wobei kümmern in diesem Fall völlig neu gestalten hieß.

Ein Garten von sechsunddreißig Metern Länge ist für London nicht schlecht, auch wenn das Ganze ausgesehen hat wie ein überdimensionales Kaninchengehege, bis Francis sich seiner annahm. Die Schar der Elektriker und Installateure ist mittlerweise Gott sei Dank weg, aber Mick und seine Leute kommen noch immer. Natürlich gibt es für alle Tee und Kaffee, sobald Lena zurück ist.

Irgendwann zwischendrin bringe ich Christopher – er ist vier – in den Kindergarten, den er seit unserem Umzug besucht. Anfangs war ich leicht skeptisch, weil die Kinder dort nicht mal richtige Uniformen tragen, lediglich blaue Sweatshirts, und den ganzen Tag nichts anderes tun, als in riesigen Sandkästen zu spielen oder mit den Fingern zu malen, aber mittlerweile lohnte es sich kaum mehr, ihn da wieder rauszuholen und etwas anderes für ihn zu suchen.

Im Herbst würde er sowieso nach Lascelles in die Vorvorschule gehen und sich somit nicht mehr in meiner Obhut befinden, was für mich eine gewisse Erleichterung bedeutete.

Nachdem ich ihn abgeliefert hatte, fuhr ich zurück nach Hause und gönnte mir endlich ein paar Minuten, um einen Kaffee zu trinken und einen raschen Blick in die Zeitung und auf die Post zu werfen, bevor ich mich an die Arbeit machte – beziehungsweise im Haus herumrannte und die Leute davon abhielt, die falschen Wände durchzubrechen, oder als eine Art Verbindungsmann dafür sorgte, dass alles reibungslos lief. Leo, mein treuer Handwerker, würde ebenfalls vorbeikommen, und ich hatte bereits eine Liste von Dingen aufgestellt, die zu erledigen waren. Außerdem musste ich mit Jeremy noch eine ernste Diskussion über die Küche führen. Sie war bei unseren ganzen Planungen der härteste Brocken gewesen. In jedem anderen Teil des Hauses kann man irgendwie damit leben, wenn man etwas falsch gemacht hat, aber wenn die Kühlschranktür so aufgeht, dass sie die Besteckschublade blockiert, wird einen das fünfundzwanzigmal am Tag ärgern, bis man alt und grau ist. Ideal wäre es, die Küche erst mal provisorisch zu bauen, dann ein halbes Jahr darin zu leben und sie anschließend noch einmal neu zu gestalten, aber dafür ist selbst Clive nicht reich oder zumindest nicht geduldig genug.

Lena traf ein, und ich gab ihr ein paar Anweisungen.

Dann, während sie sich an die Arbeit machte, trank ich einen Schluck Kaffee und nahm mir endlich die Zeitung und die Post vor. Ich habe es mir zur strikten Regel gemacht, der Zeitung höchstens fünf Minuten zu widmen, wenn überhaupt. Es steht sowieso nicht viel Wichtiges drin. Dann kommt die Post an die Reihe. Normalerweise sind neunzig Prozent für Clive. Die restlichen zehn Prozent verteilen sich auf die Kinder, die Haustiere – 1999

waren das eine Katze, die entweder vor ein Auto gelaufen war oder irgendwo einen besseren Platz gefunden hatte, und ein Hamster, der in der hintersten Ecke unseres Gartens in Battersea begraben lag – und mich. Zur Zeit hatten wir keine Haustiere, allerdings spielte ich schon eine Weile mit dem Gedanken, mir einen Hund anzuschaffen. Eigentlich hatte ich immer die Meinung vertreten, dass London nicht der geeignete Ort war, einen Hund zu halten, aber nun, da wir nur zwei Minuten von Primrose Hill entfernt wohnen, ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich mit sehnsuchtsvollem Blick darüber nachdenke. Clive weiß allerdings noch nichts davon.

Die Post war schnell durchgesehen. Alles, worauf Clives Name stand, kam auf einen Stapel. Ebenso alle Rechnungen. Ich kann eine Rechnung schon aus zwanzig Metern Entfernung erkennen, sodass ich sie meist gar nicht erst aufzumachen brauche. Alles, was an Mr. und Mrs.

Hintlesham adressiert war, landete ebenfalls auf Clives Stapel. Wie üblich trug ich die so geordneten Briefe anschließend nach oben und legte sie meinem Mann in seinem Allerheiligsten auf den Schreibtisch, damit er sich abends nach der Arbeit oder – noch wahrscheinlicher – am Wochenende darum kümmern konnte.

Blieben bloß noch zwei Briefe an Josh und Harry, identische Nachrichten aus Lascelles, in denen sie darüber informiert wurden, dass demnächst der große Sporttag stattfand, sowie diverse Werbeanzeigen und Spendenaufrufe, die ich sofort in den Papierkorb warf. Zu guter Letzt hielt ich ein an mich adressiertes Kuvert in der Hand. Fast immer entpuppten sich Briefe, auf denen mein Name stand, als Rechnungen irgendwelcher Versandhäuser, die umgehend auf Clives Stapel landen.

Wenn nicht, handelt es sich in der Regel um Schreiben von Versandhäusern, die meine Adresse von anderen Versandhäusern bekommen haben.

Nicht so bei diesem Brief. Name und Adresse waren sauber mit der Hand geschrieben, aber es war keine Handschrift, die ich kannte, weder die meiner Mummy noch die einer Freundin oder Bekannten. Interessant. Ich hatte fast das Gefühl, den Moment genießen zu müssen.

Ich schenkte mir eine weitere Tasse Kaffee ein und nahm einen Schluck, bevor ich das Kuvert öffnete. Er enthielt ein zusammengefaltetes Stück Papier, das viel zu klein für den Umschlag war. Ich sah gleich, dass nicht viel darauf stand. Gespannt strich ich den Zettel glatt: Liebe Jenny, ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich dich Jenny nenne. Ich finde dich nämlich sehr schön. Du riechst sehr gut, Jenny, und du hast eine schöne Haut.

Und ich werde dich töten.

So was Blödes. Ich überlegte, ob mir vielleicht jemand einen Streich spielen wollte. Manche von Clives Freunden haben einen makabren Sinn für Humor. Ein Freund namens Seb hat ihn beispielsweise mal zu einem ganz fürchterlichen Herrenabend eingeladen, an dem zwei Stripperinnen auftraten und am Ende alle Lippenstift am Hemdkragen hatten. Wie auch immer, während ich noch überlegte, kam Jeremy herunter, und wir begannen über ein paar von den Küchenproblemen zu sprechen. Während der letzten, schrecklich heißen Tage war mir durch den Kopf gegangen, ob es nicht besser wäre, die Oberlichte so nachzurüsten, dass man sie öffnen konnte. In der Zeitschrift House and Garden hatte ich Fenster gesehen, die sich durch eine Schnur öffnen ließen. Ich zeigte Jeremy das Bild, aber er war nicht beeindruckt. Das ist er nie, es sei denn, die Idee stammt von ihm selbst. Wir gerieten uns deswegen ziemlich in die Haare, auch wenn ich zugeben muss, dass Jeremy dabei recht witzig war.

Stur, aber witzig. Plötzlich fiel mir der Brief wieder ein, und ich zeigte ihn Jeremy.

Wider Erwarten lachte er nicht. Das fand er nun überhaupt nicht komisch. »Hast du eine Ahnung, wer das geschrieben haben könnte?«, fragte er.

»Nein«, antwortete ich.

»Dann rufst du besser die Polizei an.«

»Ach, sei nicht albern. Wahrscheinlich will mir nur jemand einen Streich spielen. Da mache ich mich doch lächerlich.«

»Und wenn schon. Selbst wenn es sich um einen Streich handelt. Du musst die Polizei anrufen.«

»Ich werde den Brief Clive zeigen.«

»Nein«, widersprach Jeremy entschieden. »Ruf die Polizei an. Jetzt sofort. Wenn es dir peinlich ist, mache ich es für dich.«

»Jeremy!«

Er ließ sich nicht davon abbringen. Nicht genug, dass er bei der Auskunft anrief und sich die Nummer des nächstgelegenen Polizeireviers geben ließ, nein, er tippte die Nummer auch noch selbst und reichte mir dann den Hörer, als wäre ich ein Kleinkind, das mit seiner Omi reden soll.

»Da«, sagte er.

Das Telefon läutete und läutete. Ich streckte Jeremy die Zunge heraus. »Wahrscheinlich keiner zu Haus … Oh, hallo? Hören Sie, ich weiß, es klingt ziemlich blöd, aber ich habe gerade so einen seltsamen Brief bekommen.«

2. KAPITEL

ch sprach ein paar Minuten mit einem Mädchen, dessen Art zu reden m

I

ich an die Vertreter erinnerte, die

einem übers Telefon irgendwelche schrecklichen metallenen Fensterrahmen anzudrehen versuchen. Ich war skeptisch, und sie war gelangweilt. Schließlich sagte sie, sie werde dafür sorgen, dass jemand bei mir vorbeischaue.

Allerdings könne es ein wenig dauern. Ich antwortete, das mache mir nichts aus, und beendete das Gespräch. Ohne einen weiteren Gedanken an die Sache zu verschwenden, wandte ich mich wieder Jeremy zu, der sich gerade Kaffee nachschenkte. Clive hat die Kommune, in der wir zurzeit hausen, die Hintlesham-Selbstbedienungskantine getauft.

Die lieben alten Leutchen, die vor uns dort wohnten, hatten überall Wände durchbrechen lassen, sämtliche vertäfelten Türen durch neue ersetzt, jeden Kamin herausgerissen und jede noch vorhandene Nische ausgerottet. Ich weiß, dass das in den Sechzigern so üblich war. Allem Anschein nach hatten sie versucht, so zu tun, als würden sie in einer Sozialwohnung im obersten Stock eines Hochhauses wohnen und nicht in einer Doppelhaushälfte am Ende einer frühviktorianischen Häuserreihe.

Es ging mir größtenteils darum, dem Haus wieder den Stil zu geben, der zu seiner Geschichte passte. Lediglich bei der Küche machte ich eine Ausnahme. Die viktorianische Küche war ein Ort für Küchenmägde und Köchinnen und mittlerweile einfach nicht mehr zeitgemäß.

Trotzdem wollte ich auch dort so etwas wie eine historische Atmosphäre schaffen. Das Schwierige daran war, am Ende nicht bei dem Stil zu landen, den Jeremy Bauernhaus-Ikea nennt. Ich hatte Jeremy die Pläne bestimmt achtmal neu zeichnen lassen, nicht zuletzt deswegen, weil es in der Küche eine störende Säule gab, um die wir herumarbeiten mussten. Ich hätte das blöde Ding am liebsten entfernt, aber Jeremy meinte, dann würde der hintere Teil des Hauses einstürzen.

Wir waren gerade dabei, über seinen neuesten Geistesblitz zu diskutieren, als es an der Tür läutete. Wie üblich überließ ich es Lena zu öffnen, weil zurzeit sowieso nur Leute kamen, die Farbkübel, Heizkörper oder seltsam geformte Kupferrohre ins Haus schleppten. Ich hörte sie von oben zu mir herunterschreien. In meinem eigenen Haus angeschrien zu werden, schätze ich ungefähr genauso, wie auf Alufolie zu beißen. Ich ging ins Erdgeschoss hinauf. Lena stand an der offenen Haustür.

»Lena, wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann kommen Sie bitte zu mir und teilen es mir in normalem Ton mit!«

»Das habe ich doch!«, antwortete sie mit Unschuldsmiene.

Ich gab es auf und trat neben sie. Erst jetzt sah ich, dass zwei uniformierte Polizisten vor der Tür standen. Sie wirkten beide sehr jung und etwas verlegen, wie zwei Pfadfinder, die gerade ihre Dienste als Autowäscher angeboten hatten und nicht ganz sicher waren, wie man sie aufnehmen würde.

»Mrs. Hintlesham?«

»Ja. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie vorbeischauen, auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass es wirklich nötig ist.« Die beiden wirkten noch eine Spur verlegener. »Aber nachdem Sie nun schon mal hier sind, kommen Sie doch bitte herein.«

Beide putzten sich mit ungeheurer Sorgfalt die Schuhe am Fußabstreifer ab, bevor sie eintraten und mir in den Rohbau unserer Küche folgten. Jeremy sah mich fragend an, was so viel hieß wie: Soll ich mich verziehen? Ich schüttelte den Kopf.

»Es dauert bestimmt nicht lang«, sagte ich und deutete auf den Brief, der noch immer neben dem Herd lag. »Sie werden selbst feststellen, dass sich da nur irgendjemand einen üblen Scherz erlaubt hat. Es lohnt sich wirklich nicht, deswegen viel Aufhebens zu machen. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee? Oder etwas anderes?«

Einer der Beamten antwortete: »Nein, danke.« Dann starrten sie beide auf den Zettel hinunter, während ich mich wieder mit Jeremy an die Arbeit machte. Als ich ein paar Minuten später aufblickte, sah ich, dass einer der beiden gerade durch die Terrassentür in den Garten hinausgetreten war und in sein Funkgerät sprach. Der andere sah sich im Raum um.

