Nicci French

Der

Sommermörder

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Es ist heiß in diesem Sommer in London, ungewöhnlich heiß, und die Stadt heizt sich täglich mehr auf. Der Jahrhundertsommer, am Anfang freudig begrüßt, wird langsam zur Qual. Die Menschen sind wie unter einer Glocke gefangen. Nur einer genießt diese Hitze. Er beobachtet die heißen Körper der Frauen. Er riecht sie, er prägt sie sich ein, er ergötzt sich an ihrer schweißnassen Haut. Heimlich. Ein Mann, der in diesem Sommer Frauen terrorisiert und schließlich ermordet, versetzt die Polizei in hektische Aufregung. Doch der Sommermörder ist immer eine Spur schneller – bis er an sein drittes Opfer gerät. Dieses eine Mal hat er seine Macht überschätzt.

ISBN: 3-570-00304-3

Original: Beneath the Skin

Deutsch von Birgit Moosmüller

Verlag: C. Bertelsmann

Erscheinungsjahr: 2001

Umschlaggestaltung:

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Buch

Es ist heiß in diesem Sommer in London, ungewöhnlich heiß, und die Stadt heizt sich täglich mehr auf. Der Jahrhundertsommer, am Anfang freudig begrüßt, wird langsam zur Qual. Die Menschen sind wie unter einer Glocke gefangen. Nur einer genießt diese Hitze. Er beobachtet die heißen Körper der Frauen. Er riecht sie, er prägt sie sich ein, er ergötzt sich an ihrer schweißnassen Haut. Heimlich.

Drei Frauen geraten in diesem heißen Sommer ins Visier eines Mannes, der sie erst mit Briefen terrorisiert. Der ihnen ankündigt, dass sie nicht mehr lange leben werden.

Der erregt beobachtet, wie die Angst von ihnen Besitz ergreift. Der ihnen immer näher kommt. Der schließlich zuschlägt. Zwei Frauen werden seine wehrlosen Opfer: die junge, etwas naive Lehrerin Zoë und die kühle, kontrollierte Jenny, die überzeugt ist, alles im Griff zu haben. Auch bei seinem dritten Opfer glaubt sich der Mörder seines Sieges sicher. Aber diesmal täuscht er sich.

Nadia ist anders als Zoë und Jenny. Trotz des Psychoterrors erstarrt sie nicht wie das Kaninchen vor der Schlange. Sie setzt sich zur Wehr. Sie dreht den Spieß um.

Schon bald hat sie einen Verdacht. Doch der Mörder kann ein Alibi nachweisen. Nadia ist verwirrt, lässt sich aber nur kurz täuschen. Und setzt alles auf eine Karte …

»Der Sommermörder«, die Geschichte eines Mannes, der Frauen demütigt, der unter ihre Haut dringt, ohne sie zu berühren, der sie völlig in seine Gewalt bringt und sie psychisch zerstört, bevor er auch ihren Körper vernichtet, ist ein brillant konstruierter Psychothriller. Nicci French spielt perfekt mit den Urängsten von Frauen und baut ein geniales Spannungsdreieck zwischen Mörder, Opfern und hilfloser Polizei.

Autor

Die Journalistin Nicci French lebt mit ihr Familie auf dem Land im Süden von London.

»Der Sommermörder« ist ihr vierter Roman.

FÜR KATIE UND CHRIS

PROLOG

Im Sommer heizen sich ihre Körper auf. Die Hitze sickert durch die Poren ihrer nackten Haut. Heißes Licht dringt in ihre Dunkelheit. Ich stelle mir vor, wie es in ihrem Innern umherwogt und sie erregt. Ich denke an die dunkle, glänzende Flüssigkeit unter ihrer Haut. Sie ziehen ihre Sachen aus, all die dicken, hochgeschlossenen Schichten, die sie im Winter tragen, und lassen die Sonne auf ihre Arme und ihren Hals scheinen, lassen sie zwischen ihren Brüsten nach unten strömen. Mit zurückgelegtem Kopf genießen sie die Wärme auf ihrem Gesicht. Sie schließen die Augen und öffnen den Mund, ihre geschminkten oder nackten Lippen. Die Gehsteige, auf denen sie mit strumpflosen Beinen dahineilen, flimmern vor Hitze.

Dünne Röcke flattern im Rhythmus ihrer Schritte. Frauen.

Im Sommer beobachte ich sie, rieche sie, präge sie mir ein.

Sie betrachten ihr Spiegelbild in den Schaufenstern, ziehen den Bauch ein, stellen sich aufrechter hin, und ich sehe ihnen dabei zu. Ich beobachte sie dabei, wie sie sich betrachten. Ich sehe sie, wenn sie glauben, unbeobachtet zu sein.

Die Rothaarige im orangefarbenen Sommerkleid. Einer von den Trägern ist verdreht. Sie hat Sommersprossen auf der Nase, einen großen Leberfleck am Schlüsselbein. Sie trägt keinen BH. Beim Gehen schwingt sie die bleichen, mit feinen Härchen bedeckten Arme, und ihre Brustwarzen zeichnen sich unter dem straffen Baumwollstoff ihres Kleides ab. Flache Brüste. Kantige Hüftknochen. Sie trägt Sandalen mit niedrigen Absätzen. Ihre zweite Zehe ist länger als die große. Sie hat schlammgrüne Augen, die an den Grund eines Flusses erinnern. Helle Wimpern, die zu viel blinzeln. Schmale Lippen, eine Spur von Lippenstift in den Mundwinkeln. Sie beugt unter der Hitze die Schultern, hebt einen Arm, um sich die Schweißperlen von der Stirn zu wischen. Unter ihrer Achsel schimmern kupferrote Haarstoppeln, vielleicht ein paar Tage alt. Auch ihre Beine sind stoppelig. Sie würden sich anfühlen wie feuchtes Sandpapier. Ihre Haut wirkt fleckig, und das Haar klebt ihr an der Stirn. Sie hasst die Hitze, lässt sich von ihr unterkriegen.

Ganz anders die mit dem großen Busen, dem wabbeligen Bauch und dem dichten dunklen Haar. Man möchte meinen, bei ihrem Gewicht würde sie stärker unter der Temperatur leiden, aber sie lässt die Sonne in sich hinein, kämpft nicht dagegen an. Ich sehe, wie sie ihren fetten, weichen Körper für die Hitze öffnet. Ihr grünes Shirt ist unter den Armen nass, der Schweiß läuft ihr am Hals hinunter, vorbei an den dicken, geraden Flechten ihres Haars. Ihre dichte Achselbehaarung verrät mir, wie der Rest ihres Körpers aussieht. Sie hat einen dunklen Damenbart und einen Mund wie eine reife Pflaume, rot und feucht. Ihre weißen Zähne beißen in ein Brötchen, das mit braunem, wachsigem Papier umwickelt ist. Ein kleines Stück Tomate klebt an ihrer Oberlippe, und ihr Kinn ist fettverschmiert, aber sie wischt es nicht ab. Ihr Rock verfängt sich zwischen den Pobacken und rutscht ein wenig hoch.

Die Hitze kann Frauen abstoßend machen. Manche von ihnen trocknen total aus, wie Insekten in der Wüste. Sie bekommen vor Trockenheit tiefe Furchen im Gesicht, Lippen wie Pergament, ein Kreuzmuster aus Falten unter den Augen. Die Sonne entzieht ihnen all ihre Feuchtigkeit.

Das passiert vor allem den älteren Frauen, die deswegen versuchen, ihre crêpe-artigen Arme unter langen Ärmeln und das Gesicht unter einem Hut zu verbergen. Andere Frauen beginnen einen ranzigen, fauligen Geruch zu verströmen. Wenn sie in meine Nähe kommen, kann ich sie riechen. Unter ihrem Deo, dem Duft ihrer Seife und dem Parfüm, das sie sich auf die Handgelenke und hinters Ohr getupft haben, wittere ich den Geruch von Reife und Verfall.

Manche aber blühen auf wie Blumen im Sonnenlicht, sauber und frisch. Ihre Haut wirkt glatt, ihr Haar glänzt wie Seide, egal, ob es zurückgebunden ist oder locker ihr Gesicht umspielt. Ich sitze auf einer Parkbank und sehe zu, wie sie einzeln oder in Gruppen an mir vorübergehen und dabei ihre heißen Füße in das ausgebleichte Gras pressen. Die Sonne taucht sie in gleißendes Licht. Die Schwarze mit dem gelben Kleid, der schimmernden Haut und dem üppigen, glänzenden Haar. Ich höre sie im Vorbeigehen lachen, das raue Geräusch scheint von einem geheimen Ort tief im Innern ihres starken Körpers zu kommen. Mein besonderes Augenmerk gilt dem, was im Schatten liegt; der Falte in der Achselhöhle, der Hinterseite des Knies, der dunklen Region zwischen den Brüsten. Den verborgenen Stellen der Frauen, von denen sie glauben, dass niemand sie sieht.

Manchmal sehe ich auch, was sie unter ihren Sachen tragen. Die Frau mit dem ärmellosen weißen Shirt und dem BH-Träger, der ihr immer wieder über die Schulter rutscht. Er hat einen Graustich und Flecke vom häufigen Tragen. Sie ist in ein frisches Shirt geschlüpft, hat sich aber nicht die Mühe gemacht, auch einen sauberen BH

anzuziehen. Mir fallen diese Dinge auf. Der Unterrock, der unter dem Saum hervorlugt. Der abgeblätterte Nagellack. Der mit Abdeckstift übermalte Pickel. Der Knopf, der nicht zu den Übrigen passt. Der Fleck auf der Hose, der Schmutzrand am Kragen. Der Ring, der mit den Jahren so eng geworden ist, dass er den Finger einschnürt.

Sie gehen an mir vorbei. Ich sehe sie durch ein Fenster, wenn sie sich allein wähnen. Die Frau, die nachmittags in ihrer Küche schläft, in dem Haus an der ruhigen Straße, durch die ich manchmal gehe. Ihre Kopfhaltung wirkt unbequem – gleich wird sie mit einem Ruck hochschrecken, sich fragen, wo sie ist –, und ihr schlaffer Mund steht offen. Über ihre Wange zieht sich eine dünne Linie aus Speichel, wie die Spur einer Schlange.

Das Kleid, das sich beim Einsteigen ins Auto hochschiebt und ein Stück Slip hervorblitzen lässt. Dellige Oberschenkel.

Der Knutschfleck unter dem sorgfältig hindrapierten Schal.

Der Bauchnabel einer Schwangeren, der sich durch den dünnen Stoff ihres Kleides drückt.

Die Milchspuren auf der Bluse einer jungen Mutter; der kleine Speichelfleck an der Stelle, wo der Kopf des Babys an ihrer Schulter ruht.

Das Lächeln, das geschwollenes, schwindendes Zahnfleisch enthüllt, der abgeschlagene Schneidezahn, die Porzellankrone.

Der dunkel nachgewachsene Scheitel in blondiertem Haar.

Die dicken, gelblichen Zehennägel, die ihr Alter verraten.

Das erste Anzeichen von Krampfadern auf einem weißen Bein, wie ein violetter Wurm unter der Haut.

Im Park liegen sie auf der Wiese und lassen die Sonne auf sich herabbrennen. Sie sitzen draußen vor den Pubs, Bierschaum auf den Lippen. Manchmal stehe ich zwischen ihnen in der stickigen Luft der U-Bahn und spüre ihr heißes Fleisch. Manchmal sitze ich so dicht neben ihnen, dass sich unsere Oberschenkel leicht berühren. Manchmal halte ich ihnen die Tür auf und folge ihnen ins kühle Innere einer Bibliothek, einer Galerie, eines Ladens. Dann studiere ich ihren Gang, die Art, wie sie den Kopf wegdrehen oder sich das Haar hinter die Ohren schieben.

Die Art, wie sie mit einem Lächeln wegsehen. Manchmal sehen sie nicht weg.

Noch ein paar Wochen lang herrscht Sommer in der Stadt.

ERSTER TEIL

ZOË

1. KAPITEL

hne die Wassermelone wäre ich nicht berühmt geworden, und ohne die Hitze hätte ich die O

Wassermelone nicht gehabt. Deswegen fange ich wohl am besten mit der Hitze an.

Bloß festzustellen, dass es heiß war, erweckt vielleicht den falschen Eindruck. Es lässt Sie womöglich ans Mittelmeer denken, an einsame Strände und Longdrinks mit farbenfrohen Papiersonnenschirmen. Nichts dergleichen. Die Hitze war wie ein großer, fetter, stinkender alter Hund, ein räudiger, schmieriger, furzender, verendender alter Hund, der sich Anfang Juni auf London niedergelassen und drei schreckliche Wochen lang keinen Millimeter bewegt hatte. Es war immer schweißtreibender und schwüler geworden, und das anfängliche Blau des Himmels hatte sich im Lauf der Zeit in eine giftige Mischung aus Gelb und Grau verwandelt.

Die Holloway Road hatte inzwischen etwas von einem riesigen Auspuffrohr, weil die Abgase der Autos vom Gewicht noch schädlicherer Schadstoffe auf Straßenhöhe festgehalten wurden. Wir Fußgänger husteten einander an wie Beagle, die gerade aus einem Tabaktestlabor befreit worden waren. Anfang Juni hatte ich es noch als wohltuend empfunden, ein Sommerkleid anzuziehen und den leichten Stoff auf meiner Haut zu spüren, aber mittlerweile waren meine Kleider abends immer rußgeschwärzt und fleckig, und ich musste mir jeden Morgen die Haare waschen.

Normalerweise wird mir die Auswahl der Bücher, die ich meiner Klasse vorlese, nach faschistischen, totalitären, von der Regierung vorgeschriebenen Prinzipien aufoktroyiert, aber an diesem Morgen hatte ich ausnahmsweise mal rebelliert und ihnen eine Brer-Rabbit-Geschichte vorgelesen, die ich in einer Pappschachtel voller ramponierter Kinderbücher gefunden hatte, als ich die Wohnung meines Dads ausräumte. Fasziniert hatte ich alte Schulberichte durchgesehen, Briefe gelesen, die lange vor meiner Geburt geschrieben worden waren, und billige Porzellanfigürchen betrachtet, die eine Flut von sentimentalen Erinnerungen auslösten. Die Bücher hatte ich alle behalten, weil ich dachte, dass ich eines Tages vielleicht selbst Kinder haben würde und ihnen dann die Bücher vorlesen könnte, die Mom mir vorgelesen hatte, ehe sie gestorben war und es Dad überlassen hatte, mich jeden Abend ins Bett zu bringen. Seit damals gehörte das Vorlesen für mich zu den Dingen, die ich verloren hatte, und deshalb wurde es in meiner Erinnerung zu etwas sehr Wertvollem, Wunderbarem. Immer wenn ich Kindern etwas vorlese, kommt es mir ein bisschen so vor, als hätte ich mich in eine weiche, verschwommene Version meiner Mutter verwandelt. Als würde ich dem Kind vorlesen, das ich selbst einmal war.

Ich wünschte, ich könnte sagen, jene klassische alte Kindergeschichte hätte meine Schüler so richtig in ihren Bann gezogen. Vielleicht ließ das übliche Geschrei und Gestupse, das Nasenbohren und An-die-Decke-Starren ja tatsächlich ein klein wenig nach, aber als ich sie hinterher zu der Geschichte befragte, kam in erster Linie heraus, dass keines der Kinder wusste, was eine Wassermelone war. Ich griff nach der roten und der grünen Kreide und malte ihnen eine an die Tafel. Eine Wassermelone ist so einfach zu zeichnen, dass sogar ich dazu in der Lage bin.

Trotzdem starrten mich die Kinder weiterhin ratlos an.

Ich versprach ihnen, am nächsten Tag eine Melone mitzubringen, wenn sie während der letzten Nachmittagsstunde besonders brav wären, und tatsächlich benahmen sie sich so gesittet, dass es fast schon beunruhigend war. Auf der Heimfahrt stieg ich eine Station später als üblich aus und ging dann zu Fuß die Seven Sisters Road zurück, vorbei an den vielen Gemüseläden und -ständen. Gleich beim Ersten kaufte ich ein Pfund Kirschen, das ich auf der Stelle verspeiste. Der säuerliche Geschmack der sauberen, saftigen Früchte ließ mich an meine Kindheit auf dem Land denken. Mir war, als würde ich plötzlich wieder unter der grünen Markise sitzen und den Sonnenuntergang bewundern. Es war kurz nach fünf, und der Verkehr kam langsam zum Erliegen.

Obwohl mir heiße Autoabgase ins Gesicht schlugen, empfand ich fast so etwas wie Fröhlichkeit. Wie üblich musste ich mich durch Unmengen von Menschen kämpfen, aber an diesem Tag schienen viele von ihnen guter Laune zu sein. Die meisten waren farbenfroh gekleidet. Meine Stadtklaustrophobie nahm erheblich ab.

Ich kaufte eine Wassermelone, die die Größe eines Basketballs und das Gewicht einer Bowlingkugel besaß.

Der Verkäufer musste vier Plastiktüten ineinanderlegen, und es war praktisch unmöglich, sie auf einigermaßen elegante Art zu tragen. Ganz vorsichtig schwang ich mir die Tüte über die Schulter, katapultierte mich dabei fast auf die Straße, und schleppte die Melone wie einen Kohlensack auf dem Rücken. Bis zu meiner Wohnung waren es nur knapp dreihundert Meter, sodass ich es aller Voraussicht nach schaffen würde.

Während ich die Seven Sisters Road überquerte und in die Holloway Road einbog, starrten mich die Leute neugierig an. Sie dachten wohl, dass ich weiß Gott was im Schilde führte: eine junge blonde Frau in einem knappen Sommerkleid, vornübergebeugt unter der Last einer Einkaufstüte.

In dem Moment passierte es. Lässt sich im Nachhinein noch sagen, was ich dabei empfand? Es war ein Moment, ein Impuls, ein Schlag, und dann war es schon wieder vorbei. Den eigentlichen Hergang der Dinge konnte ich bloß rekonstruieren, indem ich das Ganze immer wieder vor meinem geistigen Auge Revue passieren ließ, verschiedenen Leuten davon erzählte und mir von verschiedenen Leuten davon erzählen ließ. Ein Bus kam auf mich zu. Als er fast auf meiner Höhe war, sprang jemand von der Plattform am Ende des Fahrzeugs. Der Bus fuhr so schnell, wie es in der Holloway Road während der Rushhour überhaupt nur möglich ist. Normale Menschen springen nicht einfach so von einem Bus, nicht einmal die Londoner, sodass ich zunächst der Meinung war, der Mann wäre leichtsinnigerweise gleich hinter dem Bus über die Straße gelaufen, aber die Geschwindigkeit, mit der er auf dem Gehsteig aufkam und die ihn fast das Gleichgewicht verlieren ließ, sagte mir, dass er aus dem Bus gesprungen sein musste.

Dann erst sah ich, dass es sich um zwei Personen handelte, die allem Anschein nach mit Riemen aneinandergebunden waren. Die hintere Person war eine Frau, etwas älter als der Mann, aber nicht wirklich alt. Im Gegensatz zu ihm verlor sie tatsächlich das Gleichgewicht.

Es war schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie sie auf dem Boden landete und sich überschlug. Ich sah ihre Füße unglaublich hoch in die Luft ragen, ehe sie gegen eine Mülltonne krachte. Ich sah es nicht bloß, ich hörte es auch.

Der Mann rappelte sich hoch. Er hatte eine Tasche in der Hand, die Tasche der Frau. Er hielt sie in Brusthöhe mit beiden Händen umklammert. Jemand schrie etwas. Der Mann sprintete los. Auf seinem Gesicht lag ein seltsames, maskenhaftes Lächeln, und sein Blick wirkte glasig. Er rannte direkt auf mich zu. Ich musste einen Satz zur Seite machen, um ihn vorbeizulassen, aber ich ließ ihn nicht vorbei. Stattdessen ließ ich die Wassermelone von meiner Schulter gleiten, lehnte mich zurück und schwang sie dem Mann entgegen. Hätte ich mich dabei nicht zurückgelehnt, wäre die Melone senkrecht nach unten gefallen und hätte mich mit zu Boden gerissen. So aber schwang sie kreisförmig um mich herum. Hätte sie ihre Kreisbewegung fortgesetzt, hätte ich bestimmt schnell die Kontrolle über sie verloren, aber ihr Flug fand ein jähes Ende, als sie den Mann voll in den Magen traf.

Es heißt, dass jede Art von Schläger die optimale Schlagstelle besitzt. Wenn ich als Kind Federball spielte, landete der Ball meist irgendwo am Rand des Schlägers und sprang jämmerlich zur Seite weg. Hin und wieder aber traf er genau die richtige Stelle und flog pfeilschnell zum Gegner zurück, ohne dass ich mich groß anstrengen musste. Auch bei Kricketschlägern gibt es die genau richtige Stelle, ebenso wie bei Tennis- und Baseballschlägern. Und dieser Handtaschendieb erwischte meine Wassermelone an der genau richtigen Stelle, exakt am perfekten Punkt ihrer Rundung. Mit einem erstaunlich dumpfen Geräusch knallte sie in seinen Magen. Dann stieß er zischend die Luft aus und ging zu Boden, als würde in seiner Kleidung plötzlich kein Körper mehr stecken. Es sah aus, als würden seine Sachen versuchen, sich auf dem Asphalt selbstständig zusammenzufalten.

Er ging nicht zu Boden wie ein gefällter Baum, sondern wie ein großes Gebäude, das nahe am Fundament durch Sprengstoff zum Einstürzen gebracht wird. Erst steht es noch in voller Größe da, und ein paar Sekunden später sind nur noch Staub und Geröll übrig.

Ich hatte keinerlei Plan für den Fall, dass der Mann aufstehen und auf mich losgehen würde. Meine Wassermelone ließ sich nicht nachladen. Aber der Typ war gar nicht in der Lage aufzustehen. Nachdem er ein paar schwache Versuche unternommen hatte, sich mit den Armen hochzustemmen, war er bereits von einer Menschenmenge umringt, sodass ich ihn nicht mehr sehen konnte. Da fiel mir die Frau wieder ein. Ein paar Leute stellten sich mir in den Weg und wollten mich ansprechen, aber ich schob mich an ihnen vorbei. Ich fühlte mich benommen und seltsam euphorisch. Am liebsten hätte ich gelacht oder wild drauflos gequasselt, aber der Zustand der Frau hatte nichts Lustiges an sich. Sie lag verdreht und in sich zusammengesunken mit dem Gesicht nach unten auf dem Gehsteig. Auf dem Boden war ziemlich viel Blut, das sehr dunkel und dick aussah. Einen Moment lang dachte ich, sie sei tot, aber dann bemerkte ich das seltsame Zucken ihres Beins. Sie trug ein schickes Kostüm mit einem ziemlich kurzen grauen Rock. Plötzlich stellte ich mir vor, wie sie an diesem Morgen gefrühstückt hatte und zur Arbeit gefahren war. Wie sie sich nach der Arbeit auf den Heimweg gemacht und vielleicht schon Pläne für den Abend geschmiedet hatte, und dann passierte plötzlich so was und veränderte ihr ganzes Leben. Warum hatte sie die blöde Tasche nicht einfach losgelassen? Vielleicht hatte sich ihr Arm im Riemen verfangen.

Die Leute standen um sie herum und sahen sich unbehaglich an. Uns allen wäre es am liebsten gewesen, irgendjemand Offizielles – ein Arzt, ein Polizist oder sonst jemand in Uniform – wäre vorgetreten, um die Sache in die Hand zu nehmen, aber da war niemand.

»Ist denn kein Arzt hier?«, fragte eine alte Frau neben mir.

Verdammter Mist. Ich hatte im zweiten Semester meiner Lehrerinnenausbildung einen zweitägigen Erstehilfekurs absolviert.

Also trat ich vor und kniete mich neben die Frau. Rund um mich herum ließ die allgemeine Anspannung spürbar nach. Ich wusste höchstens, wie man Kleinkindern Medikamente verabreichte, ansonsten aber konnte ich mich an nichts Brauchbares erinnern, außer an eine der Grundregeln: »Im Zweifelsfall gar nichts tun.«

Die Frau war bewusstlos. Gesicht und Mund waren blutverschmiert. Noch etwas fiel mir wieder ein. »Die stabile Seitenlage.« So sanft ich konnte, drehte ich ihr Gesicht zu mir herum. Hinter mir schnappten die Leute nach Luft oder schrien entsetzt auf.

»Hat schon jemand einen Krankenwagen gerufen?«, fragte ich.

»Ja, auf meinem Handy«, antwortete eine Stimme.

Ich holte tief Luft und schob meine Finger in den Mund der Frau. Sie hatte rotes Haar und sehr helle Haut. Sie war jünger, als ich zunächst gedacht hatte, und in normalem Zustand wohl ziemlich schön. Einen Moment lang fragte ich mich, welche Farbe die Augen hinter ihren geschlossenen Lidern hatten. Dann begann ich, das gestockte Blut aus ihrem Mund zu entfernen. Als mein Blick auf meine Hand fiel, entdeckte ich dort einen Zahn oder zumindest ein Stück davon. Aus der Kehle der Frau drang ein Stöhnen, gefolgt von einem Hustenanfall.

Wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Ganz in unserer Nähe hörte ich eine laute Sirene. Als ich hochschaute, wurde ich bereits von einem Mann in Uniform beiseite geschoben.

Das war mir nur recht.

Mit der linken Hand bekam ich in meiner Tasche ein Papiertaschentuch zu fassen und wischte damit sorgfältig das Blut von meinen Fingern. Meine Melone. Sie war mir abhanden gekommen. Entschlossen machte ich kehrt, um nach ihr zu suchen. Der Handtaschendieb hatte sich inzwischen aufgesetzt. Zwei Polizeibeamte, ein Mann und eine Frau, sahen auf ihn hinunter. Mein Blick fiel auf die blaue Plastiktüte.

»Die gehört mir«, sagte ich, während ich danach griff.

»Ich habe sie fallen lassen.«

»Die war es«, sagte eine Stimme. »Sie hat ihn aufgehalten.«

»Regelrecht k.o. geschlagen hat sie ihn«, sagte jemand anderer, und eine daneben stehende Frau lachte.

Der Mann starrte zu mir hoch. Ich hatte damit gerechnet, dass er mich hasserfüllt anstarren würde, aber sein Blick wirkte bloß verblüfft.

»Stimmt das?«, fragte die Polizeibeamtin, die mich leicht skeptisch musterte.

»Ja«, antwortete ich vorsichtig. »Aber ich muss jetzt wirklich gehen.«

Ihr männlicher Kollege trat vor. »Vorher brauchen wir noch ein paar Einzelheiten, meine Liebe.«

»Was wollen Sie denn wissen?«

Er zog ein Notizbuch heraus. »Erst mal Ihren Namen und Ihre Adresse.«

Was dann kam, war ziemlich seltsam. Wie sich herausstellte, stand ich stärker unter Schock, als mir bewusst gewesen war. An meinen Namen konnte ich mich immerhin noch erinnern, auch wenn mich selbst das gewisse Mühe kostete, aber meine Adresse wollte mir einfach nicht mehr einfallen, und das, obwohl mir die verdammte Wohnung selbst gehörte und ich schon seit achtzehn Monaten dort wohnte. Ich musste meinen Terminplaner aus der Tasche holen und ihnen die Adresse vorlesen. Dabei zitterte meine Hand so sehr, dass ich die Worte kaum entziffern konnte. Sie müssen mich für verrückt gehalten haben.

2. KAPITEL

ch war auf der Anwesenheitsliste beim Buchstaben E

angelang

I

t: E für Damian Everatt, einem mageren kleinen Jungen mit einer riesigen, auf einer Seite von Klebeband zusammengehaltenen Brille, wachsigen Ohren, einem ängstlichen Mund voller Zahnlücken und aufgeschürften Knien, die daher rührten, dass ihn die anderen Jungs auf dem Spielplatz immer herumschubsten.

»Ja, Miss«, flüsterte er. In dem Moment schob Pauline Douglas den Kopf durch die bereits offene Klassenzimmertür.

»Kann ich Sie kurz sprechen, Zoë?«, fragte sie. Ich stand auf, strich mir nervös das Kleid glatt und ging zu ihr hinüber. Obwohl auf dem Gang angenehmer Durchzug herrschte, lief eine Schweißperle über Paulines sorgfältig gepudertes Gesicht, und ihr grau meliertes Haar, das normalerweise tipptopp saß, klebte ihr feucht an den Schläfen. »Mich hat gerade ein Journalist der Gazette angerufen.«

»Der Gazette

»Ein Lokalblatt. Sie wollen mit Ihnen über Ihre Heldentat sprechen.«

»Wie bitte? Ach, das. Es ist –«

»Der Reporter hat irgendwas von einer Melone erwähnt.«

»Ach ja, wissen Sie –«

»Sie wollen auch einen Fotografen mitschicken. Ruhe!«

Letzteres galt den Kindern, die hinter uns auf dem Boden herumalberten.

»Tut mir Leid, dass die Leute Sie belästigt haben.

Wimmeln Sie sie einfach ab.«

»Ganz im Gegenteil«, entgegnete Pauline in bestimmtem Ton.

»Ich habe mit ihnen vereinbart, dass sie um halb elf, während der Pause, vorbeikommen sollen.«

»Meinen Sie wirklich?« Ich sah sie zweifelnd an.

»Das Ganze könnte eine gute Werbung für uns sein.« Sie warf einen Blick über meine Schulter. »Ist sie das?«

Ich wandte mich zu der großen grün gestreiften Frucht um, die ganz unschuldig auf dem Regal hinter uns thronte.

»Ja, das ist sie.«

»Sie sind offenbar kräftiger, als Sie aussehen. Also dann, bis später.«

Ich setzte mich wieder an meinen Platz und griff nach der Anwesenheitsliste.

»Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja. Kadijah.«

»Ja, Miss.«

Der Journalist war mittleren Alters, ein kleiner, fetter Mann, dem die Haare nicht nur aus den Nasenlöchern, sondern sogar hinten aus dem Hemdkragen quollen. Ich hatte seinen Namen nicht ganz mitbekommen, was insofern ein bisschen peinlich war, weil er mich ständig mit dem Namen ansprach. Bob Irgendwas, glaube ich. Er hatte ein dunkelrotes Gesicht und große Schweißflecken unter den Armen. Während er kleine Stenofetzen in ein abgegriffenes Notizbuch schrieb, rutschte seine plumpe Faust immer wieder am Stift ab. Der Fotograf, der ihn begleitete, sah aus wie siebzehn: Er hatte kurz geschorenes dunkles Haar, einen Ring im Ohr und trug eine so enge Jeans, dass ich jedes Mal, wenn er sich mit seiner Kamera auf den Boden kauerte, Angst bekam, dass sie gleich platzen würde. Während Bob mir seine Fragen stellte, wanderte der Fotograf im Klassenzimmer umher und betrachtete mich durch sein Kameraobjektiv aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Bevor die beiden eingetroffen waren, hatte ich noch schnell mein Haar in Ordnung gebracht und ein wenig Make-up aufgelegt.

Louise hatte darauf bestanden und mich in die Lehrerinnentoilette geschoben, wohin sie mir mit einer Bürste in der Hand gefolgt war. Nun bereute ich, dass ich mir nicht mehr Mühe gegeben hatte. In meinem alten cremefarbenen Kleid mit dem schiefen Saum fühlte ich mich vor den beiden Männern ziemlich unbehaglich.

»Welche Gedanken gingen Ihnen durch den Kopf, bevor Sie beschlossen, mit der Melone auf ihn loszugehen?«

»Ich habe es einfach getan. Ohne nachzudenken.«

»Dann hatten Sie also keine Angst?«

»Nein. Dazu blieb mir gar keine Zeit.«

Er kritzelte meine Antworten in sein Notizbuch.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er sich klügere, amüsantere Kommentare von mir erwartet hatte.

»Wo kommen Sie her? Für ein blondes Mädchen wie Sie ist Haratounian ein ungewöhnlicher Name.«

»Aus einem Dorf in der Nähe von Sheffield.«

»Dann sind Sie also neu in London.« Er wartete nicht auf meine Antwort. »Und Sie unterrichten die ganz Kleinen, richtig?«

»Ja, die so genannte Anfängerklasse.«

»Wie alt sind Sie?«

»Dreiundzwanzig.«

»Mmm.« Er betrachtete mich mit dem prüfenden Blick eines Bauern, der auf einer Viehauktion ein nicht sehr viel versprechendes Tier in Augenschein nimmt. »Wie viel wiegen Sie?«

»Was? Knapp fünfzig Kilo, glaube ich.«

»Fünfzig Kilo«, wiederholte er und lachte in sich hinein.

»Phantastisch. Und der Typ war ein richtiger Schrank, nicht wahr?« Er saugte an seinem Stift. »Glauben Sie, unsere Gesellschaft wäre menschlicher, wenn sich jeder so engagieren würde wie Sie?«

»Na ja, vielleicht, ich weiß auch nicht …« Ich versuchte krampfhaft, einen zusammenhängenden Satz zu Stande zu bringen. »Ich meine, was, wenn die Melone ihr Ziel verfehlt oder jemand anderen getroffen hätte?«

Zoë Haratounian, die Sprecherin der sprachlosen Jugend.

Der Journalist runzelte die Stirn und machte sich nicht mal die Mühe, so zu tun, als würde er sich meine Worte notieren.

»Wie fühlt man sich als Heldin?«

Bis dahin hatte ich das alles irgendwie amüsant gefunden, aber allmählich begann es mich zu nerven.

Natürlich gelang es mir nicht, das in einigermaßen sinnvolle Worte zu fassen. »Es ist einfach passiert«, erklärte ich. »Ich möchte mich deswegen nicht auf irgendein Podest heben. Wissen Sie, ob es der Frau, die von dem Kerl überfallen worden ist, schon wieder besser geht?«

»Ja, sie hat nur ein paar gebrochene Rippen, und ein paar neue Zähne wird sie wohl auch brauchen.«

»Ich glaube, wir nehmen sie mit der Melone auf«, meldete sich der jugendliche Fotograf zu Wort.

»Ja, die Story hätten wir«, sagte Bob und nickte.

Er hob die Frucht aus dem Regal und wankte damit zu uns herüber. »Nicht schlecht«, meinte er, als er sie mir auf den Schoß legte. »Kein Wunder, dass Sie ihn bewusstlos geschlagen haben. So, und jetzt sehen Sie mich an. Das Kinn ein bisschen höher. Immer schön lächeln, meine Liebe! Sie haben schließlich gewonnen, nicht wahr?

Wunderbar!«

Ich lächelte, bis mir das Gesicht wehtat. Durch die Tür sah ich Louise zu uns hereinspähen und wie wild grinsen.

Am liebsten hätte ich losgeprustet.

Als Nächstes wollte er die Melone und mich zusammen mit den Kindern fotografieren. Ich mimte das strenge viktorianische Schulfräulein. Der Fotograf schlug vor, ich solle die Melone aufschneiden. Ihr fasriges Inneres hatte einen dunklen, satten Rosaton, der zum Rand hin blasser wurde, war von glänzenden schwarzen Kernen durchsetzt und verströmte ein frisches Aroma. Ich teilte sie in zweiunddreißig Portionen auf: eine für jedes Kind und eine für mich. Mit je einem Melonenstück in der Hand standen meine Schüler auf dem glühend heißen Asphaltspielplatz um mich herum und lächelten für die Kamera. Und jetzt alle zusammen. Eins, zwei, drei, Cheese!

Das Lokalblatt erschien am Freitag, mit einem riesigen Foto von mir auf der Titelseite. Es zeigte mich umringt von Kindern und Melonenscheiben. »Die Melonenheldin!«, lautete die Schlagzeile. Nicht besonders originell. Daryl hatte einen Finger in der Nase, und Roses Rock steckte in ihrer Unterhose, aber ansonsten war es in Ordnung. Pauline schien zufrieden. Sie hängte den Artikel an das schwarze Brett in der Eingangshalle, wo ihn die Kinder ziemlich schnell zerfetzten, und eröffnete mir dann, eine große Zeitung habe angerufen und wolle ebenfalls einen Artikel über die Geschichte bringen. Sie hatte provisorisch bereits einen weiteren Interview- und Fototermin während der Pause vereinbart, und erteilte mir die Erlaubnis, der Lehrerversammlung fernzubleiben.

Natürlich nur, wenn mir das recht sei. Außerdem hatte sie die Schulsekretärin gebeten, eine weitere Melone zu besorgen.

Ich ging davon aus, dass die Sache damit ein Ende haben würde. Es verwirrte mich, welche Eigendynamik eine solche Geschichte entwickeln konnte. Ich erkannte die Frau kaum wieder, die am nächsten Tag mit einer riesigen Wassermelone im Arm auf einer Innenseite der Daily Mail zu sehen war und über deren Foto eine dicke Schlagzeile prangte. Mit ihrem vorsichtigen Lächeln und dem hellen Haar, das sie sich ordentlich hinter die Ohren geschoben hatte, sah sie mir überhaupt nicht ähnlich, und ihre Äußerungen klangen erst recht nicht nach mir. Gab es auf der Welt denn nicht genügend echte Nachrichten? Auf der nächsten Seite stand ganz unten ein sehr kleiner Artikel über ein Busunglück in Kaschmir: Der Bus war von einer Brücke gestürzt und hatte dabei eine große Zahl von Menschen in den Tod gerissen. Vielleicht hätten sie dem Unglück mehr Platz eingeräumt, wenn eine blonde, dreiundzwanzigjährige britische Lehrerin an Bord gewesen wäre.

»Blödsinn!«, meinte Fred, als ich ein paar Stunden später diese Vermutung äußerte. Wir genehmigten uns gerade eine Portion essigdurchweichte Pommes, nachdem wir zuvor in einem Film gewesen waren, in dem mit beachtlichen Bizepsen ausgestattete Männer einander mit Kinnhaken traktiert hatten. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Du hast dich wirklich wie eine Heldin verhalten. Du hattest einen Sekundenbruchteil Zeit, dich zu entscheiden, und du hast die richtige Entscheidung getroffen.« Er berührte mit seiner schlanken, schwieligen Hand mein Kinn. Ich hatte den Eindruck, dass er statt meiner die Frau mit dem schmalzigen kleinen Lächeln aus der Zeitung vor sich sah. Er küsste mich. »Manche Leute werden zu Helden, indem sie sich auf eine Granate werfen. Du hast es mit einer Wassermelone geschafft, das ist der einzige Unterschied. Lass uns zu dir gehen, ja? Es ist noch gar nicht spät.«

»Ich hab einen ganzen Stapel Hausaufgaben zu korrigieren.«

»Bloß ein Stündchen.«

Er kippte den Rest unserer Pommes in eine bereits überquellende Tonne, wich einem Haufen Hundescheiße mitten auf dem Gehsteig aus und legte seinen langen Arm um meine Schulter. Obwohl die ganze Stadt nach Abgasen, Kebab und Pommesfett stank, stieg mir Freds typischer Geruch nach Zigaretten und frisch gemähtem Gras in die Nase. Er hatte die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt, sodass ich seine zerkratzten, aber schön gebräunten Unterarme sehen konnte. Ein paar Strähnen seines hellen Haars hingen ihm über die Augen. Trotz der schwülen Hitze des Abends fühlte er sich angenehm kühl an. Ich konnte nicht widerstehen.

Fred war mein neuer Freund, oder zumindest meine neue Liaison. Vielleicht waren wir gerade am perfekten Zeitpunkt angelangt. Die schwierige, peinliche erste Phase hatten wir bereits hinter uns: die Phase, in der man sich vorkommt wie ein Komiker, der vor ein anspruchsvolles Publikum tritt und verzweifelt auf dessen Lachen und Applaus hofft. Bloß, dass Lachen in diesem Fall das Letzte war, was man gebrauchen konnte. Andererseits waren wir noch weit von der Phase entfernt, in der man in der Wohnung herumläuft und nicht mal mehr registriert, dass der andere nichts anhat.

Fred hatte den Großteil des Jahres als Gärtner gearbeitet und war dadurch drahtig und sehnig geworden. Man konnte das Spiel der Muskeln unter seiner Haut sehen. An den Unterarmen, am Hals und im Gesicht war er braun gebrannt, aber Brust und Bauch hatten eine blasse, fast milchweiße Farbe.

Wir waren auch noch nicht in die Phase eingetreten, in der jeder einfach seine Sachen auszieht, ordentlich zusammenfaltet und dann routinemäßig über einen Stuhl legt. Als wir in meiner Wohnung ankamen – aus irgendeinem Grund landeten wir immer in meiner Wohnung –, hatten wir es nach wie vor ziemlich eilig, einander in die Finger zu kriegen. Verglichen damit, erschien alles andere nicht mehr so wichtig. Wenn meine Schüler beim Nachmittagsunterricht besonders zappelig waren und mich die Hitze müde und lustlos machte, dachte ich manchmal an Fred und den vor uns liegenden Abend, was meine Stimmung sofort besserte.

Hinterher zündeten wir uns eine Zigarette an. Während wir in dem kleinen Schlafzimmer lagen und Musik hörten, hupten unten auf der Straße die Autos. Jemand schrie: »Du miese Schlampe, das zahl ich dir heim!« Wir lauschten den Schritten auf dem Gehsteig. Irgendwo kreischte eine Frau. Ich hatte mich inzwischen mehr oder weniger an solche Geräusche gewöhnt. Zumindest hielt es mich nachts nicht mehr vom Schlafen ab.

Fred schaltete die Nachttischlampe an und erhellte damit die ganze triste, schäbige Hässlichkeit meiner Wohnung.

Wie hatte ich sie bloß kaufen können, und wie sollte ich es jemals schaffen, sie wieder loszuwerden? Ich hatte versucht, sie ein wenig schöner zu gestalten – die billigen orangenfarbenen Vorhänge ausgemustert, die mir der Vorbesitzer zurückgelassen hatte, einen Teppich über die schmuddeligen Dielenbretter gelegt, Tapeten über den beigen Raufaserverputz geklebt, die abgeblätterten Fensterrahmen gestrichen und die Wände mit Spiegeln und Drucken geschmückt –, aber keine noch so geschickte Raumgestaltung konnte kaschieren, wie eng und dunkel alles war. Irgendein Makler hatte den ohnehin schon knapp bemessenen Raum noch weiter zerstückelt, um dieses Loch von einer Wohnung zu schaffen. Das Fenster im so genannten Wohnzimmer war durch die Trennwand zweigeteilt, und auf der anderen Seite hörte ich manchmal einen Nachbarn, den ich nie zu Gesicht bekommen hatte, Obszönitäten schreien, die einer armen Frau galten. Aus lauter Kummer, Einsamkeit und dem Bedürfnis nach einem Ort, den ich mein Zuhause nennen konnte, hatte ich das ganze Geld, das mir mein Vater hinterlassen hatte, für diese Wohnung ausgegeben. Dabei hatte sie sich nie wirklich wie ein Zuhause angefühlt, und nun, da die Immobilienpreise in Schwindel erregende Höhen geschossen waren, brachte ich sie nicht mehr los. Bei diesem Wetter hätte ich jeden Tag die Fenster putzen können, und sie wären abends trotzdem schon wieder schmutzig gewesen.

»Ich mache uns eine Tasse Tee«, meinte Fred.

»Ich habe keine Milch mehr.«

»Hast du Bier im Kühlschrank?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Nein.«

»Was hast du denn?«

»Müsli, glaube ich.«

»Was hilft einem Müsli, wenn man keine Milch hat?«

Das war eher eine Feststellung als eine Frage. Die geschäftsmäßige Art, mit der er in seine Hose schlüpfte, kannte ich bereits. Gleich würde er mir ein Küsschen auf die Wange drücken und gehen. Zweck des Besuchs erledigt.

»Als Snack ist es ganz in Ordnung«, antwortete ich vage.

»Wie Chips.«

Ich musste an die Frau denken, die der Handtaschendieb überfallen hatte – die Art, wie ihr Körper durch die Luft geflogen war: wie eine zerbrochene Puppe, die jemand aus dem Fenster geschleudert hatte.

»Morgen«, sagte er.

»Ja.«

»Mit den Jungs.«

»Aber klar doch.«

Ich setzte mich im Bett auf und betrachtete den Stapel Hausaufgaben, den ich noch korrigieren musste.

»Schlaf gut. Hier liegen übrigens ein paar Briefe, die du noch nicht aufgemacht hast.«

Das erste war eine Rechnung. Nachdem ich einen Blick darauf geworfen hatte, legte ich sie auf den Tisch zu den anderen Rechnungen. Das andere war ein Brief, verfasst in einer großen, schwungvollen Schrift: Liebe Miss Haratounian, aus Ihrem Namen schließe ich, dass Sie keine gebürtige Engländerin sind, auch wenn Sie auf den Fotos, die ich gesehen habe, ziemlich englisch aussehen. Selbstverständlich bin ich kein Rassist und zähle zu meinen Freunden viele wie Sie, aber …

Ich legte den Brief auf den Tisch und rieb mir die Schläfen. Verdammt. Ein Verrückter. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

3. KAPITEL

ch wurde von der Türklingel geweckt. Erst dachte ich, dass sich jem

I

and einen Scherz erlaubte oder ein

Betrunkener die Haustür mit dem Eingang seiner Unterkunft verwechselt hatte. Ich zog im vorderen Zimmer die Vorhänge ein wenig auseinander und drückte mein Gesicht gegen die Scheibe, aber der Winkel reichte nicht. Ein rascher Blick auf die Uhr sagte mir, dass es erst kurz nach sieben war. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer mich um diese Zeit besuchen sollte.

Da ich nichts anhatte, schlüpfte ich schnell in meinen knallgelben Plastikregenmantel, bevor ich nach unten ging.

Ich machte die Tür nur einen Spalt weit auf. Der Vordereingang des Gebäudes geht direkt auf die Holloway Road hinaus, und ich wollte mit meinem Aussehen am frühen Morgen nicht den Verkehr zum Erliegen bringen.

Zu meinem Entsetzen war es der Postbote. Wenn der Postbote einem die Post persönlich überreichen möchte, ist das in der Regel kein gutes Zeichen. Meist will er dann, dass man eine Bestätigung über den Erhalt einer schrecklichen, ganz in Rot gedruckten Rechnung unterschreibt, in der sie damit drohen, einem das Telefon abzuschalten.

Wider Erwarten machte er einen recht fröhlichen Eindruck. Draußen schien es noch einigermaßen kühl zu sein, obwohl der Tag bestimmt wieder sehr heiß werden würde. Diesen Postboten kannte ich noch nicht, sodass ich nicht sagen konnte, ob er schon länger so herumlief oder ob sein Outfit neu war. Jedenfalls trug er recht kleidsame blaue Shorts und ein frisches hellblaues Kurzarmhemd.

Offenbar handelte es sich dabei um die offizielle Sommerkleidung, aber bei ihm sah es richtig flott aus. Er war nicht mehr ganz jung, hatte aber etwas von einem Baywatch- Postboten , Deswegen machte ich die Tür etwas weiter auf und betrachtete ihn mit einem interessierten Blick, den er mit einer gewissen Neugier erwiderte. Mir wurde bewusst, dass mein Regenmantel ziemlich knapp saß und in der Mitte ein wenig auseinanderklaffte. Ich zog ihn fester um meinen Körper, was die Sache nur noch schlimmer machte. Allmählich kam mir das Ganze vor wie eine Szene aus einer dieser schmierigen britischen Sexkomödien aus den frühen Siebzigern, die manchmal am Freitag Abend laufen, wenn man nach dem Pubbesuch noch den Fernseher einschaltet. Pornos für arme Schweine.

»Wohnung C?«

»Ja.«

»Post für Sie«, sagte er. »Es passt nicht alles durch den Briefschlitz.«

Da hatte er allerdings Recht. Er war mit Unmengen von unterschiedlich großen Umschlägen beladen, die zu mehreren Stapeln gebündelt und von Gummis zusammengehalten wurden. Erlaubte sich da jemand einen Scherz mit mir? Es war gar nicht so leicht, die vielen Bündel mit einem Arm entgegenzunehmen und gleichzeitig mit dem anderen den Regenmantel zuzuhalten.

»Darf man zum Geburtstag gratulieren?«, fragte er augenzwinkernd.

»Nein«, antwortete ich und schob die Tür mit meinem nackten Fuß zu.

Ich trug die Briefe nach oben und kippte sie auf den Wohnzimmertisch. Als Erstes griff ich nach einem fliederfarbenen Umschlag und riss ihn auf, wusste aber eigentlich schon vorher, worum es sich handelte. Dank meinem Urgroßvater oder Ururgroßvater, der vor hundert Jahren mit nichts als einem Joghurtrezept aus Armenien ausgewandert ist, bin ich im Telefonbuch sehr leicht zu finden. Hätte er nicht wie die meisten anderen Einwanderer seinen Namen ändern können? Ich las den Brief.

Liebe Zoë Haratounian,

heute Morgen habe ich in der Zeitung von Ihrer Heldentat gelesen. Gestatten Sie mir bitte, Ihnen als Erstes zu dem Mut zu gratulieren, den Sie bewiesen haben, indem Sie auf diesen Menschen losgegangen sind. Wenn ich Ihre Geduld noch ein wenig länger in Anspruch nehmen darf …

Ich überflog die Seite und blätterte um. Insgesamt waren es fünf Briefbogen, und Janet Eagleton (Mrs.) hatte jeweils beide Seiten des Blattes mit grüner Tinte beschrieben. Ich beschloss, mir diesen Brief für später aufzusparen, und öffnete stattdessen einen Umschlag, der einen normaleren Eindruck machte.

Liebe Zoë,

herzlichen Glückwunsch. Sie haben sich großartig verhalten, und wenn mehr Leute so handeln würden wie Sie, dann wäre London ein Ort, an dem es sich besser leben ließe. Außerdem fand ich Sie auf dem Zeitungsfoto sehr hübsch, und das ist der eigentliche Grund, warum ich Ihnen schreibe. Mein Name ist James Gunter, ich bin fünfundzwanzig, und ich glaube, ich sehe recht passabel aus, aber es ist mir bisher nicht gelungen, das richtige Mädchen kennen zu lernen, Miss »Right«, wenn Sie so wollen …

Ich faltete den Brief zusammen, legte ihn auf den von Mrs. Eagleton und öffnete einen anderen Brief, der eher aussah wie ein Päckchen. In dem Umschlag steckte ein Bündel von Blättern, die halb gefaltet, halb zusammengerollt waren. Ich sah Diagramme, Pfeile, spaltenförmig angeordneten Text. Immerhin begann das Ganze auf der ersten Seite wie ein an mich gerichteter Brief.

Liebe Miss Haratounian!

(Ein interessanter Name. Sind Sie vielleicht eine Nachfahrin Zarathustras? Lassen Sie es mich wissen!

[Postfachanschrift siehe unten.] Ich werde weiter unten noch genauer auf dieses Thema [Zarathustra] zu sprechen kommen.) Sie sind in der Lage, sich gegen die Mächte der Dunkelheit zu wehren, aber wie Sie sicher wissen, gibt es andere Mächte, denen man nicht so leicht widerstehen kann. Wissen Sie, was das englische Wort

»kunderbuffer« bedeutet? Wenn ja, können Sie das Folgende überspringen und mit einem Abschnitt beginnen, den ich aus Gründen der Übersichtlichkeit mit einem Sternchen versehen werde. Anbei eines zu Demonstrationszwecken (*). Den als markiert angekündigten Abschnitt werde ich nun mit zwei (2) Sternchen versehen, um unnötige Verwirrung zu vermeiden.

Nachdem ich den Brief auf den von James Gunter gelegt hatte, ging ich ins Bad und wusch mir die Hände, was aber nicht viel half. Ich brauchte eine Dusche. Leider war meine Wohnung in dieser Hinsicht ebenfalls beschissen ausgestattet. Eigentlich mochte ich nämlich Duschen mit Türen aus mattiertem Glas, in denen man aufrecht stehen konnte. Ich war mal mit einem Typen zusammen gewesen, dessen einzig positive Eigenschaft im Nachhinein betrachtet darin bestanden hatte, dass er im Besitz einer Powerdusche mit sechs verschiedenen Düsen war, von der normalen über dem Kopf mal ganz abgesehen. In meiner Wohnung dagegen bedeutete Duschen, dass man sich in die Badewanne kauern und mit uralten, ausgeleierten Wasserhähnen herumärgern musste oder im Eifer des Gefechts den Duschschlauch so sehr verdrehte, dass kein Wasser mehr kam. Trotzdem legte ich mich mehrere Minuten mit einem Waschlappen über dem Gesicht in die Wanne und ließ Wasser einlaufen. Es war, als würde ich unter einer warmen, nassen Decke liegen.

Hinterher schlüpfte ich in meine Arbeitsklamotten, machte mir eine Tasse Kaffee und zündete mir eine Zigarette an. Es ging mir schon ein bisschen besser. Viel besser wäre es mir gegangen, wenn sich der Stapel mit den Briefen inzwischen in Luft aufgelöst hätte, aber er lag noch immer auf dem Tisch. All diese Leute wussten, wo ich wohnte. Na ja, nicht alle. Bei einer weiteren schnellen Durchsicht der Briefe stellte sich heraus, dass sie zum Teil von den Zeitungen, an welche die Absender sie ursprünglich geschickt hatten, an mich weitergeleitet worden waren. Wenigstens beschränkten die Leute sich aufs Schreiben, dachte ich, anstatt mich anzurufen oder gar bei mir vorbeizuschauen.

In dem Moment klingelte das Telefon. Ich zuckte erschrocken zusammen. Zu meiner großen Erleichterung war es kein Fan, sondern Guy, der Immobilienmakler, der angeblich versuchte, meine Wohnung zu verkaufen.

»Ein paar Leute möchten sich die Wohnung ansehen.«

»Schön«, sagte ich. »Sie haben ja den Schlüssel. Was ist mit dem Paar, das am Montag hier war?« Ich hatte mir in ihrem Fall keine wirklichen Hoffnungen gemacht. Der Typ hatte ziemlich grimmig gewirkt, während die Frau sich nett mit mir unterhielt, wenn auch nicht über die Wohnung.

»Sie waren von der Lage nicht so angetan«, antwortete Guy in forsch-fröhlichem Ton. »Außerdem fanden sie die Wohnung ein bisschen zu klein. Und sie meinten, sie müssten zu viel Arbeit reinstecken. Insgesamt waren sie nicht so begeistert.«

»Die Leute heute sollten nicht allzu spät kommen. Ich habe ein paar Freunde auf einen Drink eingeladen.«

»Was gibt es denn zu feiern? Ihren Geburtstag?«

Ich holte tief Luft. »Wollen Sie das wirklich wissen, Guy?«

»Na ja …«

»Ich feiere ein Fest, weil diese Wohnung nun schon geschlagene sechs Monate zum Verkauf steht.«

»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«

»O doch!«

»Es kommt mir gar nicht vor wie sechs Monate.«

Es dauerte eine Weile, bis ich ihn davon überzeugt hatte, dass dem tatsächlich so war. Nachdem wir unser Gespräch beendet hatten, blickte ich mich ziemlich verzweifelt um.

Wildfremde Menschen würden vorbeikommen und sich diesen Raum ansehen. Als ich nach London gezogen war, hatte mir meine Tante ein Buch geschenkt, Praktische Tipps für Heim und Haushalt. Es enthielt unter anderem Ratschläge, wie man seine Wohnung in nur fünfzehn Minuten aufräumte. Aber was, wenn man bloß eine Minute zur Verfügung hatte? Ich machte mein Bett, rückte den Teppich vor der Tür gerade, spülte meine Kaffeetasse aus und stellte sie ordentlich mit der Öffnung nach unten auf das Abtropfbrett. Dann zog ich aus einem Schrank eine Pappschachtel heraus, kippte die ganzen Briefe hinein und schob sie unters Bett. Das alles dauerte eineinhalb Minuten, was bedeutete, dass ich mal wieder zu spät in die Schule kommen würde. Zu spät und schweißgebadet.

Dabei fing der Tag doch gerade erst an, heiß zu werden.

»So, meine Liebe, was können wir tun, damit du deine Behausung schneller an den Mann bringst?«

Louise stand mit einer Bierflasche am Fenster und gestikulierte mit ihrer Zigarette auf die Holloway Road hinaus.

»Das ist ganz einfach«, antwortete ich. »Als Erstes muss die Straße weg, dann das Pub und das Kebab House.

Anschließend wird renoviert. Es ist eine fürchterliche Wohnung, oder? Ich habe sie von Anfang an gehasst, kaum dass sie mir gehört hat, und selbst wenn ich dabei Geld verliere, ich muss hier endlich raus. Ich möchte mir eine gemütliche kleine Wohnung mit einem Garten kaufen, irgendwas in der Art. Angeblich befinden wir uns ja gerade mitten in einem Immobilienboom. Da muss es da draußen doch irgendeinen Irren geben, der dieses Loch hier haben möchte.« Ich zog an meiner Zigarette.

»Zugegeben, es waren schon eine Menge Irre da, die sie sich angesehen haben. Jetzt muss ich nur noch die richtige Sorte Irren finden.«

Louise lachte. Sie war ein bisschen früher gekommen, um mir bei den Vorbereitungen zu helfen und dabei mal wieder so richtig zu plaudern. Sie war einfach ein lieber Kerl.

»Aber ich bin nicht so weit gefahren, um mit dir über Immobilien zu reden. Erzähl mir von dem neuen Mann in deinem Leben. Kommt er heute?«

»Sie kommen alle.«

»Was meinst du mit alle? Hast du denn mehr als einen?«

Ich kicherte.

»Nein, aber er zieht mit einer ganzen Gang von Freunden rum. Ich glaube, sie kennen sich schon seit der ersten Klasse, wenn nicht gar seit dem Kindergarten. Sie sind wie ein Six-Pack Bier. Du weißt schon, nicht einzeln erhältlich.«

Louise runzelte die Stirn.

»Wir sprechen hier aber nicht zufällig von einem flotten Fünfer oder irgend so was Seltsamem? Falls doch, möchte ich sämtliche Details wissen.«

»Nein, hin und wieder lassen sie uns allein.«

»Wie habt ihr euch kennen gelernt?«

Ich zündete mir eine neue Zigarette an.

»Ich habe sie alle zusammen kennen gelernt. Vor ein paar Wochen, auf einer Party drüben in Shoreditch. Das Ganze war eine dieser klassischen Katastrophen. Wie sich nämlich herausstellte, war der einzige Typ, den ich kannte, nicht da. Deswegen wanderte ich mit meinem Drink von Raum zu Raum und tat so, als wäre ich unterwegs zu einem unheimlich wichtigen Gespräch. Du weißt, wovon ich rede?«

»In dieser Disziplin bin ich Weltmeisterin«, antwortete Louise.

»Jedenfalls ging ich nach oben in den ersten Stock, wo ich auf eine Gruppe von gut aussehenden jungen Männern stieß, die auf einen Flipperautomaten einhämmerten und sich dabei köstlich amüsierten. Einer von ihnen – nicht Fred – fragte mich, ob ich mitspielen wolle. Also spielte ich mit. Wir hatten eine Menge Spaß und verabredeten uns für den nächsten Abend in der Stadt.«

Louise sah mich nachdenklich an.

»Dann hast du also vor der schwierigen Wahl gestanden, mit welchem von ihnen du dich allein treffen solltest?«

»Ganz so schwierig war es nicht«, antwortete ich.

»Einen Tag nach unserem gemeinsamen Abend in der Stadt rief mich Fred zu Hause an und fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihm auszugehen. Als ich mich erkundigte, ob er dazu die Erlaubnis seiner Kumpel hätte, war ihm das ziemlich peinlich.« Ich lehnte mich ein Stück weiter aus dem Fenster. »Da sind sie ja schon.«

Louise spähte ebenfalls hinaus. Sie waren ein Stück entfernt und hatten uns noch nicht bemerkt.

»Sie sehen recht nett aus«, meinte Louise.

»Fred ist der in der Mitte, mit der großen Tasche. Der mit dem hellbraunen, fast blonden Haar.«

»Dann hast du dir ja den hübschesten gekrallt.«

»Der mit dem langen Mantel ist Duncan.«

»Wie kann er bei dieser Hitze einen langen Mantel tragen?«

»Angeblich ähnelt er damit einem Revolverhelden aus einem Italo-Western. Er zieht das Ding nie aus. Die beiden anderen sind Brüder. Die Burnside-Brüder. Der mit der Brille und dem Käppi ist Graham, der mit den langen Haaren Morris. Hi!« Letzteres galt den Jungs unten auf der Straße.

