»Ich muss dir noch was sagen.«

»Was?«

»Es ist ein weiterer Brief gekommen.«

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. »O

Gott!«, stöhnte ich.

»Du wolltest, dass ich dir alles sage.«

»Was stand drin?«

»Nur eine ganz kurze Nachricht, ein einziger Satz: ›Du bist sehr tapfer, aber das wird dir auch nichts nützen.‹

Etwas in der Art.«

»Und das war alles?« Ich öffnete die Augen und sah zu Cameron hinüber. »Wann ist er gekommen?«

»Vor vier Tagen.«

»Hat euch die Nachricht irgendwelche neuen Erkenntnisse gebracht?«

»Wir verwenden sie als zusätzliches Material für unsere psychologische Beurteilung.«

»Also nichts Neues«, stellte ich seufzend fest. »Na ja, ich schätze, das ändert im Grunde nicht viel an der Situation. Wir haben ja gewusst, dass er noch irgendwo da draußen herumläuft, stimmt’s?«

»Stimmt, das haben wir gewusst.«

»Wir sehen uns in zirka zwei Stunden.«

»Nadia.«

»Was?«

»Du bist tapfer.« Ich starrte ihn an. »Es stimmt«, sagte er.

»Du meinst, genau so tapfer wie Zoë und Jenny?«

Er gab mir keine Antwort.

Mum hatte Lammschmorbraten mit Reis und grünem Salat gemacht. Den Reis hatte sie zu lange gekocht, sodass er ziemlich klumpte. Als Kind war Lammschmorbraten eines meiner Lieblingsgerichte gewesen. Wie bringt man seiner Mutter bei, dass man eine frühere Leibspeise nicht mehr mag? Der Braten war knorpelig und voller scharfer Knochensplitter. Dad machte eine Flasche Rotwein auf, obwohl weder er noch Mum sonst Alkohol zum Mittagessen tranken. Sie freuten sich so, mich zu sehen.

Sie machten sich meinetwegen Umstände, als wäre ich eine Fremde. In Gegenwart dieser beiden netten alten Leute, die eigentlich noch gar nicht so alt waren, fühlte ich mich tatsächlich wie eine Fremde.

Auf ihrem Weg durchs Leben ließen sie stets größte Vorsicht walten. Was mich betraf, waren sie ebenfalls sehr vorsichtig, blieben stets auf und warteten auf mich, wenn ich abends ausging, legten mir in frostigen Nächten eine Wärmflasche ins Bett, rieten mir, eine zusätzliche Schicht Unterwäsche anzuziehen, wenn es kalt war, und spitzten vor Beginn eines neuen Schulhalbjahrs alle meine Stifte.

Damals machte es mich fast verrückt, wie sie mich umsorgten und sich über jedes Detail meines Lebens Gedanken machten. Jetzt stimmte mich die Erinnerung daran unendlich sentimental.

Ich beschloss, es ihnen erst nach dem Essen zu sagen.

Als wir schließlich bei Kaffee und Minzpralinen im Wohnzimmer saßen, schien mir der richtige Zeitpunkt gekommen. Von meinem Platz aus konnte ich Cameron hinter dem Steuer seines Wagens sitzen sehen. Ich räusperte mich. »Ich habe euch etwas zu sagen«, erklärte ich.

»Ja?«

Mum sah mich halb erwartungsvoll, halb ängstlich an.

»Ich … es gibt da einen Mann, der …« Ich hielt inne.

Auf dem Gesicht meiner Mutter breitete sich ein Strahlen aus. Offenbar hatte sie aus meinen wenigen Worten geschlossen, dass ich nun endlich den Mann fürs Leben gefunden hatte. Sie war von Anfang an der Meinung gewesen, dass aus Max und mir langfristig nichts werden konnte. Ich brachte es nicht fertig, den Satz zu Ende zu sprechen. »Ach, eigentlich ist es gar nicht der Rede wert.«

»Nein, sprich weiter. Wir wollen es hören, nicht wahr, Tony?«

»Später«, sagte ich und stand abrupt auf. »Erst muss Dad mir zeigen, was sich im Garten so tut.«

Stolz führte er mich zu dem Baum mit den schönen, bereits reif werdenden Pflaumen, und präsentierte mir dann die Stangenbohnen, den Kopfsalat und die Kartoffeln, die er anbaute. In seinem Gewächshaus wuchsen sogar Tomaten, und er bestand darauf, mir ein Plastiktablett voller Cocktailtomaten mitzugeben.

»Deine Mutter hat ein paar Gläser Erdbeermarmelade für dich hergerichtet«, erklärte er.

Ich nahm ihn am Arm. »Dad«, sagte ich. »Dad, ich weiß, dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten hatten« –

Streitpunkte hatte es viele gegeben: Hausaufgaben, Zigaretten, Alkohol, Make-up, nächtliche Streifzüge durch die Diskotheken, Politik, Drogen, Jungs, meine Unfähigkeit, eine dauerhafte Beziehung einzugehen, meine Weigerung, mir einen ernsthaften Beruf zu suchen und, und, und –, »aber du bist trotzdem immer ein sehr guter Vater gewesen. Das wollte ich dir einfach mal sagen.«

Er räusperte sich verlegen und tätschelte mir die Schulter.

»Deine Mutter fragt sich bestimmt schon, wo wir so lange bleiben.«

Wir verabschiedeten uns in der Diele. Ich konnte die beiden nicht richtig umarmen, weil ich die Tomaten und die Marmelade hielt. Als ich meine Wange gegen die von Mum presste, atmete ich den vertrauten Duft nach Vanille, Puder, Seife und Mottenpulver ein. Den Duft meiner Kindheit.

»Auf Wiedersehen«, sagte ich. Sie winkten mir lächelnd nach.

»Auf Wiedersehen!«

Einen Moment lang musste ich daran denken, dass ich sie vielleicht nie mehr sehen würde, aber dann schob ich den Gedanken sofort beiseite. Ich hätte es sonst nicht fertig gebracht, ins Auto einzusteigen und meine lächelnde Fassade aufrechtzuerhalten.

Während der ganzen Heimfahrt tat ich, als würde ich schlafen. Dann, nachdem Cameron seine übliche Runde durch meine Wohnung gedreht und sich davon überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war, bat ich ihn, draußen im Wagen zu bleiben. Ich wollte eine Weile allein sein. Er begann zu protestieren, aber dann piepte plötzlich das Funkgerät, das am Gürtel seiner Hose hing, und ich schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Erschöpft setzte ich mich auf die Kante meines Betts und stützte die Hände auf die Knie. Einen Moment lang schloss ich die Augen, dann öffnete ich sie wieder. Ich lauschte dem Geräusch meines eigenen Atems und wartete

– nicht darauf, dass etwas passieren würde, sondern darauf, dass dieses Gefühl weggehen würde.

Als das Telefon zu läuten begann, kam es mir fast vor, als würde es im Innern meines Kopfes läuten. Ich griff nach dem Hörer.

»Nadia.« Es war Morris. Seine Stimme klang heiser und drängend.

»Ja?«

»Sag jetzt nichts, Nadia, hör mir einfach zu! Ich habe etwas herausgefunden, das ich dir am Telefon nicht sagen kann. Wir müssen uns treffen!«

Ich spürte, wie das ungute Gefühl in meinem Magen sich in Angst verwandelte. »Nun sag schon, was hast du herausgefunden?«

»Komm zu mir in die Wohnung, sobald du kannst! Ich muss dir etwas zeigen! Ist jemand bei dir?«

»Nein. Er ist draußen.«

»Wer ist es?«

»Stadler.«

Ich hörte, wie Morris nach Luft rang. Nach einer kurzen Pause sprach er sehr ruhig und langsam weiter: »Du musst versuchen, ihm zu entwischen, Nadia. Ich warte auf dich.«

Ich stellte das Telefon zur Seite und stand auf. Dann war es also doch Cameron. Ich spürte, wie meine Angst verebbte. Ich fühlte mich plötzlich stark und voller Schwung. Endlich war es so weit. Das Warten war vorüber und mit ihm die Trauer und die Angst. Ich war bereit, und es war Zeit zu gehen.

21. KAPITEL

ls ich durch meine Wohnungstür trat, hatte ich einen völlig k

A

laren Kopf. Ich wusste, was ich tun würde.

Plötzlich war alles ganz einfach, zumindest im Moment.

Die Angst war ein wenig in den Hintergrund getreten, auch wenn sie noch immer irgendwo lauerte. Cameron war sofort an meiner Seite und sah mich fragend an, fast ein bisschen hoffnungsvoll.

»Ich gehe bloß ein Stück die Straße rauf, um was fürs Abendessen einzukaufen«, erklärte ich.

Eine Weile marschierten wir schweigend nebeneinander her.

»Ich möchte mich bei dir entschuldigen«, sagte er schließlich.

»Für alles. Ich möchte es doch nur richtig machen. Für dich und für mich. Uns.«

»Wovon redest du überhaupt?«, fragte ich.

Er gab mir keine Antwort. Wir überquerten die Straße und gingen den Gehsteig entlang, bis wir vor Marks and Spencer standen. Einen Streit konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Ich durfte auf keinen Fall sein Misstrauen erregen. Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm. Ein bisschen Hautkontakt, weiter nichts.

»Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich bin momentan nicht in der Lage, rational an die Dinge heranzugehen. Der Zeitpunkt ist ungünstig.«

»Das verstehe ich.«

Seufzend wandte ich mich ab, um in das Geschäft hineinzugehen. »Ich brauche bloß eine Minute.«

»Ich warte hier auf dich.«

»Soll ich dir was mitbringen?«

»Nicht nötig.«

Die Camdener Filiale von Marks and Spencer hat einen kleinen Hinterausgang. Wenige Minuten später saß ich schon in der U-Bahn. Als ich auf der Rolltreppe zum Bahnsteig hinuntergefahren war, hatte ich einen Blick über die Schulter geworfen. Cameron war nirgendwo zu sehen.

Während der kurzen Fahrt versuchte ich mir einen Reim auf das zu machen, was Morris gesagt hatte. Es kam mir vor, als wäre ich wochenlang in einem dicken Nebel gefangen gewesen, der sich nun zwar nicht völlig hob, aber doch etwas lichtete, sodass langsam eine Art Landschaft sichtbar wurde. Wenn es ein Polizist gewesen war, unter Umständen sogar Cameron, dann wurde das, was vorher unmöglich erschienen war, plötzlich ganz plausibel. Die Polizei hatte unbeschränkten Zutritt zu Zoës Wohnung und Jennys Haus. Plötzlich wurde mir wieder bang ums Herz. In meiner Wohnung gingen sie ebenfalls ein und aus. Aber warum sollte jemand von der Polizei, warum sollte Cameron so etwas tun?

Ich brauchte nur an Camerons Blick zu denken, dann hatte ich die Antwort. Mir fiel mein erstes Treffen mit den beiden Polizisten wieder ein, als Cameron in der Ecke gesessen und mich angestarrt hatte. Ich dachte an Cameron in meinem Bett. Noch nie war ich auf eine solche Weise angesehen und berührt worden wie von ihm, als wäre ich ein unendlich wertvoller und begehrenswerter Gegenstand. Anfangs hatte ich das unheimlich aufregend gefunden, später dann eher abstoßend. Nun aber erschien mir alles erschreckend logisch. Welch ein Kick, neben der Frau zu liegen, die man terrorisierte, sie zu vögeln, all ihre Geheimnisse herauszufinden! Trotzdem, welche Beweise gab es dafür? Ob Morris etwas herausgefunden hatte, das mir weiterhelfen würde?

Morris wohnte nur ein paar Minuten von der U-BahnStation entfernt. An der Hauptstraße drängten sich die Menschen, aber seine Wohnung lag in einer kleinen Seitenstraße, die schwierig zu finden war. Das erste Mal übersah ich sie, aber nachdem ich jemanden gefragt hatte, wurde ich fündig. Es ging ein Stück geradeaus und dann um eine Ecke. An diesem Samstagabend war die kleine, gepflasterte Seitenstraße menschenleer. An ihrem Ende fand ich eine Tür mit einem kleinen Schild neben dem Klingelknopf: Burnside. Ich läutete. Nichts rührte sich.

Konnte es sein, dass er weggegangen war? Dann hörte ich ihn aufschließen, was eine Weile dauerte. Anscheinend hatte er die Tür mehrfach verriegelt. Als er schließlich vor mir stand, merkte ich sofort, dass er vor Tatkraft nur so sprühte. Er trug eine weite Hose mit Unmengen von Taschen und dazu ein Kurzarmhemd. Mir fiel auf, dass er barfuß war. Das Faszinierendste an ihm aber waren seine glänzenden, lebhaften Augen. Die Energie, die er ausstrahlte, hatte etwas von einem Magnetfeld. Er war ein attraktiver Mann – noch dazu einer, der sich einbildete, verliebt zu sein. Diese Erkenntnis gab mir zu denken.

Hoffentlich hatte er nicht aus einer Mücke einen Elefanten gemacht, bloß um eine Gelegenheit zum Flirten mit mir zu finden.

»Nadia«, sagte er und lächelte mich an.

Er beugte sich ein wenig vor und schaute über meine Schulter auf die Straße hinaus. Ich drehte mich um und ließ den Blick ebenfalls die Straße entlangwandern.

»Wie hast du es geschafft, ihn abzuhängen?«, fragte er.

»Du weißt doch, ich kann zaubern«, antwortete ich.

»Komm rein! Ich habe allerdings nicht aufgeräumt.«

Für mein Gefühl sah es ziemlich aufgeräumt aus. Wir waren durch die Wohnungstür direkt in ein kleines gemütliches Wohnzimmer getreten. Am anderen Ende des Raums führte eine Tür auf einen kurzen Gang hinaus.

»War das mal ein Lagerhaus?«

»Eine Art von Werkstatt, glaube ich. Es ist nicht meine Wohnung, ich passe bloß darauf auf. Sie gehört einem Freund, der sich zurzeit im Ausland aufhält.«

Das Einzige, was nicht ins Bild passte, war das Bügelbrett mit Bügeleisen, das neben dem Tisch stand.

»Du hast gebügelt«, stellte ich fest. »Ich bin sehr beeindruckt.«

»Nur dieses Hemd.«

»Ich habe es für neu gehalten.«

»Das ist der Trick daran«, erklärte er. »Wenn man seine Sachen bügelt, sehen sie aus wie neu.«

Ich lächelte.

»Der wahre Trick besteht darin, sich das Bügeln zu sparen, indem man grundsätzlich nur neue Sachen trägt«, entgegnete ich.

Neugierig drehte ich eine Runde durch den Raum. Es war eine Leidenschaft von mir, mir die Wohnungen anderer Leute anzusehen. Mit dem Instinkt einer Meisterschnüfflerin näherte ich mich einer großen Korkpinnwand, an der etliche Takeaway-Speisekarten, Visitenkarten von Klempnern und Elektrikern und ein paar kleine Schnappschüsse hingen. Natürlich interessierte ich mich hauptsächlich für Letztere. Morris auf einer Party, Morris auf einem Fahrrad, Morris an einem Strand, Morris mit einem Mädchen.

»Sie sieht nett aus«, bemerkte ich.

»Cath«, sagte er.

»Ist sie deine Freundin?«

»Na ja, wir hatten eine Weile was miteinander.«

Innerlich musste ich lächeln. Sie war definitiv seine Freundin. Wenn ein Mann von einem Mädchen sagte, dass er mal was mit ihr hatte, dann war das ungefähr so, als ob ein Ehemann Pflaster über seinen Ehering klebte. Solche Männer wollten die übrige Damenwelt im Unklaren darüber lassen, inwieweit sie noch zur Verfügung standen oder nicht.

»Wo sind denn die anderen hingekommen?«

»Was?«

»Die anderen Fotos. Hier sind viel mehr Reißnägel als Fotos.«

Ich deutete auf die vielen Lücken.

»Oh! Ein paar habe ich abgenommen, weil ich sie nicht mehr sehen konnte.« Er lachte. »Du hättest Detektivin werden sollen.«

»A propos, ich hoffe, du hast was wirklich Interessantes auf Lager. Detective Inspector Stadler wird nämlich sehr wütend auf mich sein. Wahrscheinlich habe ich Glück, wenn ich mit einer Verwarnung davonkomme, weil ich den Beamten die Zeit gestohlen habe.«

Morris forderte mich mit einer Handbewegung auf, am Tisch Platz zu nehmen, und ließ sich mir gegenüber nieder. »Ich habe noch mal drüber nachgedacht, wie es war, als ich von der Polizei befragt wurde, von Stadler und

… wie hieß noch mal der andere?«

»Links?«

»Ja, stimmt. Jedenfalls bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dieser Stadler wirklich etwas Eigenartiges an sich hat. Die Art, wie er über die beiden anderen Frauen sprach, war richtig seltsam, und deswegen wollte ich das ganze Gespräch noch mal mit dir durchgehen. Außerdem war mir einfach nicht wohl bei dem Gedanken, dass du mit diesem Typen allein bist. Ich wollte dich irgendwie von ihm loseisen.«

»Hast du irgendwelche konkreten Beweise?«

»Wie meinst du das?«

»Ich dachte, du hättest vielleicht etwas gefunden, das wir wirklich gegen ihn verwenden könnten.«

»Tut mir Leid«, sagte er. »Ich wünschte, es wäre so.«

Ich versuchte nachzudenken. Der Nebel, der sich zumindest ansatzweise gelichtet hatte, wurde wieder dichter. Plötzlich überlief es mich kalt.

»Sie stimmt sowieso nicht«, erklärte ich deprimiert.

Morris starrte mich verständnislos an. »Was stimmt nicht?«

»Die Polizeitheorie. Vor lauter Aufregung wegen Zoës Wassermelonen-Geschichte und der Tatsache, dass sie schon mit der Polizei in Verbindung stand, bevor die Briefe eintrafen, habe ich ganz übersehen, dass das Problem Jennifer damit nicht zu erklären ist.«

»Inwiefern?«

»Jennifers Medaillon wurde bereits vor Zoës Tod in deren Wohnung geschleust. Zu dem Zeitpunkt hatte Jennifer noch keine Briefe bekommen und daher auch die Polizei noch nicht verständigt.«

»Vielleicht hat die Polizei die Geschichte mit dem Medaillon fingiert?«

Ich überlegte einen Moment. »Ja, vielleicht«, räumte ich skeptisch ein, »Trotzdem ist das noch immer keine Erklärung für die Verbindung zu Jenny. Wieso ausgerechnet sie?«

»Vielleicht hat Stadler sie irgendwo gesehen.«

»Das könnte man über jeden sagen. Die Polizeitheorie basierte auf der Voraussetzung, dass sie mit allen betroffenen Frauen zu tun hatten.«

Mir wurde vor Enttäuschung ganz übel. »Es war alles ein Irrtum«, stellte ich niedergeschlagen fest. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.«

Morris beugte sich zu mir herüber und berührte meinen Arm.