»Neue Küche?«, wollte er wissen.

»Ja«, antwortete ich und wandte mich demonstrativ wieder zu Jeremy um. Ich war nicht in der Stimmung, mit einem jugendlichen Polizeibeamten über Innenarchitektur zu plaudern. Der andere kam wieder herein. Ich weiß nicht, ob es an ihrer Uniform lag oder an den schwarzen Stiefeln oder daran, dass sie ihre Mützen abgenommen hatten, aber ihre Anwesenheit bewirkte, dass mir dieser Kellerraum, der eigentlich ziemlich groß war, plötzlich klein und eng vorkam. »Sind Sie fertig?«, fragte ich.

»Nein, Mrs.

Hintlesham. Ich habe gerade mit dem

Revier gesprochen. Sie schicken noch jemanden vorbei.«

»Warum denn das?«

»Der Kollege möchte auch noch einen Blick auf den Brief werfen.«

»Eigentlich hatte ich heute Vormittag noch was vor.«

»Es wird nicht lange dauern.«

Ich seufzte gereizt. »Also wirklich!«, sagte ich in vorwurfsvollem Ton. »Meinen Sie nicht, dass das reine Zeitverschwendung ist?« Sie antworteten mit einem unbeholfenen Achselzucken, einer Geste, die nicht viel Raum für Diskussionen ließ.

»Wollen Sie hier auf ihn warten?«

»Nein, Madam. Wir warten draußen im Wagen, bis der Detective Inspector eintrifft.«

»Ganz wie Sie möchten.«

Die beiden verschwanden mit verlegener Miene. Ich ging ebenfalls hinauf, um Jeremy zu suchen, der mittlerweile wieder irgendwo im Haus unterwegs war.

Wie sich herausstellte, tat ich gut daran, oben nach dem Rechten zu sehen, denn soeben war ein Kübel Farbe mit einem völlig falschen Farbton eingetroffen. Eins ist mir im Verlauf dieses ganzen schrecklichen Umbauprozesses mehr als klar geworden: Man ist rund um die Uhr damit beschäftigt sicherzustellen, dass die Dinge, die man bestellt hat, auch wirklich eintreffen, und dass anschließend tatsächlich auch das damit gemacht wird, was man geplant hat. Während ich mich an die Strippe hängte und versuchte, die Sache mit dem hirnlosen weiblichen Wesen am anderen Ende der Leitung zu klären, hörte ich, dass es an der Tür klingelte, und kurz darauf führte Lena einen genervt wirkenden Mann im grauen Anzug herein. Ich begrüßte ihn mit einer Handbewegung, während ich weiter versuchte, aus meiner Gesprächspartnerin etwas Vernünftiges herauszubekommen – oder in sie hinein, um genauer zu sein. Aber da es ziemlich peinlich ist, mit jemandem zu schimpfen, den man nicht kennt, während jemand anderer, den man ebenfalls nicht kennt, mit erwartungsvoller Miene danebensteht, beendete ich das Telefongespräch, so schnell es ging. Der Mann stellte sich als Detective Sergeant Aldham vor. Ich führte ihn ins Untergeschoss.

Nachdem er einen Blick auf den Brief geworfen hatte, hörte ich ihn leise fluchen. Dann beugte er sich tief über das Blatt, als wäre er hoffnungslos kurzsichtig. Schließlich blickte er mit einem Grunzen auf. »Haben Sie den Umschlag noch?«

»Was? Ähm, nein, ich glaube, ich habe ihn in den Mülleimer geworfen.«

»Wo?«

»Da drüben im Schrank, neben dem Spülbecken.«

Ich traute meinen Augen kaum, aber er ging tatsächlich hinüber, zog den Mülleimer heraus, hob den Deckel an und begann darin herumzuwühlen.

»Tut mir Leid. Ich fürchte, da sind auch Teeblätter und Kaffeesatz drin.«

Er zog einen zerknüllten Umschlag heraus, der ein bisschen feucht und braun und insgesamt recht mitgenommen aussah. Er hielt ihn ganz vorsichtig an einer Ecke und legte ihn neben den Brief. »Entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte er und holte ein Handy heraus.

Ich zog mich diskret in die andere Ecke des Raums zurück und steckte den Wasserkocher ein. Trotzdem bekam ich Bruchstücke des Gesprächs mit: »Ja, definitiv.«

»Ich glaube schon.«

»Ich habe noch nicht mir ihr gesprochen.« Anscheinend lief es ab da nicht mehr so gut für Sergeant Aldham, denn sein Anteil am Gespräch beschränkte sich nun auf gepresste Fragen: »Was?«

»Sind Sie sicher?« Schließlich verstaute er das Telefon mit einem resignierten Seufzer in seiner Tasche. Er war rot angelaufen und atmete schwer, als wäre er gerade vom Joggen gekommen. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte.

»Zwei weitere Beamte sind hierher unterwegs«, sagte er schließlich in mürrischem Ton. »Sie würden gern mit Ihnen sprechen. Falls es Ihnen passt.« Letzteres murmelte er so leise vor sich hin, dass ich es kaum verstand. Dabei machte er ein Gesicht wie ein Hund, dem man gerade einen Fußtritt verpasst hatte.

»Was soll denn um Himmels willen das ganze Theater?«, protestierte ich. »Es ist doch nur ein dummer Brief. Auch nicht viel schlimmer als ein obszöner Anruf, oder?«

Aldham spitzte plötzlich die Ohren. »Hat es bei Ihnen derartige Anrufe gegeben?«

»Obszöne, meinen Sie? Nein.«

»Fällt Ihnen irgendwas ein, was mit diesem Brief zusammenhängen könnte? Haben Sie vielleicht noch andere seltsame Briefe erhalten? Oder gibt es in Ihrem Bekanntenkreis jemanden, dem Sie so etwas zutrauen würden?«

»Nein, natürlich nicht. Es sei denn, es handelt sich um einen dummen Streich.«

»Fällt Ihnen jemand ein, der Ihnen unter Umständen einen solchen Streich spielen könnte?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Witze und Streiche sind nicht so ganz mein Ding«, meinte ich. »Das fällt eher in Clives Ressort.«

»Wer ist Clive?«

»Mein Mann.«

»Ist er in der Arbeit?«

»Ja.«

Ab da wurde es ziemlich peinlich. Aldham stand mit verlegener Miene herum. Ich versuchte, meine Sachen zu erledigen, aber seine düstere Miene verdarb mir jede Lust daran. Deswegen war ich ziemlich erleichtert, als es eine gute Viertelstunde nach Aldhams Eintreffen erneut an der Tür klingelte. Ich ging öffnen, und Aldham trottete auf etwas alberne Weise hinter mir her. Diesmal stand eine ganze Schar vor der Tür: in vorderster Front zwei wichtig aussehende Herren in Zivil und hinter ihnen zwei uniformierte Beamte, ein Mann und eine Frau. Zwei weitere Personen in Zivil, ebenfalls ein Mann und eine Frau, kamen gerade die Treppe herauf. Draußen auf der Straße parkten zwei Polizeiwagen und zwei andere Autos, alle in zweiter Reihe.

Der ältere der beiden Männer, die die Gruppe anführten, hatte schütteres, sehr kurz geschnittenes graues Haar.

»Mrs. Hintlesham?«, fragte er mit einem beruhigenden Lächeln. »Ich bin Detective Chief Inspector Links. Stuart Links.«

Wir gaben uns die Hand. »Und das hier ist Detective Inspector Stadler.«

Stadler sah überhaupt nicht aus wie ein Polizist, eher wie ein Politiker oder einer von Clives Kollegen. Er trug einen gut geschnittenen dunklen Anzug und eine dezente Krawatte. Irgendwie war er eine recht beeindruckende Erscheinung, mit einem südländischen, vermutlich spanischen Einschlag und einem ziemlichen Schlafzimmerblick. Er war groß, gut gebaut und hatte sehr dunkles, fast schwarzes Haar, das er nach hinten gekämmt trug. Wir gaben uns ebenfalls die Hand. Sein Händedruck war seltsam weich, und er presste dabei seine Finger gegen meine Handfläche, als versuchte er auf diese Weise etwas über mich herauszufinden. Er brachte mich damit richtig aus dem Konzept. Ich rechnete jeden Moment damit, dass er meine Finger an seine Lippen heben und sie sanft küssen würde.

»Sie sind so viele«, sagte ich.

»Tut mir Leid«, meinte Links. »Das hier ist Dr. Marsh von der Spurensicherung. Er hat seine Assistentin mitgebracht, Gill, ähm …«

»Gill Carlson«, kam ihm die Frau zu Hilfe. Sie war ein hübsches kleines Ding, wenn auch auf eine ungestylte Weise. Dr. Marsh sah aus wie ein etwas verwahrloster Lehrer.

»Sie fragen sich natürlich, warum so viele von uns gekommen sind«, sagte Links.

»Na ja …«

»Ein Brief, wie Sie ihn erhalten haben, stellt eine Art von Bedrohung dar. Wir müssen herausfinden, wie ernst die Sache ist, und bis dahin müssen wir für Ihre Sicherheit sorgen.«

Links hatte mir in die Augen gesehen, während er das sagte. Nun aber wanderte sein Blick langsam zu Aldham hinüber, der gleich noch eine Spur verlegener dreinblickte.

»Wir übernehmen die Sache«, erklärte der ältere Mann ruhig.

Aldham murmelte etwas in meine Richtung – ich glaube, es war ein Abschiedsgruß – und schob sich dann an uns vorbei. Weg war er.

»Warum ist er überhaupt gekommen?«, fragte ich.

»Ein Missverständnis«, erklärte Links. Er sah sich um.

»Sie sind erst vor kurzem hier eingezogen?«

»Im Mai.«

»Wir werden versuchen, Sie nicht allzu sehr zu stören, Mrs. Hintlesham. Ich würde gern den Brief sehen und Ihnen anschließend ein, zwei Fragen stellen. Ich hoffe, damit ist die Sache dann erledigt.«

»Folgen Sie mir bitte nach unten«, sagte ich schwach.

»Schönes Haus«, stellte er fest.

»Vielleicht irgendwann mal«, antwortete ich.

»War bestimmt nicht ganz billig.«

»Na ja …« Ich wollte mich nicht auf eine Diskussion über Immobilienpreise einlassen.

Ein paar Minuten später saß ich in meiner halbfertigen Küche mit zwei Detectives am Tisch. Aus Gründen, die ich nicht mal annähernd verstand, wanderten die beiden uniformierten Beamten durch Haus und Garten. Der Brief war von allen gelesen und anschließend mit einer Pinzette in eine Klarsichthülle geschoben worden. Der verknitterte und durchweichte Umschlag kam in einen kleinen Plastikbeutel. Somit hatten sowohl Dr. Marsh als auch seine Assistentin etwas, das sie untersuchen konnten, und zogen mit ihrer Beute ab.

Bevor die beiden Detectives mit mir sprachen, flüsterten sie erst eine Weile miteinander, was mich ziemlich nervte.

Schließlich wandten sie sich mir zu.

»Hören Sie«, erklärte ich, »ich glaube wirklich nicht, dass ich Ihnen zu der Sache irgendwas sagen kann. Es ist ein widerlicher, blöder Brief, mehr fällt mir dazu nicht ein.

Ansonsten weiß ich nicht das Geringste darüber.«

Die beiden Männer sahen mich nachdenklich an.

»Wir werden Ihnen lediglich ein paar Routinefragen stellen«, meinte Links. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie erst kürzlich hier eingezogen. Haben Sie schon mal in dieser Gegend gewohnt?«

»Nein. Wir haben vorher in einer ganz anderen Ecke der Stadt gelebt, südlich vom Fluss, in Battersea.«

»Kennen Sie die Laurier School?«

»Warum?«

»Wir versuchen unter anderem festzustellen, ob diese Sache mit anderen, unter Umständen ähnlich gelagerten Fällen in Zusammenhang steht. Haben Sie Kinder?«

»Ja. Drei Jungen.«

»Laurier ist eine staatliche Grundschule in Hackney, nicht weit von der Kingsland Road. Kann es sein, dass Sie mal in Betracht gezogen haben, Ihre Kinder dorthin zu schicken?«

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Eine staatliche Grundschule in Hackney? Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«

Die beiden Männer wechselten einen Blick.