Überrascht sahen sie zu uns hoch.

»Wir würden ja gern raufkommen«, rief Duncan, »aber leider müssen wir zu einer Party!«

»Idiot!«, gab ich zurück. »Hier, fangt!«

Ich ließ meinen Schlüsselbund fallen. Graham riss sich mit einer raschen Bewegung, die bemerkenswert graziös wirkte, die Kappe vom Kopf und fing den Schlüssel damit auf. Nachdem die Jungs die Tür aufgesperrt hatten, verschwanden sie aus unserem Blickfeld.

»Schnell«, sagte Louise. »Uns bleiben lediglich dreißig Sekunden. Welchen von ihnen soll ich heiraten? Welcher ist die beste Partie? Fred kannst du vorerst mal weglassen.«

Ich dachte zwei Sekunden nach.

»Graham arbeitet bei einem Fotografen.«

»Weiter.«

»Duncan und Morris arbeiten zusammen. Sie machen alles Mögliche mit Computern. Ganz genau bin ich noch nicht dahinter gestiegen, aber ich glaube, sie erwarten auch gar nicht, dass ich es kapiere. Duncan ist der Mittelpunkt jeder Party. Morris hingegen ist ziemlich schüchtern, wenn man ihn mal allein erwischt.«

»Das sind die beiden Brüder, richtig?«

»Nein, Morris ist der Bruder von Graham. Duncan hat rotes Haar. Er sieht völlig anders aus.«

»Alles klar. Spontan würde ich sagen, dass die Computertypen viel versprechender klingen. Morris, der schüchterne Bruder, und Duncan, der redselige Rotschopf.«

Als ich den Jungs von der geplanten Party erzählt hatte, hatten sie sich sofort lautstark erkundigt, welche Frauen kommen würden, aber jetzt in meiner Wohnung warteten sie ruhig und höflich, bis ich ihnen Louise vorgestellt hatte. Das mochte ich irgendwie an ihnen.

Fred kam zu mir herüber und gab mir einen langen Kuss.

Ich hatte den starken Verdacht, dass es sich dabei in erster Linie um eine Demonstration für alle Anwesenden handelte. Wollte er mir damit wirklich seine Zuneigung zeigen oder bloß sein Territorium abstecken? Nachdem er mich geküsst hatte, zog er etwas heraus, das aussah wie ein bunter Vorhang.

»Ich habe mir gedacht, das kannst du vielleicht brauchen, um es über den feuchten Fleck zu hängen.«

»Danke, Fred.« Skeptisch beäugte ich das knallige Ding.

Die Farbkomposition war ein bisschen gewagt. »Ich fürchte, Leute, die eine Wohnung besichtigen, dürfen Vorhänge und Ähnliches wegschieben.«

»Na, dann lass uns die Sache doch mal begutachten.

Komm schon, häng es auf.«

»Also gut.«

»Zoë behauptet, ihr seid Computergenies«, sagte Louise gerade zu Duncan.

Morris, der daneben stand, wurde ein bisschen rot, was ich richtig süß fand.

»Sie hat nur deswegen eine so hohe Meinung von uns«, antwortete Duncan, »weil sie sich selbst nicht besonders damit auskennt. Wir haben ihr lediglich beigebracht, ihren eigenen Computer zu benutzen.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas.

»Das war zugegebenermaßen eine beeindruckende Leistung von uns. Es war, als würde man einem Eichhörnchen beibringen, wie man Nüsse sucht.«

»Eichhörnchen sind doch hervorragend im Nüssesuchen«, wandte Morris ein.

»Stimmt«, antwortete Duncan.

»Aber sie können es von selbst, man braucht es ihnen nicht erst beizubringen«, meinte Morris beharrlich.

»Stimmt. Zoë beherrscht ihren Computer jetzt so gut wie ein Eichhörnchen das Nüssesuchen.«

»Aber dann hättest du sagen müssen, dass es war, als würde man einem Eichhörnchen das Jonglieren beibringen.«

Duncan starrte ihn verblüfft an.

»Es ist doch gar nicht möglich, einem Eichhörnchen das Jonglieren beizubringen!«

Ich schenkte Louise nach.

»Das kann stundenlang so weitergehen«, erklärte ich.

»Es muss etwas damit zu tun haben, dass sie schon zusammen im Sandkasten gespielt haben.«

Ich ging in die Küche, um ein paar Chips zu holen, und Louise folgte mir. Wir konnten die Jungs im Wohnzimmer sehen.

»Das ist ja ein richtig Hübscher«, sagte sie mit einer Kopfbewegung in Freds Richtung. »Was raucht er da? Er wirkt so relaxed. Irgendwie exotisch.«

»Er hat manchmal was von einem Hippie. Relaxed trifft es aber auch recht gut.«

»Ist das mit euch beiden was Ernstes?«

Ich nahm einen Schluck aus ihrem Glas. »Das kann ich dir noch nicht sagen«, antwortete ich.

Ein paar andere Gäste trafen ein: John, ein netter Lehrer aus unserer Schule, der mich leider ein paar Tage zu spät gefragt hatte, ob ich mit ihm ausgehen wolle, und ein paar Frauen, die ich durch Louise kennen gelernt hatte. Das Ganze entwickelte sich zu einer richtigen kleinen Feier.

Nach ein paar Drinks begann ich, für diesen neuen Kreis von Leuten ein warmes, herzliches Gefühl zu empfinden.

Das Einzige, was sie verband, war ich. Ein Jahr zuvor hatte ich mich noch einsam und verloren gefühlt und keinen einzigen von ihnen gekannt. Plötzlich war ein klirrendes Geräusch zu hören. Fred klopfte mit einer Gabel gegen eine Flasche.

»Ruhe, ich bitte um Ruhe!«, rief er, obwohl sowieso schon alle still waren. »Ich bin es nicht gewohnt, lange Reden zu schwingen et cetera, et cetera. Deshalb möchte ich nur für einen Moment das Wort ergreifen und zum Ausdruck bringen, wie sehr ich diese Wohnung mag. Ich möchte, dass wir alle das Glas erheben – in der Hoffnung, dass es uns allen vergönnt sein wird, in sechs Monaten wieder hier zusammenzukommen und einen weiteren schönen Abend miteinander zu verbringen.« Rundherum wurden Gläser und Flaschen gehoben. Ein Blitzlicht erhellte mein Gesicht. Einer von Grahams typischen Schnappschüssen. Damit musste man bei ihm ständig rechnen: Während man gemütlich mit ihm plauderte, riss er plötzlich die Kamera hoch und machte ein Foto. Das konnte ziemlich nervtötend sein – als würde er während der ganzen Zeit, die er mit einem sprach oder zuhörte, in Wirklichkeit bloß auf die Gelegenheit zu einer guten Aufnahme warten.

»Außerdem«, fuhr Fred fort, »haben Zoë und ich noch einen Grund zum Feiern.« Alle starrten ihn überrascht an, nicht zuletzt ich selbst. »Ja«, meinte er, »es ist nun genau neun Tage her, seit Zoë und ich uns zum ersten Mal …

ähm …«, er legte eine Pause ein, »… ähm … begegnet sind.« Hinter mir war das unterdrückte Lachen von Duncan und Graham zu hören, alle anderen aber schwiegen. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, bei einem offiziellen Dinner des Rugby-Clubs gelandet zu sein.

»Fred«, begann ich, aber er brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Einen Moment noch«, sagte er. »Es wäre traurig, wenn ein solcher Abend nicht auf besonders feierliche Weise zelebriert würde, aber … was haben wir denn da?« Er sagte das in einem Ton gespielter Überraschung, während er sich hinunterbeugte und hinter meinem Sessel herumkramte. Er zog ein großes, mit braunem Papier umwickeltes Päckchen hervor. »Entweder haben wir es hier mit einer weiteren Gabe von einem von Zoës anonymen Fans zu tun, oder aber es handelt sich um ein Geschenk.«

»Ihr Idioten«, sagte ich, aber in liebevollem Ton. Das Format des Päckchens deutete auf ein Bild hin, aber nachdem ich es aus seiner Umhüllung befreit hatte, sah ich, was es in Wirklichkeit war. »Ihr Mistkerle!«, meinte ich lachend. Sie hatten eine ganze Seite der Sun eingerahmt, auf der oben die Schlagzeile »Ich und meine Melone« prangte und darunter in kleinerer Schrift:

»Beherzte Blondine schlägt Handtaschenräuber k.o.«

»Eine Rede!«, rief Louise, die die Hände wie einen Trichter um den Mund gelegt hatte. »Eine Rede!«

»Also«, begann ich, wurde aber von der Haustürklingel unterbrochen. »Augenblick«, sagte ich. »Bin gleich wieder da.«

Der Mann, der vor der Tür stand, trug einen braunen Kordanzug und Gummistiefel.

»Ich würde mir gern die Wohnung ansehen«, erklärte er.

»Passt es Ihnen?«

»Ja, ja«, antwortete ich schnell. »Kommen Sie ruhig rauf.«

Die Stimmen meiner Gäste drangen bis ins Treppenhaus.

»Bei Ihnen steigt wohl gerade eine Party«, bemerkte der Mann.

»Ja. Ich habe Geburtstag.«

4. KAPITEL

it der Zeit wurden die Briefe weniger. Die anfängliche Flut verwande

M

lte sich in ein Tröpfeln

und hörte dann ganz auf. Eine Weile hatte ich das Ganze sogar lustig gefunden. Einmal nahm ich ein paar von den Briefen mit, als ich mich mit Fred und den Jungs traf. Wir saßen vor einer Bar in Soho, tranken eiskaltes Bier, tauschten die Briefe untereinander aus und lasen uns besonders schöne Passagen laut vor. Während Morris und Duncan anschließend mal wieder eines ihrer abstrusen Gespräche führten, unterhielt ich mich mit Graham und Fred ein wenig ernster über die Angelegenheit.

»Man muss sich das mal vorstellen. Diese Leute sitzen in ganz England herum und schreiben achtseitige Briefe an jemanden, den sie überhaupt nicht kennen. Sie schlagen meinen Namen einfach im Telefonbuch nach und kaufen sich eine Briefmarke. Wissen die mit ihrem Leben denn nichts Besseres anzufangen?«

»Nein, offenbar nicht«, antwortete Fred. Er legte mir die Hand aufs Knie. »Du bist eine Göttin. Du und deine Melone. Wir alle hier haben dich schon vorher gern gehabt, aber jetzt bist du eine Männerphantasie. Diese starke, schöne Frau. Wir Kerle wünschen uns doch alle, dass eine Frau wie du mit hohen Absätzen auf unserem Körper herumspaziert.« Dann beugte er sich zu mir und flüsterte mir mit seinem warmen Atem ins Ohr:

»Und du gehörst mir allein!«

»Hör auf«, sagte ich. »Ich finde das nicht lustig.«

»Jetzt weißt du, wie es ist, berühmt zu sein«, meinte Graham.

»Genieße es, solange du noch kannst.«

»Mein Gott, hat denn kein Mensch Mitleid mit mir?

Morris, hast du mir vielleicht was Nettes zu sagen?«

»Ja«, sagte Fred. »Schieß los, Morris. Welchen Rat würdest du einer schönen Frau geben, die sich mit den Schattenseiten des Ruhms herumschlagen muss?«

Mit diesen Worten lehnte er sich zu Morris hinüber und versetzte ihm mehrere sanfte Klapse auf die Wange. Die Jungs schafften es immer wieder, mich zu überraschen. Es war, als würden sie Rituale aus einer fremden, exotischen Welt vollziehen, die ich nicht verstand. Einer von ihnen tat oder sagte etwas zu einem der anderen, und ich wusste nie so genau, ob es ein Scherz war oder eine Beleidigung oder vielleicht eine scherzhaft gemeinte Beleidigung, ob das Opfer lachen oder in Rage geraten würde. Fred beispielsweise schien nie etwas Nettes zu Morris zu sagen, sprach aber manchmal von ihm als seinem besten Freund.

Nun schwiegen plötzlich alle, und ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. Alle Blicke waren auf Morris gerichtet, der sich blinzelnd mit den Fingern durchs Haar fuhr. Ich hatte immer den Verdacht, dass er das nur tat, um zu demonstrieren, wie beeindruckend lang und dicht es war.

»Wer kann mir zehn Filme nennen, in denen Briefe vorkommen?«, fragte er.

»Morris!«, rief ich wütend.

»Brief einer Unbekannten«, antwortete Graham.

»Ein Brief an drei Frauen«, sagte Duncan.

»Der verhängnisvolle Brief.« Dieser Beitrag kam von Fred.

»Das ist zu einfach«, meinte Morris. »Zehn Filme, in denen Briefe vorkommen, das Wort ›Brief‹ aber nicht im Titel auftaucht.«

»Wie zum Beispiel?«

»Na ja … zum Beispiel Casablanca

»Da kommen keine Briefe vor.«

»Doch.«

»Nein.«

Das ernste Gespräch war vorüber.

Von da an sparte ich es mir meist, die Briefe überhaupt zu lesen. Bei manchen erkannte ich bereits die Schrift auf dem Umschlag, sodass ich mir gar nicht erst die Mühe machte, sie zu öffnen. Andere überflog ich flüchtig, bevor ich sie zu den anderen in die Pappschachtel warf. Ich fand sie nicht mal mehr lustig. Ein paar waren traurig, ein paar obszön, die meisten einfach langweilig.

Wenn ich das Bedürfnis hatte, mir den Wahnsinn um mich herum ins Gedächtnis zu rufen, brauchte ich bloß hin und wieder aus meinem Fenster zu schauen, dessen Rahmen langsam vor sich hin rotteten. Dann sah ich junge Männer in verbeulten Autos, die Hand auf der Hupe, das Gesicht rot vor Zorn. Einsame alte Frauen, die auf ihre fahrbaren Einkaufskörbe gelehnt durch die Menge stolperten und dabei leise vor sich hin murmelten. Die nach Pisse und Whisky stinkenden Penner, die in ihren schmutzigen, nicht richtig zugeknöpften Hosen im Eingang des mit Brettern verrammelten Ladens ein paar Türen weiter saßen und den Frauen schräge, lüsterne Blicke zuwarfen.

Der Wahnsinn kam auch in Gestalt von potenziellen Wohnungskäufern durch meine Tür. Da gab es beispielsweise einen Mann – er war sehr klein, wohl so um die fünfzig, hatte Blumenkohlohren und zog einen Fuß nach –, der darauf bestand, sich auf den Boden zu knien und die Fußleisten abzuklopfen. Ich stand ziemlich blöd daneben und zuckte jedes Mal zusammen, wenn unten aus dem Pub die Bässe der Musik bis herauf in meine Wohnung drangen. Oder die junge Frau, etwa in meinem Alter, mit Dutzenden von Silbersteckern am Ohrrand, die ihre drei riesigen, stinkenden Hunde mit zur Wohnungsbesichtigung brachte. Beim Gedanken daran, wie die Wohnung aussehen würde, nachdem drei Wochen lang diese Meute darin gehaust hätte, wurde mir fast übel.

Die Räume boten kaum genug Platz für eine Person. Einer der Hunde fraß meine Vitamintabletten vom Tisch, ein anderer legte sich an die Wohnungstür und gab dort entsetzliche Gerüche von sich.

Die meisten Besucher blieben nur ein paar Minuten, gerade lang genug, um nicht unhöflich zu wirken, ehe sie den Rückzug antraten. Einige wenige hatten kein Problem damit, unhöflich zu sein. Vor allem Pärchen sprachen manchmal laut darüber, was sie von der Wohnung hielten.

Guy selbst wirkte auf den ersten Blick wie ein etwas normalerer Vertreter der menschlichen Spezies, zumindest solange man ihn nur oberflächlich kannte, aber auf Grund seiner Unfähigkeit, meine Wohnung zu verkaufen, wurden wir mit der Zeit so etwas wie alte Bekannte. Immer schick gekleidet, besaß er eine Vielzahl von Anzügen und farbenfrohen Krawatten, von denen einige mit Zeichentrickfiguren bedruckt waren. Egal, wie heiß es war, er schwitzte nie oder höchstens auf diskrete Art, in Form eines einzelnen Schweißtropfens, der ihm dezent über die Wange lief. Er roch stets nach Rasierwasser und einer frischen Mundspülung. Man hätte meinen sollen, er würde meine Wohnung mit der Zeit als Symbol seines Scheiterns betrachten und daher meiden. Hinzu kam, dass ja wirklich kein Fachmann nötig war, um die Leute herumzuführen. Trotzdem kam er jedes Mal mit, wenn sich jemand die Räume ansehen wollte, und das sogar abends oder am Wochenende.

Deswegen hätte ich wohl nicht so überrascht sein dürfen, als er mir eines Tages, nachdem eine dünne, ängstlich wirkende Frau zur Tür hinausgetrippelt war, tief in die Augen blickte und verkündete: »Irgendwann müssen wir beide mal was trinken gehen, Zoë.«

Ich hätte ihm einen Korb verpassen und auf diese Weise zum Ausdruck bringen sollen, wie sehr er mir mit seiner falschen Bräune und seiner Unsitte, die Dinge schönzureden, auf die Nerven ging, aber mir fiel nichts Passendes ein, sodass ich stattdessen nur hervorstieß: »Ich glaube, wir sollten den Preis senken.«

Der Mann, der sich am Abend meiner Nicht-Umzugsparty die Wohnung angesehen hatte, kehrte mit einem Maßband, einem Notizblock und einem Fotoapparat zurück. Es war früher Abend, und Fred hielt sich in den Yorkshire Dales auf, wo er im Auftrag eines kleinen lokalen Fernsehsenders sechsunddreißig Stunden damit verbrachte, aus einem großen, zugewucherten Garten etwas Ansehnliches zu zaubern – für eine Sendung, die erst in etwa einem Jahr ausgestrahlt werden sollte. Er hatte aus einem Pub angerufen und mir mit einer Stimme, die nach Alkohol klang, erzählt, dass er sich im Geiste bereits ausmale, was er nach seiner Rückkehr alles mit mir anstellen würde. Nicht gerade das, was ich in dem Moment hören wollte. Ich saß gerade an meinem Computer und mühte mich mit einem Bericht ab, den ich für die Schule schreiben musste. Ich versuchte, eine Tabelle zu Stande zu bringen. Das hatte bei Duncan – oder war es Morris gewesen? – so einfach ausgesehen.

»Fehlertyp 19« blinkte immer wieder auf meinem Bildschirm auf. Deswegen rauchte ich fluchend eine Zigarette nach der anderen, während der Mann, der vielleicht – vielleicht aber auch nicht – meine Wohnung kaufen würde, überall herumstöberte. Er maß die Bodenflächen ab, öffnete Schränke, warf einen Blick unter meinen schäbigen Teppich, hob Freds hässlichen Wandbehang hoch und inspizierte den feuchten Fleck, der sich trotz des heißen, trockenen Wetters immer mehr auszubreiten schien. Dann begab er sich ins Bad, drehte dort den Wasserhahn auf und begutachtete etwa eine Minute lang das jämmerliche Rinnsal. Als ich schließlich hörte, dass er ins Schlafzimmer übergewechselt war und dort Schubladen aufzog, folgte ich ihm.

»Was machen Sie da?«

»Mich umsehen«, antwortete er seelenruhig, während er weiter auf mein Durcheinander aus Slips, BHs und Strumpfhosen voller Laufmaschen hinunterstarrte.

Nachdem ich erbost die Schublade zugeknallt hatte, ging ich in die Küche, weil ich plötzlich Hunger verspürte, fand im Kühlschrank aber lediglich eine Tüte mit alten Frühlingszwiebeln, ein vor sich hinschimmelndes Brötchen, eine braune Papiertüte, die bis auf einen Kirschkern leer war, und eine Dose Cola. Im Gefrierfach lag eine Tüte Garnelen, deren Verfallsdatum wahrscheinlich längst abgelaufen war, und eine kleine Packung Erbsen. Ich entschied mich für das Cola, das ich im Stehen neben dem Kühlschrank trank, ehe ich an meinen Computer zurückkehrte und schrieb: »Unser Ziel ist es, nicht nur kompetente, sondern auch interessierte Leser heranzuziehen. Ein sorgfältig zusammengestellter Lehrplan stellt sicher, dass alle Schüler verstärkt …« Ach, zum Teufel damit. Ich war nicht Lehrerin geworden, um solchen Mist von mir zu geben. Demnächst würde ich Dinge schreiben wie »zufrieden stellende Leistungsstandards« und »Input-Level«.

Ich schob mir drei Multivitamintabletten in den Mund und zermalmte sie missmutig. Dann griff ich nach den Hausarbeiten – falls das nicht ein zu hoch gegriffenes Wort dafür war –, die ich der Klasse aufgegeben und an diesem Abend mit nach Hause genommen hatte. Ich hatte sie aufgefordert, eine ihrer Lieblingsgeschichten zu zeichnen. Ein paar der Bilder waren ziemlich unverständlich. Benjamins Zickzackmuster in Grün und Schwarz sollte den »Wolf und die sieben Geißlein«

darstellen, was seinen Hang zu abstrakter Kunst offenbarte. Jordanes »Prinzessin auf der Erbse« bestand lediglich aus einem erbsengrünen Kreis. Viele der Kinder hatten Bilder von Disneyfilmen angefertigt: Bambi, Schneewittchen und Ähnliches. Ich sah sie alle durch, schrieb ermutigende Bemerkungen auf die Blätter und verstaute sie anschließend in einer Aktenmappe unter dem Tisch.

»Ich gehe jetzt.«

Der Mann stand in der Tür, den Fotoapparat um den Hals. Er klopfte mit einem Stift gegen seine Zähne und starrte mich dabei unverwandt an. Ich sah, dass die kahle Stelle auf seinem Kopf in einem intensiven Rosaton leuchtete und seine haarigen Handgelenke ebenfalls sonnenverbrannt waren. Geschah ihm recht.

»Ja, ist gut.«

Kein Wort darüber, dass er noch mal kommen wollte.

Mistkerl.

Ich brach ein paar Minuten nach ihm auf, um mir mit Louise und ein paar von ihren Freundinnen, die ich noch nicht kannte, einen Film anzusehen. Es war schön, mit einer Gruppe von Frauen im Dunkeln zu sitzen, Popcorn zu knabbern und vor sich hin zu kichern. Man fühlte sich dabei so geborgen.

Ich kam ziemlich spät nach Hause. Es war eine dunkle, sternenlose Nacht. Als ich die Tür aufschob, entdeckte ich auf der Fußmatte einen Brief. Jemand musste ihn durch den Briefschlitz geschoben haben. Er war in sauberer schwarzer Kursivschrift an mich adressiert. Schien ausnahmsweise mal nicht von einem Spinner zu stammen.

Noch immer im Türrahmen stehend, riss ich ihn auf.

Liebe Zoë, wann bekommt ein so junges, hübsches und gesundes Mädchen wie du Angst vor dem Sterben? Ich bin schon gespannt. Du rauchst (wovon du am Finger übrigens einen Nikotinfleck hast), manchmal nimmst du auch Drogen. Du hast eine Vorliebe für ungesundes Essen. Du bleibst oft lange auf, bist am nächsten Morgen aber nicht verkatert. Wahrscheinlich bildest du dir ein, dass du ewig leben wirst. Dass du noch lange Zeit jung sein wirst.

Zoë mit den weißen Zähnen und dem hübschen kleinen Grübchen beim Lächeln, du wirst nicht mehr lange jung sein. Betrachte das als Warnung.

Hast du Angst, Zoë? Ich beobachte dich. Du wirst mich nicht mehr los.

Ich stand am Rand des Gehsteigs, auf dem noch immer Menschen vorüberströmten, sich eilig an mir vorbeidrängten, und starrte auf den Brief. Als ich die linke Hand hob, sah ich, dass ich am Mittelfinger tatsächlich einen gelben Fleck hatte. Ich knüllte den Brief zusammen und warf ihn in eine Abfalltonne, zu all dem anderen Müll, all dem Dreck aus dem Leben anderer Leute.

Heute hat sie ein hellblaues Trägerkleid an. Es reicht ihr bis zu den Knien, und knapp über dem Saum leuchtet ein Fleck aus Kreidestaub, den sie noch nicht bemerkt hat. Sie trägt keinen BH. Ihre Achseln sind rasiert, ihre Beine wirken ebenfalls glatt und weich. Ihre Nägel sind lackiert, aber an der linken großen Zehe beginnt der helle Lack bereits abzublättern. Sie trägt flache marineblaue Sandalen, die alt und abgewetzt aussehen. Ihre Haut ist gebräunt, und die Härchen auf ihren Armen sind golden.

Manchmal erhasche ich einen Blick auf die milchweißen Unterseiten ihrer Arme, die hellere Haut ihrer Kniekehlen.

Wenn sie sich hinunterbeugt, kann ich sehen, dass das Honiggold, das ihre Schultern und ihren Hals überzieht, zwischen ihren Brüsten ausläuft. Ihr Haar ist hochgesteckt. Die Sonne hat es ausgebleicht, sodass es am Ansatz viel dunkler ist als oben. Ihre silbernen Ohrringe haben die Form von kleinen Blumen. Hin und wieder dreht sie sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihre Ohrläppchen sind ziemlich lang. Die vertikale Rille über ihrer Oberlippe ist recht stark ausgeprägt. Wenn ihr so heiß ist wie heute, sammelt sich darin Schweiß, den sie in regelmäßigen Abständen mit einem Taschentuch wegwischt. Ihre Zähne sind weiß, aber im hinteren Teil ihres Mundes habe ich mehrere Plomben entdeckt. Sie blitzen auf, wenn sie lacht oder gähnt. Sie trägt kein Make-up. Ich kann die hellen Spitzen ihrer Wimpern sehen, die leichte Trockenheit ihrer ungeschminkten Lippen. Über ihren Nasenrücken sind ein paar Sommersprossen verteilt, die noch nicht da waren, als ich letztes Mal hingesehen habe. Der gelbe Fleck an ihrem Mittelfinger ist verschwunden. Gut. Sie trägt keine Ringe.

Die Uhr an ihrem Handgelenk hat ein großes Zifferblatt mit einem Bild von Mickey Mouse in der Mitte. Als Band benutzt sie ein Haarband.

Ihr Lachen klingt ein bisschen wie das Geläut einer Türglocke. Wenn ich ihr sagen würde, dass ich sie liebe, würde sie mich mit diesem Glockengeläut auslachen. Sie würde glauben, dass ich nur Spaß mache. Frauen sind so.

Sie stellen ernste, wichtige Dinge als etwas Kleines, Banales hin, einen Witz. Liebe ist kein Witz. Es geht dabei um Leben oder Tod. Eines Tages wird sie das verstehen.

Bald wird sie wissen, dass gewisse Dinge wichtig sind: die Art, wie sie lächelt oder einem mit aufmerksamen Augen zuhört, die Art, wie ihre Brüste flach werden, wenn sie den Arm über den Kopf hebt. Sie lächelt zu viel, und sie lacht zu oft. Sie genießt es zu flirten. Sie trägt gern dünne, knappe Sachen. Ich kann durch den Stoff ihres Kleids ihre Beine sehen, die Form ihrer Brustwarzen erahnen. Sie geht sorglos mit ihrem Körper um.

Sie redet sehr schnell, mit einer hellen, leicht heiseren Stimme. Sie sagt oft »jap« statt ja. Sie hat graue Augen.

Sie hat noch keine Angst.

5. KAPITEL

eder Mensch weiß, dass fast überall auf der Welt, J außer vielleicht in so geschäftigen Ländern wie Japan, spätestens gegen halb vier oder vier Schulschluss ist, wobei ich mit den kleinen Dingen, die ich lehre, sogar noch eher fertig bin, so gegen Viertel nach drei. Selbst Leute, die keine Ahnung von Kindern haben, wissen das.

Sie sehen Jungen und Mädchen an der Hand ihrer Mutter die Hauptstraße entlanggehen oder, beladen mit Schultaschen und Pausenboxen, hinter einer anderen Aufsichtsperson hertrödeln. Ich hatte bereits gelernt, dass sich der Verkehr in der Londoner Rushhour etwa zur Hälfte aus riesigen Menschentransportern zusammensetzte, die bedrückt dreinblickende Kinder in Uniform die weiten Strecken zwischen ihren schönen Elternhäusern und den ihnen standesgemäßen Schulen hin und her kutschierten. Denn natürlich besteht – wie ich ebenfalls bald herausgefunden hatte – für die Londoner Eltern eines der wichtigsten Statussymbole in der Strecke, die sie ihre Kinder transportieren müssen. Die Schule nebenan ist etwas für arme Leute, wie ich sie unterrichte.

Wenn die Leute erfahren, dass ich Lehrerin bin, beneiden sie mich immer um meine kurze Arbeitszeit und die langen Ferien, was ein ziemlicher Witz ist. Bis zu einem gewissen Grad geschieht es mir natürlich recht, weil eben dieser Aspekt eines der weniger noblen Motive war, weshalb ich diesen Beruf ergriff. Meine eigene schulische Laufbahn war nicht besonders erfolgreich verlaufen, sodass ich nicht die nötigen Voraussetzungen besaß, um etwas wirklich Wichtiges zu studieren und mich beispielsweise der Betreuung kranker Katzen zu widmen, was früher einmal mein Berufswunsch gewesen war.

Meine Leistungen hatten bloß ausgereicht, um kleine Kinder zu unterrichten. Das kam mir durchaus entgegen.

Ich mochte Kinder, ihre Durchschaubarkeit, ihren Eifer, ihr Potenzial. Mir gefiel die Vorstellung, den ganzen Tag um einen Sandkasten herumzustehen, Kleinkindern die Nase zu putzen und ihnen beim Mischen ihrer Malfarben zu helfen.

Stattdessen war ich in einem Job gelandet, der einem eher das Gefühl gab, mitten in einem Zoo als Buchhalter zu arbeiten. Nur dass die Arbeitszeiten länger waren als bei einem Buchhalter. Nachdem die Kinder abgeholt und in ihre Wohnsiedlungen und Hochhäuser zurückgebracht worden waren, trafen wir uns zu Lehrerkonferenzen, füllten stapelweise Formulare aus, planten und organisierten. Pauline schien nie nach Hause zu gehen und wäre wahrscheinlich besser dran gewesen, wenn sie in ihrem Büro ein Feldbett und einen Gaskocher aufgestellt hätte.