»Bleib doch noch ein bisschen!«, bat er. »Wenigstens ein halbes Stündchen, Nadia.«

»Es wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein«, fuhr ich mit matter Stimme fort. »So eine schöne Theorie!

Es fällt mir richtig schwer, sie aufzugeben.«

»Zurück zum Heuhaufen!«, sagte Morris. Er lächelte mich an, als wäre das wahnsinnig komisch. Seine Zähne blitzten, seine Augen, sein ganzes Gesicht strahlten.

»Weißt du, was?«

»Was?«, sagte er.

»Es ist mir immer irgendwie seltsam vorgekommen, dass ich Zoë und Jenny nie begegnet bin. Das ist jetzt ganz anders. Manchmal sehe ich uns als Schwestern, aber immer häufiger habe ich das Gefühl, dass wir in Wirklichkeit ein und dieselbe Person sind. Wir haben alle drei die gleichen Erfahrungen gemacht. Wir haben nachts mit den gleichen Ängsten wach gelegen. Und bald werden wir auch die gleiche Todesart gemeinsam haben.«

Morris schüttelte den Kopf. »Nadia …«

»Schhh!«, sagte ich wie zu einem kleinen Kind.

Inzwischen führte ich eher ein Selbstgespräch und wollte in meinen Gedanken nicht gestört werden. »Als ich mir mit Louise – Zoës Freundin – die Wohnung angesehen habe, war das ein ganz erstaunliches Gefühl. Es kam mir fast vor, als wäre sie schon immer meine beste Freundin gewesen. Als würden wir uns schon lange kennen.

Wirklich eigenartig. Sie hat mir erzählt, wie sie an Zoës letztem Nachmittag einen Einkaufsbummel mit ihr gemacht hat, und mir war dabei so, als würde sie von einer Shoppingtour reden, die wir gemeinsam unternommen hatten. Sie hat es auch so empfunden, das habe ich ihr angemerkt.«

In dem Moment hob sich ganz plötzlich der Nebel, und die Landschaft lag vor mir – kalt und gnadenlos, im gleißenden Sonnenlicht, sodass ich alles klar und deutlich sehen konnte. Es bestand kein Zweifel. Seit ich die Akte der Spurensicherung eingesehen hatte, war ich sie im Geist immer wieder durchgegangen.

»Was ist?«, fragte er.

Erschrocken zuckte ich zusammen. Ich hatte fast vergessen, dass Morris noch da war. »Was?«

»Du wirkst so abwesend. Woran hast du gerade gedacht?«

»Ich musste gerade daran denken, dass Zoë, als sie getötet wurde, ein T-Shirt trug, das sie gerade erst mit Louise gekauft hatte. Seltsam, findest du nicht?«

»Ich weiß nicht. Sag mir, was daran seltsam ist, Nadia.

Sag es mir.«

»Schade um das schöne neue T-Shirt«, meinte ich nur.

Morris starrte mich an, als versuchte er, in meinen Kopf hineinzusehen. Ob er wohl dachte, dass ich langsam verrückt wurde? Hoffentlich. Ich beugte mich über den Tisch und griff nach seiner Hand. Sie fühlte sich heiß und feucht an. Meine war kühl und trocken. Ich nahm seine Rechte zwischen meine beiden Hände und drückte sie.

»Morris«, sagte ich. »Hättest du vielleicht eine Tasse Tee für mich?«

»Ja, natürlich, Nadia.« Er lächelte übers ganze Gesicht.

Er konnte gar nicht mehr aufhören.

Nachdem er den Raum verlassen hatte, warf ich einen Blick zur Wohnungstür, an der mehrere Riegel und Knaufe angebracht waren. Von dort aus waren es fünfzig oder sechzig Meter auf der menschenleeren Gasse bis zur Hauptstraße. Ich stand auf und trat erneut an die Korkpinnwand.

»Kann ich dir helfen?«, rief ich.

»Nein!«, antwortete er aus der Küche.

Ich sah mir die Pinnwand genauer an. Darunter stand ein Schreibtisch mit mehreren Schubladen. So leise ich konnte, zog ich die oberste auf. Scheckbücher, Rechnungen. Ich öffnete die zweite. Postkarten. Die dritte.

Kataloge. Die vierte. Ein Stapel Fotos. Ich nahm ein paar heraus. Obwohl ich in etwa wusste, was mich erwartete, bekam ich vor Entsetzen eine Gänsehaut. Morris, ein paar Leute, die ich nicht kannte, und Fred. Morris und Cath und Fred. Morris, ein unbekanntes Gesicht und Fred. Ich schob eines der Fotos in die Potasche meiner Jeans. Vielleicht würde es an meiner Leiche gefunden werden. Ich schloss die Schublade und setzte mich wieder an den Tisch. Dann blickte ich mich suchend um. Das war meine einzige Chance. Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.

Nein, das stimmt nicht: Ich versuchte ihn zu füllen. Ich zwang mich, an das Foto der toten Jenny zu denken. An jedes einzelne Detail. Was würde Jenny tun, wenn sie säße, wo ich jetzt saß?

Morris kam aus der Küche. Irgendwie schaffte er es, eine Teekanne, zwei Tassen, einen Milchkarton und eine Packung Kekse zu tragen, alles auf einmal. Er stellte die Sachen auf dem Tisch ab und setzte sich.

»Warte einen Augenblick«, sagte ich, bevor er uns einschenken konnte. »Ich möchte dir etwas zeigen.« Ich stand auf und ging um den Tisch herum. »Es ist eine Art Zaubertrick.«

Wieder lächelte er mich an. Was für ein nettes Lächeln!

Er machte einen glücklichen, aufgeregten Eindruck. Die Aufregung strahlte wie ein Licht aus seinen Augen. »Ich habe nicht allzu viel Ahnung vom Zaubern«, erklärte ich,

»aber als erste Regel lernt man, dass man seinem Publikum vorher nie sagen darf, was man vorhat. Wenn etwas schief geht, kann man immer noch so tun, als wäre es Absicht gewesen. Schau her!« Ich nahm den Deckel von der Teekanne, hob die Kanne hoch und schleuderte sie ihm mit einer schnellen Bewegung ins Gesicht. Ich selbst bekam auch ein bisschen was ab, empfand dabei aber keinen Schmerz. Morris schrie wie ein Tier. Ich griff nach dem Bügeleisen. Ich hatte nur eine einzige Chance, und alles hing davon ab, dass ich wirklich Schaden anrichtete.

Morris hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen. Ich holte aus und ließ das Bügeleisen dann mit aller Kraft auf sein rechtes Knie niedersausen. Ich hörte ein seltsames Krachen und einen weiteren Schrei. Morris krümmte sich und sackte seitlich vom Stuhl. Was noch? Ich zwang mich, an das Foto zu denken, und spürte, wie meine Wut wieder aufflammte. Sein linker Knöchel lag frei. Ich ließ das Bügeleisen ein zweites Mal auf ihn niedersausen. Wieder dieses Krachen, ein weiterer Schrei. Ich trat einen Schritt zurück, spürte aber im selben Moment eine Hand an meinem Hosenbein. Als ich erneut mit dem Bügeleisen ausholte, ließ er los.

Ich wich zurück, bis ich außerhalb seiner Reichweite war. Verdreht und wimmernd lag er auf dem Boden. Was ich von seinem Gesicht sehen konnte, war feuerrot und mit Blasen bedeckt.

»Wenn du auch nur einen einzigen Zentimeter näher kommst«, sagte ich, »dann breche ich dir jeden verdammten Knochen im Leib! Du weißt, dass ich es tun werde. Ich habe die Fotos gesehen. Ich weiß, was du mit Jenny gemacht hast.«

Trotzdem wich ich weiter zurück, ohne ihn eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Dann blickte ich mich rasch um und entdeckte das Telefon. Noch immer mit dem Bügeleisen bewaffnet, dessen Kabel hinter mir herschleifte, ging ich hinüber und begann zu wählen.

22. KAPITEL

ch legte auf und blieb neben dem Telefon stehen, so weit von Morris entfernt, wie das in dem I

kleinen Raum

nur möglich war. Er lag noch immer stöhnend auf dem Boden. Sein Atem ging keuchend. Ich fragte mich, ob er wohl gerade dabei war, seine Kräfte zu sammeln, um aufzustehen und sich auf mich zu stürzen. Sollte ich ein weiteres Mal mit dem Bügeleisen auf ihn eindreschen?

Oder sollte ich lieber auf die Straße hinausrennen? Meine Füße waren wie gelähmt. Es gab nichts, was ich tun konnte. Plötzlich begann ich zu zittern. Erschöpft lehnte ich mich gegen die Wand. Im selben Moment begann sich Morris zu bewegen, erst ganz langsam und zögernd, dann immer entschlossener. Vor Anstrengung stöhnend, versuchte er sich aufzurichten. Ein rascher Blick sagte mir, dass er es nicht schaffen würde. Seine Beine waren definitiv außer Gefecht gesetzt. Er konnte sich bloß auf dem Boden dahinschleppen, was ihm offensichtlich große Schmerzen bereitete. Wimmernd lehnte er sich gegen das Bücherregal. Nachdem er sich noch ein wenig weiter hochgeschoben hatte, drehte er sich so, dass er zu mir herübersehen konnte. Sein Gesicht sah wirklich schlimm aus: Wangen und Stirn waren mit Blasen bedeckt, eines seiner Augen fast ganz zugeschwollen. Aus dem geöffneten Mund lief ihm Speichel übers Kinn. Er musste husten.