»Vielleicht haben Sie ja mal eine der Lehrkräfte kennen gelernt. Eine Frau namens Zoë Haratounian beispielsweise.«

»Nein. Was hat diese Schule mit dem Brief zu tun?«

»Es gab … ähm, Vorfälle, die mit dieser Schule in Verbindung stehen. Vielleicht besteht da ein Zusammenhang.«

»Welche Vorfälle?«

»Briefe von der Art, wie Sie einen erhalten haben. Aber können wir jetzt mit unseren Fragen fortfahren? Ist dieser Brief für Sie aus heiterem Himmel gekommen, oder bringen Sie ihn mit irgendwelchen anderen Vorkommnissen in Verbindung? Fällt Ihnen vielleicht jemand ein, der mit dieser Sache auf irgendeine Weise zu tun haben könnte?«

»Nein.«

»Dann würde ich mir jetzt gern ein Bild davon machen, wie viele Leute Zutritt zu diesem Haus haben. Wie ich sehe, haben Sie zurzeit Handwerker hier.«

»Stimmt. Hier herrscht ein Betrieb wie am Hauptbahnhof.«

Er lächelte. »Über welches Maklerbüro haben Sie das Haus gekauft?«

»Frank Dickens. Lauter Halsabschneider.«

»Hatten Sie jemals mit Clarke’s zu tun?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Schon möglich. Ich nehme an, so ziemlich jeder Londoner Makler hat inzwischen meine Adresse.«

Wieder wechselten die beiden Männer einen Blick.

»Ich kümmere mich darum«, erklärte Stadler.

Die uniformierte Beamtin kam die Treppe herunter. Sie war in Begleitung einer großen Blondine, die aussah, als hätte sie sich das Haar in einem stockfinsteren Raum von einem Blinden hochstecken lassen. Ihrem Leinenkostüm hätte es auch nicht geschadet, mal ein wenig aufgebügelt zu werden. Die Frau trug eine Aktentasche in der Hand und einen Regenmantel über dem Arm. Sie wirkte gestresst und außer Atem. Beide Detectives wandten sich um und nickten ihr zu.

»Hallo, Grace«, begrüßte Links sie. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.« Er wandte sich wieder zu mir.

»Das alles muss Ihnen ziemlich seltsam vorkommen, Tatsache ist, dass jemand es auf Sie abgesehen hat.

Warum, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, wer dieser Mensch ist oder was er macht. Aber wir haben Sie.

Über sein Leben wissen wir nichts, aber wir können uns Ihr Leben ansehen.«

Ich fühlte mich plötzlich beunruhigt und gereizt. Das Ganze fing an, mir auf die Nerven zu gehen. »Wie meinen Sie das?«

»Das hier ist Dr. Grace Schilling. Sie ist eine sehr renommierte Psychologin und hat sich auf Fälle wie diesen spezialisiert. Sie kennt sich aus mit Leuten, die …

nun ja, die beispielsweise solche Briefe schreiben. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mit Ihr sprechen würden.«

Ich sah Dr. Schilling an. An ihrer Stelle wäre ich nach Links schmeichelnden Worten rot geworden oder hätte zumindest gelächelt. Sie dagegen verzog keine Miene.

Stattdessen starrte sie mich mit zusammengekniffenen Augen an. Ich hatte das Gefühl, von ihrem Blick durchbohrt und wie ein Schmetterling auf ein Stück Pappe gespießt zu werden.

»Mrs. Hintlesham«, sagte sie, »können wir irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind?«

Ich blickte mich um.

»Ich bin nicht sicher, ob es in diesem Haus einen solchen Ort gibt«, antwortete ich mit einem gezwungenen Lächeln.

3. KAPITEL

ie müssen das Chaos entschuldigen«, sagte ich, während wir uns zwischen den Um

S

zugskisten

hindurchschlängelten und bis zu einem Sofa vorkämpften.

»In ungefähr zwanzig Jahren wird das hier mal das Wohnzimmer sein.«

Sie zog ihre verknitterte Leinenjacke aus und ließ sich auf dem unbequemen alten Korbsessel nieder. Sie war groß und schlank, hatte dunkelblondes Haar und lange, dünne Finger, an denen sie keine Ringe trug.

»Danke, dass Sie sich für mich Zeit nehmen, Mrs. Hintlesham.« Sie setzte eine randlose Brille auf, holte einen Notizblock und einen Stift aus ihrer Tasche und notierte sich etwas, das sie anschließend unterstrich.

»Ich habe wirklich nicht viel Zeit. Wie Sie sehen, bin ich sehr beschäftigt. Bis die Jungs nach Hause kommen, muss ich noch eine Menge erledigen.« Mit diesen Worten nahm ich ebenfalls Platz und strich meinen Rock über den Knien glatt. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee oder Tee anbieten? Oder lieber etwas anderes?«

»Nein, danke. Ich werde versuchen, es kurz zu machen.

Ich wollte bloß, dass wir uns schon mal ein wenig kennen lernen.«

Allmählich regte mich das alles ziemlich auf. Ich begriff einfach nicht, was da ablief und wieso diese Frau so ernst wirkte.

»Ehrlich gesagt finde ich, dass die Polizei ein bisschen viel Theater um die ganze Sache macht. Ich meine, es ist doch nur ein blöder Brief. Erst wollte ich gar nicht anrufen, und nun geht es hier plötzlich zu wie am Piccadilly Circus.«

Sie wirkte nachdenklich – so nachdenklich, dass sie gar nicht richtig mitzubekommen schien, was ich sagte.

»Nein«, antwortete sie. »Sie haben schon richtig gehandelt.«

»Es tut mir schrecklich Leid, aber ich habe Ihren Namen vergessen, mein Gehirn ist zurzeit wie ein Sieb. Vorzeitige Senilität, nehme ich an.«

»Grace. Grace Schilling. Das muss Ihnen alles ziemlich seltsam vorkommen.«

»Nein, eigentlich nicht. Ich habe der Polizei schon gesagt, dass ich es bloß für einen Scherz halte.«

Dr. Schilling war diejenige mit dem Kostüm und dem Notizbuch. Sie war die Ärztin. Trotzdem rutschte sie unbehaglich auf ihrem Sessel hin und her, als wüsste sie nicht so recht, was sie sagen sollte. Zugegeben, dieser unglückselige Sessel ist so unbequem, dass sich kein Mensch darauf wohl fühlt, aber mir war trotzdem nicht ganz klar, worauf sie eigentlich hinauswollte.

»Ich möchte Ihnen keinen psychologischen Vortrag halten. Es geht mir nur darum, Ihnen zu helfen.« Sie hielt einen Moment inne, als würde sie nach den richtigen Worten suchen. »Wie Sie wissen, gibt es Männer, die sich wahllos irgendwelche Frauen aussuchen und sie belästigen oder angreifen. Mit dem Brief, den Sie bekommen haben, verhält es sich offensichtlich anders.«

»Ja, das sehe ich auch so«, antwortete ich.

»Der Kerl hat Sie gesehen. Sie bewusst ausgewählt. Ich frage mich, wie nahe er Ihnen dabei gekommen ist. Er schreibt, dass Sie gut riechen. Dass Sie eine schöne Haut haben. Was für ein Gefühl gibt Ihnen das?«

Ich lachte verlegen. Sie verzog keine Miene. Stattdessen beugte sie sich zu mir herüber und musterte mich. »Sie haben tatsächlich eine schöne Haut.«

Aus ihrem Mund klang das nicht wie ein Kompliment, sondern wie eine interessante wissenschaftliche Feststellung.

»Na ja, ich tue auch einiges dafür. Ich habe da so eine besondere Creme.«

»Passiert es Ihnen oft, dass Leute Sie attraktiv finden?«

»Was für eine Frage! Ich kann mir nicht vorstellen, wie Ihnen das weiterhelfen soll. Aber wenn Sie meinen …

Lassen Sie mich nachdenken. Ein paar von Clives Freunden sind schreckliche Frauenhelden. Und auch sonst gibt es bestimmt ein paar Männer, die mich genauer ansehen, Sie wissen schon … wie Männer Frauen eben ansehen.« Grace Schilling sagte nichts, sondern starrte mich nur erwartungsvoll an. »Meine Güte, ich bin fast vierzig!«, stieß ich hervor, um das Schweigen zu brechen.

Meine Stimme klang lauter als beabsichtigt.

»Arbeiten Sie, Jenny?«

»Ja, aber anders, als Sie sich das vorstellen«, antwortete ich fast kampflustig. »Ich habe keinen Job wie Sie. Ich habe Kinder, und ich habe dieses Haus.« Letzteres sagte ich mit einer gewissen Genugtuung. »Ich arbeite nicht mehr, seit ich mit Josh schwanger geworden bin. Das ist nun fünfzehn Jahre her. Clive und ich waren uns von vornherein einig, dass ich mit dem Arbeiten aufhören würde. Ich war früher Model. Aber nicht, wie Sie denken.

Ich habe als Hand-Model gearbeitet.«

Sie sah mich verdutzt an.

»Als Hand-Model?«

»Sie wissen schon, auf Postern für Nagellack und solche Sachen. Da ist meist nur eine riesige Hand zu sehen. In der ersten Hälfte der achtziger Jahre war das oft die meine.«

Wir blickten beide auf meine Hände hinunter, die ich in den Schoß gelegt hatte. Ich versuche nach wie vor, sie zu pflegen, gehe einmal pro Woche zur Maniküre, benutze dieselbe teure Lotion wie früher und trage beim Abspülen grundsätzlich Handschuhe. Trotzdem sind sie nicht mehr das, was sie mal waren. Meine Finger sind insgesamt ein bisschen dicker geworden. Ich kann weder meinen Verlobungsring noch meinen Ehering abnehmen, nicht einmal, wenn ich mir die Finger mit Butter einreibe.

Dr.

Schilling lächelte zum ersten Mal. »Es ist ein bisschen so, als hätte sich jemand in Sie verliebt«, erklärte sie. »Aus der Ferne. Wie in einem Roman. Oder aber ganz aus der Nähe. Es könnte jemand sein, den Sie noch nie zuvor gesehen haben, oder jemand, dem Sie jeden Tag begegnen. Vielleicht würde es uns weiterhelfen, wenn Sie mal darüber nachdenken würden, ob sich einer von den Männern, mit denen Sie regelmäßig zusammentreffen, seltsam oder ungebührlich verhält.«

Ich stieß ein Grunzen aus. »Da fallen mir auf Anhieb meine drei Söhne ein«, sagte ich.

»Vielleicht können Sie mir Ihr Leben ein wenig beschreiben.«

»O je, Sie meinen, einen Tag in meinem Leben?«

»Ich würde mir gern ein Bild davon machen, welche Dinge für Sie wichtig sind.«

»Das ist doch lächerlich! Sie werden bestimmt keinen Verbrecher fangen, indem Sie mich fragen, wie ich über mein Leben denke.« Sie wartete, aber diesmal schlug ich sie mit ihren eigenen Waffen. Wortlos erwiderte ich ihren Blick. Im Hintergrund hörte ich ein lautes Krachen, als hätte jemand etwas Schweres fallen lassen.

Wahrscheinlich irgendein tölpelhafter Polizist.

»Verbringen Sie viel Zeit mit Ihren Söhnen?«

»Ich bin schließlich ihre Mutter. Auch wenn ich mir manchmal eher vorkomme wie ihr unbezahlter Chauffeur.«

»Und Ihr Mann?«

»Clive arbeitet wahnsinnig viel. Er ist …« Ich hielt mitten im Satz inne. Irgendwie sah ich nicht ein, wieso ich dieser Frau in allen Einzelheiten erklären sollte, was ich selbst nicht verstand.

»Ich bekomme ihn im Moment kaum zu Gesicht.«

»Wie lange sind Sie schon verheiratet? Fünfzehn Jahre?«

»Ja. Diesen Herbst werden es sechzehn.« Lieber Himmel, wirklich schon so lang? Ich musste wider Willen seufzen. »Ich war damals noch sehr jung.«

»Und würden Sie Ihre Ehe als glücklich beschreiben?

Stehen Sie sich nahe?«

»Ich würde sie Ihnen am liebsten gar nicht beschreiben.«

»Jenny.« Sie lehnte sich vor, und einen Moment lang befürchtete ich, sie könnte meine Hand nehmen und auf eine Art drücken, von der mir schlecht werden würde. »Da draußen gibt es einen Mann, der behauptet, dass er Sie umbringen möchte. Egal, wie lächerlich das auch klingen mag, wir müssen es ernst nehmen.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Es ist eine ganz normale Ehe«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was Sie hören wollen.

Wir haben unsere Höhen und Tiefen, unsere dummen Zankereien, genau wie jedes andere Ehepaar auch.«

»Haben Sie Ihrem Mann von dem Brief erzählt?«

»Der Detective hat mich darum gebeten. Ich habe in seiner Kanzlei eine Nachricht für ihn hinterlassen. Er wird mich später zurückrufen.«

Sie starrte mich an, als könnte sie durch mich hindurchsehen. Mir wurde unter ihrem Blick immer unbehaglicher zu Mute.

»Jenny«, brach sie schließlich das Schweigen. »Mir ist klar, dass Sie sich belästigt fühlen. Oder fühlen werden.

Das Schlimme daran ist, dass Sie auch unsere Versuche, Ihnen zu helfen, zum Teil als Belästigung empfinden werden. Es gibt eine Menge Dinge, die ich Sie noch fragen muss.« Sie ließ ihren Blick über das allgemeine Chaos schweifen und setzte wieder ihr wissendes Lächeln auf.

»Betrachten Sie mich einfach als eine Art Bauinspektorin, die das Haus nach Stellen absucht, durch die Wasser eindringen könnte.«

»Sagen Sie es mir, wenn Sie welche finden«, antwortete ich sarkastisch.