Ich machte an diesem Abend eher Schluss, weil ich noch einen Termin mit einem Mann hatte, der sich die Wohnung ansehen wollte. Natürlich musste ich wieder Ewigkeiten auf den Bus warten, sodass der Typ bereits mit einer Zeitung vor der Tür stand, als ich schließlich keuchend den Gehsteig entlanggerannt kam. Ich hatte ihm, auch wenn es nur fünf Minuten Verspätung waren, schon zu viel Zeit gelassen, sich die Gegend anzusehen. Zum Glück schien er völlig in seine Lektüre vertieft zu sein.

Vielleicht hatte er das Pub gar nicht bemerkt, oder zumindest nicht ganz realisiert, was es bedeutete. Er trug einen etwas eigenwillig geschnittenen Anzug mit asymmetrischen Revers, wahrscheinlich ein sündhaft teures Teil. Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig, vielleicht Anfang dreißig. Er trug das Haar sehr kurz und wirkte trotz der Hitze frisch und gepflegt.

»Tut mir wirklich Leid!«, keuchte ich. »Der Bus!«

»Kein Problem«, meinte er. »Ich bin Nick Shale. Und Sie sind bestimmt Miss Haratounian.« Wir reichten uns zur Begrüßung die Hand. Er musterte mich grinsend.

»Verraten Sie mir, was Sie so lustig finden?«, fragte ich.

»Ich habe Sie mir als grimmige alte Dame vorgestellt.«

»Oh.« Ich bemühte mich, höflich zu lächeln.

Ich schloss die Haustür auf. Auf der Türmatte lag der übliche Müll, Werbung für Pizzadienste, Fensterputzer und Taxiunternehmen, außerdem ein unfrankierter Brief.

Ich erkannte die Handschrift sofort. Er war von dem Widerling, der mir schon vor ein paar Tagen geschrieben hatte. Der Kerl war also ein weiteres Mal an meine Haustür gekommen. Keine sehr angenehme Vorstellung.

Nachdem ich einen Augenblick auf den Brief hinuntergestarrt hatte, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Nick zu, der mich fragend ansah.

»Entschuldigung, was haben Sie gerade gesagt?«, fragte ich.

»Ihre Tasche. Soll ich Ihnen Ihre Tasche abnehmen?«

Wortlos reichte ich sie ihm.

Mittlerweile hatte ich meine Führung durch die Wohnung auf die optimale Länge von drei Minuten beschränkt, in denen ich souverän sämtliche positiven Dinge präsentierte und all jene, die meiner Immobilie nicht notwendigerweise zum Vorteil gereichten, geschickt mied. Hin und wieder stellte mir Nick eine von den Fragen, die ich inzwischen zur Genüge kannte.

»Warum ziehen Sie um?«

Glaubte er wirklich, dass er einen alten Hasen wie mich so leicht in die Falle locken konnte?

»Ich möchte näher bei meiner Arbeitsstelle wohnen«, flunkerte ich.

Er warf einen Blick aus dem Fenster. »Ist der Verkehr ein Problem?«

»Darüber habe ich nie nachgedacht.« Das war ein bisschen mehr als gelogen. Wenigstens lachte er nicht. Ich legte den Brief ungeöffnet auf den Tisch. »Praktisch ist, dass es so viele Läden in der Nähe gibt.«

Er schob die Hände in die Taschen und stellte sich in die Mitte des Wohnzimmers, als würde er versuchen, sich in die Rolle des Wohnungseigentümers hineinzuversetzen. Er sah dabei aus wie ein Gutsherr, der sein – allerdings sehr kleines – Anwesen inspizierte.

»Sie sind nicht aus London«, bemerkte er.

»Woraus schließen Sie das?«

»Sie klingen nicht danach. Ich versuche gerade, Sie einzuordnen. Ihrem Namen nach müssten Sie eigentlich Armenierin sein, aber so hören Sie sich auch nicht an.

Wobei ich zugeben muss, dass ich gar nicht so genau weiß, wie ein armenischer Akzent klingt. Vielleicht sprechen ja alle Armenier so wie Sie.«

Ich hatte immer ein ganz komisches Gefühl, wenn Leute, die sich die Wohnung ansahen, persönlich wurden, aber in diesem Fall konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.

»Ich bin in einem Dorf in der Nähe von Sheffield aufgewachsen.«

»Das war bestimmt ganz anders als London.«

»Allerdings.«

Einen Moment lang schwiegen wir beide.

»Ich würde die Sache gern überschlafen«, meinte Nick schließlich mit ernstem Gesichtsausdruck. »Würde es Sie stören, wenn ich demnächst wiederkomme und mir das Ganze noch mal ansehe?«

Ich fragte mich, ob sein Interesse wirklich primär der Wohnung galt, machte mir deswegen aber keine allzu großen Gedanken. Selbst das kleinste bisschen von Interesse war positiv zu werten. »Kein Problem«, antwortete ich.

»Darf ich Sie direkt anrufen, oder soll ich mich erst an den Makler wenden?«

»Wie Sie wollen. Ich bin ziemlich lange in der Arbeit.«

»Was machen Sie?«

»Ich unterrichte an einer Grundschule.«

»Beneidenswert«, sagte er. »Die vielen Ferien.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln.

»Ihre Nummer«, fuhr er fort. »Kann ich Ihre Telefonnummer haben?«

Ich nannte sie ihm, und er tippte sie in ein Ding, das aussah wie ein etwas größerer Taschenrechner.

»Es war nett, Sie kennen zu lernen, ähm …?«

»Zoë.«

»Zoë.«

Ich hörte, wie er beim Hinuntergehen jeweils zwei Treppenstufen auf einmal nahm. Dann war ich allein mit meinem Brief. Eine Weile versuchte ich, die Coole zu spielen, indem ich mir erst mal einen Instantkaffee machte und eine Zigarette anzündete. Dann öffnete ich den Umschlag und faltete den Briefbogen vor mir auseinander: Liebe Zoë,

vielleicht täusche ich mich, aber mir scheint, du hast noch nicht so viel Angst wie von mir geplant. Wie du weißt, beobachte ich dich. Vielleicht beobachte ich dich sogar in diesem Augenblick, während du diese Worte liest.

Es war blöd von mir, aber ich hob den Kopf und sah mich im Zimmer um, als könnte ich jemanden dabei ertappen, wie er mir über die Schulter blickte.

Wie gesagt, ich möchte in dich hineinsehen. Das ist es, was mich wirklich interessiert. Ich möchte dich von innen sehen, diejenigen Teile von dir, die du selbst niemals zu Gesicht bekommen wirst, ich aber schon.

Vielleicht liegt es daran, dass du dich in deiner schrecklichen kleinen Wohnung, die du nicht verkaufen kannst, sicher fühlst. Du bist aber nicht sicher. Denk zum Beispiel an dein hinteres Fenster. Es ist leicht, auf den Schuppen im Garten hinter dem Haus zu klettern und dann durch das Fenster einzusteigen. Du solltest ein richtiges Schloss anbringen lassen. So, wie es im Moment ist, lässt es sich zu leicht öffnen. Deswegen habe ich es gleich offen gelassen. Geh und sieh nach.

PS: Du wirkst glücklich, wenn du schläfst. Tot zu sein ist nichts anderes, als für immer zu schlafen.

Ich legte den Brief zurück auf den Tisch und ging in den Flur hinaus. Tatsächlich war das Fenster, das auf den Garten, den ich nicht betreten durfte, hinausging, ein Stück weit hochgeschoben. Bei dem Anblick lief es mir kalt über den Rücken. Fast kam es mir so vor, als herrschte in der Wohnung plötzlich eine Eiseskälte wie in einem Keller, obwohl ich genau wusste, dass die Abendluft noch immer drückend heiß war. Ich ging zurück ins Wohnzimmer und setzte mich neben das Telefon. Am liebsten hätte ich mich übergeben. Aber handelte es sich wirklich um einen Notfall? Was, wenn an der Sache gar nichts dran war?

Ich entschloss mich zu einem Kompromiss. Nachdem ich im Telefonbuch das nächstgelegene Polizeirevier herausgesucht hatte, rief ich dort an und führte ein etwas kompliziertes Gespräch mit einer Beamtin, die nur nach einem Grund zu suchen schien, den Hörer wieder auflegen zu können. Ich erklärte ihr, dass bei mir eingebrochen worden sei, woraufhin sie wissen wollte, was der Einbrecher gestohlen und welchen Schaden er sonst noch angerichtet habe. Ich antwortete, es sei kein Schaden entstanden, und ich könne noch nicht genau sagen, was gestohlen worden sei.

»Handelt es sich bei der Sache überhaupt um eine Angelegenheit für die Polizei?«, fragte die Stimme müde.

»Ich bin bedroht worden«, erklärte ich. »Jemand droht damit, mir Gewalt anzutun.«

Die Diskussion ging noch ein paar Minuten weiter, und nach einem kurzen Wortwechsel mit einer dritten Person, von dem ich die Hälfte mitbekam, weil die Beamtin bloß die Hand über den Hörer gelegt hatte, erklärte sie, jemand werde »demnächst« bei mir vorbeischauen – was immer das heißen mochte. Während ich wartete, ging ich von Fenster zu Fenster und verriegelte alle, bei denen das möglich war. Als ob jemand zu einem Fenster im ersten Stock hinaufklettern würde, das von der ganzen Holloway Road aus zu sehen war. Ich schaltete weder den Fernseher noch das Radio ein, weil ich jedes Geräusch mitbekommen wollte. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen und trank ein Bier.

Es dauerte über eine Stunde, bis es schließlich an der Tür klingelte. Ich ging hinunter, machte aber nicht gleich auf.

»Wer ist draußen?«

Auf der anderen Seite der Tür sagte jemand etwas, was ich nicht verstand. »Was?«

Ungeschickt schob ich die mit einer strammen Feder versehene Klappe des Briefschlitzes hoch und spähte hinaus. Dunkelblauer Stoff. Ich öffnete die Tür. Vor mir standen zwei Polizeibeamte. Sie hatten ihren Wagen direkt vor der Tür geparkt.

»Möchten Sie hereinkommen?«

Nachdem sie wortlos einen Blick gewechselt hatten, traten sie in den Flur. Ich führte sie nach oben. Beide Männer hatten gleich beim Betreten des Hauses ihre Dienstmützen abgenommen. Ich fragte mich, ob das eine alte Form von Höflichkeit gegenüber Frauen war.

Dummerweise wurde ich in Gegenwart von Polizisten immer nervös, was die Sache nicht gerade leichter machte.

Krampfhaft versuchte ich mir ins Gedächtnis zu rufen, ob sich in der Wohnung irgendwelche illegalen Substanzen befanden. Ich hoffte, dass weder im Kühlschrank noch auf dem Kaminsims etwas herumlag. Ich deutete auf den Brief. Vielleicht war es besser, ihn nicht mehr zu berühren. Womöglich handelte es sich um Beweismaterial.

Einer der Beamten trat vor und beugte sich über den Tisch. Er brauchte ziemlich lang, bis er ihn gelesen hatte, was mir Gelegenheit gab, mir den Mann etwas näher anzusehen. Er hatte eine lange Römernase, die zwischen seinen Augen in einem kleinen Wulst endete.

»Haben Sie von dieser Person weitere Briefe erhalten?«, fragte er schließlich.

»Ja, einen. Vor ein paar Tagen. Ich glaube, es war am Mittwoch.«

»Wo ist er?«

Mit dieser Frage hatte ich schon gerechnet. »Ich habe ihn weggeworfen«, antwortete ich ein wenig schuldbewusst. Da ich befürchtete, dass er deswegen mit mir schimpfen würde, sprach ich schnell weiter, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Tut mir Leid, ich weiß, das war dumm von mir. Ich war einfach durcheinander.«

Wider Erwarten blieb der Beamte ganz ruhig. Er wirkte weder aufgebracht noch beunruhigt. Nicht einmal besonders interessiert.

»Haben Sie nachgesehen, ob das mit dem Fenster stimmt?«

»Ja. Es war offen.«

»Können Sie es uns zeigen?«

Ich führte sie auf den Gang hinaus. Sie folgten mir ziemlich zögerlich, fast als würden sie es als Zumutung empfinden, wegen einer derartigen Lappalie so viel Energie aufwenden zu müssen.

»Es geht auf den Garten des Pubs hinaus«, murmelte der andere Beamte, während er durch das Fenster nach unten sah.

Der mit der Römernase nickte. »Vielleicht hat er das Fenster vom Pub aus gesehen.« Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück.

»Haben Sie eine Idee, wer Ihnen das geschickt haben könnte? Vielleicht ein Exfreund oder ein Kollege?«

Ich holte tief Luft und erzählte ihnen von der Melone und der Postlawine, die sie ausgelöst hatte. Sie mussten beide lachen.

»Sie waren das?«, fragte der mit der Römernase in amüsiertem Tonfall. Er wandte sich an seinen Kollegen.

»Danny war damals als Erster am Tatort.« Wieder an mich gewandt, meinte er: »Ein netter Fall. Wir haben Ihr Foto im Revier hängen. Für uns sind Sie eine richtige Heldin.«

Wieder musste er lachen. »Mit einer Wassermelone, was?

Das ist auf jeden Fall besser als ein Schlagstock.« In dem Moment gab sein Funkgerät ein lautes Knistern von sich.

Er drückte auf einen Knopf, und eine Stimme sagte etwas, das ich nicht verstand. »Ja, in Ordnung. Wir machen uns sofort auf den Weg. Bis gleich.« Er richtete den Blick wieder auf mich. »Damit haben wir ja des Rätsels Lösung.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wenn man mit Foto in die Zeitung kommt, dann passiert so was schon mal.«

»Aber er ist bei mir eingebrochen und hat mich bedroht!«

»Sie stammen nicht aus London, oder? Wie war noch mal Ihr Name?«

»Haratounian. Zoë Haratounian.«

»Ein lustiger alter Name. Italienisch, oder?«

»Nein.«

»Hier in der Stadt laufen einfach eine Menge seltsamer Typen herum.«

»Aber sind Sie denn nicht der Meinung, dass er damit eine Straftat begangen hat?«

Der Beamte mit der Römernase zuckte mit den Achseln.

»Ist etwas gestohlen worden?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht. Nein, ich glaube nicht.«

»Gibt es irgendwelche Spuren, die beweisen, dass sich jemand unter Anwendung von Gewalt Zugang zur Wohnung verschafft hat?«

»Zumindest kann ich keine entdecken.«

Er sah zu seinem Kollegen hinüber und machte eine kleine Kopfbewegung in Richtung Tür, was soviel hieß wie: Lass uns so schnell wie möglich hier abhauen.

»Falls etwas Ernstes vorfallen sollte« – dabei legte er die Betonung dezent auf »Ernstes«, was ich fast ein bisschen unverschämt fand –, »dann rufen Sie uns an.«

Sie wandten sich zum Gehen.

»Wollen Sie den Brief nicht mitnehmen?«

»Behalten Sie ihn, meine Liebe. Legen Sie ihn in eine Schublade. Irgendwohin, wo er sicher ist.«

»Wollen Sie meine Aussage denn nicht aufnehmen?

Müssen Sie nicht ein Formular ausfüllen?«

»Falls der Kerl Sie weiterhin belästigen sollte, werden wir das tun, meine Liebe. In Ordnung? Und nun sehen Sie zu, dass Sie ein wenig Schlaf bekommen. Wir müssen zu einem neuen Einsatz.«

Und weg waren sie. Durchs Fenster beobachtete ich, wie sich ihr Wagen in die anderen Lichter einreihte und im Chaos der Stadt verschwand.

6. KAPITEL

raußen auf der Holloway Road waren laute Musik und Gelächter zu hören, als wäre dort ein D

Straßenfest im Gange. Jemand klatschte wie wild. Ein Auto hupte. Die schwüle Nachtluft verdichtete all die Gerüche der Nacht: Es roch nach Gewürzen, gebratenen Zwiebeln, Abgasen, Patschuli, Knoblauch und Zimt. Sogar ein Hauch von Rosenduft mischte sich in das Potpourri.

Hin und wieder wehte durch das weit offen stehende Fenster eine leichte Brise und bauschte die halb zugezogenen Vorhänge.

Trotz der vorgerückten Stunde waren weder Sterne noch der Mond zu sehen. Die Stadt wurde nur vom Schein der Straßenlampen erhellt, die den Raum in ein schwaches, schmutzig oranges Licht tauchten. Einen Moment lang sehnte ich mich danach, mitten in einem Wald oder einer Wüste zu sein oder draußen auf dem offenen Meer.

Ich hatte die Augen geöffnet und sah Fred an, der meinen Blick mit einem selbstbewussten Lächeln erwiderte, während der Schweiß von seiner Stirn auf mein Gesicht und meinen Hals tropfte und unsere Hände über den nassen Körper des anderen glitten. Er war mir immer noch fremd: seine hohe Stirn, sein voller Mund, sein langer, schlanker, glatter Körper. Sogar nach einem durchtanzten Abend und anschließendem Sex verströmte er noch einen sauberen, leicht hefigen Geruch. Seine Haut duftete nach Zitronenseife und Erde, Gras und Bier. Ich befreite uns von der feuchten Bettdecke. Fred streckte sich auf dem schmalen Bett genüsslich aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und grinste mich an.

»Das war schön«, flüsterte ich.

»Danke«, antwortete er.

»Das ist nicht die Antwort, die von dir erwartet wird«, erwiderte ich. »Die richtige Antwort lautet: ›Ja, das war schön.‹ Etwas in der Art.«

Er schüttelte den Kopf. »Hast du je zuvor so guten Sex gehabt?«

Gegen meinen Willen musste ich kichern. »Meinst du das jetzt ernst? Du möchtest wohl, dass ich sage: ›O Fred, ich hatte ja keine Ahnung, dass es so sein kann!‹«

»Halt den Mund! Halt verdammt noch mal den Mund!«

Ich sah ihn an. Er lächelte nicht. Ich hatte tatsächlich seine Gefühle verletzt. Er machte einen gedemütigten, wütenden Eindruck. Männer.

Ich setzte mich auf, schüttelte zwei Zigaretten aus der Packung, die neben dem Bett auf dem Boden lag, zündete beide an und reichte eine davon Fred. »Ich hatte noch nie Sex mit einem Gärtner.«

Er zog einmal kräftig daran und blies einen hübschen Rauchkringel in die Luft, der dort einen Moment hängen zu bleiben schien, ehe er sich auflöste. »Ich bin kein Gärtner, ich arbeite lediglich für einen. Ich helfe aus.«

»Genauso gut könnte ich sagen: Ich bin keine Lehrerin, ich unterrichte bloß.«

Er blies einen weiteren Rauchkringel in die Luft und sah ihm nach. »Du bist tatsächlich Lehrerin. Ich dagegen werde mich von diesem Job verabschieden, sobald ich kann.«

»Oh.« Ich spürte, wie Ärger in mir hochstieg.

»Herzlichen Dank für die Belehrung. Darf man dann fragen, ob du schon mal Sex mit einer Lehrerin hattest?«

Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Auf seinem Gesicht breitete sich ein anzügliches Grinsen aus.

»Zumindest nicht mit einer so berühmten Lehrerin.«

Darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Den ganzen Abend hatte ich getrunken, gekichert und getanzt, mich bewusst zugeschüttet, um nicht mehr nachdenken zu müssen. Ich hatte die Nase voll von blöden Witzen über Wassermelonen, von Zeitungsartikeln, in denen ich als kleine blonde Zoë bezeichnet wurde, und seltsamen Briefen auf meiner Fußmatte. Ich wollte nichts mehr hören von Leuten, die an mich dachten oder gar von mir träumten, obwohl sie mir nie begegnet waren. Vielleicht stand in diesem Moment jemand draußen vor der Wohnung, starrte zu meinem offenen Fenster hinauf und wartete darauf, dass Fred ginge. Schlagartig fühlte ich mich wieder nüchtern.

Ich ließ meine Zigarette in das Glas neben dem Bett fallen, wo sie zischend erlosch. »Die letzten Briefe, die ich bekommen habe …«

»Ignoriere sie einfach«, fiel mir Fred forsch ins Wort. Er schloss die Augen. »Was machst du dieses Wochenende?«

»Sie haben mir Angst eingejagt. Sie klangen … oh, ich weiß auch nicht, irgendwie zielgerichtet.«

»Mmm.« Er streichelte mir leicht übers Haar. »Wir haben für Samstag ein Picknick geplant. Irgendwo auf dem Land. Hättest du Lust mitzukommen?«

»Seid ihr eigentlich immer als Gruppe unterwegs?«

Er beugte sich vor und küsste meine Brüste. »Manche Sachen schaffe ich auch allein. Also, wo liegt das Problem?«

»Vergiss es.« Einen Moment lang schwiegen wir beide.

»Würdest du heute Nacht bei mir bleiben, Fred? Ich meine, die ganze Nacht. Natürlich nur, wenn du magst.«

Es war, als hätte ich verkündet, dass unter dem Kissen eine Bombe liege. Er riss die Augen auf und fuhr hoch.

»Tut mir Leid«, sagte er. »Ich muss morgen in aller Herrgottsfrühe bei einer alten Dame in Wimbledon antreten.« Er sprang in seine Boxershorts und dann in die Hose. Unglaublich, wie schnell er sich anziehen konnte.

Er hatte bereits das Hemd zugeknöpft, die Socken übergestreift und seine Schuhe unter dem Bett hervorgeholt. Während er auf den Stuhl zusteuerte, über dem seine Jacke hing, tastete er die Hosentaschen ab, um sicherzustellen, dass ihm das Kleingeld nicht herausgefallen war.

»Deine Uhr«, bemerkte ich trocken.

»Danke. Verdammt, schon so spät! Ich ruf dich morgen an, wegen Wochenende und so.«

»Klar.«

»Lass dir keine grauen Haare wachsen.« Er streichelte mir übers Gesicht, küsste meinen Hals. »Gute Nacht, schöne Frau.«

»Gute Nacht.«

Nachdem er gegangen war, stand ich auf und schloss trotz der drückenden Hitze das Wohnzimmerfenster. Der Raum erschien mir beklemmender denn je. Ich blickte auf die Holloway Road hinaus. In ein paar Stunden würde es hell werden. Ich sah zum wohl zehnten Mal an diesem Abend nach, ob das Flurfenster geschlossen war. Dann holte ich meine Armbanduhr aus dem Bad: Viertel vor zwei. Wenn es bloß schon Morgen wäre. Ich war müde, aber nicht schläfrig, und wenn man Angst hat, kriecht die Zeit im Schneckentempo dahin. Meine noch immer schweißnasse Haut prickelte, und mir war plötzlich kalt, sodass ich die dünne Bettdecke vom Boden aufhob und mich darin einwickelte, ehe ich mir eine weitere Zigarette anzündete.

Wie gern hätte ich mir jetzt eine Tasse Tee gemacht, aber der war ja leider aus. Vielleicht stand noch irgendwo ein Rest Whisky herum. Ich ging in die Küche und zog einen Stuhl vor den Hochschrank. Er enthielt eine Menge leerer Flaschen, die ich eines Tages zum Glascontainer bringen würde, aber keinen Whisky. Immerhin entdeckte ich eine Flasche Pfefferminzlikör, den ich von einem Verwandten zu Weihnachten bekommen und bisher noch nicht angerührt hatte. Ich schenkte einen Schluck davon in eine Tasse, von der der Henkel abgebrochen war. Das Zeug war grün, zähflüssig und extrem süß. Es rollte wie ein brennender Ball meinen Rachen hinunter.

»Bäh!«, sagte ich laut. Erst jetzt bemerkte ich, wie still es geworden war, wenn man von den gelegentlichen kleinen Erschütterungen absah, die durch vorbeifahrende Lastwagen verursacht wurden. Nur hin und wieder hörte man auf dem Gehsteig noch die Schritte eines Fußgängers.

Inzwischen war es Viertel nach zwei.

Eingewickelt in meine Decke, schlurfte ich ins Bad hinüber, putzte mir die Zähne und kühlte mein heißes Gesicht mit Wasser. Dann legte ich mich ins Bett und versuchte, nicht mehr nachzudenken, was mir aber nicht gelang. Im Geist ging ich die beiden Briefe noch einmal durch. Obwohl ich den ersten weggeworfen hatte, konnte ich mich noch ziemlich genau an den Text erinnern. Den zweiten hatte ich auf meinen Schreibtisch gelegt. Die Polizei war offenbar nicht davon überzeugt, dass er von derselben Person stammte, während ich mir da ganz sicher war. Sie nahmen die ganze Sache nicht ernst. Sie wussten nicht, was für ein Gefühl es war, als Frau allein in einer schäbigen Wohnung an der Holloway Road zu leben und Angst zu haben, dass draußen jemand stand und einen beobachtete.

Obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte, holte ich den Brief, kehrte damit ins Bett zurück und las ihn ein weiteres Mal. Mir war klar, dass dieser Mann mich tatsächlich beobachtet, dass er genau hingesehen und dabei Dinge entdeckt hatte, die nicht einmal mir selbst aufgefallen waren, wie beispielsweise der Fleck am Finger. Er hatte mich auf eine Weise studiert, wie man es häufig nicht einmal bei einem Geliebten tat. Er war hier in meiner Wohnung gewesen, das wusste ich ganz genau, egal, was die Polizei sagte, und er hatte sich meine Sachen angeschaut, sie womöglich auch berührt. Vielleicht hatte er meine Briefe gelesen, in meinen Fotos und Klamotten gewühlt. Es war sogar denkbar, dass er etwas mitgenommen hatte. Er hatte mich beim Schlafen beobachtet. Er wolle in mich hineinsehen, schrieb er.

Nicht in mir sein, sondern in mich hineinsehen. Mir war plötzlich übel, aber vielleicht lag das nur an dem Pfefferminzlikör oder an den anderen Sachen, die ich im Lauf des Abends getrunken hatte, oder an dem schweißtreibenden Sex oder an meiner Müdigkeit oder …

ach, verdammt.

Ich schloss die Augen und legte einen Arm übers Gesicht, sodass ich mich in völliger Dunkelheit befand.

Draußen vor meinem Fenster lauerte London, eine Stadt voller Augen. Ich hörte einen Regentropfen, dann noch einen. Meine Gedanken rasten weiter, es gelang mir einfach nicht, mich zu beruhigen. Immer wieder ging ich im Geist den Brief durch.

»Wie gesagt.« Das war das Komische daran. In welchem Zusammenhang hatte er das noch mal geschrieben? Er wollte in mich hineinsehen. Wie gesagt. Aber das hatte er vorher doch noch gar nicht gesagt, oder doch? Ich versuchte, den ersten Brief zu rekonstruieren. Den genauen Wortlaut hatte ich zwar nicht mehr ganz genau im Kopf, aber daran hätte ich mich bestimmt erinnert. Was bedeutete das?

Mir kam ein Gedanke, den ich am liebsten ignoriert hätte. Mit trockenem Mund setzte ich mich auf, schwang die Beine aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer hinüber, wo ich die Pappschachtel unter dem Sofa hervorzog. Sie enthielt Dutzende von Briefen, die ich zum Teil gar nicht erst geöffnet hatte. Es würde wahrscheinlich Ewigkeiten dauern, sie alle durchzusehen. Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück und schlüpfte in meinen schäbigen alten Jogginganzug. Dann schenkte ich mir eine weitere Tasse von dem schrecklichen Likör ein, zündete mir eine Zigarette an und begann mit der Durchsicht.

Ich brauchte bloß einen raschen Blick auf jeden Brief zu werfen, um ganz sicher zu sein, ob er von ihm war oder nicht. Meine liebe Zoë … Miss Haratounian … Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist, du Schlampe … Haben Sie Jesus gefunden? … Sie lächeln, aber Ihre Augen wirken traurig … Wie schön für Sie … Vielleicht hätten Sie Lust, für unsere wohltätige Organisation zu spenden

… Ich hatte das Gefühl, wir sind uns schon einmal begegnet … Falls du auf SM stehst … Ich schreibe aus dem Gefängnis … Auf Grund meiner langjährigen Erfahrung möchte ich Ihnen den Rat geben …

Dann lag er vor mir. Mein Herz raste. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Seine schräge, schwarze Handschrift. Ich griff nach dem Umschlag, den ich nicht geöffnet hatte. Er war frankiert und mit meiner Adresse versehen, komplett mit Postleitzahl und allem Drum und Dran. Nachdem ich einen großen Schluck aus meiner Tasse genommen hatte, schob ich meinen Finger unter die Lasche und riss den Umschlag auf. Der Brief war kurz und kam schnell zur Sache:

Liebe Zoë, ich möchte in dich hineinsehen, und dann möchte ich dich töten. Es gibt nichts, was du tun kannst, um mich aufzuhalten. Aber noch ist es nicht so weit. Ich werde dir wieder schreiben.

Ich starrte auf die Worte, bis sie vor meinen Augen verschwammen. Mein Atem ging schnell und heftig.

Regentropfen klatschten gegen das Fenster, ein schwerer Sommerregen hatte eingesetzt. Ich sprang auf, zerrte das Sofa auf den Gang hinaus und verbarrikadierte damit die Wohnungstür. Dann griff ich nach dem Telefonhörer und tippte mit zittrigen, ungeschickten Fingern Freds Nummer.

Es läutete und läutete.

»Ja?« Seine Stimme klang verschlafen.

»Fred. Fred, hier ist Zoë.«

»Zoë. Weißt du eigentlich, wie spät es ist, verdammt noch mal?«

»Was? Nein, keine Ahnung. Fred, ich habe noch so einen Brief bekommen.«

»Lieber Himmel, Zoë, es ist halb vier!«

»Er schreibt, er wird mich umbringen.«

»Hör zu …«

»Kannst du bitte vorbeikommen? Ich habe solche Angst, und ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.«

»Zoë, hör zu.« Ich hörte ihn ein Streichholz anzünden.

»Es ist alles in Ordnung.« Seine Stimme klang sanft, aber nachdrücklich, als würde er mit einem Kind sprechen, das sich vor der Dunkelheit fürchtete. »Du bist in deiner Wohnung völlig sicher.« Er schwieg einen Moment.

»Wenn du tatsächlich solche Angst hast, dann ruf die Polizei an.«

»Bitte, Fred. Bitte!«

»Ich habe schon geschlafen, Zoë.« Seine Stimme klang jetzt kalt. »Ich schlage vor, du versuchst auch zu schlafen.«

Da gab ich es auf. »Also gut.«

»Ich melde mich.«

»In Ordnung.«

Ich rief bei der Polizei an und erwischte einen Beamten, mit dem ich noch nicht gesprochen hatte und der meine Adresse gewissenhaft, aber ziemlich langsam notierte.