»Was hast du getan?«

Ich gab ihm keine Antwort.

»Ich verstehe das nicht!«, sagte er. »Ich war es nicht.«

Noch immer umklammerte ich das Bügeleisen fest mit beiden Händen.

»Eine Bewegung, und ich breche dir einen anderen Knochen!«

Er versuchte, die Stellung zu wechseln, und schrie vor Schmerz auf.

»Verdammt!«, keuchte er. »Es tut so weh!«

»Warum hast du sie getötet?«, fragte ich. »Sie hatte Kinder. Was hat sie dir getan?«

»Du bist verrückt«, antwortete er. »Ich war’s nicht, das schwöre ich dir, Nadia. Sie haben es dir doch gesagt. Ich war hundert Meilen weg, als Zoë umgebracht wurde.«

»Ich weiß.«

»Was?«

»Ich weiß, dass du Zoë nicht umgebracht hast. Du wolltest, aber du hast es nicht getan. Du hast Jenny umgebracht.«

»Ich schwöre dir, du irrst dich!«, beteuerte er. »O Gott, was hast du bloß mit meinem Gesicht gemacht? Warum hast du das getan?«

Jetzt weinte er.

»Du wolltest mich umbringen. Wie du sie umgebracht hast.«

Das Sprechen fiel mir schwer. Mein Atem kam stoßweise, mein Herz raste.

»Ich war’s nicht, Nadia. Ich schwöre es!« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.

»Halt verdammt noch mal den Mund! Ich habe die Fotos gesehen. In der Schublade.«

»Was?«

»Die von dir und Fred, die du abgenommen hast, bevor ich gekommen bin.«

Er reagierte schnell.

»Ich gebe ja zu, dass ich die Fotos versteckt habe. Ich bin ein bisschen in Panik geraten, weil ich dachte, das würde einen falschen Eindruck erwecken. Aber es bedeutet nicht, dass ich jemanden umgebracht habe.«

»So, wie du auch in Panik geraten bist, als du damit rechnen musstest, in Zoës Wohnung Louise zu treffen?«

»Nein, an dem Tag hatte ich wirklich eine dringende Nachricht erhalten. Nadia, du hast das alles ganz falsch verstanden …«

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht wünschte ich mir einfach, dass er seine Tat zugeben und etwas sagen würde, das mir half zu verstehen, wieso er es getan hatte. Jetzt aber wurde mir klar, dass er nie aufgeben und ich es nie verstehen würde. Er würde lügen und lügen, und vielleicht würde er am Ende sogar seine eigenen Lügen glauben. Ich starrte ihn an, sein verbrühtes Gesicht, seinen sich krümmenden Körper, das eine, auf mich gerichtete Auge.

»Eigentlich sollte ich dich umbringen«, sagte ich. »Ich sollte dir den Rest geben, bevor die Polizei kommt.«

»Vielleicht solltest du das wirklich tun. Weil ich es nämlich nicht war, Nadia, und keinerlei Beweise gegen mich vorliegen. Sie werden mich gehen lassen und stattdessen dich ins Gefängnis stecken. Aber könntest du das überhaupt? Wärst du dazu in der Lage, Nadia?

Könntest du mich umbringen?«

»Glaub mir, es würde mir sogar Spaß machen.«

»Dann tu’s doch! Komm schon, Liebling. Komm!«

Speichel lief ihm übers Gesicht. Er versuchte zu lächeln.

»Ich würde dich gern leiden lassen – so, wie du Zoë und Jenny hast leiden lassen.«

»Ich werde dir helfen.« Keuchend und stöhnend begann er auf mich zuzukriechen wie eine große, fette, schreckliche Schnecke. Er kam nur sehr langsam voran.

»Wenn du noch näher kommst, schlage ich dir den Schädel ein!« Ich umklammerte das Bügeleisen noch eine Spur fester.

»Tu’s doch!«, sagte Morris. »Du musst sowieso ins Gefängnis. Sie werden mich gehen lassen. Und wenn nicht, bin ich trotzdem bald wieder draußen. Wäre es da nicht besser, mich gleich zu erledigen?«

»Hör endlich auf!«, rief ich und brach in Tränen aus. Ich hatte das Gefühl, als würde er sich nicht nur auf dem Dielenboden, sondern auch in meinem Kopf winden. Ich war schon fast im Begriff, ihm das Bügeleisen an den Schädel zu schleudern, als jemand gegen die Haustür klopfte und Stimmen meinen Namen riefen. Als ich mich umblickte, sah ich draußen Scheinwerfer. Ich rannte zur Tür und entriegelte sie. Wie sich herausstellte, war es ganz einfach. Ich brauchte dafür nicht länger als ein paar Sekunden. Mehrere Gestalten, die ich nur verschwommen wahrnahm, stürzten an mir vorbei. Dann standen mir plötzlich zwei uniformierte Beamte und Cameron gegenüber. Über seine Schulter sah ich zwei Streifenwagen. Ein dritter traf gerade ein. Cameron ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Er schwitzte, und seine Krawatte hing ihm nach hinten über die Schulter.

»Was zum Teufel hast du hier angerichtet?«

Ohne ihm eine Antwort zu geben, beugte ich mich hinunter und stellte das Bügeleisen auf den Boden.

»Hast du einen Krankenwagen gerufen?«

Ich schüttelte den Kopf. Er rief einem Beamten etwas zu, woraufhin dieser den Raum verließ.

»Sie hat mich tätlich angegriffen«, erklärte Morris. »Sie ist völlig durchgedreht.«

Verblüfft wanderte Camerons Blick von Morris zu mir und wieder zurück. »Sind Sie verletzt?«, fragte er Morris.

»Das kann man wohl sagen«, antwortete Morris. »Sieht man das denn nicht? Die Frau ist total verrückt!«

Cameron trat auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Bist du okay?«, flüsterte er.

Ich nickte. Mein Blick wanderte immer wieder zu Morris, und jedes Mal, wenn ich ihn ansah, starrte er zurück. Er fixierte mich mit seinem unverletzten Auge, das niemals zu blinzeln schien. Ein Beamter beugte sich über ihn und sagte etwas, aber sein Blick blieb auf mich gerichtet.

»Setz dich«, sagte Cameron zu mir.

Ich sah mich um. Mit Camerons Hilfe schaffte ich es bis zum Tisch, wo ich so Platz nahm, dass ich Morris nicht sehen musste. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen, wenn ich noch eine Sekunde länger gezwungen wäre, ihn anzuschauen.

»Hör zu, Nadia, bevor wir weiterreden, muss ich dich über deine Rechte aufklären. Du brauchst nichts zu sagen, wenn du nicht möchtest. Aber wenn du etwas sagst, dann kann alles, was du von dir gibst, als Beweismaterial gegen dich verwendet werden, falls Anklage gegen dich erhoben wird. Außerdem hast du ein Recht auf einen Anwalt.

Wenn du möchtest, können wir einen für dich organisieren. Hast du mich verstanden?«

Ich nickte.

»Nein, du musst laut sagen, dass du mich verstanden hast.«

»Ich habe verstanden. Ich brauche keinen Anwalt. Ich kann für mich selbst sprechen.«

»Was ist passiert?«

»Wirf einen Blick in die Schublade. Dort drüben.«

Er trat an die offene Haustür und rief hinaus, dass er jemanden von der Spurensicherung brauche. Gerade kam ein Krankenwagen mit quietschenden Reifen vor dem Haus zum Stehen. Ein Mann und eine Frau im grünen Overall stürmten herein und beugten sich über Morris.

Cameron starrte mich an. Dann streifte er sich ein paar dünne Plastikhandschuhe über, nicht solche, wie Chirurgen sie benutzen, sondern eher welche von der billigen Sorte, die man an der Tankstelle bekam. Er zog die Schublade auf und sah sich die Fotos an.

»Er kennt Fred«, sagte ich.

Die Situation bekam langsam absurde Züge. Cameron starrte verblüfft auf die Bilder. Morris wimmerte vor Schmerz, während ihm die Sanitäter die Hose aufschnitten. Dann traf Links ein.

»Kann mir mal einer erklären, was hier los ist?«, wandte er sich an Cameron.

»Sie hat Morris mit dem Bügeleisen attackiert.«

»Was zum Teufel – warum?«

»Sie behauptet, er ist der Mörder.«

»Aber …«

Cameron reichte Links eines der Fotos. Links starrte es an. Dann sah er mich an.

»Ja, aber …« Er wandte sich wieder an Cameron.

»Haben Sie sie auf ihre Rechte hingewiesen?«

»Ja. Sie sagt, sie ist bereit zu reden.«

»Gut. Was ist mit Burnside?«

»Ich konnte noch nicht mit ihm sprechen.«

Links beugte sich zu Morris hinunter und zeigte ihm das Foto. Nachdem Morris nur stöhnend den Kopf geschüttelt hatte, kam Links zu mir herüber und setzte sich neben mich. Ich fühlte mich jetzt sehr ruhig, hatte einen völlig klaren Kopf.