»Ist Ihnen Ihr Mann immer treu gewesen, Jenny?«

»Was?«

Sie wiederholte ihre Frage, als wäre es das Normalste der Welt.

Während ich sie wütend anstarrte, spürte ich, wie ich rot wurde. In meinem Kopf begann es zu pochen. »Ich glaube, das fragen Sie ihn besser selbst«, antwortete ich, so kühl ich konnte.

Sie machte sich eine Notiz. »Und Sie?«

»Ich?«, fauchte ich. »Seien Sie nicht albern! Wann um alles in der Welt sollte ich Zeit für eine Affäre finden, selbst wenn ich wollte? Die einzigen Männer, mit denen ich zusammentreffe, sind der Gärtner, irgendwelche Handwerker und mein Tennislehrer. Hören Sie, Sie sagen, Sie machen bloß Ihren Job und müssen mir diese Fragen stellen, aber jetzt haben Sie es getan, und ich möchte mit meiner eigenen Arbeit weitermachen. Viel Zeit bleibt mir heute sowieso nicht mehr.«

»Empfinden Sie diese Fragen als Eingriff in Ihre Privatsphäre?«

»Natürlich! Ich weiß, dass das mittlerweile als altmodisch gilt, aber ich ziehe es vor, meine Privatangelegenheiten für mich zu behalten.«

Endlich stand sie auf, aber ich merkte, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte. »Jenny«, sagte sie. Es ärgerte mich, dass sie mich ständig beim Vornamen nannte, obwohl ich ihr das nicht erlaubt hatte. Sie kam mir vor wie ein Versicherungsvertreter, der seinen Fuß nicht aus der Tür nahm. »Ich und meine Kollegen wollen doch nur, dass diese Sache ein Ende hat und Sie in Ruhe weiterleben können. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, das Ihnen irgendwie relevant erscheint, dann geben Sie mir Bescheid. Lassen Sie uns entscheiden, was davon wichtig ist und was nicht. Scheuen Sie sich nicht, uns alles zu sagen, ja?«

Ihre Stimme klang fast flehend. Ich fühlte mich gleich ein wenig besser, als hätte ich die Dinge wieder im Griff.

»In Ordnung«, antwortete ich. »Ich werde meine Denkkappe aufsetzen.«

»Tun Sie das.« Sie wandte sich zum Gehen. »Noch was, Jenny.«

»Ja?«

Sie zögerte einen Moment, überlegte es sich dann aber anders.

»Nichts. Passen Sie auf sich auf.«

Nach einer Weile verließen sie alle das Haus – alle bis auf Stadler, der Mann mit dem Schlafzimmerblick. Er erklärte mir, dass sie in den nächsten Tagen meine Post öffnen würden. Nur um sicherzugehen.

»Damit Sie keine bösen Überraschungen mehr erleben«, meinte er mit einem Lächeln, das einem anzüglichen Grinsen gefährlich nahe kam. Also wirklich! Ich warf ihm einen wütenden Blick zu. »Außerdem«, fügte er hinzu, als wäre es ihm gerade erst eingefallen, »postieren wir zwei Beamte vor Ihrem Haus.«

»Jetzt wird es aber wirklich lächerlich!«, erwiderte ich.

»Eine reine Vorsichtsmaßnahme«, sagte er in beruhigendem Ton, als wäre ich ein nervöses Pferd. »Und tagsüber wird sich eine Beamtin um Ihre Sicherheit kümmern. Ihre persönliche Leibwächterin«, fügte er lächelnd hinzu. »Damit Sie sich nicht immer wieder an ein neues Gesicht gewöhnen müssen.«

Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber alles, was mir einfiel, waren obszöne Schimpfworte, sodass ich mich lieber darauf beschränkte, ihn wütend anzufunkeln.

»Sie ist schon da. Einen Moment.« Er trat an die Tür und rief hinaus: »Lynne! Lynne, können Sie mal kurz herkommen? Mrs.

Hintlesham, darf ich Ihnen meine

Kollegin Lynne Burnett vorstellen? Lynne, das ist Mrs. Hintlesham.«

Die Frau war nicht viel größer als ich, aber um einiges jünger – so jung, dass sie fast meine Tochter hätte sein können. Sie hatte hellbraunes Haar, helle Wimpern und ein Muttermal auf der linken Wange, das sie aussehen ließ, als hätte sie gerade eine Ohrfeige bekommen. Sie lächelte, aber ich lächelte nicht zurück.

»Ich werde versuchen, Ihnen nicht im Weg zu sein«, erklärte sie.

»Das möchte ich Ihnen auch geraten haben!«, fauchte ich. Dann wandte ich ihr und Stadler demonstrativ den Rücken zu, bis die beiden den Raum verlassen hatten und ich endlich wieder allein war.

In der Küche standen lauter leere Tassen herum, und auf dem Boden vor der Hintertür entdeckte ich ein paar Zigarettenkippen. Sie hätten wenigstens ihren Dreck wegräumen können, dachte ich. Ich rief erneut in Clives Büro an, aber er war noch immer nicht zu sprechen.

Lena kam mit Chris und Josh zurück. Harry würde nach dem Fußballtraining von einer anderen Mutter nach Hause gebracht werden. Ich erklärte Josh mit ruhiger Stimme, dass mir jemand einen blöden Brief geschrieben habe und deswegen ein paar Polizisten vor der Tür stünden. Ich hatte damit gerechnet, dass er beunruhigt oder zumindest beeindruckt sein würde, aber er lehnte nur in der Küchentür, kaute auf seiner Unterlippe herum und zuckte kurz mit den Achseln, bevor er, bewaffnet mit zwei Erdnussbutter-Sandwiches und einem Glas Milch, hinauf in sein Zimmer verschwand. Ich frage mich immer wieder, wie man so viel in sich hineinstopfen kann, ohne ein Gramm zuzunehmen.

Darüber, was er dort oben alles anstellt, denke ich lieber gar nicht nach. Er hat die Vorhänge immer zugezogen, und wenn er nicht gerade laute Musik hört, dringen aus seinem Zimmer die Pieptöne und Schreie dieser schrecklichen Computerspiele und der Duft von Räucherstäbchen, wahrscheinlich, damit wir die Zigaretten nicht riechen, die er ins Haus schmuggelt. Ich achte darauf, dass nur Mary sein Zimmer betritt, um dort aufzuräumen und das Bett frisch zu beziehen. Ich selbst setze keinen Fuß hinein, sondern beschränke mich darauf, ihn durch die Tür aufzufordern, seine Hausaufgaben zu machen, Saxofon zu üben, die Musik leiser zu stellen oder seine Dreckwäsche nach unten zu bringen. Er ist mit einem Schlag erwachsen geworden. Plötzlich ist er im Stimmbruch, hat kleine Pickel auf der Stirn und weichen Flaum über der Oberlippe. Und er ist viel größer als ich.

Er hat auch schon diesen seltsamen Männergeruch an sich, den nicht einmal die zahllosen Lotionen und Gele überlagern können, die junge Männer heutzutage benutzen. In unserer Jugend war das noch nicht üblich.

Christo ist natürlich noch zu klein, um die Sache mit dem Brief zu verstehen. Ihm gegenüber erwähnte ich davon nichts, schloss bloß seinen weichen kleinen Körper einen Moment in meine Arme. Er ist mein Baby.

Dann fuhr ich zum Baumarkt, um ein paar falsch gelieferte Haken zu reklamieren, aber er war bereits geschlossen. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

Clive rief an, um mir mitzuteilen, dass er erst sehr spät nach Hause kommen würde, sodass ich, nachdem Harry eingetroffen war und ich Christo mit einer Gutenachtgeschichte ins Bett gebracht hatte, mit Josh und Harry zu Abend aß. Es gab Lasagne, die ich ein paar Stunden zuvor aus dem Gefrierfach genommen hatte, dazu Erbsen und als Nachtisch Vanilleeis mit Schokosoße. Wir waren alle drei ziemlich wortkarg. Ich sah zu, wie sich die Jungs mit Essen voll stopften, als hätten sie seit Tagen nichts bekommen. Ich selbst brachte bei der Hitze nicht viel hinunter.

Nachdem sich die Jungs wieder in ihre Zimmer verzogen hatten, setzte ich mich mit einem Glas Weißwein vor den Fernseher und blätterte nebenbei ein paar Kataloge durch.

Wir brauchten einen Esszimmertisch. Ich wusste genau, wonach ich suchte: eine Tafel aus gemasertem dunklem Holz, lang und schlicht. Kürzlich hatte ich einen entdeckt, bei dem kleine Mosaike aus unterschiedlichen Hölzern wie Untersetzer in die Tischplatte eingelegt waren, aber Jeremy hatte mir geraten, zuerst nach den passenden Stühlen zu suchen, die seien erfahrungsgemäß viel schwieriger zu finden.

Clive war noch immer nicht da. Aus Joshs Zimmer dröhnten die Bässe der schrecklichen elektronischen Musik, die er dauernd hört. Als ich die Vorhänge zuzog, sah ich draußen die beiden Polizisten in ihrem Wagen sitzen. Sobald wir einen Tisch haben, dachte ich, müssen wir unbedingt ein großes Essen veranstalten. Ich würde mein schwarzes Kleid und die Diamantkette tragen, die Clive mir zu unserem fünfzehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Ich griff nach einem Kochbuch und blätterte die Sommerrezepte durch. Als Aperitif würde es ein Glas Champagner geben, dann eisgekühlte Gurkensuppe mit Kerbel, anschließend mit Koriander gewürzten Tunfisch, dazu kalten Weißwein. Als Nachtisch Aprikosensorbet und als Tischdekoration die pfirsichfarbenen Rosen aus dem Garten, die Francis gleich nach unserem Umzug gepflanzt hatte. Ich hielt mir mein Glas an die Stirn. Diese Hitze!

Ich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

Clive begrüßte mich mit einem Kuss auf die Wange. Er war vor Müdigkeit ganz grau im Gesicht. »Gott, was für ein Tag!«, stöhnte er.

»Es ist noch ein bisschen Lasagne da, falls du etwas möchtest.«

»Nein, ich habe mit ein paar Mandanten gegessen.«

Ich betrachtete ihn: teurer anthrazitgrauer Anzug, auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe, die violett und grau gemusterte Krawatte, die ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, ein leichter Bauchansatz unter seinem tipptopp gebügelten weißen Hemd, feine Silberfäden im dunklen Haar, eine Spur von einem Doppelkinn und erste Falten, die sich allmählich in seine hohe Stirn einzugraben begannen. Alles in allem ein recht elegant wirkender Mann. Seltsamerweise fand ich schon immer, dass er am besten aussah, wenn er spät abends völlig erschöpft zur Tür hereinkam. Am frühen Morgen, bevor er seine Anwaltsmaske aufsetzte und zur Arbeit fuhr, war er hektisch, nervös und zerstreut. Jetzt zog er geschafft seine Jacke aus, hängte sie vorsichtig über eine Stuhllehne und ließ sich dann mit einem Seufzer aufs Sofa sinken. Sein Hemd war unter den Armen nass geschwitzt. Ich ging in die Küche und kam mit zwei Weingläsern zurück. Der Weißwein war sehr kalt, direkt aus dem Kühlschrank. Mir brummte noch immer der Kopf.

»Ich hatte heute einen ziemlich seltsamen Tag«, begann ich.

»Oh, wirklich?« Er zog die Schuhe aus, lockerte die Krawatte und schaltete auf einen anderen Fernsehsender um. »Erzähl.«

Ich glaube, ich erzählte die Geschichte ziemlich schlecht. Es gelang mir nicht, ihm zu vermitteln, wie eigenartig das alles gewesen war und wie ernst die Polizei es genommen hatte. Nachdem ich fertig war, trank Clive einen Schluck Wein, löste den Blick vom Bildschirm und sah mich an. »Schön, dass endlich mal jemand deine Haut zu schätzen weiß, Jens.« Dann fügte er hinzu:

»Der Kerl ist bestimmt nur ein harmloser Spinner. Ich möchte nicht, dass hier weiterhin Scharen von Polizisten herumlaufen.«

»Ganz meine Meinung. Eine verrückte Geschichte, nicht wahr?«

4. KAPITEL

ch gehe nie nach unten, bevor ich mein Make-up aufgelegt h

I

abe, nicht einmal am Wochenende. Das wäre für mich, als würde ich nackt herumlaufen. Sobald ich morgens die Haustür hinter Clive zufallen höre, stehe ich auf und stelle mich unter die Dusche. Ich schrubbe meinen Körper mit einem Massagehandschuh, um all die toten Hautzellen loszuwerden. Dann setze ich mich an meine Frisierkommode, die laut Clive aussieht wie ein Möbelstück aus dem Wohnwagen eines Starlets. Rund um den Spiegel sind grelle Lampen angebracht, sodass ich mein Gesicht genau inspizieren kann. Gestern habe ich in meinen Augenbrauen ein paar graue Haare entdeckt, und immer wieder finde ich Falten, die ich letztes Jahr noch nicht hatte, schreckliche kleine Furchen über der Oberlippe, von denen sich links und rechts eine bis zu meinen Mundwinkeln hinunterzieht und meinem Gesicht ein schlaffes, deprimiertes Aussehen verleiht, wenn ich müde bin. Außerdem bekomme ich langsam Tränensäcke, und manchmal tun mir die Augen weh, wahrscheinlich von dem vielen Staub im Haus. Ich habe nicht die Absicht, jetzt schon mit einer Brille herumzulaufen.