Meinen Nachnamen musste ich zweimal buchstabieren, H

wie Haus und A wie Apfel. Jedes Mal, wenn ich ein Geräusch hörte, wurde ich vor Angst ganz starr. Dabei konnte natürlich keiner zu mir herein. Alles war abgeschlossen und verriegelt.

»Einen Augenblick, Miss.«

Während ich wartete, zündete ich mir eine neue Zigarette an. Mein Mund fühlte sich an wie das Innere eines Aschenbechers.

Schließlich teilte er mir mit, ich solle am Morgen aufs Revier kommen. Ich glaube, ich hatte erwartet, dass eine Horde von Polizisten auf der Stelle herbeieilen würde, um mich zu beschützen. Aber da hatte ich mich wohl geirrt.

Immerhin beruhigte es mich ein wenig, dass die Stimme des Beamten so gelangweilt und routiniert klang. Offenbar waren solche Dinge an der Tagesordnung. Irgendwann schlief ich dann doch ein. Als ich wieder aufwachte, war es fast sieben. Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Der Platzregen, der in der Nacht niedergegangen war, hatte die Straße gereinigt. Die Blätter der Platanen wirkten nicht mehr ganz so ausgebleicht und vertrocknet, und der Himmel leuchtete blau. Ich hatte schon ganz vergessen gehabt, wie die Farbe Blau aussah.

7. KAPITEL

iesmal sprach ich mit einem höherrangigen Polizisten, was ja schon ein F

D

ortschritt war.

Während die uniformierten Beamten, die bei mir in der Wohnung gewesen waren, ausgesehen hatten wie Mitglieder einer Schul-Rugbymannschaft, hatte der Detective, der auf dem Revier mit mir redete, etwas von einem Erdkundelehrer, auch wenn er in seinem marineblauen Anzug, zu dem er eine gedeckte Krawatte trug, vielleicht eine Spur schicker wirkte als alle meine ehemaligen Geographielehrer. Er war groß und untersetzt, fast schon fett. Sein braunes Haar trug er kurz und exakt geschnitten. Er holte mich im Empfangsbereich ab und stellte sich als Detective Sergeant Aldham vor.

Um uns Zutritt zum eigentlichen Polizeibereich zu verschaffen, musste er an der Tür einen Zahlencode eingeben. Beim ersten Mal vertippte er sich, sodass er die Prozedur etwas langsamer und leise fluchend wiederholen musste. Anschließend führte er mich nicht in einen Verhörraum oder etwas ähnlich Formelles, sondern an seinen Schreibtisch in einem Großraumbüro. Während ich seitlich davon Platz nahm, kam ich mir vor wie eine linkische Schülerin, die nach dem Unterricht noch zu einem Gespräch mit ihrem Lehrer erscheinen musste.

Oder, in meinem Fall, vor dem Unterricht. Ich war gezwungen gewesen, Pauline anzurufen und ihr mitzuteilen, dass ich später kommen würde, worüber sie nicht gerade begeistert gewesen war. Der Zeitpunkt sei denkbar ungünstig, hatte sie gemeint.

Aldham las die beiden Briefe sehr langsam und konzentriert, mit gerunzelter Stirn, während ich fünf Minuten lang nervös herumzappelte und mir die Leute ansah, die hereingeeilt kamen oder bereits an ihren Schreibtischen saßen und telefonierten.

Am anderen Ende des Raums lachten ein paar Beamte über etwas, das ich nicht mitbekommen hatte. Aldham blickte auf.

»Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»Nein, danke.«

»Ich hole mir eine.«

»Wenn das so ist, trinke ich eine mit.«

»Möchten Sie einen Keks dazu?«

»Nein, danke.«

»Ich werde mir einen genehmigen.«

»So früh am Morgen kann ich noch nichts essen.«

Es dauerte ziemlich lang, bis er mit zwei Plastikbechern zurückkam. Offenbar waren sie so heiß, dass er sie kaum halten konnte. Nachdem er wieder Platz genommen hatte, tauchte er einen Keks in seinen Tee und biss vorsichtig ein Stück ab.

»Also, wie denken Sie über die Sache?«, fragte er mich.

»Wie ich darüber denke? Ist das nicht eher Ihr Job?«

»Ich weiß nicht. Was stand in dem anderen Brief?«

»Ich fand ihn ganz schrecklich, und deshalb habe ich ihn weggeworfen. Zum Teil stand ziemlich seltsames Zeug drin. Irgendwas darüber, was ich esse. Und etwas über die Angst vor dem Sterben. Es klang, als wäre er von jemandem, der mich genau beobachtet hatte.«

»Oder von jemandem, der Sie kennt?«

»Mich kennt?«

»Es könnte sich um einen Scherz handeln. Wäre es nicht denkbar, dass sich ein Freund oder Bekannter einen Scherz mit Ihnen erlaubt?«

Einen Moment lang war ich sprachlos. »Jemand hat damit gedroht, mich zu töten! Das finde ich nicht zum Lachen.«

Aldham rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum.

»Manche Leute haben einen seltsamen Sinn für Humor«, meinte er. Einen Moment lang schwiegen wir beide. Ich überlegte krampfhaft. Konnte es sein, dass ich mich irrte?

Vielleicht machte ich wirklich zu viel Aufhebens um die Sache. »Warten Sie bitte hier auf mich«, sagte er schließlich. »Ich würde gern noch eine weitere Meinung einholen.«

Er nahm eine Aktenmappe aus seinem Schreibtisch und steckte die beiden Briefe hinein. Bewaffnet mit der Mappe und seinem Tee, durchquerte er mit schweren Schritten den Raum und verschwand außer Sichtweite. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Wie lange würde das dauern? Lohnte es sich, dass ich meine eigenen Akten herausholte und an der Ecke von Aldhams Schreibtisch ein bisschen arbeitete? Irgendwie war mir nicht danach. Als Aldham schließlich zurückkehrte, wurde er von einem anderen Mann begleitet. Er war kleiner, dünner, bereits leicht ergraut und sah aus, als stünde er in der Hierarchie ein Stück höher als Aldham. Er stellte sich als Detective Inspector Carthy vor.

»Ich hab mir Ihre Briefe angesehen, Miss … ähm …« Er murmelte etwas, das offensichtlich einen Versuch darstellte, meinen Namen auszusprechen. »Ich habe mir die Briefe angesehen, und Kollege Aldham hat mich über die Einzelheiten des Falls informiert. Es handelt sich zweifellos um recht üble Schmierereien.«

Er sah sich einen Moment lang suchend um und zog dann von einem anderen Schreibtisch einen Stuhl heran.

»Die Frage ist nun, womit wir es hier tatsächlich zu tun haben.«

»Womit wir es zu tun haben? Jemand hat mich bedroht und ist in meine Wohnung eingedrungen!« Carthy schnitt eine Grimasse. »Und ich werde mit diesen Briefen belästigt. Das ist doch wohl ein Tatbestand, oder etwa nicht?«

»Unter gewissen Umständen. Wir verstehen natürlich, dass Sie sich Sorgen machen«, antwortete er, »aber es ist in einem solchen Fall schwierig, konkrete Maßnahmen zu ergreifen.«

»Halten Sie diesen Menschen denn nicht für gefährlich?«

»Schwer zu sagen, Miss. Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie in letzter Zeit noch eine Menge andere Post bekommen.«

Nachdem ich ein weiteres Mal über meinen kurzen Ruhm berichtet hatte, wechselten die beiden Beamten einen raschen Blick und lächelten.

»Die Geschichte mit der Melone?«, fragte Carthy. »Das war großartig! Wir haben den Zeitungsausschnitt mit dem Foto noch irgendwo hängen. Alle hier finden, dass Sie eine Heldin sind. Vielleicht könnten Sie noch zu ein paar Leuten hallo sagen, bevor Sie gehen? Aber zurück zu den Schreiben: Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sie unter die Kategorie Briefe fallen, die einem zwangsläufig ins Haus schneien, wenn man berühmt wird. Es gibt da draußen eine Menge trauriger Gestalten, für die so etwas die einzige Art der Kontaktaufnahme mit anderen Menschen darstellt.«

Ich verlor die Geduld. »Tut mir Leid, aber ich glaube nicht, dass Sie die Sache ernst genug nehmen. Der Kerl hat schließlich nicht nur Briefe geschrieben. Er war in meiner Wohnung.«

»Er war vielleicht in Ihrer Wohnung.« Carthy stieß einen langen, gequält klingenden Seufzer aus. »Also gut. Lassen Sie uns mal über ein paar Dinge nachdenken.« Er schwieg einen Augenblick. »Fangen wir mit Ihrer Wohnung an. Ist sie leicht zugänglich?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Es ist eine ganz normale, nachträglich ausgebaute Wohnung. Man betritt das Haus von der Holloway Road aus. An den Garten hinter dem Haus schließt der Hinterhof eines Pubs an.«

Carthy schrieb etwas auf einen großen Block, der auf seinen Knien lag. Ich konnte nicht sehen, ob er sich eine Notiz machte oder bloß herumkritzelte.

»Bekommen Sie in Ihrer Wohnung oft Besuch?«

»Wie meinen Sie das?«

»Einmal die Woche? Zweimal? Ich brauche natürlich nur eine durchschnittliche Zahl.«

»Das kann ich so nicht beantworten. Hin und wieder kommen Freunde vorbei. Ein paar von ihnen hatte ich letzte Woche auf einen Drink eingeladen. Außerdem habe ich einen neuen Freund. Er war in letzter Zeit ziemlich oft da.« Wieder kritzelte Carthy etwas aufs Papier. »Ach ja, und die Wohnung steht seit sechs Monaten zum Verkauf.«

Carthy zog eine Augenbraue hoch. »Heißt das, dass auch Leute da waren, um sich die Wohnung anzusehen?«

»Natürlich.«

»Wie viele?«

»Eine Menge. Die ganzen sechs Monate zusammengenommen, waren es bestimmt sechzig oder siebzig, vielleicht sogar noch mehr.«

»Waren darunter auch solche, die öfter als einmal gekommen sind?«

»Ein paar. Ich möchte natürlich, dass sie öfter kommen.«

»Gab es darunter Personen, die Ihnen irgendwie seltsam erschienen sind?«

Ich konnte mir ein grimmiges Lächeln nicht verkneifen.

»Ungefähr drei Viertel von ihnen. Wildfremde Menschen, die meine Schränke öffnen und in meinen Schubladen herumstöbern. Aber so ist das nun mal, wenn man versucht, seine Wohnung zu verkaufen.«

Carthy verzog keine Miene.

»Wenn man auf diese Weise belästigt wird, können dafür ganz unterschiedliche Motive vorliegen. In den meisten Fällen sind diese Motive privater Natur.« Er klang ein wenig verlegen. »Stört es Sie, wenn ich Ihnen ein paar persönliche Fragen stelle?«

»Nicht, wenn sie für die Sache relevant sind.«

»Sie haben von einem neuen Freund gesprochen. Wie lange sind Sie schon zusammen?«

»Erst seit kurzem. Zwei oder drei Wochen.«

»Bedeutet das, dass Sie deswegen eine andere Beziehung beendet haben?«

»Eigentlich nicht.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Ich hatte vorher keine wirkliche Beziehung.«

»Dann vielleicht eine, ähm, Liaison? Eine Affäre?«

»Na ja, so was in der Art.« Ich lief knallrot an.

»Haben Sie sich im Streit getrennt?«

»So war das nicht«, entgegnete ich. »Ich wollte damit bloß sagen, dass es im Lauf der Zeit hin und wieder mal einen Mann in meinem Leben gegeben hat.«

»Dann waren es also mehrere?« Carthy und Aldham wechselten einen bedeutungsvollen Blick.

»Nein, so kann man das auch nicht sagen.« Mittlerweile war ich ziemlich durcheinander. Ich wusste, was die beiden jetzt von mir dachten, und alles, was ich von mir gab, würde es nur noch schlimmer machen. Das Lächerliche daran war, dass ich, verglichen mit allen anderen Leuten, die ich kannte, ein richtiges Nonnenleben führte. »Letztes Jahr hat es zwei Männer gegeben, mit denen ich mich hin und wieder getroffen habe – mit denen ich zusammen war, wenn Sie so wollen.« Aus den Blicken der beiden konnte ich schließen, dass sie mir diese niedrige Zahl nicht so ganz abnahmen. »Die letzte Sache ist Monate her.«

»Sind Sie im Streit auseinander gegangen?«

Ich musste daran denken, wie ich Stuart in einem Café in der Nähe von Camden Lock gegenübergesessen hatte. Ich stieß ein trauriges Lachen aus. »Man könnte eher sagen, das Ganze ist einfach im Sand verlaufen. Wie auch immer, ich habe kürzlich gehört, dass er zurzeit durch Australien trampt. Sie können ihn von Ihrer Liste der Verdächtigen streichen.«

Carthy steckte seinen Kugelschreiber ein und stand auf.

»Kollege Aldham wird mit Ihnen ein Formular ausfüllen und eine kurze Aussage aufnehmen.«

»Was werden Sie unternehmen, um ihn zu schnappen?«

»Sollte tatsächlich noch mal etwas vorfallen, rufen Sie Aldham an. Dann werden wir sehen, was zu tun ist. Ach ja, und seien Sie in nächster Zeit ein bisschen vorsichtig, was Ihr Privatleben betrifft.«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich einen Freund habe.«

Mit einem kurzen Nicken wandte er sich zum Gehen und murmelte dabei etwas vor sich hin, das ich nicht verstand.

8. KAPITEL

ch kam noch später in die Schule, als ich angekündigt hatte.

I Nach dem Besuch im Polizeirevier war ich so müde, dass ich befürchtete, meine Beine würden mir den Dienst versagen. Unter dem Baumwollkleid fühlte sich meine Haut staubig, ja fast sandig an. Meine Kopfhaut juckte, und meine Schultern waren total verspannt. Als ich in die gleißende Sonne hinaustrat, begann es in meinen Augen schmerzhaft zu pochen. Ich kniff sie zusammen und wühlte in meiner Tasche nach der Sonnenbrille.

Verdammt. Ich hatte sie zu Hause vergessen, ebenso wie meine Vitamintabletten. Von meinen Zigaretten war auch nur noch eine einzige übrig. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, in meine Wohnung zurückzukehren, ein Bad zu nehmen und ein wenig zur Ruhe zu kommen, ehe ich in die Schule aufbrach. Oder mich wenigstens in einen der nahe gelegenen Parks ins sonnenverbrannte Gras zu legen und die Augen zu schließen oder den Enten zuzusehen.

Stattdessen kaufte ich an einem Kiosk neben der Straße zwei Schachteln Zigaretten und eine billige Sonnenbrille und schlich dann schuldbewusst in ein schmuddeliges Café, wo ich zwei Tassen schwarzen Kaffee und Rührei auf Toast bestellte. Während ich langsam aß, beobachtete ich die Leute, die draußen vor dem schmutzigen Fenster vorübergingen. Ein Rasta mit einer gelben Kappe. Ein Teenagerpärchen, das Arm in Arm dahinschlenderte und alle paar Meter stehen blieb, um sich zu küssen. Eine Gruppe japanischer Touristen mit Fotoapparaten und um die Hüften gebundenen Pullis. Bestimmt hatten sie sich verlaufen. Ein Mann mit einem Baby im Tragetuch, von dem ich nur das flaumige Köpfchen sehen konnte. Eine Frau, die das kleine, rotgesichtige Kind an ihrer Seite laut anschrie. Eine Inderin in einem scharlachroten Sari, die sich bemühte, mit ihren feinen Sandalen nicht in Hundescheiße oder anderen Dreck zu treten. Eine mit Schwimmsachen bewaffnete Horde von Schulkindern, die von einer genervt wirkenden jungen Frau, die mich an mich selbst erinnerte, über die abgasverpestete Straße getrieben wurde. Ein Radfahrer in leuchtend gelben Shorts, der konzentriert den Kopf gesenkt hielt, während er sich durch den Verkehr schlängelte. Eine Frau mit breitrandigem Hut, Atombusen und einem winzigen Pudel, die aussah, als wäre sie in den falschen Film geraten.

Ich selbst war ebenfalls in den falschen Film geraten.

Womöglich beobachtete er mich gerade wieder. Vielleicht könnte ich ihn sogar sehen, wenn ich wüsste, in welche Richtung ich schauen sollte. Was hatte ich verbrochen, dass mir so etwas widerfahren musste? Ich zündete mir eine Zigarette an und trank meinen lauwarmen, bitteren Kaffee. Inzwischen war es schon so spät, dass ein paar weitere Minuten auch keinen Unterschied mehr machen würden.

Bevor ich in der Kingsland Road in meinen Bus stieg, kam ich an einer Telefonzelle vorbei und empfand plötzlich den irrwitzigen Drang, meine Mutter anzurufen.

Meine Mutter, die schon seit zwölf Jahren tot war. Ich wollte einfach von ihr hören, dass alles wieder gut werden würde.

Pauline begrüßte mich mit eisiger Höflichkeit, als ich schließlich eintraf. Sie erklärte mir, ein Mann namens Fred habe angerufen und lasse mir ausrichten, ich solle ihn im Lauf des Tages auf seinem Handy zurückrufen. Sie schien nicht gerade begeistert darüber zu sein, für eine zu spät kommende Lehrerin Nachrichten von deren Freund entgegennehmen zu müssen. Die Vertretung, die für mich eingesprungen war, hatte die Schüler in Plastikkittel gesteckt und sie mit dicken Pinseln Farben zusammenmi-schen lassen. Deswegen forderte ich die Kinder auf, ein Bild von sich zu malen, das sie dann vor dem Elternabend an die Wand des Klassenzimmers hängen konnten. Raj malte sich mit braunen Haaren und einem blassrosa Gesicht, bei dem die Beine direkt aus dem Kinn heraus-ragten. Eric, der niemals lächelte, gab sich einen roten Mund, der von einem Ohr zum anderen reichte. Stacey verschüttete ihr Wasser über das Ergebnis von Taras Bemühungen, woraufhin Tara ihr einen Schlag verpasste.

Damian fing so bitterlich zu weinen an, dass ihm die Tränen aufs Blatt tropften. Als ich ihn beiseite nahm und mich nach dem Grund seines Kummers erkundigte, antwortete er, alle würden auf ihm herumhacken, ihn Memme nennen, auf dem Spielplatz ärgern und immer wieder auf der Toilette einsperren. Nachdenklich betrachtete ich ihn: ein bleiches, schniefendes kleines Etwas mit schmutzigen Ohren, dem seine viel zu weiten Sachen um den dürren Körper schlotterten.

Fred wollte, dass ich ihm an diesem Abend beim Fußballspielen zusah. Sie spielten jeden Mittwoch, immer fünf gegen fünf, erklärte er – ein regelmäßiger Programmpunkt in ihrem Männerleben. Er klang gut gelaunt und gleichmütig, als wäre am Vorabend nicht das Geringste vorgefallen. Er erzählte mir, dass er gerade damit beschäftigt sei, in einem Vorstadtgarten abgeblühte Rosen zurückzuschneiden, dabei aber ständig an meinen Körper denken müsse.

Pauline teilte mir mit, dass ich meinen Bericht über die Fortschritte meiner Schüler bis Ende der Woche abliefern müsse. Ob das machbar sei, wollte sie wissen. »Natürlich«, antwortete ich, klang dabei aber wohl nicht sehr überzeugend. Ich hatte inzwischen rasende Kopfschmerzen. Normalerweise mache ich auf dem Weg in die Schule immer an einem Sandwich-Stand Halt und kaufe mir ein Brötchen mit Käse und Tomaten, aber an diesem Tag hatte ich nicht daran gedacht. So kam es, dass ich bei der dicken Frau in der Cafeteria Salzkartoffeln mit Bohnengemüse bestellte, während die anderen Lehrer gesunde Sandwiches und Obst verspeisten. Anschließend genehmigte ich mir noch eine große Portion Pudding mit Vanillesoße. Das Essen tat mir gut. Danach ging es mir gleich viel besser.

Nach der Pause ließ ich die Kinder immer wieder den Buchstaben F schreiben, wobei sie darauf achten mussten, den gepunkteten Linien auf ihren Arbeitsblättern zu folgen. F für Fuchs und Frosch und fröhlich. »Und ficken«, verkündete der vierjährige Barny, der als Augustbaby der Jüngste seiner Klasse war. Seine Freunde johlten bewundernd.

In unserer Gesprächsrunde, die wir regelmäßig abhielten, diskutierten wir über das Schikanieren von Klassenkameraden. Ohne zu Damian hinüberzusehen, sprach ich darüber, wie wichtig es sei, dass alle versuchten, nett miteinander umzugehen. Die Kinder starrten mich mit ihren grausamen, unschuldigen Augen an. Damian, der ganz in meiner Nähe saß, zupfte verlegen am Teppich herum, während seine Augen hinter den dicken Brillengläsern in Tränen schwammen.

»Besser?«, fragte ich ihn, nachdem der Rest der Klasse gegangen war.

»Mmm«, murmelte er mit hängendem Kopf. Ich sah, dass sein Hals genauso schmutzig war wie seine Nägel.

Plötzlich empfand ich so etwas wie Wut auf ihn. Am liebsten hätte ich ihn gepackt und seine Hoffnungslosigkeit aus ihm herausgeschüttelt. Vielleicht war ich zurzeit ja genauso, dachte ich: Vielleicht ließ ich genau wie er zu, dass man mich schikanierte.

Es ist erstaunlich, wie viel Lärm zehn Männer machen können. Sie verständigten sich nicht bloß durch Zurufe untereinander, nein, sie grunzten, schrien, heulten, brüllten, schlugen hart auf dem Boden auf, knallten mit voller Wucht ineinander und traten sich gegenseitig so heftig gegen das Schienbein, dass ich die Knochen krachen hörte. Erstaunlicherweise kam es zu keinen größeren Handgreiflichkeiten, es floss kein Blut, und es musste auch niemand verletzt vom Platz getragen werden.

Nach einer Stunde waren sie alle total verschwitzt und fertig, aber bester Laune. Ich kam mir ein bisschen dämlich vor, weil ich wie ein Fan an der Seitenlinie stand und zusah, wie sie sich gegenseitig auf die Schulter klopften. Außer mir waren noch vier Frauen da, die sich offensichtlich kannten. Bestimmt trafen sie sich jeden Mittwoch, um zuzusehen, wie sich ihre Männer blaue Flecken holten. Clio, Annie und Laura. Den Namen der vierten Frau hatte ich nicht richtig verstanden. Sie wollten wissen, wie ich Fred kennen gelernt hätte und ob ich nicht auch fände, dass er ein unglaublicher Charmeur sei. Ihre zurückhaltende Freundlichkeit weckte in mir den Verdacht, dass er fast jede Woche eine andere mitbrachte und sie deswegen gar nicht erst beabsichtigten, sich mit mir anzufreunden. Ich nehme an, ich hätte Fred anfeuern sollen, sooft er schreiend und mit glänzenden Augen an mir vorbeistürmte, aber irgendwie konnte ich mich nicht so recht dazu durchringen.

Nach dem Spiel kam er zu mir herüber, legte den Arm um meine Schulter und küsste mich.

»Du bist ganz schön verschwitzt.«

Ich fand das nicht weiter schlimm, aber es war andererseits auch nicht so, dass mich ein schweißüberströmter Mann insgeheim – auf eine animalische Weise – angetörnt hätte.

»Mmmm.« Er schmiegte sich an mich. »Und du bist so frisch und hübsch.«

Nach der Arbeit hatte ich bei Louise ein Bad genommen, und sie hatte mir eine graue Baumwollhose und ein ärmelloses Stricktop geliehen. Ich hatte Angst davor gehabt, in meine Wohnung zurückzukehren. »Kommst du noch mit auf ein Bier?«

»Klar.« Das Letzte, was mein Körper jetzt wollte, war ein Bier, aber ich brauchte dringend Gesellschaft. Solange ich unter anderen Menschen weilte, an einem öffentlichen Ort, fühlte ich mich sicher. Schon der Gedanke, eine weitere Nacht allein in meiner dunklen Wohnung verbringen zu müssen, machte mir Angst.

»Ich gehe bloß rasch duschen.«

Aus einem Bier wurden mehrere. Wir saßen in einem dunklen Pub, dessen Wirt sie offensichtlich alle gut kannte.

»Seitdem bekommt sie lauter verrückte Briefe«, erzählte Fred gerade, als wäre das alles furchtbar lustig. Seine Hand wanderte an meine Seite, glitt die Rippen entlang nach unten. Nervös setzte ich mich anders hin, zündete mir eine neue Zigarette an und kippte den letzten Rest Bier hinunter. »Unter anderem einen, in dem ihr ein Kerl damit droht, sie umzubringen. Stimmt’s, Zoë?«

»Ja« murmelte ich. Ich wollte nicht darüber reden.

»Was hat die Polizei gesagt?«, erkundigte sich Fred.

»Nicht viel.« Ich bemühte mich um einen lässigen Ton.

»Keine Sorge, Fred. Ich bin sicher, du kommst auf der Liste der Verdächtigen erst ziemlich weit unten.«

»Ich scheide von vornherein aus«, meinte er fröhlich.

»Wieso?«

»Na ja, … ähm, so halt.«

»Stimmt, du hast mich ja noch nie schlafen sehen.« Ich bereute meine Worte, sobald ich sie ausgesprochen hatte, aber Fred sah mich nur verdutzt an. Zu meiner großen Erleichterung begann mir Morris von den Quizabenden zu erzählen, die hin und wieder in dem Pub veranstaltet würden und an denen sie jedes Mal teilnähmen.

»Es ist richtig grausam«, meinte er. »Sie machen es uns einfach zu leicht, wir haben dabei immer das Gefühl, uns auf ihre Kosten zu bereichern. Wir können von Glück sagen, dass sie uns nicht einfach rausschmeißen.«

»The Hustler«, warf Graham ein.

»Was?«, fragte ich.

»Langweilt dich mein Bruder mit seinem Geschwätz?«

»Sei nicht so gemein«, erwiderte ich.

»Nein, nein«, beruhigte mich Morris. »Das ist bloß ein Zitat. Diesen Satz hat Herman Mankiewicz über Joseph Mankiewicz gesagt.« Er grinste zu seinem Bruder hinüber.

»Aber am Ende war Joseph der erfolgreichere von beiden.«

»Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich habe keine Ahnung, wovon ihr sprecht.«

Leider fingen sie daraufhin an, es mir zu erklären. Für mich waren die Gespräche, die die beiden Brüder untereinander und mit ihren alten Freunden führten, eine seltsame Mischung aus abgedroschenen Witzen, obskuren Anspielungen und Stichworten, die nur sie allein verstanden, sodass ich es in der Regel vorzog, mich rauszuhalten und schweigend abzuwarten, bis ich wieder folgen konnte. Nach einer Weile kam das hektische Wortgefecht, bei dem immer einer den anderen zu übertrumpfen versuchte, wieder zum Erliegen, und ich konnte mein Gespräch mit Morris fortsetzen.

»Bist du eigentlich zusammen mit einer von …«, sagte ich mit leiser Stimme und nickte diskret zu den jungen Frauen am Tisch hinüber.

Das Thema schien Morris nicht besonders angenehm zu sein.

»Na ja, Laura und ich sind sozusagen, auf gewisse Weise

…«

»Auf welche Weise?«, fragte Laura quer über den Tisch.

Sie war eine große Frau mit glattem, braunem Haar, das sie am Hinterkopf in einem Knoten trug.

»Ich habe Zoë gerade erzählt, dass du Ohren hast wie eine Fledermaus.«

Ich rechnete damit, dass Laura wütend reagieren würde.

Ich hätte so reagiert, aber mir wurde langsam klar, dass die drei Frauen nicht zum harten Kern der Gruppe gehörten.

Sie unterhielten sich hauptsächlich untereinander und wurden nur dann ins allgemeine Gespräch mit einbezogen, wenn die Männer es für nötig hielten, was nicht allzu häufig der Fall zu sein schien. Mit ihren frischen Gesichtern und den vom Fußball noch immer leuchtenden Augen wirkten die Jungs mehr denn je wie kleine Buben. Warum hatten sie mich in ihre Gruppe aufgenommen? Als Publikum? Morris lehnte sich so nah zu mir herüber, dass ich einen Moment lang dachte, er wolle sich an mein Ohr schmiegen. Stattdessen flüsterte er mir etwas zu: »Es ist vorbei.«

»Was ist vorbei?«

»Das mit mir und Laura. Sie weiß es bloß noch nicht.«

Ich sah zu ihr hinüber. Sie saß völlig ahnungslos da und unterhielt sich. »Warum?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Achseln. Es wäre mir ohnehin zuwider gewesen, weiter über dieses Thema zu sprechen.

»Wie läuft’s mit der Arbeit?«, fragte ich, weil mir nichts anderes einfiel.

Morris zündete sich eine Zigarette an, ehe er antwortete.

»Wir sind alle am Warten«, sagte er schließlich.

»Wie meinst du das?«

Er nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette und dann einen noch tieferen aus seinem Bierglas. »Sieh uns doch an«, sagte er.

»Graham arbeitet für einen Fotografen und wartet darauf, selbst ein richtiger Fotograf zu werden. Duncan und ich fahren herum und erklären dämlichen Sekretärinnen die Details ihrer Software, die sie eigentlich im Handbuch hätten nachlesen können. Wir warten darauf, dass ein, zwei von unseren Ideen endlich … na ja, Früchte tragen. So, wie die Dinge in diesem Geschäft zurzeit laufen, braucht man bloß eine halbwegs passable Idee, und schon ist man mehr wert als British Airways.«

»Und Fred?«

Morris’ Blick wurde nachdenklich. »Fred buddelt und sägt vor sich hin und versucht währenddessen herauszufinden, wer er ist.«

»Immerhin wird er dabei braun und bekommt muskulöse Arme«, mischte sich Graham ein, der unser Gespräch belauscht hatte.

»Mmmm«, sagte ich.