»Hat Morris Sie angegriffen?«, fragte Links.

»Nein. Wenn Morris mich angegriffen hätte, wäre ich jetzt tot. Nein, nicht tot. Ich würde gerade sterben. Durch seine Hand.«

»Aber Nadia«, widersprach Links in sanftem Ton, »ist Ihnen denn nicht klar, dass Morris Burnside den Mord an Zoë Haratounian gar nicht begangen haben kann? Er war zu dem Zeitpunkt nicht in der Stadt.«

»Ich weiß. Ich weiß, wer Zoë umgebracht hat.«

»Wer?«

»Die Erkenntnis ist mir ganz plötzlich gekommen. Ihr habt euch alle in den Kopf gesetzt, dass dieselbe Person, die Zoë die Briefe geschickt hat, sie auch umgebracht haben muss. Aber was, wenn jemand anderer schneller war?«

»Warum sollte jemand anderer sie umbringen?«

»Ich habe über etwas nachgedacht, das Grace Schilling zu mir gesagt hat. Über das Prinzip, dass der Verbrecher immer etwas von sich am Tatort zurücklässt und auch immer etwas mitnimmt. Haben Sie davon schon mal gehört?« Ich warf einen Blick zu Cameron hinüber, der noch immer mit dem Inhalt der Schublade beschäftigt war.

»Ich habe den Bericht der Spurensicherung gelesen.

Erinnern Sie sich, was in dem Bericht über das T-Shirt steht, das Zoë trug, als sie aufgefunden wurde?«

»Ja, ich erinnere mich, aber wie um alles in der Welt haben Sie –«

»Erinnern Sie sich an das Ergebnis der Analyse?«

»Auf dem T-Shirt wurden die gleichen Haare und Fasern gefunden wie auf ihren anderen Sachen, den Teppichen, dem Bettzeug. Nur Spuren von ihr selbst und ihrem Exfreund.«

»Das Shirt hätte aber keine Spuren von Fred aufweisen dürfen. Zoë hat es in einer Plastiktüte in die Wohnung gebracht. Sie hatte es erst am Vortag mit ihrer Freundin Louise gekauft.« Ich blickte mich nach Morris um. Er hörte mir aufmerksam zu.

»Fred hat Spuren seines Haars auf Zoës Shirt hinterlassen, während er sie erdrosselte.«

Ich bildete mir ein, die Andeutung eines Lächelns auf Morris’ Gesicht zu sehen.

»Du hast das nicht gewusst, oder?«, wandte ich mich an ihn.

»Dein Freund hat Zoë getötet, bevor du es tun konntest.«

Ich sah Stadler und Links an. »Zwei Mörder. Das ist des Rätsels Lösung. Haben Sie sich nie gewundert, wieso die beiden Frauen auf so unterschiedliche Weise umgebracht wurden? Das Ganze war kein Fall von eskalierender Gewalt. Nein, es lag daran, dass die Morde von unterschiedlichen Personen begangen wurden. Warst du deshalb so brutal zu ihr, Morris? Hast du Jenny dafür bestraft, dass dir Zoë entgangen war?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Aber du bist ja ein bisschen dafür entschädigt worden«, fuhr ich fort. »Plötzlich hattest du nämlich das perfekte Alibi. Das verschaffte dir die Chance, mir so richtig auf die Pelle zu rücken. Mich ganz aus der Nähe leiden zu sehen.«

»Aber wie hätte Fred den Mord planen sollen?«, fragte Links.

»Miss Haratounian hatte ursprünglich doch gar nicht vor, in ihre Wohnung zurückzukehren.«

»Ich glaube, er hat ihn nicht geplant«, antwortete ich.

»Es hat eine Weile gedauert, bis mir das klar geworden ist.

Ich musste immer an dieses seltsame Ding denken, das aus der Wohnung gestohlen worden ist, den scheußlichen Wandbehang, den Fred Zoë geschenkt hatte. Warum hätte jemand ausgerechnet diesen Fetzen mitnehmen sollen?

Meiner Meinung nach ist es gar nicht gestohlen worden, Fred hat es sich bloß zurückgeholt. Wahrscheinlich war er gerade in der Wohnung, um seine Sachen mitzunehmen, als überraschend Zoë auftauchte. Da hat er den Gürtel ihres Bademantels genommen und sie damit erdrosselt.

Deswegen war die Spurensicherung in diesem Fall auch so schwierig. Das Stück Stoff, das er mitnahm, war etwas, das ihm bereits gehörte. Hinzu kam, dass er ebenfalls ein perfektes Alibi besaß. Die Polizei wusste, dass er als Verfasser der Briefe nicht in Frage kam. Und wer sonst hätte Zoë umbringen sollen, außer dem Mann, der es bereits explizit angekündigt hatte? Das ist schon witzig, was, Morris? Du und Fred, ihr hättet ein gutes Team abgegeben, wenn ihr voneinander gewusst hättet.«

Inzwischen wurde Morris von Sanitätern auf eine Trage gehoben. Sie waren gerade damit beschäftigt, ihm die Kanüle für eine Infusion zu legen.

»Werdet ihr seine Taschen durchsuchen?«

»Warum?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, dass er mir etwas antun wollte.«

Cameron sah zu Links hinüber, der nickte. Morris’

schöne neue Hose bestand mittlerweile aus zwei Teilen.

Cameron begann, die vielen Taschen zu durchsuchen.

Plötzlich sah ich in seinen Händen etwas aufblitzen. Er hielt ein Stück Draht hoch.

»Was ist das?«, fragte er Morris.

»Damit wollte ich etwas reparieren«, antwortete der.

»Was sind das für Reparaturen, für die man eine Drahtschlinge braucht, die man zuziehen kann?«

Morris gab keine Antwort. Stattdessen starrte er mich an und sagte im Flüsterton: »Liebling. Ich werde wiederkommen, Liebling.«

Die Sanitäter hoben die Trage hoch und trugen ihn hinaus.

Links rief einem der uniformierten Beamten zu: »Zwei von euch fahren mit ins Krankenhaus! Klärt ihn unterwegs über seine Rechte auf. Lasst ihn nicht aus den Augen!

Niemand darf zu ihm!«

Ich sah ihm nach. Bis sie um die Ecke bogen, war sein einzelnes, glänzendes Auge unverwandt auf mich gerichtet. Sein freundliches, entstelltes Mördergesicht lächelte mich an.

Ich wandte mich wieder an Links. »Was passiert mit Fred?«

Links seufzte.

»Wir werden ihn sofort verhören. Das heißt, sobald wir ihn festgenommen haben.«

»Und was ist mit mir? Kann ich gehen?«

»Wir werden Sie nach Hause bringen.«

»Ich gehe lieber zu Fuß. Allein.«

Cameron baute sich entschlossen vor mir auf.

»Miss Blake, wenn Sie sich weigern, von einem Streifenwagen und unter Polizeischutz nach Hause gefahren zu werden, lasse ich Sie verhaften.«

»Ich glaube«, sagte ich und bemühte mich dabei um einen möglichst coolen Ton, »ich glaube, ich würde mich allein sicherer fühlen.«

»Wie Sie wollen«, antwortete er gepresst. Ich sah die Angst in seinem Gesicht. Er fürchtete sich vor der öffentlichen Schande, einer Karriere in Scherben.

»Allein war ich schon immer sicherer.«

23. KAPITEL

as ich als Nächstes getan habe? Was tut man, wenn W einem das Leben neu geschenkt worden ist?

Den ersten Tag und die erste Nacht verbrachte ich im Haus meiner Eltern, wo ich meinem Vater half, den Gartenschuppen zu streichen, und stundenlang mit dem Gesicht nach unten auf der ausgebleichten Chenille-Tagesdecke in meinem alten Zimmer lag und den Geruch nach Mottenkugeln und Staub einatmete, während meine Mutter hektisch in der Küche herumklapperte, mir eine Tasse milchigen Tee nach der anderen brachte und Ingwerkekse für mich buk, die ich nicht hinunterbrachte.

Jedes Mal, wenn sie ins Zimmer trat, starrte sie mich besorgt an, legte mir die Hand auf die Schulter oder streichelte mir sanft übers Haar. Ich hatte ihnen ein wenig von dem erzählt, was passiert war, aber vieles, was wichtig war, weggelassen.

Dann kehrte ich in meine Wohnung zurück und startete eine große Putz- und Entrümpelungsaktion. Mein erster Gedanke war gewesen, auf der Stelle auszuziehen, meine Sachen zu packen und neu anzufangen – aber was für einen Sinn hätte das gehabt? Also riss ich die Terrassentür auf und zog eine alte Latzhose an, die aussah, als hätte sie mir jemand als Scherzartikel geschenkt – jedenfalls konnte ich mich nicht erinnern, sie selbst erworben zu haben. Ich drehte das Radio so laut auf, dass sämtliche Räume mit fröhlicher, seichter Musik beschallt wurden. Dann legte ich los. Ich ging jede Schublade durch. Ich füllte Müllsä-

cke mit zerrissenen Strumpfhosen, gebrauchten Umschlägen, alten Seifenstücken, leeren Toilettenpapier-rollen, ausgetrockneten Filzstiften, schimmeligem Käse.