Meine Haut besitzt nicht mehr ihre jugendliche Frische, egal, was dieser Idiot in seinem Brief geschrieben hat.

Früher hatte ich wirklich mal schöne Haut. Als Clive mich kennen lernte, sagte er zu mir, ich hätte eine Haut wie ein Pfirsich. Aber das ist lange her. Inzwischen spart er mit solchen Komplimenten. Manchmal denke ich mir, dass es wichtiger wäre, solche Dinge dann zu äußern, wenn sie nicht mehr der Wahrheit entsprechen. Wenn ich in den Spiegel sehe, habe ich gelegentlich das Gefühl, dass meine Haut inzwischen mehr einer Grapefruitschale ähnelt. Als ich mich kürzlich für das Schulfest fertig machte und in mein grünes Kleid schlüpfte, sagte Clive zu mir, ich solle etwas anziehen, womit ich die Kinder nicht in Verlegenheit bringen würde.

Ich stelle sicher, dass zwischen meinen Augenbrauen oder – Gott bewahre! – auf meinem Kinn keine einzelnen Härchen sprießen, und beginne dann mit der Grundierung, die ich mit einer Feuchtigkeitscreme mische, damit sie sich leichter auftragen lässt. Dann kommt dieser wundervolle Faltenabdeckstift rund um die Nase und unter die Augen. Meine Freundin Caro hat mich darauf gebracht. Er ist unglaublich teuer. Manchmal versuche ich auszurechnen, wie viel Geld ich im Gesicht trage.

Tagsüber muss alles unsichtbar sein. Nur ein Hauch von beigem Lidschatten, eine Spur Eyeliner, Wimperntusche, die die Härchen nicht verkleben lässt, und vielleicht ein wenig Lipgloss. Dann geht es mir besser. Ich mag das kleine, ovale Gesicht, das mich aus dem Spiegel munter ansieht, bereit, sich der Welt zu stellen.

Beim Frühstück ging es wie immer drunter und drüber.

Mitten in dem ganzen Chaos klopfte es auch noch an der Tür. Polizeibeamtin Lynne Burnett, heute allerdings in Zivil. Sie trug einen grauen Rock, eine blaue Bluse und darüber ein Stricktop.

Sie wirkte damit recht schick, wenn auch ein bisschen trist, aber aus irgendeinem Grund ärgerte es mich, dass dies das Outfit war, das sie ausgewählt hatte, um bei Mrs. Hintlesham herumzuhängen. Wahrscheinlich, damit sie zur Landschaft passte. »Nennen Sie mich Lynne«, sagte sie. Das sagen sie alle. Alle wollen gleich immer gut Freund mit einem sein. Ich wünschte, sie würden einfach ihren Job machen. Lynne erklärte mir, dass ihre erste Aufgabe darin bestehe, einen Blick auf meine Post zu werfen, sobald sie eingetroffen sei.

»Werden Sie auch mein Essen vorkosten?«, fragte ich sarkastisch.

Die Röte, die sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, schien ihr Muttermal zum Leben zu erwecken. Bevor sie etwas antworten konnte, klingelte das Telefon. Es war Clive, der bereits in der Kanzlei war. Ich wollte ihm berichten, was vor sich ging, aber er unterbrach mich und teilte mir mit, dass Sebastian und seine Frau am Samstag zum Abendessen kommen würden.

»Aber wir haben keinen Esstisch!«, protestierte ich.

»Und nur eine halbe Küche!«

»Jens, die Dokumentation, die wir für die Fusion nächsten Monat vorbereiten, hat über zweitausend Seiten.

Wenn ich es schaffe, das zu koordinieren, wirst du es doch wohl fertig bringen, ein Abendessen für einen Mandanten zu organisieren.«

»Natürlich, kein Problem, ich wollte damit ja bloß sagen

…«

Mary kam mit einem Wischmopp zur Tür herein und begann damit demonstrativ um meine Füße herumzuputzen. Als ich weitersprechen wollte, hatte Clive das Gespräch bereits beendet. Ich legte auf und drehte mich um. Lynne stand noch immer da. Nun ja, das war auch nicht anders zu erwarten gewesen, aber ich war trotzdem ein wenig enttäuscht. Ein Teil von mir hatte gehofft, dass sie einfach wieder verschwinden würde, wie Kopfschmerzen es manchmal tun. Nun jedoch, nach diesem Telefonat, hatte ich beides: Kopfschmerzen und Lynne.

»Ich gehe jetzt nach draußen, um mit meinem Gärtner zu sprechen«, erklärte ich frostig. »Ich nehme an, Sie wollen mitkommen und ihn kennen lernen.«

»Ja«, antwortete sie.

Mit seinem langen, im Nacken zu einem Zopf geflochtenen Haar hätte Francis vielleicht besser in eine Karawane nach Stonehenge gepasst, aber als Gärtner ist er ein absolutes Genie. Sein Vater war ein hohes Tier in der Marine, und er selbst hat eine Ausbildung in Marlborough genossen. Wenn man ihn mit zusammengekniffenen Augen betrachtet, könnte man ihn sich durchaus in der City vorstellen, mit einem Job wie Clive, abgesehen von der Tatsache, dass er neben seinem knapp einen Meter langen Haar auch noch eine erstaunlich dunkelbraune Haut besitzt und dazu diese starken, sehnigen Arme, die man bekommt, wenn man den ganzen Tag schwere Dinge durch die Gegend schleppt. Manche Leute würden ihn wahrscheinlich als ziemlich gut aussehend bezeichnen.

Obwohl ich über sein Privatleben, das ihn anscheinend sehr in Anspruch nimmt, lieber nicht so genau Bescheid wissen möchte, gehört er zu den wenigen Menschen, denen ich absolut vertraue.

Ich stellte ihn Lynne vor, die sofort wieder errötete.

Wahrscheinlich läuft sie bei jeder Gelegenheit rot an.

»Lynne ist hier, weil irgend so ein Typ mir einen verrückten Brief geschrieben hat«, erklärte ich. Wie nicht anders zu erwarten, blickte Francis mich verständnislos an. »Und Francis wird hier mindestens noch einen Monat beschäftigt sein.«

»An was arbeiten Sie denn im Augenblick?«, fragte Lynne.

Francis sah mich an. Als ich nickte, antwortete er achselzuckend: »Ich fange gerade mit dem Gestalten der Gartenlandschaft und dem Anlegen der Wege an. Vorher musste erst mal eine Menge Beton und Schutt in einen Container verfrachtet werden. Anschließend wurde alles mit Erde aufgefüllt.«

»Machen Sie das alles ganz allein?«, fragte Lynne.

Francis lächelte.

»Natürlich nicht«, antwortete ich für ihn. »Francis hat eine Crew heimatloser Jungs, die kommen und für ihn arbeiten, wenn er sie braucht. Rund um London treibt sich eine ganze Subkultur aus Gärtnern herum. Sie sind wie die Tauben und die Füchse.«

Ich warf einen nervösen Blick zu Francis hinüber.

Vielleicht war ich zu weit gegangen. Die Leute sind oft sehr empfindlich. Lynne zog doch tatsächlich ihren Notizblock heraus und begann sich nach seinen Arbeitszeiten zu erkundigen. Dann bombardierte sie ihn mit Fragen über den Zaun und den Zutritt zum Haus. Sie schrieb sich die Namen all seiner Aushilfsgärtner auf.

Obwohl ich schon sehr spät dran war, empfand ich es als Wohltat, endlich das Haus verlassen zu können.

Zumindest so lange, bis Lynne mir eröffnete, dass sie mich begleiten würde.

»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«

»Tut mir Leid, Jenny.« Ja, sie nennt mich tatsächlich Jenny, obwohl ich ihr das nicht erlaubt habe. »Ich weiß nicht genau, wie wir das in den nächsten Tagen handhaben werden, aber heute habe ich Anweisung, Sie nicht aus den Augen zu lassen.«

Ich wollte gerade zu schimpfen beginnen, als es an der Haustür klingelte. Es war Stadler, sodass ich meinen Protest gleich bei ihm loswerden konnte. Er lächelte nur höflich.

»Das alles dient zu Ihrer eigenen Sicherheit, Mrs. Hintlesham. Ich wollte mich bloß kurz bei Ihnen melden und Sie fragen, ob Sie etwas dagegen haben, wenn wir Ihre Telefongespräche aufzeichnen.«

»Was bedeutet das für mich?«

»Nichts, weswegen Sie sich Sorgen machen müssten.

Sie werden gar nichts davon mitbekommen.«

»Na meinetwegen«, brummte ich.

»Wir möchten eine Liste der Leute zusammenstellen, mit denen Sie zu tun haben. Es wäre schön, wenn Sie heute oder morgen mit Lynne Ihr Adressbuch, Ihren Terminplaner und Ähnliches durchgehen könnten. Ist das möglich?«

»Halten Sie das wirklich für nötig?«

»Je effektiver wir jetzt arbeiten, desto schneller können wir die ganze Sache zu Ende bringen.«

Meine Wut war fast schon wieder verraucht. Ich empfand nur noch ein Gefühl leichten Abscheus.

Als Erstes fuhr ich zum Baumarkt, um endlich die Messinghaken zu holen. Dann warf ich einen Blick in ein Antiquitätengeschäft. Beinahe hätte ich ein rundes Buntglasfenster gekauft, das aus einer alten Kirche stammte, überlegte es mir im letzten Moment aber doch anders. Wenigstens war Lynne nicht mit in den Laden gekommen.

Dafür begleitete sie mich in die Läden in Hampstead oder blieb knapp vor der Ladentür stehen und starrte mit unbeteiligter Miene in die Schaufenster voller Damensachen. Keine Ahnung, was die Verkäuferinnen über sie dachten. Ich jedenfalls tat so, als würde ich sie nicht sehen. Ich brauchte etwas für Samstag Abend. Mit einem ganzen Arm voller Klamotten verschwand ich in die Umkleidekabine, aber als ich in einem perlenbestickten rosa Oberteil wieder herauskam, um mich in dem großen Spiegel zu betrachten, fiel mein Blick auf Lynne, die durchs Fenster zu mir hereinstarrte. Ich verließ das Geschäft mit leeren Händen.

»Fündig geworden?«, fragte sie, als wären wir alte Freundinnen, die miteinander einen Einkaufsbummel machten.

»Ich habe nichts Bestimmtes gesucht«, zischte ich.

Als Nächstes musste ich zum Metzger, um die Würstchen zu kaufen, die die Jungs so gern aßen. Gleich nebenan gab es einen weiteren schönen Antiquitätenladen.

Ich schaute kurz hinein, weil ich dort schon vor einiger Zeit ein Auge auf einen goldgerahmten Spiegel geworfen hatte, der perfekt in unsere Diele passen würde, wenn sie erst einmal gestrichen war. Er kostete dreihundertfünfundsiebzig Pfund, aber ich hoffte, ihn etwas billiger zu bekommen.

Nachdem ich die Stoffstreifen mit Christos Namen abgeholt hatte, die alle Schüler von Lascelles auf ihren Uniformen tragen mussten, traf ich mich mit Laura zum Mittagessen. Während ich den Hügel hinunterfuhr, hatte ich die ganze Zeit Lynnes Wagen im Rückspiegel. Laura wartete bereits auf mich, aber diesmal hatten wir nicht so viel Spaß wie sonst. Lynne saß draußen im Wagen und aß ein Sandwich, während ich drinnen mit meinem Salat kämpfte. Dann vertiefte sie sich in ein Taschenbuch.

Wenn in dem Restaurant ein Typ mit einer Axt auf mich losgegangen wäre, hätte sie wahrscheinlich nicht mal hochgeblickt. Es fiel mir schwer, mich auf das zu konzentrieren, was Laura sagte. Schließlich brach ich unser Mittagessen vorzeitig ab, indem ich behauptete, noch einen dringenden Termin zu haben.

Meine nächste Station war Tonys Salon in Primrose Hill.

Normalerweise genieße ich es, mir die Haare machen zu lassen. Es ist ein angenehmes Gefühl, umgeben von Spiegeln, Edelstahl und farbenfrohen Shampooflaschen in dem kleinen Raum zu sitzen und sich verwöhnen zu lassen, die feuchte, nach Parfüm duftende Luft einzuatmen und dem beruhigenden Klappern der Scheren zu lauschen.

An diesem Tag aber lief alles schief. Ich fühlte mich verschwitzt und gereizt, irgendwie daneben. Mein Kopf dröhnte, und die Kleider klebten mir am Körper. Mein neuer Haarschnitt gefiel mir auch nicht. Irgendwie ließ er meine Nase zu groß und mein Gesicht zu knochig wirken.

Während der Heimfahrt machte mich der dichte Verkehr so nervös, dass ich an jeder roten Ampel genervt den Motor aufheulen ließ. Lynne blieb geduldig hinter mir.