Wir blieben noch lange sitzen und tranken alle viel zu viel. Auf Lauras Bitte hin, die aber eher wie ein Befehl klang, wechselte Morris irgendwann die Tischseite und setzte sich zu ihr, woraufhin Duncan neben mir Platz nahm. Er sprach erst eine Weile von seiner Arbeit mit Morris – dass sie jeden Tag unterwegs seien und meist getrennt voneinander in verschiedenen Firmen arbeiteten, wo sie irgendwelchen Idioten mit zu viel Geld und zu wenig Zeit erklären müssten, wie ihre Computer funktionierten. Dann erzählte er mir von Fred, den vielen Jahren, die sie sich schon kannten, ihrer langen Freundschaft.

»Nur eins kann ich ihm nicht verzeihen«, erklärte er.

»Was denn?«

»Das mit dir. Das war kein fairer Kampf.«

Ich zwang mich zu einem Lachen. Er starrte mich an.

»Wir finden alle, dass du die Beste bist.«

»Die Beste was?«

»Einfach die Beste.«

»Und wen meinst du mit ›wir‹?«

»Uns Jungs.« Er machte eine ausladende Geste, die den ganzen Tisch mit einschloss. »Aber irgendwann gibt Fred seinen Frauen immer den Laufpass«, erklärte er.

»Mit dem Problem werden wir uns herumschlagen, wenn es so weit ist, ja?«

»Kann ich dich dann haben?«

»Wie bitte?«

»Nein, ich will sie!«, rief Graham von der anderen Seite des Tisches herüber.

»Und was ist mit mir?«, fragte Morris.

»Ich habe sie als Erster gefragt!«, gab Duncan zurück.

Ein Teil von mir erkannte, dass es sich um einen ihrer üblichen Späße handelte. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich vielleicht darüber gelacht und ein wenig mit ihnen geflirtet, um ihr Spiel mitzuspielen, aber an diesem Abend war mir nicht danach.

Fred drückte sich an mich, presste seine Hand gegen meine Hose. Louises Hose. Plötzlich wurde mir übel. Ich hatte das Gefühl, als würden sich der Lärm und die schlechte Luft in dem Pub wie eine zähe Masse um meinen Körper legen.

»Zeit zu gehen«, sagte ich.

Obwohl Fred definitiv zu viel getrunken hatte, um noch fahrtüchtig zu sein, chauffierte er mich, Morris und Laura in seinem Lieferwagen nach Hause.

»Macht es dir eigentlich nichts aus, wenn sie so mit mir reden?«, fragte ich ihn, nachdem er die beiden anderen abgesetzt hatte.

»Die sind doch bloß eifersüchtig.«

Ich erzählte ihm von den Fragen, die man mir auf dem Polizeirevier über mein Privatleben gestellt hatte.

»Irgendwie haben sie mir das Gefühl gegeben, als wäre das Ganze meine eigene Schuld«, erklärte ich. »Sie haben sich nach meinem Sexleben erkundigt.«

»Eine lange Geschichte?«, fragte er mit einem Funkeln in den Augen.

»Eine sehr kurze.«

»So viele?« Er stieß einen Pfiff aus.

»Sei nicht albern.«

»Dann glauben sie also, dass einer von deinen Exlovern dahinter steckt?«

»Vielleicht.«

»War da denn einer dabei, der einen Sprung in der Schüssel hatte?«

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete ich zögernd. »Wenn man allerdings mal anfängt, darüber nachzudenken, kommt einem plötzlich jeder ein bisschen seltsam oder unheimlich vor. Kein Mensch ist wirklich normal, oder?«

»Nicht mal ich?«

»Du?« Ich betrachtete ihn, wie er mit seinen schlanken Händen den Wagen lenkte. »Nein, nicht mal du.«

Meine Antwort schien ihm zu gefallen. Ich sah, dass er lächelte.

Er drückte mich auf meinen Sitz zurück und küsste mich so hart, dass ich Blut auf der Lippe spürte. Dabei presste er eine Hand gegen meine Brust, fragte aber nicht, ob er noch mit hinaufkommen könne. Da ich meine Lektion vom Vorabend gelernt hatte, bat ich ihn auch nicht darum.

Mit gut gespielter Fröhlichkeit winkte ich ihm nach, aber statt in meine Wohnung hinaufzugehen, eilte ich zur nächsten Telefonzelle. Zum Glück waren noch immer ziemlich viele Leute unterwegs. Ich rief Louise an.

Vielleicht würde sie mich für eine Nacht bei sich aufnehmen. Aber das Telefon klingelte und klingelte, und niemand ging ran. Ich stand da und drückte den Telefonhörer an mein Gesicht, bis ein verärgerter Mann mit einer prallvollen Aktentasche gegen die Scheibe klopfte. Außer Louise kannte ich in London niemanden gut genug, den ich um einen Platz zum Schlafen bitten konnte. Ich wusste also nicht, wo ich sonst hinsollte. Nachdem ich noch eine Weile hin und her überlegt hatte, nahm ich mich selbst an die Kandare. Ich ging zu meiner Haustür zurück, schloss auf und stieg mit meiner Post, die aus einer Menge Werbung, einer Gasrechnung und einer Karte von meiner Tante bestand, die Treppe hinauf. Wenigstens war diesmal kein unfrankierter Brief dabei. Die Fenster waren alle geschlossen, und die Flasche mit dem Pfefferminzlikör stand noch so auf dem Tisch, wie ich sie zurückgelassen hatte, mit abgeschraubtem Deckel. Es war niemand da.

9. KAPITEL

ch glaube, er ist wirklich interessiert.«

I »Wer? Fred?«

»Nein. Der Mann, der sich die Wohnung noch einmal ansehen möchte. Gott weiß, warum, aber ich habe das Gefühl, dass sie ihm gefällt. Ich hoffe, mein Gefühl trügt mich nicht. Weißt du, Louise, mittlerweile kann ich diese Wohnung einfach nicht mehr ertragen. Ich hasse sie richtig. Jeden Abend fürchte ich mich, sie zu betreten.

Wenn ich es bloß schaffen würde, hier rauszukommen!

Vielleicht hätte dann auch das mit den Briefen ein Ende, und der Typ würde mich in Ruhe lassen.«

Louise sah sich im Raum um. »Wann kommt er?«

»Gegen neun. Eine seltsame Zeit für eine Wohnungsbesichtigung, findest du nicht auch?«

»Immerhin haben wir auf diese Weise noch fast zwei Stunden Zeit.«

»Bist du sicher, dass du deinen kostbaren Donnerstag Abend dafür opfern willst, Louise?«

»Ich hatte sowieso nichts vor. Ich wäre zu Hause geblieben, hätte Schokolade in mich hineingestopft und den ganzen Abend ferngesehen. Du hast mich vor mir selbst gerettet. Außerdem schätze ich Herausforderungen.«

Mit grimmiger Miene ließ ich den Blick durch die Wohnung schweifen. »Eine Herausforderung ist es auf jeden Fall«, sagte ich.

Louise rollte entschlossen die Ärmel hoch. Einen Moment lang befürchtete ich schon, sie könnte sich in den Kopf gesetzt haben, den Boden zu schrubben.

»Wo sollen wir anfangen?«

Ich liebe Louise. Sie ist ein praktisch denkender, sehr großzügiger Mensch. Auch wenn sie hin und wieder die Wilde, Leichtsinnige spielt, weiß ich doch, dass sie mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. Sie neigt zu Lachanfällen, und bei traurigen Filmen muss sie immer weinen. Sie isst zu viel Kuchen und macht in regelmäßigen Abständen verrückte, sinnlose und völlig unnötige Diäten. Sie trägt Röcke, bei deren Anblick Pauline ihre schön geschwungenen Augenbrauen hebt, und dazu hohe Plateauschuhe, T-Shirts mit seltsamen Logos, riesige Ohrringe und einen Stecker im Nabel. Sie ist klein, selbstbewusst, eigensinnig und beharrlich. Sie hat ein markantes, entschlossen wirkendes Kinn und eine Stupsnase. Nichts scheint sie aus der Ruhe bringen zu können. Sie hat etwas von einem Grubenpony.

Als ich an der Laurier School anfing, nahm Louise mich unter ihre Fittiche, obwohl sie selbst auch erst ein Jahr dort unterrichtete. Sie gab mir Tipps für den Unterricht, warnte mich vor problematischen Eltern, teilte mittags ihre Sandwiches mit mir, wenn ich vergessen hatte, mir selbst welche mitzubringen, und half mir mit Tampons oder Aspirin aus. Sie war mein einziger Fixpunkt in dem großen, sich ständig wandelnden Chaos, das London für mich darstellte. Auch jetzt war sie wieder zur Stelle, um mein Leben in Ordnung zu bringen.

Wir begannen mit der Küche. Als Erstes spülten wir das schmutzige Geschirr und räumten es ordentlich in den Schrank. Dann säuberten wir die Arbeitsflächen, fegten den Boden und putzten das winzige Fenster, das auf den Garten hinter dem Pub hinausging. Louise bestand darauf, die Töpfe und Pfannen herunterzunehmen, die ich über dem Herd aufgehängt hatte.

»Lass uns mehr freie Flächen schaffen«, meinte sie und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um, als hätte sie sich von einer Sekunde auf die andere in eine überkritische Innenarchitektin verwandelt.

Im Wohnzimmer, das nur drei mal vier Meter groß war, leerte sie die überquellenden Aschenbecher aus, schob den Tisch unters Fenster, sodass ein Teil der abblätternden Tapete verdeckt war, drehte die fleckigen Sofakissen um und staubsaugte den Teppich, während ich meinen ganzen Papierkram zu Stapeln ordnete und alles wegwarf, was ich nicht mehr brauchte.

»Sind das die ganzen Briefe?«, fragte Louise und deutete auf die Pappschachtel.

»Jap.«

»Richtig unheimlich. Warum wirfst du sie nicht weg?«

»Soll ich? Ich hab mir gedacht, dass die Polizei sie vielleicht noch braucht.«

»Wozu? Die Briefe von dem Perversen bewahrst du doch sowieso separat auf. Kipp das Zeug in den Müll, wo es hingehört.«

Sie hielt eine Mülltüte auf, in die ich all die lavendelfarbenen Umschläge, die mit grüner Tinte beschriebenen Briefe, die Anweisungen zur Selbstverteidigung und die vielen traurigen Lebensgeschichten hineinstopfte. Hinterher ging es mir gleich viel besser. Louise zog los, um in der Holloway Road ein paar Blumen zu kaufen, während ich mit einem alten Waschlappen das Bad putzte. Sie kam mit gelben Rosen fürs Wohnzimmer und einer Topfpflanze mit fleischigen Blättern für die Küche zurück.

»Du solltest klassische Musik spielen, wenn er kommt.«

»Ich habe nichts, worauf ich Musik spielen könnte.«

»Dann koch Kaffee für ihn. Back einen Kuchen. Das kommt immer gut an.«

»Ich besitze bloß Instantkaffee, und selbst wenn ich alle Zutaten im Haus hätte, was nicht der Fall ist, würde ich mich bestimmt nicht hinstellen und einen blöden Kuchen backen!«

»War ja nur so eine Idee!«, sagte sie eine Spur zu munter, während sie die Rosen frisch anschnitt. »Dann leg einfach ein bisschen Parfüm auf. Sag mal, kann ich diesen Krug als Vase benutzen? Na, sieht das nicht schon besser aus?«

Viel besser. Nun, da Louise da war – Louise mit ihren stachligen Wimpern, ihrem knallrot geschminkten Mund, dem zinnoberroten Nagellack und dem engen grünen Kleid –, herrschte in dem Raum auch gleich eine ganz andere Atmosphäre. Gar nicht mehr wie in einem Sarg, sondern wie in einem ganz normalen, wenn auch etwas heruntergekommenen Zimmer mit Blick auf ein Pub.

»Diese ganze Geschichte hat mich richtig aus der Bahn geworfen«, sagte ich.

Louise füllte den Wasserkessel. »Wo zum Teufel steckt man das Ding hier ein? Es ist keine Steckdose frei. Das ist auch so eine Sache, die bei deiner Wohnung dringend nötig ist – die ganze Elektrik muss von Grund auf erneuert werden.« Mit einer schwungvollen Bewegung zog sie einen anderen Stecker aus der Dose. »Du kannst jederzeit bei mir aufkreuzen und auch bleiben, wenn dir damit geholfen ist. Ich habe zwar kein freies Bett, aber ein freies Fleckchen Boden. Komm doch gleich dieses Wochenende, wenn du magst.«

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht vor Dankbarkeit laut aufzuseufzen. »Das ist aber nett von dir«, war alles, was ich herausbrachte.

Das Schlafzimmer befand sich in einigermaßen akzeptablem Zustand, abgesehen davon, dass ich das Bett nicht gemacht hatte und der Korb mit der Schmutzwäsche fast voll war. Wir stellten den Korb in den Schrank und schüttelten mein Kopfkissen auf. Louise schlug eine Ecke der Bettdecke zurück, genau wie meine Mutter es immer getan hatte.

Bei ihrem abschließenden Rundgang durchs Zimmer blieb ihr Blick an den Gegenständen auf meiner Kommode hängen.

»Du lieber Himmel! Was ist denn das für eine seltsame Sammlung?«, fragte sie.

»Lauter Zeug, das mir die Leute geschickt haben.«

»Was, zusätzlich zu den Briefen?«

»Ja. Die von der Polizei wollten noch einen Blick darauf werfen.«

»Nicht zu fassen!« Sie nahm die Sachen genauer in Augenschein. Da war unter anderem eine Trillerpfeife, die ich aus Sicherheitsgründen ständig um den Hals tragen sollte. Ein winziger Seidenslip. Ein runder glatter Stein, der aussah wie ein Vogelei. Ein kleiner brauner Teddybär.

»Was um alles in der Welt sollst du denn mit diesem Ding hier anfangen?«, fragte Louise und hielt einen leicht schmuddeligen rosafarbenen Kamm in die Höhe.

»Es war eine Gebrauchsanweisung dabei. Er ist zur Abwehr potenzieller Angreifer gedacht. Man soll damit die Nase des Betreffenden bearbeiten, besser gesagt das Stück zwischen seinen Nasenlöchern. Angeblich lassen sich auf diese Weise sogar Mörder vertreiben.«

»Falls sie so lange still halten, bis du deinen Kamm herausgezogen hast. Das hier ist aber hübsch!« Sie inspizierte ein filigranes silbernes Medaillon, das an einer feinen Kette hing. »Sieht irgendwie wertvoll aus.«

»Man kann den Anhänger aufmachen, und drinnen steckt eine echte Haarlocke.«

»Wer hat dir das geschickt?«

»Keine Ahnung. Es war in einen Zeitungsartikel über beherzte Heldinnen eingewickelt. Es ist schön, nicht wahr?«

»Ja, aber nicht so heiß wie die hier.« Sie hatte ihre Aufmerksamkeit einem Päckchen pornografischer Spielkarten zugewandt. Die Karte, die sie sich gerade ansah, zeigte eine Frau, die die Hände an ihre prallen Brüste gelegt hatte. »Männer!«, meinte Louise.

Ich schauderte trotz der Hitze.

Nick Shale traf kurz nach neun ein. In der Zwischenzeit hatte ich ein Bad genommen und war in Jeans und ein gelbes Baumwoll-T-Shirt geschlüpft. Ich wollte sauber und ordentlich aussehen, damit ich zu meiner Wohnung passte. Ich steckte mir das Haar hoch und tupfte ein wenig Parfüm hinter die Ohren.

Er trug Laufschuhe, und als er seinen Segeltuchrucksack abnahm, sah ich hinten auf seinem T-Shirt ein dunkles V

aus Schweiß.

»Hier, die habe ich für Sie gekauft.« Er reichte mir eine braune Papiertüte. »Aprikosen von dem Stand ein Stück die Straße runter. Ich konnte nicht widerstehen.«

Ich wurde vor Verlegenheit rot. Es war, als hätte er mir Blumen geschenkt. Ich glaube nicht, dass es üblich ist, dass potenzielle Wohnungskäufer dem Noch-Besitzer Geschenke überreichen. Die Aprikosen waren mit einem feinen Flaum überzogen und so golden, dass sie fast zu leuchten schienen.

»Danke«, sagte ich verlegen.

»Wollen Sie mir denn keine anbieten?«

Wir aßen sie im Stehen, in meiner engen Küche. Er verkündete, das nächste Mal werde er mir Erdbeeren mitbringen. Ich tat so, als hätte ich das mit dem nächsten Mal gar nicht gehört.

»Möchten Sie sich die Wohnung nicht noch mal ansehen?«

»Doch, sicher.«

Während er von Raum zu Raum wanderte, starrte er die meiste Zeit zur Zimmerdecke hinauf, als könnte er dort interessante Muster sehen. In den Ecken hingen mehrere Spinnweben, die Louise und mir entgangen waren. Im Schlafzimmer öffnete er den Einbauschrank und sah einen Moment auf meinen Wäschekorb hinunter. Ein seltsames kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Dann richtete er sich auf und sah mich an: »Jetzt könnte ich ein Glas Wein vertragen.«

»Ich habe keinen da.«

»Dann ist es ja gut, dass ich uns ein Fläschchen mitgebracht habe.«

Er beugte sich hinunter, öffnete seinen Rucksack und zog eine schlanke grüne Flasche heraus. Ich berührte sie: Sie war noch ganz kalt, und an ihrem Hals liefen Wassertropfen hinunter.

»Besitzen Sie einen Korkenzieher?«

Obwohl mich die Aussicht, mit ihm Wein zu trinken, nicht gerade mit Begeisterung erfüllte, reichte ich ihm einen, woraufhin er mir den Rücken zukehrte, um die Flasche zu öffnen. Ich hielt ihm zwei Gläser hin, die er langsam und mit ruhiger Hand voll schenkte. Er erzählte mir, dass er in Norfolk leben, aber unbedingt eine Wohnung in London kaufen wolle, weil er während der Woche oft drei bis vier Tage in der Stadt zu tun habe.

»Dann ziehen Sie also in Betracht, meine bescheidene Behausung zu Ihrer Zweitwohnung zu machen. Was für eine Ehre!«

»Zum Wohl.«

»Ich muss leider gleich weg. Ich habe noch eine Verabredung«, erklärte ich, was natürlich gelogen war.

Mein Terminkalender fürs Wochenende war leer.

»Ist es nicht schon ein bisschen spät zum Ausgehen?«, fragte er, nachdem er sein Glas geleert hatte.

Ich gab ihm darauf keine Antwort. Schließlich war ich einem Mann, den ich kaum kannte, keine Rechenschaft schuldig. »Sie sollten Ihre Flasche wieder mitnehmen«, forderte ich ihn auf.

»Nein, behalten Sie sie.« Er wandte sich zum Gehen.

»Was ist nun mit der Wohnung?«

»Sie gefällt mir«, antwortete er. »Ich melde mich bei Ihnen.«

Ich hörte, wie unten die Haustür ins Schloss fiel.

Irgendwie fand ich den Typen ganz in Ordnung. Ich fragte mich, was er wohl für eine Handschrift hatte.

10. KAPITEL

m nächsten Tag kam ich mir im Unterricht vor wie ein Roboter, dem

A

es einigermaßen gelang, eine

Grundschullehrerin zu spielen. Während der Roboter den Kindern etwas über Buchstaben erzählte, war ich irgendwo in seinem Inneren damit beschäftigt, mir über ein paar Dinge Klarheit zu verschaffen. Ich musste schleunigst die Wohnung loswerden. Dieser Gedanke war wie eine Melodie, die einen nicht loslässt. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass ich, wenn es mir gelänge, die Tür hinter diesem ungeliebten Stück Wohnraum zuzuschlagen, auch in der Lage sein würde, die Tür hinter anderen Dingen zu schließen. Eigentlich wäre es nahe liegender gewesen, die Wohnung sicherer zu machen, aber das erschien mir falsch. Eine zerbrochene Flasche wusch man schließlich auch nicht mehr aus. Der einzige Weg, die Wohnung besser und sicherer zu machen, bestand darin, sie zu verlassen. Etwas anderes kam nicht in Frage. Gleich am Wochenende würde ich anfangen, mich ernsthaft nach einer anderen Bleibe umzusehen.

Ich war noch zu jung gewesen, als ich die Wohnung erworben hatte. Das mir von Dad hinterlassene Geld war mir wie Monopoly-Geld vorgekommen: zu viel, um echt zu sein. Er hatte gesagt, ich solle mir davon meine eigenen vier Wände leisten. Ich hatte das fast als eine Art letzten Wunsch empfunden. Mein Vater war ein Mann, der glaubte, dass man sicher war, sobald man seine eigene Wohnung besaß. Dann konnte einem die Welt nichts mehr anhaben, egal, was passierte. Also handelte ich wie eine brave Tochter – auch wenn ich natürlich keine Tochter mehr war, denn ich besaß ja keine Eltern mehr. Ich war ganz allein, ein einsames und verängstigtes Mädchen –

und ich tat, wie mein Vater mich geheißen hatte. So schnell ich konnte, erfüllte ich ihm seinen letzten Wunsch, und da ich aus einem ruhigen kleinen Dorf kam, beschloss ich spontan, mir etwas zu suchen, das in einer wirklichen Stadt lag, dort, wo das Leben stattfand, wo Läden, Märkte und Menschen waren, der Trubel und der Lärm. Was das betraf, war ich definitiv erfolgreich gewesen.

»Zoë?«

Ich erwachte aus einem Zustand, der sich für mich wie Schlaf angefühlt hatte, auf einen Beobachter aber wie hektische Betriebsamkeit gewirkt hätte (ich war selbst fast ein wenig erstaunt, in meiner Hand ein Stück Kreide zu entdecken und an der Tafel die Großbuchstaben B und P, die ich fein säuberlich und wie in Trance aufgemalt hatte).

Ich drehte mich um. Es war Christine, eine unserer Spezialistinnen für Problemfälle. Es gab an unserer Schule eine Menge solcher Fälle. Oft sah man Christine an einem behelfsmäßigen Schreibtisch auf dem Gang sitzen und mit Kindern reden, die an Unterernährung litten, missbraucht worden waren oder gerade aus einem Kriegsgebiet in Osteuropa oder Zentralafrika kamen.

»Pauline möchte dich sprechen«, erklärte sie. »Es ist dringend. Ich übernehme hier.«

»Warum?«

»Eine Mutter ist bei ihr. Ich glaube, sie ist wegen irgendwas sehr aufgeregt.«

»Oh.«

Ich spürte einen dumpfen Schmerz in der Magengegend, als stünde mir irgendein größeres Unheil bevor. Mein Blick wanderte durch die Klasse. Was konnte es sein? Der Wechsel in meiner Klasse war erstaunlich. Die Leute zogen mit ihren Kindern oft ohne jede Vorankündigung weg, manchmal sogar ins Ausland. Schnell nahmen andere Problemkinder ihre Plätze ein. Wir hatten Schüler, über deren Schicksal per gerichtliche Verfügung entschieden wurde, Kinder mit Akten im Sozialamt. Ich zählte sie rasch durch. Einunddreißig. Sie waren alle da. Keins von meinen Schäfchen war unbemerkt nach Hause marschiert.

Ich hatte es auch nicht versäumt, wichtige Medikamente zu verabreichen. Niemand hatte Schaum vor dem Mund.

Ich fühlte mich schon viel besser. Was konnte da noch Schlimmes kommen?

Auf dem Weg in Paulines Büro, das nicht weit von meinem Klassenzimmer entfernt lag, ging mir durch den Kopf, dass zumindest die Schule ein Ort war, den ich liebte, wenn ich schon meine eigene Wohnung hasste. In der kleinen Eingangshalle befand sich ein kleines Bassin aus Ziegelsteinen, in dem ein paar große, fette Fische herumschwammen. Wie immer tauchte ich im Vorbeigehen meine Finger hinein, weil das angeblich Glück brachte. Die Schule lag an einer stark befahrenen Londoner Fernverkehrsstraße. Das Gebäude wurde den ganzen Tag von vorbeidonnernden Lastwagen erschüttert, die nach East Anglia hinauf fuhren oder hinunter über den Fluss und dann weiter in Richtung Kent und Südküste. Um mit den Kindern in den nächsten kümmerlichen Park zu gelangen, musste man sie ein Stück die Straße entlang und über zwei gefährliche Kreuzungen führen. Die Schule selbst aber war für mich ein Ort wie aus einer anderen Welt. Inmitten von Lärm und Staub, hatte sie fast etwas von einem Kloster. Das war es, was ich an ihr mochte.

Selbst dann, wenn die Kinder schreiend durch die Gänge rannten, empfand ich sie als eine Art Refugium.

Vielleicht lag es bloß an diesen dämlichen Fischen, dass ich so empfand, und wahrscheinlich sah ich das alles sowieso völlig falsch. Ich musste daran denken, dass ich als Kind einmal in einem Lexikon gelesen hatte, dass Wasser Geräusche besser leitet als Luft. Wahrscheinlich verbrachten die Fische ihr ganzes Leben damit, über den Verkehrslärm zu jammern und sich nach einem anderen, schöneren Ort zu sehnen. Ich versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, wie es war, wenn ich in der Badewanne den Kopf untertauchte, um mir das Shampoo aus dem Haar zu spülen. Hörte ich dann draußen die Lastwagen vorbeidonnern? Ich konnte mich nicht erinnern.

Pauline stand mit einer Frau, die ich vom Sehen kannte, in der halb offenen Tür. Sie sprachen nicht miteinander, und es sah aus, als hätten sie die ganze Zeit schweigend auf mein Eintreffen gewartet. Die Frau tauchte jeden Nachmittag kurz vor Ende der letzten Stunde an der Klassenzimmertür auf. Elinors Mutter. Ich begrüßte sie mit einem Nicken, aber sie wandte den Kopf ab. Irritiert überlegte ich, ob sich Elinor an diesem Morgen anders verhalten hatte als sonst. Hatte sie einen aufgeregten Eindruck gemacht? Meines Wissens nicht. Ich versuchte mir das Mädchen in der Klasse vorzustellen, die ich gerade verlassen hatte. Mir war nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

»Schließen Sie bitte die Tür hinter sich«, bat Pauline, während sie mich hineinführte. Die Mutter blieb draußen.

Pauline forderte mich mit einer Handbewegung auf, auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Das war Gillian Tite, die Mutter von Elinor.«

»Ja, ich weiß.«

Mir fiel auf, dass Pauline sehr bleich aussah und zitterte.

Sie war entweder sehr aufgeregt oder so wütend, dass sie sich kaum beherrschen konnte.

»Haben Sie Ihrer Klasse letzte Woche eine Hausaufgabe aufgegeben?«

»Ja. Wenn man das überhaupt so nennen kann.«

»Was war das?«

»Eine Zeichenaufgabe. Nur so zum Spaß. Wir hatten über Geschichten gesprochen, und ich bat sie, in ihrem Malheft ein Bild von einer ihrer Lieblingsgeschichten zu zeichnen.«

»Wie sind Sie dann weiter verfahren?«

»Ich versuche, die Kinder daran zu gewöhnen, ihre Hausaufgaben termingerecht zu machen und abzugeben.

Deswegen habe ich die Hefte am Mittwoch eingesammelt.

Ja, ich glaube, es war am Mittwoch. Ich bin mir ziemlich sicher. Zu Hause habe ich sie dann gleich durchgesehen.«

Ich konnte mich noch gut daran erinnern – ich hatte über den Heften gesessen, während dieser seltsame Typ, der sich meine Wohnung anschauen wollte, in der Schublade mit meiner Unterwäsche herumschnüffelte. Das war der Tag gewesen, an dem ich den Brief auf der Fußmatte gefunden hatte. »Ich habe nette Kommentare dazu geschrieben und ihnen die Hefte am nächsten Morgen zurückgegeben. Vielleicht hat Elinors Mutter erwartet, dass ich die Bilder benoten würde, aber für diese Art von Hausaufgabe sind sie noch zu klein.«

Pauline schien mir gar nicht zuzuhören. »Können Sie sich an Elinors Bild erinnern?«

»Nein.«

»Heißt das, Sie haben sich die Zeichnungen gar nicht richtig angeschaut?«

»Natürlich habe ich sie mir angeschaut. Ich habe gleich zu Anfang einen Blick darauf geworfen, nachdem die Kinder bereits im Unterricht mit dem Zeichnen begonnen hatten, und unten auf jedes Blatt einen passenden Titel geschrieben. Später habe ich dann die fertigen Arbeiten, die ich eigens mit nach Hause genommen habe, durchgesehen. Natürlich habe ich nicht Stunden auf jedes einzelne Bild verwandt, aber ich habe sie mir alle angesehen und etwas dazugeschrieben.«

»Elinors Mutter war in Tränen aufgelöst, als sie vorhin bei mir eintraf«, sagte Pauline. »Das hier ist Elinors Zeichnung. Schauen Sie sich das mal an.«

Sie schob ein vertraut wirkendes, großformatiges Heft über den Schreibtisch. Es war aufgeschlagen, und auf dem unteren Teil der Seite erkannte ich meine Schrift.

»Dornröschen.« Elinor hatte einen ziemlich kläglichen Versuch unternommen, die Worte selbst noch einmal abzumalen. Das D war seltenverkehrt, und gegen Ende zu wurden die Buchstaben immer kleiner. Mit der Zeichnung hingegen verhielt es sich völlig anders. Sie hatte nichts mehr vom Bild eines kleinen Kindes. Zwar waren noch hier und dort Spuren von Elinors krakeliger Linienführung zu sehen, aber das Ganze war übermalt und ausgeschmückt worden. Das Mädchen lag jetzt in einem detailgetreu wiedergegebenen Zimmer. In meinem Zimmer. Meinem Schlafzimmer. Zumindest waren Teile davon in die Zeichnung aufgenommen worden, beispielsweise das Bild von der Kuh, das mich schon mein ganzes Leben begleitete, und der Spiegel, über dessen Rahmen ich die Kordel einer Beuteltasche gehängt hatte.

Ich hatte den Beutel längst aufräumen wollen, war bisher aber nicht dazugekommen.

Das Mädchen auf dem Bett schlief nicht, und es war auch nicht Dornröschen, sondern ich. Zumindest trug es meine Brille. Das Bett selbst ähnelte eher einem Tisch in einer Leichenhalle. Der Körper des Mädchens wies lange Schnitte auf, aus denen die Eingeweide und andere innere Organe heraushingen. Teile des Körpers, vor allem rund um die Vagina – meine Vagina – waren derart verstümmelt, dass sie kaum mehr zu erkennen waren. Mir wurde schlagartig übel, und ich spürte, wie mir bittere Galle in den Mund stieg. Ich schaffte es zwar, das Zeug bei mir zu behalten und wieder hinunterzuschlucken, aber durch die Säure brannte mein Hals so heftig, dass ich husten musste. Ich zog ein Taschentuch heraus und wischte mir den Mund ab. Dann schob ich das Heft wieder zu Pauline hinüber. Sie musterte mich mit ernstem Blick.