Ich stapelte alte Zeitungen, um sie anschließend zum Altpapiercontainer zu bringen, sammelte alle leeren Flaschen in einer großen Schachtel. Ich faltete Klamotten zusammen oder hängte sie in den Schrank, füllte einen Wäschekorb mit schmutziger Wäsche, sortierte Rechnungen und bearbeitete das Waschbecken, die Kloschüssel und alles, was es sonst noch nötig hatte, mit Haushaltsrei-niger. Ich taute den Kühlschrank ab und schrubbte den Küchenboden. Ich putzte die Fenster und staubte sogar ab!

Das Ganze nahm zwei Tage in Anspruch. Zwei Tage lang arbeitete ich einfach von morgens bis abends vor mich hin. Es war wie eine Meditation. Ich konnte meinen Gedanken nachhängen, ohne wirklich nachzudenken, Erinnerungen in meinem Kopf herumtanzen lassen, ohne ihren Ursprung zu ergründen. Ich empfand keine Euphorie, nicht einmal große Erleichterung, aber nach und nach hatte ich das Gefühl, langsam wieder in mein normales Leben hinüberzuwechseln. Ich nahm Morris’

Visitenkarte vom Schreibtisch, rief mir ins Gedächtnis, wie er mich mit seinem einen, glänzenden Auge angestarrt hatte, als er hinausgetragen worden war, und legte sie dann zu dem anderen Müll in die Tüte. Ich zerknüllte das Blatt mit den Namen und Adressen aus den Akten, die Cameron für mich entwendet hatte, und warf es ebenfalls weg, allerdings nicht, ohne vorher Louises Adresse notiert zu haben. Auf dem Boden fand ich zwei kleine Knöpfe.

Stammten sie vielleicht von Cameron? Ich behielt sie einen Augenblick in der Hand, bevor ich sie in die Schuhschachtel legte, in der ich in Zukunft mein Nähzeug aufbewahren würde.

Ich ging nicht ans Telefon und schaltete den Anrufbeantworter laut. Es kamen viele Anrufe, weil die Medien Wind von der Geschichte bekommen hatten. Der Participant brachte sogar Fotos von uns – Zoë, Jenny und mir –, obwohl mir völlig schleierhaft war, woher sie mein Bild hatten. Ganz oben auf Seite drei waren wir nebeneinander aufgereiht, als wären wir alle drei gestorben. Oder alle noch am Leben. Reporter meldeten sich, alle möglichen Freunde wollten plötzlich mit mir reden, Cameron sprach mir mehrmals mit leiser, drängender Stimme aufs Band, und Leute, denen ich erst ein- oder zweimal im Leben begegnet war, riefen mich aufgeregt an, weil sie festgestellt hatten, dass sie jemanden kannten, der plötzlich und für kurze Zeit ein wenig berühmt war. Ich ging kein einziges Mal ran.

Eine Ausnahme machte ich am frühen Morgen des vierten Tages, einem schönen, etwas windigen Tag, an dem die Sonne durch die offene Terrassentür schien und sich unter dem Birnbaum, wo ich Cameron zum ersten Mal umarmt und geküsst hatte, die ersten Herbstblätter sammelten. Während ich überlegte, ob ich als Nächstes den Garten in Angriff nehmen und die Brennnesseln ausrupfen sollte, klingelte wieder einmal das Telefon, und der Anrufbeantworter sprang an.

Ich war gerade im Begriff, kochendes Wasser über einen Teebeutel zu schütten, als eine Stimme »Nadia« sagte, die mich mitten in der Bewegung innehalten ließ. »Nadia, hier ist Grace. Grace Schilling.« Pause. »Nadia, wenn Sie da sind, dann gehen Sie doch bitte ran!« Dann: »Bitte, Nadia!

Es ist wichtig!«

Ich nahm den Hörer ab. »Hallo, ich bin zu Hause.«

»Danke. Hören Sie, können wir uns treffen? Ich muss Ihnen etwas Wichtiges mitteilen.«

»Können Sie mir das nicht jetzt gleich sagen?«

»Nein. Ich muss Sie unbedingt sehen.«

»Ist es wirklich wichtig?«

»Ich glaube schon. Können wir uns in, sagen wir mal, fünfundvierzig Minuten bei Ihnen in der Wohnung treffen?«

»Nein, nicht hier, im ›The Heath‹.«

»Gut, ich werde um zehn Uhr da sein, am Pavillon.«

»Gut.«

Ich war früh dran, aber sie wartete schon auf mich.

Obwohl es ein warmer Morgen war, hatte sie sich in einen langen Mantel gehüllt, als wäre bereits Winter. Sie trug ihr Haar streng nach hinten gekämmt, was ihr Gesicht seltsam flach, älter und müder aussehen ließ, als ich es in Erinnerung hatte. Nach einem förmlichen Händedruck wanderten wir den Hügel hinauf, wo ein einzelner Mann einen großen roten Drachen steigen ließ, der flatternd und knatternd an der Leine zerrte.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie. Ich zuckte nur mit den Achseln. Ich wollte mit ihr nicht über meinen psychischen Zustand reden.

»Was haben Sie auf dem Herzen?«

Sie nahm eine Schachtel Zigaretten heraus, zündete sich hinter vorgehaltener Hand eine an und nahm einen tiefen Zug. Dann sah sie mich mit ihren grauen Augen ruhig an.

»Es tut mir Leid, Nadia.«

»Ist das die wichtige Sache, die Sie mir sagen wollten?«

»Ja.«

»O je!« Ich kickte einen Stein aus dem Pfad und verfolgte seinen Weg durch das Gras. »Und was wollen Sie jetzt von mir hören?«

Sie runzelte die Stirn, gab mir aber keine Antwort.

»Wollen Sie, dass ich Ihnen die Absolution erteile oder so was in der Art?«, fragte ich neugierig. »Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Nicht ich bin tot, sondern die beiden anderen.«

Sie zuckte zusammen. »Ich kann Sie nicht einfach in den Arm nehmen und sagen: ›Ist ja gut!‹«

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, als müsste sie einen Insektenschwarm verscheuchen.

»Das erwarte ich auch gar nicht. Ich wollte nur, dass Sie wissen, dass es mir wirklich Leid tut.«

»Haben die anderen Sie geschickt? Ist das eine Kollektiventschuldigung?«

Lächelnd zog sie an ihrer Zigarette. »Mein Gott, nein. Es ist uns allen strengstens verboten, Kontakt mit Zeugen zu haben.«

Ein weiteres ironisches Lächeln. »Wegen des bevorstehenden Prozesses und der internen Untersuchungen. Von den Fernsehdokumentationen ganz zu schweigen.«

»Demnach stecken Sie alle in Schwierigkeiten?«

»Ziemlich«, antwortete sie vage. »Aber das ist in Ordnung. Wir haben es nicht besser verdient. Was wir getan haben, war …«, sie hielt inne, »… fast hätte ich gesagt, unverzeihlich. Es war unprofessionell. Dumm.

Blind. Falsch.«

Sie warf die Zigarette auf den Weg und trat sie mit der Spitze ihres schmalen Schuhs aus. »Vielleicht sollte ich dieses Gespräch für Clives Anwalt aufnehmen.« Sie runzelte die Stirn. »Ja, er hat rechtliche Schritte gegen uns eingeleitet. Zoë’s Tante ebenfalls. Sollen sie doch. Die beiden sind mir völlig egal. Im Gegensatz zu Zoë und Jenny. Diese beiden sind mir nicht egal, ebenso wenig wie Sie. Was Sie durchmachen mussten, ist mir nicht egal.«

Wir verließen den Pfad und wanderten querfeldein auf den Teich zu. Eine Windbö kräuselte die Wasseroberfläche und wehte Herbstlaub vor unsere Füße.

Ein Kind stand mit seiner Mutter am Wasser und warf den fetten Enten Brotstückchen zu.

»Es war nicht wirklich Ihre Schuld«, sagte ich vorsichtig.

»Das Ganze ist nicht auf Ihrem Mist gewachsen, oder?

Ich meine, uns nicht zu sagen, was da ablief.«

Sie sah mich bloß an. Offenbar hatte sie beschlossen, die volle Verantwortung für die Sache zu übernehmen, sich nicht zu drücken.

»So weit ich das beurteilen kann«, fuhr ich fort, »waren Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten ohnehin relativ ehrlich.«

»Danke, Nadia, aber wir wissen beide, dass ich mich in diesem Fall nicht mit Ruhm bekleckert habe. Es ist schon seltsam«, fügte sie hinzu, »da predige ich den Leuten immer, ihr Leben in den Griff zu bekommen, und dann verliere ich selbst total die Kontrolle. Jemand trifft eine Entscheidung – die Presse nicht über Zoës Tod zu informieren, um die Bevölkerung nicht in Panik zu versetzen und selbst nicht als inkompetent dazustehen –, und diese Entscheidung zieht automatisch die nächste nach sich, und die nächste, und ehe sie, ich meine wir, uns versahen, befanden wir uns auf dieser Einbahnstraße und konnten nicht mehr zurück. Was am Ende dazu führte, dass wir uns immer tiefer in unsere Lügen verstrickten und die Leute nicht mehr schützen konnten, die auf unsere Hilfe vertrauten.« Sie lächelte mich traurig an. »Das soll übrigens keine Entschuldigung sein.«

»Die ganze Angst«, sagte ich.

»Ja.«

»Ich habe es nie wirklich geschafft, an Gott zu glauben.