Manchmal fuhr sie so nahe auf, dass ich im Rückspiegel ihre Sommersprossen sehen konnte. Ich streckte ihr die Zunge raus, weil ich wusste, dass sie es nicht bemerkte.

Den Rest des Tages folgte sie mir wie ein treuer Hund –

einer, dem ich am liebsten einen Tritt verpasst hätte. Sie kam mir sogar nach, als ich mit Chris ein Stück die Straße entlangging, damit er mit seinem Freund spielen konnte, einem dürren kleinen Jungen namens Todd. Wie konnte man seinem Kind bloß einen solchen Namen geben?

Später musste ich die beiden Großen von der Schule abholen, weil Lena ihren freien Nachmittag hatte. Die Mittwoche sind immer ein Albtraum. Josh besucht nach dem Unterricht noch einen von der Schule organisierten Computerkurs, der in einem Container abgehalten wird, in dem es penetrant nach den Schweißfüßen der Jungen riecht. Wenn ich dort eintreffe, steckt er normalerweise mit einem anderen Jungen zusammen, der sich Scorpion oder Spyder nennt oder sonst einen albernen Spitznamen hat. Josh selbst nannte sich immer Ganymede, bis er letzte Woche zu dem Schluss kam, dass dieser Name zu weibisch klang, und sich in Eclipse umtaufte. So lautet jetzt auch sein Passwort. Sein bester Freund nennt sich Freak, allerdings mit Ph und ee geschrieben: Phreek. Sie nehmen das alle wahnsinnig ernst.

An diesem Abend aber saß Josh zusammengesunken in einem Sessel, und neben ihm kauerte der recht sympathisch aussehende junge Mann, der sie jede Woche unterrichtete, und redete eindringlich auf ihn ein. Ich musste daran denken, wie er mir bei unserer ersten Begegnung vor ein paar Wochen gesagt hatte, dass ihn jeder im Club Hacker nenne. Ich hatte das Gesicht verzogen, woraufhin er mir erklärte, dass das gar nicht sein richtiger Name sei und ich ihn auch Hack nennen dürfe. »Ist das denn Ihr richtiger Name?«, hatte ich gefragt, aber er hatte nur gelacht.

Die Jungs trugen alle noch ihre Schuluniform, aber Hack hatte eine alte, zerrissene Jeans und ein mit japanischen Schriftzeichen bedrucktes T-Shirt an. Er war selbst noch ziemlich jung und besaß langes, lockiges dunkles Haar.

Fast wäre er selbst noch als Schüler durchgegangen.

Zuerst befürchtete ich, dass Josh Nasenbluten oder gar einen Unfall gehabt hatte, aber als ich näher kam, blickten sie beide auf, und ich sah, dass seine Augen vom Weinen ganz rot waren. Bestürzt starrte ich ihn an. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich Josh zum letzten Mal weinen gesehen hatte. Es ließ ihn jünger und verletzlicher erscheinen. Wie dünn und blass er war, dachte ich. Trotz seiner pickeligen Stirn und seines ausgeprägten Adamsapfels kam er mir plötzlich wieder wie ein kleiner Junge vor.

»Josh! Alles in Ordnung? Was ist passiert?«

»Nichts.« Sein Ton klang eher mürrisch als betrübt.

Abrupt stand er auf. »Wir sehen uns nächstes Schuljahr.

Also dann, bis September, Hack.«

Der Typ nannte sich tatsächlich Hack. Kein Wunder, dass Josh so aufgelöst wirkte.

»Was ist mit ihm los?«, fragte ich, nachdem Josh den Container verlassen hatte.

»Was? Ach das!«, antwortete er mit einer Handbewegung in die Richtung, in die Josh gerade verschwunden war. »Nichts Tragisches, Mrs. Hintlesham.«

»Jenny«, korrigierte ich ihn wie jede Woche. »Nennen Sie mich Jenny.«

»Tut mir Leid. Jenny.«

»Er hat ziemlich aufgeregt gewirkt.«

Hack schien sich deswegen keine Sorgen zu machen.

»Wahrscheinlich wegen der Schule oder weil jetzt Sommerferien sind, irgendwas in der Art. Außerdem hat er am Bildschirm gerade eine schwere Schlappe erlitten.«

»Vielleicht hat er Unterzucker.«

»Ja, bestimmt. Geben Sie ihm ein bisschen Zucker, Jenny.«

Ich sah Hack ins Gesicht. Konnte es sein, dass er mich auf den Arm nahm?

Harry befand sich auf der anderen Seite der Schule, in der großen, zugigen Aula, die einmal im Jahr, wenn das Schulstück aufgeführt wurde, auch als Theatersaal herhalten musste. Als Josh und ich den Raum betraten, sahen wir Harry mit knallrotem Gesicht an der Seite der Bühne stehen. Er trug ein gelbes Kleid über der Hose und eine Federboa um den Hals. Sein Anblick schien Josh beträchtlich aufzuheitern. Auf der Bühne tummelte sich ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Jungs, die zum Teil ebenfalls Kleider trugen.

»Harry!«, rief ein rundköpfiger Mann mit einem kleinen Schnurrbart und einem radikalen Kurzhaarschnitt.

Höchstwahrscheinlich schwul. »Harry Hintlesham, das war dein Stichwort! ›… met by moonlight, proud Titania.‹

Wenn Roley das sagt, solltest du dich schon in Bewegung setzen.«

Harry stolperte auf die Bühne, fiel dabei fast über sein Kleid.

»›What, jealous Oberon‹«, murmelte er leise. Sein Haar wirkte schweißnass. »›Fairies, skip off, I have long –‹«

»›Skip hence‹!«, brüllte der Schnurrbartmann. »Nicht

›off‹ Junge, ›hence‹, und sprich um Himmels willen lauter! Für heute hören wir sowieso auf mit dem Proben, ich kann nicht zulassen, dass eure Eltern es in dieser Phase zu sehen bekommen. Das Stück wird erst Weihnachten fertig sein. Und weil wir gerade von euren Eltern sprechen, deine schöne Mutter ist eingetroffen, Titania.

Skip hence! Guten Abend, Mrs. Hintlesham. Welch Glanz in unsrer Hütte!«

»Guten Abend.«

»Versuchen Sie bitte, Ihren Sohn dazu zu bringen, dass er seinen Text lernt.«

»Ich werde mein Bestes tun.«

»Und vielleicht können Sie ihn auch dazu überreden, ein Deo zu benutzen, ja?«

Sie ist tot. Natürlich ist sie tot. Genau, wie ich es wollte.

Trotzdem fühle ich mich um sie betrogen. Natürlich.

Vergiss es. Auf ein Neues. Eine neue Frau.

Sie trägt zu viel Make-up. Die Schminke schmiegt sich wie eine Maske über ihr Gesicht. Alles an ihrem Gesicht wirkt glänzend und gepflegt – schimmernde Lippen, dunkle Wimpern, cremegesättigte Haut, exakt geschnittenes, glänzendes Haar. Sie ist wie ein Bild, das ständig ausgebessert und überarbeitet wird. Eine Fassade, die sie der Welt präsentiert. Vor mir aber kann sie nichts verbergen. Ich stelle mir ihr abgeschminktes Gesicht vor.

Die Falten um ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund. Ihre bleichen, weichen, nervösen Lippen.

Wenn sie die Straße entlanggeht, betrachtet sie in den Schaufenstern ständig ihr Spiegelbild, um zu überprüfen, ob noch alles an Ort und Stelle ist. Dabei wirkt sie immer wie aus dem Ei gepellt. Ihre Sachen sind gebügelt, ihr Haar liegt wie eine Kappe um ihren Kopf. Ihre Nägel sind manikürt und in einem hellen Rosaton lackiert. Ihre Zehennägel sind ebenfalls rosa, und ihre Füße stecken in teuren Sandalen. Die Haut an ihren Beinen ist glatt. Sie hält sich gerade, die Schultern zurück und das Kinn hoch.

Sie wirkt frisch und gepflegt, energisch und entschlossen.

Doch der Eindruck täuscht. Ich habe sie beobachtet. Ich sehe hinter ihr Lächeln, das kein wirkliches Lächeln ist.

Wenn man ganz genau hinhört, merkt man, dass ihr Lachen gezwungen klingt, eine Spur zu schrill. Sie ist wie eine Geigensaite, die zu stark gespannt worden ist. Sie ist nicht glücklich. Wäre sie glücklich oder außer sich vor Angst oder Lust, sähe sie bestimmt sehr schön aus. Dann wäre sie von ihrer harten Schale befreit und könnte ihr wahres Ich entfalten. Ihr ist nicht bewusst, dass sie unglücklich ist. Das weiß nur ich. Nur ich kann in sie hineinsehen und sie befreien. Sie wartet auf mich, versiegelt in ihrem Innern, noch unberührt von der Welt.

Das Glück ist mir hold, das weiß ich inzwischen.

Anfangs habe ich nicht begriffen, dass ich unsichtbar geworden bin. Niemand kann mich sehen. Ich kann endlos weitermachen.

5. KAPITEL

s ist schon sehr spät, aber noch immer unerträglich heiß. Obwohl ich oben alle

E

Fenster geöffnet habe, ist

der Wind, der hereinbläst, so warm, als wäre er über eine Wüste hinweggefegt. Clive ist noch nicht da. Seine Sekretärin, Jan, hat angerufen und zu Lena gesagt, dass er erst sehr spät nach Hause kommen werde. Nun ist es sehr spät, und er ist noch immer nicht da. Wie üblich habe ich ihm ein paar Sandwiches in den Kühlschrank gelegt. Eines davon habe ich selbst gegessen.

Im Haus ist es jetzt ganz still. Lena ist ausgegangen.

Weiß der Himmel, was sie macht und wie lange. Die Jungs schlafen. Kurz nach elf habe ich einen Blick in ihre Zimmer geworfen und das Licht ausgeschaltet. Sogar Josh war schon eingeschlafen, erschöpft von einem anstrengenden Abend am Telefon. Alles, was zu tun war, ist erledigt. Ich habe sogar schon angefangen, für Josh und Harry zu packen, die morgen in ihr Feriencamp fliegen.

Deswegen, aber auch aus anderen Gründen, wird es in den nächsten Wochen im Haus sehr ruhig sein.

Normalerweise bin ich nicht besonders scharf auf Alkohol. Clive ist ein großer Weinkenner, aber mir persönlich ist das nicht so wichtig. Würde ich allein leben, wäre das für mich kein großes Thema. An diesem Abend aber fühlte ich mich leicht nervös, und es war so unglaublich schwül, dass mir plötzlich der Gedanke an einen Gin Tonic durch den Kopf schoss. Wie in einem Werbespot, sah ich vor meinem geistigen Auge eine schöne, heißblütige Frau in einer exotischen Landschaft sitzen und einen Drink in der Hand halten. In meiner Fantasie schwitzte die Frau auf höchst erotische Weise, und wenn sie gerade nicht an ihrem Getränk nippte, hielt sie sich das kalte Glas an die Stirn. Obwohl sie allein dasaß, war sonnenklar, dass sie auf einen tollen Mann wartete.

Natürlich musste auch ich so einen Drink haben. Aber das einzige Stück Zitrone, das wir im Haus hatten, war eine übrig gebliebene, schon ziemlich eingetrocknete Scheibe, die ich nach längerem Suchen in einem Fach der Kühlschranktür entdeckte. Für einen Drink würde sie es schon noch tun. Nachdem ich mir den Gin Tonic eingeschenkt hatte, bekam ich plötzlich Lust auf einen Snack.

Das Einzige, was ich finden konnte, war ein Päckchen von den Käsekräckern, die ich Chris hin und wieder in den Kindergarten mitgab. Nach einer Minute hatte ich das ganze Päckchen aufgegessen, und zu meinem eigenen Erstaunen stellte ich fest, dass von meinem Drink nichts mehr übrig war. Da ich nur ganz wenig Gin hineingetan hatte, beschloss ich, mir noch einen zweiten zu genehmigen. Ich würde ihn mit nach oben ins Bad nehmen.

Im Gegensatz zu dem Mädchen in meiner Fantasie schwitzte ich nicht besonders hübsch oder erotisch. Mein BH war feucht, mein Slip hatte dunkle Schweißränder, und ich konnte mich selbst riechen. Wahrscheinlich fange ich schon langsam an zu verrotten, dachte ich.

Nachdem ich eine Weile in dem warmen, schaumbedeckten Bad gelegen hatte, wurde mir leicht schummrig zu Mute. Inzwischen hatte ich auch den zweiten Drink zur Hälfte geleert, und manche Dinge erschienen mir nicht mehr ganz so wichtig wie zuvor. Zum Beispiel tauchte ich mit dem Kopf einfach unter, um mir das Shampoo aus dem Haar zu waschen, statt es vorher unter der Dusche abzuspülen, und das, obwohl ich ziemlich viel von dem durchdringend riechenden Schaumbad ins Wasser getan hatte. Normalerweise mache ich das nicht so. Habe ich eigentlich erwähnt, dass ein zweiter Brief gekommen ist?