»Falls das Ihr Werk ist und irgendeine seltsame Art von Scherz sein soll, dann sagen Sie es mir besser gleich. Also, waren Sie das?«

Ich brachte kein Wort heraus. Pauline klopfte auf den Tisch, als wollte sie mich aufwecken. »Zoë. Ist Ihnen eigentlich klar, in welcher Lage Sie sich befinden? Was soll ich denn nun Ihrer Meinung nach tun?«

Meine Augen brannten. Ich durfte jetzt nicht weinen. Ich musste stark sein, durfte auf keinen Fall zusammenbrechen.

»Rufen Sie die Polizei an«, brachte ich mühsam hervor.

11. KAPITEL

auline war skeptisch und wollte erst nicht, aber ich bestand darauf. Ich würde ihr B

P

üro erst wieder

verlassen, wenn in dieser Sache endlich etwas unternommen wurde. Carthy hatte mir seine Visitenkarte gegeben, aber meine Hände zitterten so, dass ich eine Weile in meiner Geldbörse herumkramen musste, bis ich sie herausbekam. Pauline wirkte sichtlich überrascht, als ich umständlich die Nummer tippte und dabei immer wieder auf die Karte sah. Sie hatte wohl angenommen, dass ich hysterisch die 999 wählen würde.

»So was ist schon mal passiert«, erklärte ich. »So was Ähnliches.«

Ich fragte nach Carthy. Er war nicht zu sprechen, und ich wurde zu Aldham durchgestellt, der in meinen Augen nur ein unzureichender Ersatz war. Ich redete wie wild auf ihn ein, sagte ihm, er müsse sofort in die Schule kommen, auf der Stelle. Aldham zog nicht so recht, aber ich kündigte an, mich bei seinen Vorgesetzten zu beschweren, wenn er nicht käme, und drohte mit allem, was mir sonst noch in den Sinn kam. Schließlich erklärte er sich doch bereit.

Nachdem ich ihm die Adresse der Schule gegeben hatte, legte ich rasch auf. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Pauline wies mich darauf hin, dass das Rauchen nur im Lehrerzimmer erlaubt sei, worauf ich ihr zur Antwort gab, es tue mir Leid, aber dies sei ein Notfall.

»Wollen Sie zurück in Ihre Klasse?«, fragte sie.

»Lieber nicht«, antwortete ich. »Ich rede besser erst mal mit der Polizei. Ich muss wissen, was sie dazu sagt. Ich warte hier auf sie.«

Eine Weile schwiegen wir. Pauline starrte mich an, als wäre ich ein unberechenbares wildes Tier, mit dem man vorsichtig umgehen musste. Zumindest schien es mir so.

Tatsächlich wäre ich wohl wirklich bei der kleinsten Berührung ausgeflippt. Schließlich meinte Pauline achselzuckend: »Ich gehe raus und rede mit Mrs. Tite.«

»Ja«, antwortete ich geistesabwesend.

An der Tür drehte sie sich noch einmal um.

»Wollen Sie damit sagen, dass jemand anderer dafür verantwortlich ist? Für die Zeichnung?«

Ich drückte meine Zigarette aus und zündete mir eine neue an.

»Ja«, antwortete ich. »Da ist etwas Schreckliches im Gang. Etwas ganz Schreckliches. Ich muss dafür sorgen, dass das so schnell wie möglich ein Ende hat.«

Pauline wollte noch etwas hinzufügen, überlegte es sich dann aber anders und ließ mich allein in ihrem Büro zurück. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen und verlor dabei jedes Zeitgefühl. Irgendwann griff ich nach einer Zeitung, die auf Paulines Schreibtisch lag, konnte mich aber nicht aufs Lesen konzentrieren. Es muss etwa eine halbe Stunde gedauert haben, bis ich draußen schließlich Stimmen hörte und Aldham gefolgt von Pauline hereinkam. Sie hatte ihm bereits alles gesagt, was sie wusste. Ich hielt mich nicht mit Begrüßungsfloskeln auf.

»Sehen Sie sich das an«, sagte ich und deutete auf das Malheft, das noch immer aufgeschlagen auf dem Tisch lag. »Das bin ich. Das ist eine verdammt genaue Abbildung meines Schlafzimmers. Das kann man von dem verdammten Pub aus nicht sehen.«

Vielleicht hatte Pauline ihn bereits auf meinen aufgelösten Zustand vorbereitet, denn er wies mich nicht zurecht und schnauzte auch nicht zurück. Er warf lediglich einen Blick auf die Zeichnung und murmelte dann etwas, das ich nicht verstand. Er machte einen bestürzten Eindruck.

»Wo ist das gemacht worden?« Er sah mich an.

»Woher soll ich das wissen?« Ich versuchte, mich ein wenig zu beruhigen, mich zu konzentrieren. »Es war ein ganzer Stapel solcher Hefte. Sie lagen das Wochenende über in der Schule, nachdem ich sie am Freitag eingesammelt hatte.«

»Wo wurden sie aufbewahrt?«

»Im Klassenzimmer. Am Mittwoch nahm ich sie dann mit nach Hause und brachte sie am nächsten Morgen wieder mit.«

»Hatten Sie sie zu Hause immer im Blick?«

»Natürlich nicht. Was glauben Sie denn! Ich habe mich nicht daneben gesetzt und sie die ganze Nacht bewacht!

Entschuldigen Sie. Tut mir wirklich Leid. Es ist bloß, o mein Gott! Tut mir Leid. Lassen Sie mich nachdenken.

Ach ja, ich war mit ein paar Freundinnen im Kino und bestimmt zwei bis drei Stunden außer Haus. Das war an dem Tag, als ich den Brief auf meiner Fußmatte gefunden habe. Das habe ich Ihnen damals ja erzählt. Den ersten Brief – zumindest dachte ich, es wäre der erste. Ich habe ihn weggeworfen.«

Aldham zog die Nase kraus und nickte. »Ja«, sagte er, wich dabei aber meinem Blick aus. Er machte einen verwirrten, besorgten Eindruck. »Wann haben Sie die Hefte zurückgegeben?«

»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, am nächsten Morgen.

Ich hatte sie nur an dem einen Abend zu Hause liegen; da bin ich ganz sicher. Hundertprozentig.«

»Aber die Zeichnung ist erst heute entdeckt worden?«

Pauline trat vor. »Die Mutter hat erst heute Morgen einen Blick in das Heft geworfen«, erklärte sie.

»Hat sich der Betreffende auch noch an anderen Heften zu schaffen gemacht?«, wollte Aldham wissen.

»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Ich glaube nicht. Aber ich kann es Ihnen nicht mit Sicherheit sagen. Ich –«

»Wir werden die anderen Hefte überprüfen«, unterbrach mich Pauline.

Ich zündete mir eine neue Zigarette an. Mein Herz schlug wie wild. Ich hatte das Gefühl, meinen Herzschlag überall spüren zu können, im Gesicht ebenso wie in den Armen und Beinen.

»Was halten Sie davon?«, fragte ich.

»Augenblick«, antwortete er.

Er nahm ein Handy aus der Tasche und zog sich in eine Ecke des Raums zurück. Ich hörte, wie er nach Detective Inspector Carthy fragte und sich dann im Flüsterton mit ihm zu unterhalten begann. Offenbar gab es verschiedene Grade des Nichtzusprechenseins. Obwohl Aldham so leise redete, bekam ich doch Bruchstücke des Gesprächs mit.

»Sollen wir mit Stadler sprechen? Ja, Detective Inspector Cameron Stadler. Und Grace Schilling? …

Könnt ihr sie anrufen? Und schickt jemanden mit der Akte hin. Am besten Lynne, sie hat ein Händchen für solche Fälle. Wir treffen uns dort … Ja, bis später.«

Aldham verstaute sein Telefon und wandte sich an Pauline.

»Kann Miss Haratounian für eine Weile mit uns kommen?«

»Selbstverständlich«, antwortete Pauline. Sie musterte mich besorgt. »Alles in Ordnung?«

»Das haben wir bestimmt bald geklärt«, meinte Aldham.

»Reine Routine.« Er zog ein Taschentuch heraus und griff damit nach Elinors Malheft.

Die Fahrt dauerte ziemlich lang, weil wir quer durch London mussten. Das übliche Verkehrschaos gestaltete sich am Freitag noch schlimmer als sonst. Ein Lastwagen war bei seinem Versuch, in den Hof einer Baufirma einzubiegen, stecken geblieben, sodass Aldham eine Abkürzung nahm, dann aber in einem Wohngebiet nahe der Balls Pond Road in einen neuen Stau geriet.

»Fahren wir zum Polizeirevier?«, fragte ich.

»Vielleicht später«, antwortete er zwischen zwei Flüchen.

»Erst mal treffen wir uns mit einer Frau, die sich mit solchem Psychozeug auskennt.«

»Was halten Sie von der Zeichnung?«

»Es gibt schon kranke Leute, was?«

Ich war mir nicht ganz sicher, ob er damit den Künstler meinte oder eine alte Frau, die gerade im Schneckentempo die Straße überquerte.

Eine knappe Stunde später hielten wir vor einem Gebäude an, das in einem Wohngebiet lag und aussah wie eine Schule, in dem jedoch die Welbeck-Klinik untergebracht war, wie man auf einem draußen angebrachten Schild lesen konnte. Im Empfangsbereich saß eine Polizeibeamtin, die in die Lektüre von Akten vertieft war. Als sie uns bemerkte, klappte sie die Mappe zu und kam zu uns herüber. Sie reichte Aldham die Unterlagen.

»Warten Sie bitte hier auf mich«, wandte er sich an mich.

»Kollegin Burnett wird Ihnen Gesellschaft leisten.«

»Lynne«, sagte sie mit einem beruhigenden Lächeln. Sie hatte große Augen und ein violettes Muttermal auf der Wange. An jedem anderen Tag hätte ich sie auf Anhieb sympathisch gefunden.

Ich wollte mir eine Zigarette anzünden, aber da das Rauchen im Klinikbereich verboten war, stellten Lynne und ich uns auf die Treppe hinaus, wo Lynne netterweise eine mitrauchte, obwohl sie nicht allzu viel Übung darin zu haben schien. Ich glaube, sie tat es wirklich nur, damit ich nicht allein rauchen musste. Zu meiner großen Erleichterung versuchte sie nicht, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Nach nur zehn Minuten kam Aldham in Begleitung einer großen Frau in einem langen grauen Mantel zu uns heraus. Sie hatte ihr blondes Haar locker hochgesteckt und trug einen ledernen Aktenkoffer und eine Umhängetasche aus khakifarbenem Segeltuch. Ich schätzte sie nicht viel älter als mich, vielleicht Anfang dreißig.

»Miss Haratounian, das hier ist Dr. Schilling«, stellte Aldham sie mir vor.

Wir gaben uns die Hand. Dabei musterte sie mich mit zusammengekniffenen Augen, als wäre ich eine Patientin mit einer besonders seltenen Krankheit, die zur Untersuchung in die Klinik gebracht worden war.

»Es tut mir wirklich Leid«, sagte sie. »Ich muss zu einer Besprechung und bin schon spät dran, wollte aber trotzdem noch schnell mit Ihnen reden.«

Plötzlich fühlte ich mich völlig am Boden zerstört. Ich war durch ganz London gefahren, um mit einer Frau zu sprechen, die auf der Treppe einer Klinik an mir vorbeihastete.

»Was halten Sie von der Zeichnung?«, fragte ich sie.

»Ich bin der Meinung, man sollte die Sache ernst nehmen.« Sie warf Aldham einen strengen Blick zu.

»Vielleicht hätte man sie schon ein bisschen früher ernst nehmen sollen.«

»Aber es könnte sich doch um einen Scherz handeln, meinen Sie nicht?«

»Führ ihn ist es ein Scherz«, antwortete sie mit besorgter Miene.

»Aber er hat mir bisher nichts getan, ich meine, er hat mich nicht körperlich angegriffen.« Angesichts des Ernstes, mit dem sie die Sache behandelte, hätte ich das Ganze am liebsten in einen dummen Streich zurückverwandelt.

»Genau«, pflichtete mir Aldham ein wenig zu enthusiastisch bei.

»Das Problem an diesem Argument«, erklärte Dr. Schilling eher an Aldham als an mich gewandt, »ist, dass …« Sie hielt mitten im Satz inne. Was hatte sie sagen wollen? Sie schluckte, ehe sie weitersprach, »… es nicht zu Miss Haratounians Sicherheit beiträgt.«

»Nennen Sie mich Zoë«, sagte ich. »Das ist nicht ganz so lang.«

»Zoë«, fuhr sie fort, »ich möchte, dass wir uns am Montag früh in Ruhe zusammensetzen und alle Einzelheiten dieser Sache besprechen. Es wäre schön, wenn Sie um neun hier sein könnten.«

»Ich habe einen Job«, wandte ich ein.

» Das ist jetzt Ihr Job«, erwiderte sie. »Zumindest im Moment. Ich muss jetzt gehen, aber … Diese Zeichnung, stellt sie wirklich Ihr Schlafzimmer dar?«

»Das habe ich doch schon gesagt.«

Dr. Schilling trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

Wäre sie ein Kind aus meiner Klasse gewesen, hätte ich sie auf die Toilette geschickt.

»Sie haben einen Freund, richtig?«

»Ja. Fred.«

»Wohnen Sie zusammen?«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Er bleibt nicht über Nacht.«

»Was denn, nie?«

»Nein.«

»Aber es handelt sich dabei um eine sexuelle Beziehung?«

»Ja, wir haben bereits das volle Programm absolviert, falls Sie das meinen.«

Sie warf einen Blick zu Aldham hinüber. »Sprechen Sie mit ihm.«

»Falls Sie Fred verdächtigen«, sagte ich, »können Sie ihn gleich wieder von der Liste streichen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass er sowieso nicht in Frage kommt, weil er, ähm, na ja … weil er eben nicht in Frage kommt.

Sie wissen schon.« Sie nickte höflich, wirkte aber nicht sehr überzeugt. »Jedenfalls war er an dem Abend, an dem es passiert sein muss, gar nicht in der Stadt. Er war in den Dales, wo er mit mehreren anderen Leuten einen Garten umgegraben hat. Er ist erst am folgenden Abend wieder zurückgekommen. Sie werden vermutlich feststellen, dass es sogar Filmaufnahmen eines Yorkshirer Fernsehsenders gibt, die beweisen, dass er dort war.«

»Sie sind ganz sicher, dass er es nicht gewesen sein kann?«

»Ja, hundertprozentig sicher.«

»Reden Sie trotzdem mit ihm«, sagte sie zu Aldham. An mich gewandt fügte sie hinzu: »Wir sehen uns am Montag, Zoë. Ich möchte Sie nicht unnötig in Panik versetzen, es kann gut sein, dass sich das Ganze als weniger ernst entpuppt, als es aussieht, aber ich fände es trotzdem gut, wenn Sie eine Weile nicht mehr allein in Ihrer Wohnung übernachten würden. Ach ja, eins noch, Doug.« Damit war offenbar Aldham gemeint. »Werfen Sie einen Blick auf die Türschlösser, ja? Also dann, bis Montag!«

Aldham und ich gingen zu seinem Wagen zurück.

»Das war … ähm, schnell«, sagte ich.

»Lassen Sie sich von ihr nicht ins Bockshorn jagen«, meinte Aldham. »Sie geht bloß auf Nummer Sicher.«

»Sie hat gesagt, dass Sie mit Fred reden sollen. Das werden Sie doch nicht tun, oder?«

»Irgendwo müssen wir ja anfangen.«

»Jetzt gleich?«

»Wissen Sie, wo er ist?«

»Er arbeitet an einem Garten.«

»Sie meinen wohl, in einem Garten.«

»Nein, Fred sagt, er arbeitet an einem Garten. Er findet wohl, dass das künstlerischer klingt. Wo sind wir denn hier?«

»In Hampstead.«

»Dann ist er gar nicht so weit weg, glaube ich. Er hat was vom Norden der Stadt erwähnt.«

»Gut. Wissen Sie die Adresse?«

»Ich könnte ihn auf seinem Handy anrufen. Aber hat das denn nicht noch ein bisschen Zeit?«

»Hier, bitte.« Aldham hielt mir sein Telefon hin.

Ich hatte die Nummer in meinem Terminplaner stehen.

»Wenn Sie hinfahren und mit ihm reden, kann ich dann vorher noch kurz mit ihm sprechen?«

»Wozu?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Vielleicht aus Höflichkeit.«

Ich sah Fred, bevor er mich erkannte. Er stand am Ende eines langen Gartens, der an die Rückseite eines unglaublich vornehmen Hauses anschloss, und arbeitete sich mit einem Gerät, das an Gurten von seinen Schultern hing, eine Rabatte entlang. Er trug eine Baseballkappe mit dem Schirm nach hinten, eine zerrissene Jeans, ein weißes T-Shirt und schwere Arbeitsstiefel. Außerdem hatte er eine Schutzbrille auf und Stöpsel in den Ohren, sodass die einzige Möglichkeit, mich bemerkbar zu machen, darin bestand, ihm auf die Schulter zu klopfen. Obwohl ich mich telefonisch angekündigt hatte, zuckte er leicht zusammen. Er schaltete die Maschine aus und löste die Gurte. Dann nahm er die Schutzbrille ab und die Ohrstöpsel heraus. Er wirkte benommen von dem Lärm, auch wenn der inzwischen verstummt war, und dem grellen Licht. Wir standen im strahlenden Sonnenschein neben einer Lilienrabatte. Fred war schweißgebadet.

Er trat einen Schritt zurück und starrte mich an. In seinem Blick lag nicht nur Überraschung, sondern auch Wut. Er ist einer von jenen Menschen, dachte ich, die gern jeden Bereich ihres Lebens in einer eigenen Schublade haben: Er trennte strikt zwischen Arbeit und Privatleben, genauso wie zwischen Sex und Schlaf. Ich hatte die Trennlinie überschritten, und darüber war er nicht gerade erfreut.

»Hallo«, sagte er, betonte seinen Gruß aber wie eine Frage.

»Hallo.« Ich drückte ihm einen Kuss auf seine schweißnasse Wange. »Tut mir Leid. Sie wollten unbedingt mit dir reden. Ich habe ihnen gesagt, dass das nicht nötig ist.«

»Jetzt?«, fragte er argwöhnisch. »Wir stecken gerade mitten in der Arbeit. Ich kann nicht einfach aufhören.«

»Es war nicht meine Idee«, erwiderte ich. »Ich wollte dir bloß persönlich sagen, wie Leid es mir tut, dass du da hineingezogen wirst.«

Sein Gesicht wirkte plötzlich hart. »Was soll denn das ganze Theater überhaupt?«

Ich berichtete in Kurzform über die Ereignisse an der Schule, hatte aber den Eindruck, dass er mir gar nicht zuhörte. Er benahm sich wie einer von diesen schrecklichen Typen, die sich auf einer Party mit einem Mädchen unterhalten, ihr dabei aber nicht in die Augen sehen, sondern über ihre Schulter hinweg auf eine besser aussehende Frau starren. In meinem Fall starrte Fred zu Aldham hinüber, der am anderen Ende des Gartens neben der Tür wartete, durch die man ins Haus gelangte.

»Und deswegen hat sie mir geraten, in den nächsten Tagen nicht allein in meine Wohnung zu gehen.«

Ich sah Fred erwartungsvoll an. Bestimmt würde er mir gleich voller Mitgefühl anbieten, dass ich, wenn ich wolle, natürlich gern bei ihm bleiben könne, bis diese ganze Sache geklärt sei. Ich wartete darauf, von ihm in den Arm genommen zu werden und ihn sagen zu hören, dass alles gut ausgehen werde und er jederzeit für mich da sei. Sein Gesicht wirkte unter der glänzenden Schweißschicht wie eine Maske. Ich konnte überhaupt nicht sagen, was er dachte.

Langsam wanderte sein Blick zu meinen Brüsten hinunter. Ich spürte, wie mir die Schamröte ins Gesicht stieg, gleichzeitig aber eine brennende Wut in mir hochkam. »Ich …«, fing er an, hielt dann aber inne und sah mich an. »Also gut, ich rede kurz mit ihnen. Auch wenn ich zu der Sache nichts zu sagen habe.«

»Da wäre noch was«, erklärte ich. Ich war selbst überrascht über meine Worte. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen.«

Das brachte seinen wandernden, leicht entrüsteten Blick zum Stillstand. Mit einem Schlag wirkte seine Miene nicht mehr so vage und unbeteiligt. Er starrte mich ungläubig an. An seiner Schläfe begann eine Vene zu pulsieren, und seine Kiefermuskeln zuckten.

»Dürfte ich den Grund erfahren, Zoë?«, fragte er schließlich. Seine Stimme klang eisig.

»Vielleicht ist der Zeitpunkt einfach nicht günstig«, antwortete ich.

»Du machst also mit mir Schluss?«

»Ja.«

Sein schönes Gesicht überzog sich mit Zornesröte. Aus kalten Augen musterte er mich von oben bis unten, als wäre ich in einem Schaufenster ausgestellt, eine Ware, von der er noch nicht wusste, ob er sie kaufen wollte oder nicht. Dann verzog er die Mundwinkel zu einem kleinen bösen Grinsen. »Wer zum Teufel glaubst du, dass du bist?«, fragte er.

Ich sah ihn an, betrachtete sein schweißnasses Gesicht und seine vor Zorn hervortretenden Augen.

»Ich habe Angst«, antwortete ich. »Und ich brauche Hilfe, aber die werde ich von dir wohl nicht bekommen, oder?«

»Du Fotze!«, sagte er. »Du arrogante Fotze!«

Ich drehte mich um und ging. Ich wollte nur noch weg, an einen Ort, an dem ich sicher war.

Das Haar hängt ihr offen über die Schultern. Es müsste dringend gewaschen werden; der Scheitel wirkt dunkel und ein bisschen fettig. Sie ist in den letzten paar Wochen stark gealtert. Vom äußeren Rand ihrer Nasenflügel verlaufen tiefe Furchen bis zu ihren Mundwinkeln, sie hat dunkle Ringe unter den Augen und eine leichte Querfalte über den Brauen, als hätte sie stundenlang die Stirn gerunzelt. Ihre Haut sieht ungesund aus, unter der Bräune wirkt sie blass und ein wenig schmuddelig. Auf Ohrringe hat sie heute verzichtet. Sie trägt eine alte Baumwollhose, hellbeige würde man die Farbe wohl nennen, und dazu ein weißes Kurzarmhemd. Die Hose ist ihr zu weit und müsste gebügelt werden, an dem Hemd fehlt ein Knopf. Sie kaut an der Seite ihres rechten Mittelfingers herum, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie blickt sich häufig um, aber ihr Blick bleibt nie länger als eine Sekunde an einer Person hängen. Manchmal kneift sie die Augen zusammen, als wäre sie kurzsichtig. Sie raucht die ganze Zeit, zündet sich eine nach der anderen an.

Das Gefühl in mir wird stärker. Wenn ich so weit bin, werde ich es wissen. Das ist wie mit der Liebe, man weiß es einfach. Es besteht nicht der geringste Zweifel. In mir wächst die Gewissheit, und das macht mich stark und entschlossen. Sie dagegen wird immer schwächer und kleiner. Ich sehe sie an und denke mir: Das ist mein Werk.

12. KAPITEL

ch hämmerte gegen die Tür. Warum kam sie denn nicht?

I Oh, bitte, komm schnell! Ich hatte Probleme mit dem Atmen. Natürlich wusste ich, dass ich atmen musste, jeder Mensch musste atmen, aber wenn ich es versuchte, ging es nicht, jedenfalls nicht richtig, und das, obwohl sich in meiner Brust bereits ein unerträglicher Druck aufbaute.

Ich keuchte ein paar Mal flach, was sich anhörte, als hätte ich einen verzweifelten Weinkrampf hinter mir. Ein enges Band aus Schmerz hatte sich um meinen Kopf gelegt, und ich konnte nicht mehr klar sehen. Bitte hilf mir, wollte ich sagen, konnte aber weder sprechen noch rufen. In meinem Hals und meiner Lunge saß ein Felsblock, der mich am Luftholen hinderte. Meine Beine trugen mich nicht länger, vor meinen Augen verschwamm alles zu einer grauschwarzen Masse. Ich sank vor der Tür auf die Knie.

»Zoë? Zoë! Um Himmels willen, Zoë, was ist denn passiert?«

Louise kniete neben mir, in ein Badetuch gehüllt und mit nassem Haar. Als sie mir den Arm um die Schulter legte, begann das Badetuch zu rutschen, aber das störte sie nicht.

Louise war einfach ein Schatz. Es machte ihr nichts aus, dass Leute vorbeigingen, die uns befremdet anstarrten und auf die andere Straßenseite wechselten, um uns nicht zu nahe zu kommen. Ich versuchte, etwas zu sagen, brachte aber nur seltsame Stotterlaute heraus.

Sie nahm mich in den Arm und wiegte mich hin und her.

Das hatte seit Mums Tod niemand mehr mit mir getan. Ich fühlte mich plötzlich wieder wie ein kleines Mädchen.

Endlich kümmerte sich jemand um mich. Oh, wie ich das vermisst hatte, wie sehr ich es vermisst hatte, von meiner Mutter in den Arm genommen zu werden! Louise flüsterte mir ins Ohr, dass alles wieder in Ordnung kommen, dass alles gut werden würde, keine Angst, schh, ganz ruhig, ja, so ist es gut! Sie sagte mir, ich solle ruhig ein- und ausatmen. Ein und aus. Langsam hatte ich das Gefühl, wieder Luft zu bekommen, aber reden konnte ich noch immer nicht. Bloß wimmern, wie ein Baby. Ich spürte, wie warme Tränen unter meinen geschlossenen Lidern hervorquollen und über meine heißen Wangen liefen. Ich wollte mich nie wieder bewegen, nie wieder. Meine Arme und Beine fühlten sich schwer an, zu schwer, um sie auch nur einen Zentimeter zu heben. Ich hätte auf der Stelle einschlafen können.

Louise half mir auf die Beine, während sie mit der anderen Hand das Badetuch festhielt. Sie führte mich die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, ließ mich auf dem Sofa Platz nehmen und setzte sich neben mich.

»Das war nur eine Panikattacke, Zoë«, sagte sie. »Weiter nichts.«

Die Panik war weg, aber nicht die Angst. Es war, als hätte sich ein eisiger Schatten über mich gelegt, erklärte ich Louise. Als würde ich vom Rand eines hohen Gebäudes hinunterblicken, ohne den Boden sehen zu können.

Am liebsten hätte ich mich zusammengerollt und geschlafen, bis alles vorbei war. Ich wollte, dass jemand anderer die Sache in die Hand nahm und dafür sorgte, dass alles wieder gut wurde. Ich würde mir in der Zwischenzeit die Ohren zuhalten und fest die Augen schließen, und wenn ich sie wieder öffnen würde, wäre alles vorüber.

»Eines Tages«, versuchte mich Louise zu beruhigen,

»wirst du auf das alles zurückblicken, und es wird nur noch eine Erinnerung sein. Eine schlimme Sache, die du gut überstanden hast. Eine aufregende Geschichte, die du den Leuten erzählen kannst.«

Ich glaubte ihr nicht. Ich glaubte nicht, dass es je vorübergehen würde. Meine Welt hatte sich völlig verändert.

Ich blieb bei Louise. Ihre Wohnung lag in Dalston, in der Nähe des Marktes. Es gab keinen anderen Ort, wo ich hinkonnte. Diese liebe, stämmige kleine Frau war meine Freundin, und in ihrer Gegenwart hatte ich weniger Angst.

Solange Louise bei mir war, würde mir nichts passieren.

Ich nahm erst einmal ein Bad. Louises Bad war viel schöner als das meine. Ich lag in dem heißen Wasser, während Louise neben mir auf dem Klodeckel saß, eine Tasse Tee trank und mir den Rücken wusch. Sie erzählte mir von ihrer Kindheit in Swansea, ihrer allein erziehenden Mutter und ihrer Großmutter, die noch lebte.

Swansea bedeutete für sie Regen, graue Schieferplatten, dicke Wolken und Hügel, sagte sie. Sie habe immer gewusst, dass sie mal nach London gehen werde.

Ich erzählte ihr von dem Dorf, aus dem ich kam und das eigentlich nur aus ein paar verstreuten Häusern und einem Postamt bestand. Von meinem Vater, der tagsüber schlief und nachts Taxi fuhr, bis er eines Tages genauso ruhig und bescheiden starb, wie er gelebt hatte: ohne jemals die Aufmerksamkeit anderer auf sich lenken zu wollen. Dann erzählte ich ihr, wie ich mit zwölf Jahren meine Mutter verloren hatte. Wie sie mir schon in den zwei Jahren davor immer mehr entglitten war, sich in ihre eigene Welt des Schmerzes und der Angst zurückgezogen hatte. Oft stand ich an ihrem Bett, hielt ihre kalte, knochige Hand und spürte dabei, wie fremd sie mir geworden war. Ich erzählte ihr von den Dingen, die ich an diesem Tag gemacht hatte, oder richtete ihr Grüße von Freunden aus, sehnte mich aber insgeheim danach, draußen bei meinen Freundinnen zu sein oder in meinem Zimmer, wo ich so gern las und Musik hörte – oder an irgendeinem anderen Ort, bloß nicht hier, in diesem eigenartig riechenden Krankenzimmer, bei dieser Frau mit dem eingefallenen Gesicht, die mich aus großen Augen anstarrte. Sobald ich sie aber verlassen hatte, fühlte ich mich seltsam schuldig und verstört. Und dann, als sie tot war, sehnte ich mich danach, wieder in ihrem Schlafzimmer zu sitzen, ihre schmale Hand zu halten und ihr von meinem Tag zu erzählen. Manchmal konnte ich noch immer nicht glauben, dass ich sie niemals wieder sehen würde.

Ich sagte zu Louise, dass ich seit damals nie mehr so genau gewusst hätte, was ich machen oder wo ich sein wollte. Dass ich als Lehrerin in Hackney gelandet sei, sei mehr oder weniger Zufall gewesen. Eines Tages aber würde ich weggehen und etwas anderes tun. Eines Tages würde ich meine eigenen Kinder haben.