Sie?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nun gibt es in meinem Leben zwei Frauen, denen ich mich besonders verbunden fühle«, sagte ich, »obwohl ich sie nie kennen gelernt habe. Und dann sind da noch diese zwei Männer, die ich sehr wohl kennen gelernt habe. Sie auch?«

Sie holte tief Luft. »Fred habe ich schon damals getroffen, als er nach Zoës Tod seine Zeugenaussage gemacht hat, und Morris bin ich natürlich auch begegnet, nachdem Sie herausgefunden hatten, dass er sowohl Sie als auch Jennifer Hintlesham kannte.«

»Was das betrifft, brauche ich Ihre Hilfe, Grace. Sie kennen sich mit so was aus. Die beiden kamen mir anfangs so normal vor. Hätten Sie ihnen denn zu Anfang einen Mord zugetraut? Sieht man einem Menschen so was an? Ich meine, Fred zum Beispiel. Ist er früher schon mal durch besondere Gewalttätigkeit aufgefallen?«

»Irgendwann ist immer das erste Mal.«

»Ich meine …«

»Ich weiß, was Sie meinen. Sie wollen von mir hören, dass diese Männer anders sind als andere, nicht wahr? Sie wollen, dass ich ihnen einen Stempel aufdrücke.

Gefährlich. Oder verrückt.« Wir blieben neben dem Teich stehen, und sie zündete sich eine neue Zigarette an.

»Genau das wird natürlich passieren. Leute wie ich werden Morris befragen und herausfinden, dass er als Kind missbraucht oder vernachlässigt worden ist, dass er geschlagen oder zu sehr verhätschelt wurde, dass er Gewaltvideos gesehen oder sich beim Sturz von einem Klettergerüst den Kopf verletzt hat. Und irgendwann wird sich irgendeine Exfreundin bei der Presse melden und erzählen, dass Fred sie vor fünf Jahren mal geschlagen hat.

Und dann werden diverse Politiker und Experten auf den Putz hauen und entrüstet fragen, warum das denn damals niemand gemerkt habe.«

»Und?«

»Es gab nichts zu merken. Wenn Menschen einen Mord begehen, dann meist an jemandem, den sie kennen.

Zumindest besagt das die Statistik. Fred war wütend und fühlte sich von Zoë gedemütigt, weil sie ihm den Laufpass gegeben hatte. Und durch einen Zufall, der für beide tragische Folgen hatte, vor allem natürlich für Zoë, standen sie sich plötzlich allein gegenüber, und er brachte sie um. So einfach ist das. Solche Dinge passieren ständig.

Er trägt wahrscheinlich nicht mehr Mordgelüste in sich als die meisten anderen Menschen, mit dem einzigen Unterschied, dass er ihnen nachgegeben hat und eine Weile ungestraft davonkam, weil sein Opfer zufällig Drohbriefe von einem anderen Mann erhalten hatte.«

»Sehr tröstlich«, bemerkte ich trocken.

»Mir war nicht klar, dass Sie von mir tröstliche Worte hören wollten. Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie mich je gebeten haben, Sie zu trösten. Das ist nicht Ihr Stil, oder? Aber kommen wir zu Morris. Stimmt, Morris ist tatsächlich anders, und man könnte ihn wahrscheinlich genauso verrückt nennen wie jeden anderen Menschen, der ein sinnloses Verbrechen begeht. Oder böse, wenn man an solche Begriffe glaubt. Aber das bringt uns auch nicht weiter. Ihr Problem ist, glaube ich, dass man aus dieser Sache trotz all des Schreckens und der Toten keine Lehre ziehen, sie mit keinem Etikett versehen kann.«

»Stimmt, genau das bereitet mir Sorgen.«

»Das dachte ich mir.« Wir kehrten auf den Weg zurück, den wir zuvor verlassen hatten, und gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Nadia?«

»Klar.«

»Es gibt da etwas, das mir keine Ruhe lässt. Wie um alles in der Welt haben Sie es geschafft, all diese Akten einzusehen?«

»Ach, das. Ich habe mit Cameron Stadler geschlafen und ihn dann erpresst.«

Sie starrte mich an, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst.

»Fragen Sie mich lieber nicht!«, sagte ich. »Es ist besser, Sie wissen es nicht.«

Sie brach in ein nervöses Lachen aus, das nicht wirklich fröhlich klang, aber ich stimmte trotzdem mit ein, und es dauerte nicht lang, bis wir einander festhielten und lachten und kicherten wie Teenager. Dann hörte sie plötzlich auf, und ihre Miene wurde ernst.

»Sie können nicht den Rest Ihres Lebens mit Schuldgefühlen herumlaufen«, sagte ich.

»Wetten?«

»Lieber nicht.«

An einer Weggabelung blieb sie stehen. »Ich muss in diese Richtung«, erklärte sie. »Auf Wiedersehen, Nadia.«

»Auf Wiedersehen.«

Sie reichte mir die Hand, und ich schüttelte sie. Dann begann ich den Pfad zurückzugehen, den wir gekommen waren. Der Drachen segelte noch immer in der Luft.

»Nadia!«

Ich drehte mich um. »Ja?«

»Sie haben uns gerettet!«, rief sie. »Uns, sich und die anderen Frauen, die nach Ihnen gekommen wären. Sie haben uns alle gerettet.«

»Ich hatte nur Glück, Grace. Ich hatte nur Glück.«

24. KAPITEL

s war zu kalt für Schnee. Der Himmel war eisig blau, und auf den Gehsteigen

E

glitzerte noch der Frost der

letzten Nacht. Mein Atem bildete in der Luft Dampfwolken, meine Augen tränten, meine Nase fühlte sich rot und wund an, und mein Kinn juckte, weil ich mir einen kratzigen alten Wollschal um den Hals gewickelt hatte. Es ging ein beißender Wind. Mit gesenktem Kopf eilte ich die Straße entlang.

»Nadia? Nadia!« Eine junge Stimme von der anderen Straßenseite. Ich drehte mich um und kniff die Augen zusammen.

»Josh?«

Er war es tatsächlich. Obwohl er mit einer Gruppe von Jungen und Mädchen in seinem Alter unterwegs war, die alle in dicke Jacken und Mützen gepackt waren und sich gegenseitig übermütig anrempelten, kam er zu mir herüber. »Ich komme nach!«, rief er ihnen winkend zu. Er wirkte ein bisschen kräftiger, als ich ihn in Erinnerung gehabt hatte, nicht mehr ganz so blass und schmächtig.

Ein paar Schritte vor mir blieb er stehen, und wir lächelten uns ein wenig verlegen an.

»Joshua Hintlesham, ich habe oft an dich gedacht«, sagte ich, um einen freundlichen Ton bemüht.

»Wie geht es dir?«

»Ich bin noch am Leben.«

»Das ist gut«, antwortete er, als bestünde da irgendein Zweifel. Er blickte sich nervös um. »Ich hätte mich schon längst mal melden sollen«, sagte er, »aber ich habe mich so mies gefühlt. Weil ich Morris zu dir geschleppt habe und so. Du weißt schon.«

Es schien mir viel länger her zu sein als fünf Monate, dass er das letzte Mal auf meinem Sofa gesessen hatte.

Damals war er ein Häuflein Elend gewesen. Ich wusste nicht so recht, was ich zu ihm sagen sollte, weil zu viel zwischen uns lag.

»Hast du Zeit für einen Kaffee?« Er nahm seine Wollmütze ab. Ich sah, dass er sich die Haare leuchtend orangerot gefärbt hatte und einen Stecker im Ohr trug.

»Was ist mit deinen Freunden?«

»Das geht schon in Ordnung.«

Schweigend gingen wir nebeneinander her, bis wir ein kleines italienisches Café fanden. Drinnen war es dunkel, stickig und verraucht. Auf der Theke stotterte eine Espressomaschine zischend vor sich hin.

»Ah, das tut gut!«, seufzte ich, während ich mich von Mantel, Mütze, Schal und Handschuhen befreite.

»Ich lade dich ein«, erklärte er betont lässig und klimperte mit den Münzen in seiner Tasche. Dabei wirkte er recht zufrieden mit sich und der Welt.

»Meinetwegen, du Krösus! Ich nehme einen Cappuccino.«

»Irgendwas zu essen?«, fragte er hoffnungsvoll.

Ich wollte ihn nicht enttäuschen. »Eins von diesen Mandelcroissants.«

Ich setzte mich an einen Ecktisch und beobachtete, wie er bestellte. Jennys ältester Sohn lehnte sich mit seinem orangefarbenen Haar über die Theke und versuchte, sich wie ein Mann zu benehmen und seine neue coole, selbstbewusste Art an mir auszuprobieren. Er musste inzwischen fünfzehn sein, dachte ich. Fast schon erwachsen. In ein paar Jahren würde er mit der Schule fertig sein.

Er brachte mir den Kaffee und das Croissant. Für sich selbst hatte er eine Tasse heiße Schokolade bestellt, an der er nun vorsichtig nippte. Auf seiner Oberlippe bildete sich ein kleiner schaumiger Schnurrbart. Wieder lächelten wir uns an.

»Ich hätte mich wirklich mal melden sollen«, wiederholte er.

Wir nahmen beide einen großen Schluck von unserem Getränk und sahen uns über den Tassenrand hinweg an.

»Ich habe gehört, dass du Morris ganz schön fertig gemacht hast«, sagte er.

»Es hieß: Er oder ich.«

»Hast du dabei wirklich ein Bügeleisen benutzt?«

»Ja, habe ich.«

»Damit hast du ihm bestimmt höllisch wehgetan.«

»Das kann man wohl sagen!«

»Ich nehme an, ich sollte mich darüber freuen«, meinte er.