Kurz nach Mittag traf heute plötzlich eine Lieferung nach der anderen ein, unter anderem die Wandfarbe im richtigen Ton und die Heizkörper, die schon vor einem Monat hätten da sein sollen. Es war, als würde eine Rugby-Mannschaft bei uns ein- und ausgehen, und hinterher fand Lena auf der Fußmatte einen an mich adressierten Umschlag. Als sie ihn mir brachte, war mir sofort klar, worum es sich handelte, aber ich machte ihn trotzdem auf.

Liebe Jenny,

du bist eine schöne Frau. Nicht wenn du mit jemandem zusammen bist, sondern wenn du allein bist, allein die Straße entlanggehst. Wenn du in Gedanken versunken bist, kaust du manchmal an deiner Oberlippe herum.

Oder du singst vor dich hin.

Du betrachtest dich, und ich betrachte dich. Das haben wir gemeinsam. Eines Tages aber werde ich dich betrachten, wenn du tot bist.

Natürlich machte mir der Brief ein bisschen Angst, aber in erster Linie war ich sauer. Nein, nicht sauer, richtig wütend. Seit zwei Tagen hatte ich Lynne am Hals. Sicher, sie war recht nett, aber sie saß mir trotzdem ständig auf der Pelle und nervte mich mit ihrer leicht schmeichlerischen Art, ihrer Entschlossenheit, nicht beleidigt zu sein, wenn ich sie anfauchte. Von dem Polizeiwagen vor der Tür ganz zu schweigen. Sie beobachteten mich den ganzen Tag, hatten ständig ein Auge auf mich. Und nun das. Nachdem ich den Brief gelesen hatte, begab ich mich sofort auf die Suche nach Lynne. Sie telefonierte gerade. Ich stellte mich vor sie hin und wartete so lange, bis es ihr peinlich wurde und sie auflegte.

»Ich habe hier etwas, das Sie interessieren dürfte«, sagte ich und reichte ihr den Brief.

Es war, als hätte ich unter ihrem Hintern eine Rakete gezündet. Keine zehn Minuten später saß Stadler mir gegenüber am Küchentisch.

»Auf dem Fußabstreifer, sagen Sie?« Seine Stimme war nur ein leises Murmeln.

»Zumindest hat Lena ihn dort gefunden«, antwortete ich in scharfem Ton. »Offenbar schickt er seine Briefe nicht gern mit der Post. Ehrlich gesagt, frage ich mich, wieso Sie mein Leben derart stören, wenn der Typ trotzdem noch seelenruhig bis zu meiner Haustür marschieren und mir einen Brief auf die Fußmatte legen kann.«

»Das ist tatsächlich etwas frustrierend«, antwortete Stadler und fuhr sich dabei mit den Fingern durchs Haar.

Ein gut aussehender Mann – und er weiß es, wie meine Großmutter immer missbilligend über solche Männer zu sagen pflegte. »Ist Ihnen jemand aufgefallen, der sich dem Haus genähert hat?«

»Heute haben sich ständig irgendwelche Leute dem Haus genähert. Ganze Horden sind herein- und hinausgetrampelt.«

»Sie haben Lieferungen bekommen?«

»Ja, eine ganze Menge.«

»Können Sie die Leute beschreiben, die die Sachen gebracht haben?«

»Ich habe keinen von ihnen zu Gesicht bekommen.

Darüber müssen Sie mit Lena reden.«

Während ich geschäftig in der Küche herumlief, saß Stadler mit finsterer Miene am Tisch. Der Ärmste.

»Verraten Sie mir doch bitte mal, was Sie in der ganzen Sache tatsächlich unternehmen!«, fuhr ich ihn an.

»Unternehmen?«, wiederholte er, als hätte ich ihm eine völlig unnötige Frage gestellt.

»Ja. Entschuldigen Sie, dass ich so dumm bin, aber Sie müssen mir das wirklich mal erklären.«

Ich setzte mich wieder zu ihm an den Tisch. Er legte seine heiße, schwere Hand auf meine. »Mrs. Hintlesham, Jenny, wir tun alles in unserer Macht Stehende. Wir lassen sämtliche Briefe im Labor untersuchen, wir versuchen herauszufinden, wo das Papier herkommt, wir sehen uns die Fingerabdrücke in Ihrem Haus an, für den Fall, dass er hier eingebrochen ist. Und wie Sie wissen«, fügte er mit einem zerknirschten Lächeln hinzu, das gar nicht zu ihm passte, »durchforsten wir Ihren ganzen Freundes- und Bekanntenkreis, überprüfen alle Ihre Kontakte, alle Leute, die für Sie arbeiten oder gearbeitet haben, um herauszufinden, ob eine Verbindung besteht zwischen Ihnen und der … ähm, den anderen Leuten, die Briefe von diesem Kerl erhielten. Und bis wir ihn gefasst haben, sorgen wir natürlich dafür, dass Ihnen nichts passiert.«

Ich entzog ihm meine Hand. »Hat es denn wirklich einen Sinn, mit all dem fortzufahren?«

»Was meinen Sie damit?«

»Dieses ganze lächerliche Theater. Dass Sie meine Briefe öffnen und Lynne hier im Haus rumhängt.«

Stadler schwieg eine ganze Weile. Offenbar wusste er nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Schließlich blickte er auf und sah mich mit seinen dunklen, fast schon schwarzen Augen an. »Die Sache ist ernst«, sagte er. »Sie haben die Briefe gelesen. Der Mann hat damit gedroht, Sie umzubringen.«

»Stimmt, die Briefe sind ziemlich übel«, räumte ich ein,

»aber mit solchen Dingen muss man in London nun mal leben, genauso wie mit obszönen Anrufen, Verkehrslärm und Hundedreck auf dem Gehsteig.«

»Vielleicht«, meinte Stadler. »Trotzdem müssen wir die Sache ernst nehmen. Ich habe gleich eine Besprechung mit Detective Links, und bei der Gelegenheit werde ich ihn darauf hinweisen – und er wird mir bestimmt beipflichten

–, dass wir dieses Haus noch sicherer machen müssen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sämtliche Arbeiten, die zurzeit hier im Gange sind, müssen sofort abgebrochen werden. Zumindest für ein paar Tage.«

»Sind Sie verrückt?« Ich starrte ihn entsetzt an. »Die Baufirma hat eine sechsmonatige Warteliste. Jeremy muss in ein paar Tagen nach Deutschland. Anfang nächster Woche kommen die Stuckateure. Wollen Sie meine Mappe sehen? Man kann so was nicht einfach abbrechen und wieder anfangen, wenn einem danach ist.«

»Es tut mir Leid, Mrs. Hintlesham, aber ich halte diese Maßnahme für dringend erforderlich.«

»Dringend erforderlich für wen? Für Sie, weil Sie Ihren Job nicht richtig machen?«

Stadler stand auf. »Tut mir Leid«, sagte er. »Tut mir Leid, dass wir diesen Irren noch nicht geschnappt haben.

Aber so was ist nun mal schwierig. Normalerweise gibt es eine klare Vorgehensweise: Man klopft an Türen und sucht nach Zeugen. Aber wenn sich ein Irrer willkürlich jemanden herauspickt, gibt es keine normale Vorgehensweise. Da muss man einfach hoffen, dass sich irgendwas ergibt.«

Obwohl ich am liebsten losgelacht hätte, starrte ich ihn weiter aus kalten Augen an, ohne ein Wort zu sagen.

Dieser lächerliche Kerl wollte doch tatsächlich mein Mitgefühl. Er wollte von mir tröstende Worte hören, weil er es als Polizist so schwer hatte. Am liebsten hätte ich ihn auf der Stelle rausgeworfen, ihn und den Rest der Bagage.

»Wir dürfen nicht außer Acht lassen«, fuhr er fort, »dass der Kerl eine ernsthafte Drohung ausgesprochen hat.

Natürlich ist es unser Ziel, ihn zu schnappen, aber oberste Priorität hat Ihre Sicherheit. Meiner Meinung nach sollten wir in dieser Hinsicht keine Risiken mehr eingehen. Die Alternative wäre, dass Sie dieses Haus vorübergehend verlassen und sich von uns an einen sicheren Ort bringen lassen.«

Ich hatte das Gefühl, als würde tief in meinem Magen gleich ein Vulkan ausbrechen. Der zweite Vorschlag war noch schlimmer, sodass ich schließlich zähneknirschend dem ersten zustimmte. Auf meine Frage, bis wann er die Leute aus dem Haus haben wollte, antwortete er, sofort, auf der Stelle. Ich stapfte also wie der Rausschmeißer eines Nachtclubs durchs Haus und forderte alle in forschem Ton auf, die Baustelle zu verlassen.

Anschließend verbrachte ich eine schreckliche Stunde damit, alle möglichen Leute anzurufen und zu versuchen, meinen verblüfften Gesprächspartnern die Lage halbwegs plausibel zu erklären und dann vage Vereinbarungen für die Zukunft zu treffen.

Nun kippte ich den Rest meines Gin Tonic hinunter, stieg aus der Wanne und wickelte mich in ein großes, weiches Badetuch. Die Luft im Badezimmer war so schwül und feucht, dass ich meine Haut nicht trocken bekam, egal, wie sehr ich auch rubbelte. So ging ich schließlich ins Schlafzimmer hinüber. An den Türen der Einbauschränke waren große Spiegel angebracht.

Eigentlich hätten sie nächste Woche entfernt werden sollen. Ich stellte mich vor einen und sah mir dabei zu, wie ich erst mein Haar und dann meinen Körper trocken zu reiben versuchte. Die Abendluft war noch immer so warm, dass ich die Feuchtigkeit auf meiner Haut einfach nicht los wurde, sodass ich schließlich das Handtuch auf den Boden warf und mein nacktes Spiegelbild betrachtete.

Normalerweise tat ich das so gut wie nie, zumindest nicht nackt und ohne Make-up.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, diesen Körper nicht zu kennen, ihn zum ersten Mal zu sehen und attraktiv zu finden. Ich kniff die Augen zusammen und legte den Kopf zur Seite. Es war gar nicht so leicht, sich in diese Situation hineinzuversetzen. Vermutlich geht das allen so, die schon lange verheiratet sind, miteinander Kinder haben und auf viele Jahre harter Arbeit zurückblicken: Irgendwann fühlt man sich nur noch wie ein Teil des Inventars, ein Ding, das einem gar nicht mehr auffällt, es sei denn, etwas stimmt nicht mit ihm.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum einem andere Sachen – oder andere Leute – oft viel interessanter erscheinen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie es gewesen war, als Clive und ich uns zum ersten Mal … na ja, auf diese Weise gesehen hatten, aber komischerweise gelang es mir nicht. Dabei wusste ich noch ganz genau, wann wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten. In seiner Wohnung in Clapham. Ich konnte mich noch an sämtliche Einzelheiten erinnern: welches Theaterstück wir uns vorher angesehen, was wir hinterher gegessen hatten, ja sogar, was ich angehabt und wie er es mir ausgezogen hatte, aber wie es gewesen war, zum ersten Mal die nackte Haut des anderen zu spüren … das wusste ich nicht mehr.

Vorher hatte ich nur eine einzige ernsthafte Beziehung gehabt. Na ja, einigermaßen ernsthaft, zumindest für mich.

Er war Fotograf und hieß Jon Jones. Mittlerweile ist er ziemlich berühmt. Man liest seinen Namen in Harper’s und Vogue.

Damals fotografierte er meine Hände für eine Nagellackwerbung, und eins führte zum anderen. Was das Thema Sex betraf, war ich recht unsicher. Ich wusste nicht genau, was von mir erwartet wurde, und machte im Grunde nur das, wozu er mich aufforderte. Rückblickend kann ich gar nicht mehr sagen, ob das Ganze damals wirklich so aufregend war, aber nun, nach all den Ehejahren, war allein schon der Gedanke daran – an ihn –

aufregend.

Ich befand mich fast in einer Art Trance, als mir plötzlich bewusst wurde, dass ich bei angeschaltetem Licht, offenen Fenstern und Vorhängen im Zimmer stand.

Rasch ging ich hinüber, um die Vorhänge zuzuziehen, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne. Was machte es eigentlich, wenn mir jemand zusah? War das wirklich so schlimm? Einen Moment lang blieb ich am Fenster stehen. Ein warmer Wind wehte herein. Was hätte ich jetzt für ein paar Atemzüge kühle Luft gegeben! Da es viel zu heiß war, um das Fenster zu schließen, beschränkte ich mich darauf, das Licht auszuschalten.

Dann ging ich zum Bett hinüber und legte mich auf den Rücken, ohne mich zuzudecken. Sogar ein dünnes Leintuch wäre eine Qual gewesen. Ich berührte Stirn und Brüste. Die Haut fühlte sich schon wieder schweißnass an.

Langsam ließ ich meine Finger über meinen Bauch nach unten zwischen meine Beine gleiten. Ich spürte, wie warm und feucht ich war. Während ich mich sanft streichelte, starrte ich zur Decke hinauf und fragte mich, wie es wohl wäre, von jemandem zum ersten Mal betrachtet zu werden. Welche Gefühle es in mir wecken würde, begehrt zu werden. Von lustvollen Blicken verfolgt zu werden.