Louise bestellte uns eine Pizza. Ich lieh mir ihren knallroten Bademantel aus, und wir setzten uns aufs Sofa und aßen öltriefende Pizzastücke, tranken dazu billigen Rotwein und sahen uns Und täglich grüßt das Murmeltier auf Video an. Natürlich kannten wir den Film schon, aber zum Entspannen erschien er uns genau richtig.

Ein paar Mal klingelte das Telefon. Sie unterhielt sich dann mit leiser Stimme, die Hand vor den Hörer gelegt, und sah dabei hin und wieder zu mir herüber. Einmal war es für mich: Detective Sergeant Aldham. Einen Moment lang dachte ich, er würde mir vielleicht sagen, dass sie den Kerl erwischt hätten. Eine vergebliche Hoffnung. Er wollte nur hören, wie es mir ging, und mir noch einmal sagen, dass ich nicht ohne Begleitung in die Wohnung zurückkehren und mit keinem Mann allein bleiben solle, den ich nicht gut kannte, und dass die Polizei am Montag ebenfalls noch einmal mit mir sprechen wolle, zusammen mit Dr. Schilling. Ich solle dafür mehr Zeit einplanen, es werde länger dauern, sagte er.

»Seien Sie vorsichtig, Miss Haratounian«, verabschiedete er sich. Die Tatsache, dass er es geschafft hatte, meinen Namen richtig auszusprechen, machte mir fast noch mehr Angst als sein ernster, respektvoller Ton.

Ich hatte mir gewünscht, dass sie mich ernst nehmen würden. Nun nahmen sie mich ernst.

Louise bestand darauf, mir ihr Bett zu überlassen. Sie selbst wickelte sich in ein Leintuch und legte sich auf die Couch. Ich befürchtete, nicht einschlafen zu können, und lag auch tatsächlich noch eine Weile wach, während die Gedanken in meinem Kopf umherschwirrten wie Fledermäuse, die ihre Orientierung verloren hatten. Die Nachtluft war schwül und drückend, und ich konnte auf dem Kissen kein kühles Fleckchen finden. Louises Wohnung lag in einer ruhigen Straße. Ein paar Katzen lieferten sich einen Kampf, der Deckel einer Mülltonne klapperte, und ein einzelner Mann ging die Straße hinunter und sang dabei »O Little Town of Bethlehem«. Trotzdem muss ich bald eingeschlafen sein, und das Nächste, woran ich mich erinnern konnte, war der Geruch von verbranntem Toast. Durch die blau gestreiften Vorhänge flutete das Tageslicht herein. In den Lichtstrahlen tanzten Staubkörnchen. Drüben im Wohnzimmer klingelte das Telefon, und eine Minute später steckte Louise den Kopf zur Schlafzimmertür herein. »Tee oder Kaffee?«

»Kaffee, bitte.«

»Toast oder Toast?«

»Für mich nichts, danke.«

»Dann also Toast.«

Sie verschwand wieder, und ich kämpfte mich aus dem Bett. Ich fühlte mich gar nicht so schlecht. Leider hatte ich nichts Frisches zum Anziehen dabei, sodass ich noch einmal in die Sachen schlüpfen musste, die ich am Tag zuvor getragen hatte und die sich schon ein bisschen schmuddelig anfühlten.

Nachdem ich eine Scheibe Toast gegessen und meinen Kaffee getrunken hatte, rief ich Guy an, um zu hören, ob sich mit der Wohnung etwas getan hatte. Er klang verlegen und auf eine vorsichtige Weise besorgt, gar nicht so munter und schmeichlerisch wie sonst.

»Wie ich höre, läuft’s bei Ihnen zurzeit nicht so gut«, sagte er. Natürlich hatte die Polizei inzwischen mit ihm gesprochen.

»Nicht gerade großartig. Irgendwas Neues wegen der Wohnung?«

»Mr. Shale möchte sie sich noch einmal ansehen. Er ist ernsthaft interessiert. Meiner Meinung nach haben wir ihn schon am Haken. Jetzt müssen wir den Fisch bloß noch an Land ziehen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich müde.

»Ich glaube, er ist kurz davor, uns ein Angebot zu machen«, antwortete Guy. »Er lässt fragen, ob es Ihnen heute Mittag passen würde.«

»Könnten Sie das diesmal nicht für mich übernehmen?«

Guy lachte auf seine übliche, irritierende Weise. »Ich könnte schon, aber er möchte Sie noch ein paar Sachen fragen. Ich werde auch dabei sein.«

»Gut.« Ich dachte an Aldhams Warnung. Keine fremden Männer mehr.

Wir vereinbarten, dass wir uns um zwölf in seinem Büro treffen würden, Guy, ich und Nick Shale. Auf diese Weise konnte mir nichts passieren. Wir würden uns zu dritt in meine Wohnung begeben, eine rasche Besichtigungsrunde drehen und nach ein paar Minuten wieder gehen. Louise bestand darauf, dass ich mit dem Taxi zu Guy fuhr, was zur Folge hatte, dass wir eine halbe Stunde lang fluchend im Stau standen und ich mal wieder schweißgebadet zu spät kam. Die beiden Männer warteten bereits auf mich, Guy in einem leichten blauen Anzug, Nick in Jeans und weißem T-Shirt. Wir reichten uns formell die Hand.

Als wir an der Wohnung angekommen waren, zog Guy seinen dicken Schlüsselbund heraus, sperrte auf und ging als Erster hinein. Nick trat einen Schritt zurück, um mir den Vortritt zu lassen. Sofort fiel mir der eigenartige, seltsam süßliche Geruch auf. Nick rümpfte die Nase und sah mich fragend an.

»Da habe ich wohl irgendwas nicht in den Kühlschrank getan«, sagte ich. »Ich war schon eine Weile nicht mehr hier.«

Es kam aus der Küche. Als ich die Tür aufschob, wurde der Geruch stärker, aber ich konnte seinen Ursprung noch immer nicht identifizieren. Mein Blick glitt über die Arbeitsfläche. Nichts. Ich schaute in den Mülleimer, er war leer. Als Nächstes öffnete ich den Kühlschrank.

»O Gott!«, sagte ich.

Das Licht ging nicht an. Im Kühlschrank war es warm.

Auf den ersten Blick schien es nicht allzu schlimm. Die Milch war sauer geworden, aber ansonsten hielt sich der Schaden in Grenzen. Mir war klar, dass das dicke Ende erst noch kam. Vorsichtig öffnete ich das kleine Gefrierfach über dem Kühlschrank. Bei dem Anblick, der sich mir bot, konnte ich ein Stöhnen nicht unterdrücken.

Es sah aus, als hätte jemand alles durcheinandergemischt.

Aus einer seitlich daliegenden Packung Kaffeeeis hatte sich der Inhalt über eine offene Tüte Garnelen ergossen.

Der Anblick und Geruch dieser Mixtur aus Tage alten Garnelen und geschmolzenem Eis ließ mich würgen. Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle übergeben.

»Verdammter Mist!«, fluchte ich.

»Zoë.« Guy legte mir nur leicht die Hand auf die Schulter, aber ich zuckte erschrocken zurück. »Kein Grund, sich aufzuregen, Zoë. So was passiert eben mal.«

»Bin gleich wieder da«, sagte ich. »Ich muss die Polizei anrufen.«

»Was?«, fragte er. Seine Miene wirkte bestürzt, fast peinlich berührt.

Ich wandte mich zu ihm um. »Seien Sie still! Halten Sie verdammt noch mal den Mund. Und bleiben Sie mir bloß vom Leib!«

»Zoë …«

»Seien Sie still!« Inzwischen schrie ich ihn fast an.

Er wollte etwas sagen, hob dann aber resignierend die Hände.

»Na schön, wie Sie wollen!«

Er warf einen ängstlichen Blick zu Nick hinüber.

Offenbar befürchtete er, dass aus dem Verkauf der Wohnung nun nichts werden würde. Für mich spielte das keine Rolle. Mir ging es bloß noch darum, am Leben zu bleiben. Ich tippte die Nummer, die ich inzwischen auswendig konnte, und verlangte nach Carthy. Diesmal kam er gleich ans Telefon. Keine Zicken mehr. Er sagte, er werde sofort kommen. Tatsächlich war er in weniger als zehn Minuten da, begleitet von Aldham und einem anderen Mann, der eine große Ledertasche trug und kaum, dass er die Wohnung betreten hatte, dünne Handschuhe überstreifte. Nachdem sie sich die Bescherung angesehen hatten, zogen sie sich zu einer kurzen Beratung in eine Ecke zurück. Anschließend ging Carthy mit mir ins Wohnzimmer und stellte mir ein paar Fragen. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen. Er sagte irgendetwas über Polizeischutz. Aldham und der andere Mann waren noch in der Küche. Guy fragte, ob Shale und er gehen könnten, aber Carthy sagte nein, sie sollten bitte draußen auf der Treppe warten.

»Er war wieder da! Der Gedanke ist mir unerträglich!«, stieß ich hervor.

Aldham kam aus der Küche und musterte mich besorgt.

»Was werden Sie jetzt unternehmen?«, fragte ich.

Aldham trat zu Carthy und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Er wirkte etwas mitgenommen. Dann wandte er sich an mich.

»Zoë«, sagte er mit leiser, ruhiger Stimme. »Da war kein Brief, oder?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe keinen gesehen, aber ich habe auch nicht so genau geschaut.«

»Wir haben uns umgesehen. Wir haben keinen gefunden.«

»Und?«

»Wir haben den Kühlschrank überprüft. Er war ausgeschaltet, stattdessen war der Wasserkocher eingesteckt.«

»Warum hätte der Kerl das tun sollen?«

»Vielleicht waren Sie es selbst. Aus Versehen. So was kann schon mal passieren.«

»Aber ich würde bestimmt nicht …« Dann verstummte ich plötzlich. Mir fiel ein, dass Louise für mich Tee gekocht und dabei einen Stecker herausgezogen hatte, um den Wasserkocher anzumachen. Verdammt. Ich spürte, wie ich rot wurde.

Eine Weile schwiegen wir. Aldham starrte auf den Teppich hinunter, Carthys Blick war auf mich gerichtet.

Ich erwiderte seinen Blick. »Sie haben gesagt, ich soll vorsichtig sein«, brach ich schließlich das Schweigen.

»Natürlich«, antwortete Aldham sanft.

»Für Sie ist es leicht«, sagte ich. »Ich muss die ganze Zeit daran denken, dass mich dieser Kerl umbringen will.«

»Ich weiß.« Aldham sagte das fast im Flüsterton.

Zögernd legte er mir eine Hand auf die Schulter. »Ich frage mich, ob wir Sie vielleicht zu sehr beunruhigt haben.

Es tut mir Leid.«

Ich schüttelte seine Hand ab. »Sie … Sie …«

Aber mir fiel kein passendes Schimpfwort ein. Ich drehte mich um und stürmte hinaus, der Tatsache bewusst, dass ich sie alle in meiner Wohnung zurückließ.

13. KAPITEL

ls ich zu Louise zurückkam, wartete sie bereits auf m

A ich. Sie hatte in der Zwischenzeit eine weiße Gesichtsmaske aufgelegt, mit der sie aussah wie eine Leiche. Nur rund um die Augen war je ein rosafarbener Ring ausgespart, was ihrem Gesicht einen überraschten Ausdruck verlieh. Während ich ihr erzählte, was geschehen war, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich einfach davon ausging, weiter bei ihr wohnen zu können.

Einen Moment lang sah ich sie verlegen an, aber Louise machte es mir leicht. »Bleib, solange du willst.«

»Aber ich schlafe auf dem Sofa.«

»Wie du möchtest.«

»Und ich zahle Miete.«

Sie zog die Augenbrauen hoch und legte dabei die Stirn so in Falten, dass sich in ihrer Maske Risse bildeten.

»Wenn du dich dann besser fühlst. Nötig ist es aber nicht. Es reicht, wenn du meine Pflanzen gießt. Das vergesse ich nämlich immer.«

Ich fühlte mich schon viel besser. Die beklemmende Angst vom Vortag ließ langsam nach. Ich musste nie wieder in meiner Wohnung schlafen, mit Guy sprechen oder fremde Männer durch die Räume führen, damit sie in meinen Schubladen herumwühlen oder auf meine Brüste starren konnten. Nie wieder brauchte ich in der Dunkelheit wach zu liegen, während ich ängstlich auf jedes Geräusch lauschte und versuchte, normal zu atmen. Fred und seine Freunde brauchte ich auch nie wieder zu sehen. Ich fühlte mich, als hätte ich eine schmutzige, einengende Haut abgestreift. Ich würde bei Louise bleiben. Wir würden abends vor dem Fernseher essen oder uns gegenseitig die Nägel lackieren. Am Montag würde ich mit Dr. Schilling sprechen. Sie würde wissen, was zu tun war. Sie kannte sich mit solchen Dingen aus.

Louise behauptete beharrlich, keine Pläne fürs Wochenende zu haben. Obwohl ich den Verdacht hegte, dass sie in Wirklichkeit alle Termine meinetwegen abgesagt hatte, war ich viel zu erleichtert, um auch nur ansatzweise zu protestieren. Wir holten uns mit Käse und Tomaten gefüllte Baguettes und spazierten damit in den nahe gelegenen Park, wo wir uns im trockenen, von der Hitze gelben Gras niederließen. Die Sonne brannte herunter, die Luft war heiß und drückend, der Park überfüllt. Gruppen von Teenagern spielten Frisbee oder knutschten im Schatten der Bäume. Eltern saßen mit ihren Kindern im Gras und picknickten, ausgerüstet mit Bällen und Springseilen. Junge Mädchen in knappen Tops genossen die Sonne. Überall tummelten sich Leute mit Bierdosen, Hunden, Fotoapparaten, Drachen, Fahrrädern, Brot für die Enten. Sie trugen alle helle, leichte Kleidung und waren guter Laune.

Louise schob ihr T-Shirt ein Stück hoch und legte sich zurück, die Arme unter dem Kopf. Ich saß neben ihr, rauchte eine Zigarette nach der anderen und beobachtete die vorüberströmenden Menschen. Irgendwie rechnete ich damit, unter ihnen ein bekanntes Gesicht zu entdecken oder zumindest jemanden, der mich ansah, als würde er mich kennen, aber so jemand war nicht dabei.

»Weißt du, was?«

»Was?«, fragte sie schläfrig.

»Ich habe mich in der ganzen Sache viel zu passiv verhalten.«

»Nein, hast du nicht.«

»Doch. Ich wollte, dass andere Leute das für mich regeln. Selbst habe ich mir nicht die Mühe gemacht, etwas dagegen zu unternehmen.«

»Sei nicht albern, Zoë.«

»Es ist doch so. Ich glaube, es hat etwas mit London zu tun. Ich wollte mich in der Stadt verlieren. Ich wollte nicht, dass jemand auf mich aufmerksam wird. Höchste Zeit, dass ich mal einen kritischen Blick auf mich selber werfe. Genau das muss ich jetzt tun. Ich muss mich selbst einer kritischen Prüfung unterziehen und mir überlegen, wieso sich dieser Typ ausgerechnet mich ausgesucht hat.

Und wie der Mensch aussehen könnte, der so etwas tut.«

»Morgen«, sagte Louise. »Verschieb deine kritische Prüfung auf morgen. Heute solltest du es dir einfach mal gut gehen lassen.«

Ich ließ die Sonne in meine Haut dringen, unter meine schmuddeligen Klamotten. Ich war müde. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so müde gefühlt. Die Augen schmerzten, und Arme und Beine waren so schwer, dass ich sie kaum bewegen konnte. In Zukunft wollte ich jeden Tag ein ausgiebiges Bad nehmen, stundenlang auf einem sauberen Laken schlafen, gesunde Rohkost, Karotten und grüne Äpfel zu mir nehmen und nur noch Orangensaft und Kräutertee trinken. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemals wieder den Wunsch verspüren würde, in einen Club zu gehen, mich zu betrinken oder zuzurauchen oder gar von einem Mann anfassen zu lassen. Das schweißtreibende, hektische Leben, das ich in London geführt hatte, erfüllte mich nun mit einem vagen, aber alles beherrschenden Gefühl von Abscheu. All der Lärm, all die Anstrengung. Vielleicht, dachte ich, würde ich sogar mit dem Rauchen aufhören. Aber heute noch nicht.

* * *

Wir kamen an einem Laden mit Kindersachen vorbei –

bunten Baumwolllatzhosen, Streifentops, Bomberjacken in Rot, Rosa und Gelb –, und Louise zerrte mich hinein. »Du passt mittlerweile in Kinderklamotten«, sagte sie und musterte mich kritisch.

»Du hast zu viel abgenommen – wir werden dich wieder aufpäppeln müssen. Aber bis dahin brauchst du was zum Anziehen. Lass uns ein paar Sachen kaufen.« Unter den missbilligenden Blicken der Verkäuferin wählte ich ein paar Teile aus und ging damit in die Umkleidekabine. Als Erstes probierte ich ein geripptes graues Hemdkleid, das laut Etikett für Dreizehnjährige gedacht war, und betrachtete mich im Spiegel. Gut. Ich sah darin flachbrüstig und geschlechtslos aus. Genau das, was ich im Moment brauchte. Nachdem ich es wieder ausgezogen hatte, schlüpfte ich in ein hübsches weißes T-Shirt, das mit kleinen Blümchen bestickt war.

»Lass mal sehen!«, rief Louise von draußen herein.

»Komm schon, du kannst doch nicht mit einer Freundin zum Einkaufen gehen, ohne eine Modenschau zu veranstalten!«

Kichernd zog ich den Vorhang auf und drehte mich vor ihr.

»Wie findest du das?«

»Nimm es!«, befahl sie.

»Ist es mir nicht zu klein?«

»Bestimmt, wenn du erst mal ein paar Tage bei mir wohnst und meine schrecklichen Essgewohnheiten übernommen hast. Im Moment aber siehst du sehr hübsch darin aus.« Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. »Wie eine Blume, meine Liebe.«

Später fuhren wir mit Louises Klapperkiste zum Supermarkt, um Vorräte einzukaufen. Ich hatte lange Zeit von der Hand in den Mund gelebt, hier ein paar Pommes, da einen Riegel Schokolade, hin und wieder ein gekauftes Sandwich im verrauchten Lehrerzimmer. Es war bestimmt schon Wochen her, wenn nicht Monate, dass ich wirklich mal etwas gekocht hatte, mit einem Rezept und richtigen Zutaten.

»Für das Abendessen bin heute ich zuständig!«, verkündete ich großspurig. Es würde mir gut tun, für ein paar Stunden die Hausfrau zu spielen. Ich legte frische Pasta in unseren Einkaufswagen, außerdem spanische Zwiebeln, große Knoblauchzehen, italienische Eiertomaten, eine Tüte mit Salatherzen, eine Gurke. Für die Nachspeise Mangos und Erdbeeren. Einen Becher Sahne. Eine Flasche Chianti. Zum Schluss erstand ich eine Sparpackung Slips, ein Deo, einen Waschlappen, eine Zahnbürste und Zahnpasta. Seit gestern früh hatte ich mir die Zähne nicht mehr geputzt. Ich würde mir ein paar Klamotten aus der Wohnung holen müssen.

»Morgen«, sagte Louise in bestimmtem Ton. »Heute nicht mehr. Wir können morgen früh zusammen hinfahren. Mit dem Wagen. Bis dahin hast du ja deine Kindersachen.«

An der Kasse legte ich noch ein paar mit Zellophan umwickelte Rosen in unseren Einkaufswagen. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Louise.«

»Dann lass es doch einfach.«

Eine Freundin von Louise, Cathy, kam ebenfalls zum Essen. Sie war außergewöhnlich groß und dünn und hatte eine Adlernase und winzige Ohren. Louise hatte ihr offensichtlich von mir erzählt, denn sie ging sehr vorsichtig und nett mit mir um. Leider hatte ich die Nudeln zu lange kochen lassen, aber die Tomatensoße war gut, und die Nachspeise auch. Selbst die schlechteste Hausfrau ist in der Lage, Mangos und Erdbeeren aufzuschneiden und in einer Schüssel miteinander zu vermischen. Louise zündete Kerzen an und befestigte sie mit ein paar Wachstropfen auf alten Untertassen. Als ich mich schließlich in meinem neuen grauen Hemdkleid am Küchentisch niederließ, fühlte ich mich leicht benebelt, als würde ich das alles nur träumen. Ich hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend, konnte aber nicht viel essen.

Auch das Reden fiel mir schwer. Es reichte mir schon, einfach nur dazusitzen und zuzuhören. Zum Teil drang ihre leicht dahinplätschernde Unterhaltung gar nicht richtig in mein Bewusstsein.

Während wir erst meinen Chianti und dann fast den ganzen Weißwein tranken, den Cathy mitgebracht hatte, sahen wir uns im Fernsehen einen alten Film an, einen Thriller, aber ich konnte mich nicht auf die Handlung konzentrieren. Meine Gedanken schweiften mitten in einer Szene ab, sodass ich nicht mitbekam, wieso der Held in der nächsten Sequenz in ein Lagerhaus einbrach. Mir war völlig schleierhaft, was er damit bezweckte oder was er dort zu finden hoffte. Draußen begann es zu regnen. Große Tropfen prasselten auf das Dach und ans Fenster. Noch bevor Cathy ging, legte ich mich schlafen. Bekleidet mit einem dünnen Nachthemd von Louise, rollte ich mich in dem kleinen Wohnzimmer auf der Couch zusammen und lauschte dem beruhigenden Gemurmel der beiden Frauen in der Küche, das hin und wieder von Lachen unterbrochen wurde, bis ich schließlich mit einem Gefühl von Geborgenheit in den Schlaf hinüberglitt.

Am nächsten Morgen fuhren wir nach dem Frühstück zu meiner Wohnung, um ein paar Klamotten für mich zu holen. Obwohl ich nicht vorhatte, je wieder in der Wohnung zu leben, würde ich mein ganzes Zeug erst später zusammenpacken und diesmal nur das Wichtigste mitnehmen. Noch immer regnete es ununterbrochen.

Louise fand im näheren Umkreis der Wohnung keinen Parkplatz, sodass sie ein paar Meter von der Haustür entfernt im Halteverbot wartete. Ich sagte, ich würde rasch hinaufspringen.

»Ich brauche bloß ein paar Minuten.«

»Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«

Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich möchte mich nur kurz verabschieden.«

Obwohl ich gerade mal einen Tag weggewesen war, wirkte die Wohnung heruntergekommen und vernachlässigt, als wüsste sie, dass sich niemand mehr um sie kümmerte. Ich ging ins Schlafzimmer und nahm ein paar Kleider aus dem Schrank, außerdem zwei Hosen, vier T-Shirts, ein paar Slips, BHs, mehrere Paar Socken und zwei Paar Turnschuhe. Das musste erst mal reichen.

Nachdem ich alles in einer großen Reisetasche verstaut hatte, ging ich ins Bad, zog meine schmutzigen Sachen aus und warf sie in eine Ecke. Meine Dreckwäsche würde ich später abholen. Ein andermal.

Ich hörte ein Klicken, als wäre eine Schranktür zugefallen. Das habe ich mir nur eingebildet, beruhigte ich mich selbst. Offenbar ging mal wieder meine Phantasie mit mir durch. Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück, wo ich frische Unterwäsche aus der Schublade nahm. Dann machte ich die Vorhänge zu und begann mich anzuziehen.

Im Spiegel sah ich meine dunklen Augenringe, meinen nackten Körper mit den gebräunten Armen und Beinen, den weißen Bauch. Nachdem ich in meinen Slip geschlüpft war, holte ich mein neues T-Shirt aus der Tasche, die ich mitgebracht hatte – das T-Shirt, von dem Louise behauptete, ich sähe darin aus wie eine Blume –, und zog es mir über den Kopf. Es war albern, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, etwas anzuhaben, das nach der Wohnung roch, meinem alten Leben. Ich wollte sauber und frisch sein.

Als ich das T-Shirt über meine Brüste zog, legte sich ohne jede Vorwarnung ein Arm um meinen Hals und meinen Körper, ich spürte ein Gewicht im Rücken, jemand hielt mich von hinten umklammert, bis ich die Balance verlor und mit dem Gewicht zu Boden stürzte, wobei mein Gesicht, das noch immer in dem T-Shirt steckte, hart in den Teppich gedrückt wurde. Ich war vor Schreck wie gelähmt. Durch das T-Shirt spürte ich die Hand, die mir den Mund zuhielt, eine warme Hand, die nach Seife roch, nach der Apfelseife aus meinem Bad. Der andere Arm umklammerte meinen Brustkorb knapp unter meinen Brüsten.

»Miststück! Du Miststück!«

Ich versuchte mich zu befreien, indem ich mich heftig hin und her wand. Gleichzeitig versuchte ich zu schreien.

Es gelang mir nicht, irgendetwas zu fassen zu bekommen, meine Arme wurden festgehalten, konnten nichts ausrichten. Er gab kein Geräusch mehr von sich, atmete bloß seinen heißen, weichen Atem in mein Ohr.

Schließlich hörte ich auf, gegen ihn anzukämpfen.

Draußen schrie jemand, das Heulen einer Sirene kam näher, entfernte sich wieder. Sie hatten ein anderes Ziel.

Der Druck auf meinem Mund ließ nach, ich versuchte den Kopf freizubekommen und zu schreien, aber plötzlich waren die Hände an meinem Hals. Es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte weder kämpfen noch schreien. Ich musste an Louise denken, die draußen im Wagen saß und auf mich wartete, auch wenn ich inzwischen nicht mehr das Gefühl hatte, dass sie in meiner Nähe war. Sie schien weit, weit weg zu sein. Vielleicht würde sie bald kommen und mich finden. Nicht bald genug. Wie dumm von mir, auf diese Weise zu sterben. Bevor ich überhaupt richtig angefangen hatte zu leben. Wie dumm.

Ich spürte, wie mein Kopf auf die Dielen knallte, meine Füße über das Holz glitten. Ich hörte den Regen sanft gegen das Fenster klatschen. Ich konnte nicht sprechen, es war nichts mehr zu sagen, keine Zeit mehr, es zu sagen, aber irgendwo tief in meinem Inneren flüsterte eine Stimme: Nein, bitte nicht. Bitte.

ZWEITER TEIL

JENNIFER

1. KAPITEL

lles schien drunter und drüber zu gehen, aber zur Frühstückszeit hat unser Haus imm

A

er etwas von

einem mittelalterlichen Schloss, in dem Tier und Mensch Schutz suchen, sobald auch nur das leiseste Anzeichen von Gefahr am Horizont auftaucht. In den Wochen seit unserem Umzug war es noch chaotischer geworden, falls das überhaupt möglich ist, und mitten im Schloss befand sich nun eine Großbaustelle.

Clive hatte das Haus um sechs verlassen, noch ein bisschen eher als sonst, weil er im Moment an irgendeinem horrenden Übernahmeangebot arbeitet. Kurz vor acht zerrt Lena die beiden älteren Jungs in den Espace und fährt sie zur Schule. Lena ist unser Kindermädchen Schrägstrich Au-pair, eine hübsche, unverschämt blonde, schlanke und junge Schwedin. Allerdings hat sie so ein Ding in der Nase stecken, das mich immer, wenn ich es sehe, zusammenzucken lässt. Weiß der Himmel, wie sich das anfühlt, wenn sie sich die Nase putzt.

Dann begannen langsam die Leute einzutrudeln. Allen voran natürlich unsere Perle Mary, die uns nach Primrose House gefolgt ist. Sie ist ein richtiger Schatz, wenn man mal davon absieht, dass ich so viel Zeit damit verbringe, ihr über die Schulter zu schauen und zu sagen, was sie tun soll, und hinterher nachzusehen, ob sie es auch wirklich getan hat, dass ich schon mal zu Clive gesagt habe, genauso gut könnte ich selber putzen. Und dann all die anderen Leute, von denen wir eigentlich erwartet hatten, dass sie das Haus auf Vordermann bringen würden, die es stattdessen aber in einen mit Ziegelstaub bedeckten Slum verwandelt haben. Immerhin waren die Arbeiten an den neuen Strom- und Wasserleitungen seit einer Woche abgeschlossen, sodass man eigentlich davon ausgehen konnte, dass es von nun an nur noch bergauf gehen würde.

Ich war trotz alledem zufrieden, denn jetzt besaß ich endlich, was ich schon immer gewollt und was Clive mir schon so lange versprochen hatte: ein Projekt. Das Haus bestand nur noch aus blanken Dielenbrettern und Wänden, war sozusagen auf den Rohbau reduziert. Nun würde ich das Ganze in ein Zuhause verwandeln, auf das wir stolz sein konnten. Ich weiß, dass man sich eigentlich auf Anhieb in ein Haus verlieben sollte, aber in dieses Haus würde man sich erst in frühestens sechs Monaten verlieben können. Vor uns hatten es zwei nette alte Leute bewohnt, und es hatte darin ausgesehen wie in einem Antiquariat, das schon seit den fünfziger Jahren niemand mehr betreten hatte. Die Frage war nicht gewesen, wie viel man verändern sollte, sondern ob man überhaupt irgendetwas so lassen konnte, wie es war.

Vier Monate lang saß ich mit Jeremy, unserem cleveren Architekten, über die Pläne gebeugt, wobei ich ihn ständig mit Espresso wach hielt. Es ging im Grunde bloß darum, alles möglichst einfach zu gestalten. Erst mal alles rausreißen, dann ein neues Dach. Küche und Esszimmer ins Untergeschoss, den Wohnbereich ins Erdgeschoss, Clives Arbeitszimmer in den hinteren Teil des ersten Stocks und dann Schlafzimmer bis unters Dach. Für das Kindermädchen eine ausgebaute Mansardenwohnung, damit sie anstellen konnte, was Kindermädchen so anstellen, ohne gleich die Pferde scheu zu machen. Und natürlich mehrere Bäder. Je ein eigenes für Clive und mich und eine Powerdusche für die Jungs, in der Hoffnung, dass sie das vielleicht dazu bewegen würde, sich hin und wieder zu waschen.

An diesem Morgen erschien Jeremy gegen halb neun in Begleitung von Mick, um ein Problem wegen eines Bogens oder Balkens in Angriff zu nehmen, dicht gefolgt von Francis, den wir mitgebracht hatten, damit er sich um das kümmerte, was man uns als Garten verkauft hatte –