»Hast du schon mal von den Yakuza-Gangs in Japan gehört? Bevor sie dich umbringen, tun sie dir alles Mögliche an, bis du bewusstlos wirst. Dann schleppen sie dich nach draußen und fahren immer wieder mit einem Auto über dich, bis sie dir sämtliche Knochen gebrochen haben. Es gibt da so eine Theorie, dass das menschliche Schmerzempfinden auf einer sehr niedrigen Stufe einsetzt, sodass man auch dann noch Schmerzen fühlt, wenn man im Koma liegt oder stirbt.«

»Nette Theorie«, bemerkte ich und zog eine Grimasse.

»Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, dass ich Morris auch so was in der Art antun sollte. Wenn ich daran denke, dass er dauernd mit mir rumhing und dabei wahrscheinlich die ganze Zeit an das dachte, was er mit Mum gemacht hatte …«

»Ich nehme an, das war ein Teil des Kicks.«

»Inzwischen denke ich mir: Was soll’s! Vielleicht wenn er rauskommt.«

»Der kommt erst wieder raus, wenn er ein alter Tattergreis ist.«

»Ein alter Tattergreis mit einem arthritischen Knie«, fügte Josh mit einem Grinsen hinzu.

»Ich hoffe es. Fred kommt bestimmt schneller wieder frei. Ich habe mit Links darüber gesprochen. Der Prozess wird erst nächstes Jahr stattfinden, aber für ein so kleines Verbrechen wie das Erdrosseln der Exfreundin, weil sie einem den Laufpass gegeben hat, wird er laut Links nicht länger als acht bis zehn Jahre sitzen.«

Josh stellte seine Tasse ab und wischte sich mit dem Daumen die Schokolade von der Oberlippe. »Ich weiß nicht, was ich dich fragen soll«, erklärte er in frustriertem Ton. »Ich denke mir ganz oft, dass ich dich alles Mögliche fragen muss, aber jetzt fällt mir nichts ein. Ich weiß natürlich, was passiert ist, aber das meine ich damit nicht.

Es geht mir um etwas anderes.« Mit gerunzelter Stirn starrte er mich an. Wie immer erinnerten mich seine Augen an Jenny, und er kam mir plötzlich viel jünger vor wie der Josh, den ich aus unserem katastrophalen Sommer in Erinnerung hatte.

»Du hast wahrscheinlich das Gefühl, dass es etwas geben müsste, das ich dir als Lebensweisheit mit auf den Weg geben könnte.«

»So was in der Art«, murmelte er, während er einen Finger durch ein kleines Zuckerhäufchen auf dem Tisch zog. Ich musste daran denken, dass ich fast dasselbe zu Grace gesagt hatte, als wir uns vor Monaten trafen. Ich holte tief Luft.

»Morris hat deine Mutter umgebracht, weil es ihm Spaß machte. Dann hat er sich mich ausgesucht, und wenn ich nicht so viel Glück gehabt hätte, dann würdest du jetzt vielleicht mit der nächsten Frau hier sitzen, die er auserkoren hätte, oder mit der übernächsten. Es hätte jede sein können, aber leider ist es ausgerechnet Jenny gewesen. Was mir sehr Leid tut«, fügte ich nach einer Pause hinzu.

»Schon gut«, murmelte er, während er weiter Muster in den Zucker malte.

»Wie läuft’s in der Schule?«

»Ich gehe jetzt in eine andere. Irgendwie hielt ich es für eine gute Idee, die Schule zu wechseln.«

»Ja.«

»Da, wo ich jetzt bin, gefällt es mir viel besser. Ich habe Freunde gefunden.«

»Gut.«

»Und ich treffe jemanden.«

»Du meinst, eine Freundin?«

»Nein. Jemanden, mit dem ich über alles reden kann.«

»O ja, das ist auch gut.«

»Was ist mit dir?«

»Wie meinst du das?«

»Was machst du denn inzwischen?«

»Ach, dieses und jenes.«

»Du meinst, das Gleiche wie vorher?«

»Nein«, widersprach ich energisch. Ich deutete auf die kleine Nylonreisetasche unter meinem Stuhl. »Weißt du, was in der Tasche ist?«

»Was?«

»Unter anderem fünf Jonglierbälle.«

Er starrte mich an, als würde er mich nicht verstehen.

»Fünf«, wiederholte ich. »Was hältst du davon?«

»Das ist ja Wahnsinn!«, sagte er, nun ehrlich beeindruckt.

»Mein eigentlicher Plan ist, diesen Job ganz loszuwerden, aber bis es so weit ist, muss ich ja nicht auf der faulen Haut liegen.«

»Zeig’s mir!«, bat er.

»Hier?«

»Los, zeig’s mir!«

»Willst du das wirklich?«

»Unbedingt!«

Ich blickte mich um. Das Café war fast leer. Ich nahm die Bälle aus der Tasche, drei in die eine Hand, zwei in die andere, und stand auf.

»Passt du auch gut auf?«

»Ja.«

»Du musst dich konzentrieren.«

»Ich konzentriere mich.«

Ich fing an. Es klappte ungefähr eine Sekunde, dann schossen die Bälle in alle Richtungen davon. Einer traf Josh, einer meine leere Kaffeetasse.

»Na ja, jetzt hast du zumindest eine ungefähre Vorstellung«, meinte ich, während ich unter dem Tisch nach einem weiteren Ball suchte.

»Und das war’s?«, fragte er lächelnd.

»Wenn es leichter wäre, dann würde es ja jeder machen.«

»Nein, es war großartig«, sagte er und begann lauthals zu lachen. Vielleicht war das mein Geschenk an Josh und zugleich mein Abschied: Nadia, die Närrin, die als einzige nicht gestorben war und in einem dunklen kleinen Café Bälle durch die Gegend warf. Ein Kichern – oder vielleicht war es auch ein Schluchzen – stieg in mir auf.

Ich nahm die Bälle und verstaute sie wieder in der Tasche.

»Ich muss allmählich aufbrechen«, sagte ich.

»Ich auch.«

Nachdem wir uns an der Tür des Cafés mit zwei Küsschen auf die Wange verabschiedet hatten, traten wir in die eisige Kälte hinaus. Bevor wir in entgegengesetzte Richtungen davoneilten, sagte Josh zu mir: »Ich bringe ihr immer noch Blumen aufs Grab.«

»Das freut mich.«

»Ich vergesse sie nicht.«

»O Josh«, erwiderte ich, »irgendwann darfst du vergessen. Jeder hat das Recht zu vergessen.«

Aber während ich am Kanal entlang nach Hause ging, dachte ich: Ich kann nicht vergessen. Ich werde die Frauen, die gestorben sind, nicht vergessen. Zoë und Jenny. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich fest damit rechne, sie zu sehen, wenn ich auf der Straße um eine Kurve biege oder in einen überfüllten Bus steige und auf der Suche nach einem Platz den Gang entlanggehe oder wenn ich in einer Menschenmenge nach einer Freundin Ausschau halte.

Ich kenne ihre Gesichter besser als alle anderen, sogar besser als das meiner Mutter oder meines Vaters, besser als das Gesicht eines Geliebten, zu dem ich einmal voller Leidenschaft aufgeblickt habe. Ich kenne ihre Gesichter wie mein eigenes Spiegelbild. Ich habe sie endlos angestarrt, in ihnen nach Hinweisen gesucht, sie angefleht, ihre Geheimnisse zu offenbaren und mir zu helfen.

Obwohl ich ihnen nie begegnet bin, fehlen sie mir.

Damals habe ich sie nicht gekannt, aber jetzt, da es zu spät ist, kenne ich sie. Ich kenne sie so, wie sie niemand sonst gekannt hat. Sie hätten mich auch gekannt. Auch wenn wir uns vielleicht nicht gemocht hätten, sind wir unter der Haut doch Schwestern, denn ihre Angst war meine Angst, ihre Scham meine Scham. Auch die Wut hatten wir gemeinsam, ebenso die Panik, die Verletztheit und das Gefühl, hilflos zu sein. Das Wissen, dass das Entsetzen immer näher kam. Ich weiß, was sie gefühlt haben. Ich habe es selbst gefühlt.

Andere werden sie mit der Zeit vergessen, oder zumindest ihre Erinnerungen an sie werden verblassen. So sollte es auch sein, wenn jemand stirbt. Die Menschen, die den Betreffenden einst ihre Liebe beteuert haben, werden die gleichen Worte zu jemand anderem sagen. Das ist gut und richtig so – nur so können wir das Leben ertragen.

Ihre Gräber werden immer seltener besucht werden, bald nur noch an Tagen von besonderer Bedeutung. Die Leute werden sich gegenseitig erzählen, wie gut sie sie damals gekannt hatten; denn eine Tragödie aus der Nähe mitzuerleben, gibt uns das Gefühl, irgendwie wichtig zu sein: War das nicht schrecklich, was Zoë damals passiert ist? Was Jenny erleben musste? War das nicht furchtbar traurig?

Ich aber kann sie nicht vergessen. Ich muss sie mit mir herumtragen, wo immer ich auch hingehe: durch das Leben, das mir neu geschenkt wurde, durch die Jahre, die sie nicht hatten, durch all die Liebe, die Verluste und Veränderungen, die sie nicht mehr erlebten. Jeden Tag sage ich von Neuem zu ihnen: Adieu!