Angesehen zu werden. Geliebt zu werden.

6. KAPITEL

ch verstehe mich aufs Packen. Jedes Mal, wenn Clive für ein paar Tage wegmuss,

I

packe ich seine Sachen für

ihn. Männer haben zwei linke Hände, wenn es darum geht, ihre Hemden richtig zusammenzulegen. Diesmal packte ich für die Jungs, die für drei Wochen ins Sommercamp in die Wildnis von Vermont durften. Wir hatten vor Jahren über den Freund eines Freundes eines Kollegen von Clive davon erfahren. Drei Wochen Zeit, um zu klettern, zu surfen, abends am Lagerfeuer zu sitzen und, in Joshs Fall wahrscheinlich, mit hübschen jungen Mädchen in knappen Shirts Blicke zu tauschen. Ich machte ihm gegenüber eine diesbezügliche Bemerkung, während ich sorgfältig die TShirts, Shorts, Schwimmsachen und Hosen in seinen Koffer legte. Er wirkte niedergeschlagen. »Du willst uns doch nur loswerden«, murmelte er.

Zurzeit murmelt er nur noch vor sich hin, sodass ich die Hälfte von dem, was er sagt, nicht verstehe.

»Aber Josh, letztes Jahr hat es dir doch so gut gefallen!

Harry findet auch nicht, dass drei Wochen zu lang sind.«

»Ich bin aber nicht Harry!«

»Nun sag bloß nicht, dass du Sehnsucht nach mir hast«, meinte ich neckend.

Er starrte mich an. Josh hat große, dunkelbraune Augen, mit denen er einen unglaublich vorwurfsvoll ansehen kann, fast wie ein beleidigter Esel. Mir fiel auf, wie dürr und bleich er war: Seine Schlüsselbeine ragten wie Griffe hervor, und seine Handgelenke schienen nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen. Als er sein Shirt auszog, um in saubere Sachen für den Flug zu schlüpfen, zeichneten sich seine Rippen deutlich an seinem mageren Körper ab.

»Die frische Luft wird dir gut tun. Diesem Zimmer könnte ein bisschen Frischluft übrigens auch nicht schaden. Machst du eigentlich nie die Fenster auf?«

Er gab mir keine Antwort, sah bloß verdrossen auf die Straße hinunter. Ich klatschte in die Hände, um ihn aus seiner Lethargie zu reißen. »Josh, ich bin in Eile! Euer Vater wird euch in etwa einer Stunde zum Flughafen bringen.«

»Immer bildest du dir ein, in Eile zu sein.«

»Ich habe nicht vor, mich kurz vor deiner Abreise noch mit dir zu streiten.«

Er drehte sich um und sah mich an. »Warum suchst du dir keinen richtigen Job?«

»Wo ist dein Deo? Ich habe einen Job. Als eure Mutter.

Du wärst bestimmt der Erste, der sich beschweren würde, wenn ich plötzlich aufhören würde, euch zu euren Partys und Clubs zu kutschieren, Essen für euch zu kochen und eure Klamotten zu waschen.«

»Und was tust du, während Lena deine Arbeit macht?«

»Ich kümmere mich um die Renovierung dieses Hauses, in dem du dich ja recht wohl zu fühlen scheinst. Also, was machst du mit dem bisschen Zeit, das dir vor eurer Abreise noch bleibt? Wie wär’s, wenn du noch zu Christo hineinschaust? Ihr werdet ihm bestimmt fehlen.«

Josh ließ sich an seinem Computer nieder. »Ja, gleich.

Ich möchte mir bloß noch schnell dieses neue Spiel ansehen. Es ist ganz neu.«

»Genau aus dem Grund ist es gut, dass du mal hier rauskommst. Sonst würdest du nämlich drei Wochen lang im Dunkeln vor deinem Bildschirm hocken. Hör mal, wenn du sowieso noch hier bleibst, könntest du genauso gut dein Bett abziehen und Mary die schmutzige Bettwäsche rauslegen.« Schweigen. Ich wandte mich zum Gehen, überlegte es mir dann aber anders.

»Josh?« Schweigen. »Wirst du Sehnsucht nach mir haben? Ach, Josh, nun mach endlich den Mund auf!«

Inzwischen schrie ich ihn schon fast an.

Er drehte sich schmollend um. »Was ist denn?«

»Ach, nichts.«

Als ich schließlich das Zimmer verließ, war er bereits in das neue Computerspiel, eine Art Nahkampf ohne Waffe, vertieft.

Ich nahm Harry in den Arm, auch wenn sich sein Körper dabei wie üblich versteifte. Er scheint der Meinung zu sein, dass man mit elf viel zu alt ist, um sich noch umarmen zu lassen. Ansonsten aber ist er Gott sei Dank ein fröhlicher Junge, der nichts von Joshs Launenhaftigkeit hat. Er ist wie ich, ein Typ, der nicht zum Trübsalblasen neigt. Harry hat braunes, lockiges Haar, eine Stupsnase und stämmige Beine. Josh sah neben ihm aus wie eine Bohnenstange. Sein neues, übergroßes Shirt ließ seinen Hals noch magerer erscheinen als sonst.

Ich küsste ihn auf die Wange. »Einen wunderschönen Urlaub, Josh, es wird dir bestimmt gefallen!«

»Mum …«

»Ihr müsst jetzt los, meine Lieben, euer Vater wartet schon im Auto. Seid brav, und passt auf euch auf. Wir sehen uns in drei Wochen. Wiedersehen, meine Lieblinge, auf Wiedersehen!« Ich winkte ihnen nach, bis ich sie nicht mehr sehen konnte.

»Na, was sagst du, Chris? Jetzt sind wir drei Wochen lang allein, nur du und ich.«

»Und Lena.«

»Ja, natürlich, Lena ist auch noch da. Sie wird nachher sogar mit dir in den Zoo gehen. Da könnt ihr ein schönes Picknick machen. Mummy hat heute viel zu tun.«

Ich hatte tatsächlich viel zu tun, weil ich dieses verflixte Essen vorbereiten musste, zu dem mich Clive verdonnert hatte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal allein im Haus gewesen war. Meine Schritte hallten durch die Räume, es war seltsam ruhig. Kein Josh und kein Harry, kein Chris und keine Lena, kein Clive, keine Mary, kein Jeremy, Leo oder Francis. Kein Hämmern und keine Arbeiter, die laut vor sich hinpfiffen, während sie Farbe an die Wand klatschten; kein ständiges Klingeln an der Haustür, weil Kies, Tapeten oder Stromkabel angeliefert wurden. Nun ja, fast allein. Lynne war natürlich immer irgendwo in der Nähe. Sie kam mir vor wie eine Hummel, die hin und wieder summend in den Raum schwirrte.

Noch vor kurzem war dieses Haus eine Baustelle, was an sich schon schlimm genug war. Nun ist es eine verlassene Baustelle: Das Gästezimmer ist erst zur Hälfte tapeziert, im zukünftigen Wohnzimmer warten die Bodendielen darauf, verlegt zu werden, das Esszimmer ist schon mit Plastikplanen ausgelegt, bereit für die Maler, die nun nicht kommen werden, der Garten voller Unkraut und Löcher.

Die Polizei mag vielleicht nicht in der Lage sein, den Kerl zu finden, der mich belästigt, aber meine Pläne haben sie definitiv durchkreuzt. Ganz zu schweigen von dieser Dr. Schilling, die mich immer mehr nervt.

Bei ihrem zweiten Besuch beglückte sie mich erneut mit ihrer ernsten, aufmerksamen Miene. Ich wette, sie übt diesen Gesichtsausdruck vor dem Spiegel. Sie gräbt und kratzt sich immer tiefer in mein Leben hinein, will alles wissen, über Clive, Männer, ganz allgemein, kratz, kratz.

Angeblich ist das die normale Vorgehensweise bei einer solchen Untersuchung. Manchmal habe ich das Gefühl, es geht ihr überhaupt nicht um den Verbrecher. In Wirklichkeit möchte sie meine anderen Probleme lösen.

Mich ändern, eine andere Frau aus mir machen.

Wahrscheinlich eine Frau wie sie. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass ich keine Tür bin, die eines Tages aufgehen und den Blick auf den Zaubergarten ihn meinem Inneren freigeben wird. Tut mir Leid. Ich bin nun mal die Frau, die ich bin: Jenny Hintlesham, Ehefrau von Clive, Mutter von Josh, Harry und Chris. Nimm mich so, wie ich bin, oder lass es bleiben. Ach, lass es lieber bleiben – lass mich in Ruhe, damit ich endlich mein Leben weiterleben kann.

Ich bin keine so leidenschaftliche Köchin, aber es macht mir durchaus Spaß, Gäste zu bewirten – das heißt, wenn ich genug Zeit für die Vorbereitungen habe. Heute hatte ich jede Menge Zeit. Lena würde erst zum Tee zurückkommen, und Clive fuhr direkt vom Flughafen zu einem Golfturnier. Ich hatte meine Kochbücher durchgesehen, die noch immer in einer Pappschachtel unter der Treppe lagen, und mich der Hitze wegen für ein richtiges Sommermenü entschieden: Frisch, knackig und einfach, mit viel gutem Weißwein. Die Pilzkanapees konnte ich erst in letzter Minute zubereiten, und das Gazpacho hatte ich schon gestern Abend gemacht, während Clive vor dem Fernseher saß. Jetzt würde ich den Hauptgang vorbereiten, rote Meeräsche in Tomaten-Safran-Soße, eiskalt zu servieren. Als Erstes kam die Soße dran, eine einfache, aber reichhaltige italienische Paste, mit Olivenöl, Zwiebeln, Kräutern aus dem Garten (immerhin hatte Francis noch den Kräutergarten pflanzen können, bevor alle Arbeiten zum Stillstand kamen), einer Menge Knoblauch und gehäuteten Eiertomaten. Wenn das Ganze dann so richtig schön dick ist, fügt man Rotwein, eine Spur Balsamico und Safran hinzu. Ich legte die sechs Meeräschen in eine lange Form und goss die Soße darüber. Nun musste der Fisch nur noch bei mittlerer Hitze eine halbe Stunde dünsten, dann konnte ich das Ganze in die Speisekammer stellen.

Als Nachtisch hatte ich eine große Aprikosentorte geplant. Sie macht immer viel her, und Aprikosen passen wundervoll in diese Jahreszeit. Ich rollte den Blätterteig aus (ich hatte ihn fertig gekauft, es gibt gewisse Grenzen) und legte ihn in eine Form. Dann bereitete ich eine Masse aus gemahlenen Mandeln, Puderzucker, Butter und Eiern zu und gab sie über den Teig. Zum Schluss halbierte ich die Aprikosen und legte sie obenauf. Geschafft. Ich schob die Torte ins heiße Backrohr, wo sie noch fünfundzwanzig Minuten brauchte, bis sie fertig war. Dazu würde es Unmengen von Schlagsahne geben. Wein und Champagner standen bereits im Kühlschrank, die Butter war in kleine Stückchen geschnitten. Die dunklen Brötchen würde ich am Nachmittag holen. Den grünen Salat konnte ich erst kurz vor dem Essen anrichten.

Wir würden in der Küche essen müssen, egal, wie wichtig Clives Mandant war, aber ich zog den chinesischen Raumteiler hervor, sodass der eigentliche Kochbereich abgetrennt war, und schmückte den Tisch mit der weißen Spitzendecke, die uns meine Cousine zur Hochzeit geschenkt hatte. Mit unserem schönen Silberbesteck und einem üppigen Strauß aus orangefarbenen und gelben Rosen ergab das ein höchst gelungenes Arrangement.

Ich hatte auch Emma und Jonathan Barton eingeladen.

Wer weiß, wie dieser Sebastian und seine Frau sein würden. Ich stellte mir einen City-Typen mit Bauchansatz und geplatzten Äderchen auf der Nase vor, und dazu eine taffe, ehrgeizige, gestylte Frau mit wasserstoffblondem Haar und breiten Hüften. Ich beneide solche Frauen nicht, auch wenn sie Leute wie mich oft ein wenig herablassend behandeln.

Ich wollte an diesem Abend gut aussehen. Emma Barton hat runde Hüften, einen großen Busen und volle Lippen, die sie immer knallrot schminkt, sogar morgens, wenn sie die Kinder in die Schule bringt. Auf mich wirkt sie manchmal ein bisschen gewöhnlich, aber die Männer fahren definitiv auf sie ab. Leider hat sie in letzter Zeit ein bisschen an Attraktivität verloren. Sie dürfte etwa in meinem Alter sein, vielleicht ein paar Jährchen älter, aber sie neigt dazu, nervös herumzuzappeln und ständig einen Schmollmund zu ziehen, was bei einer Zwanzig- oder Dreißigjährigen ganz in Ordnung ist, bei einer Vierzigjährigen aber ein wenig lächerlich wirkt. Wir kennen die Bartons schon seit Ewigkeiten. Vor zehn Jahren war er noch rasend besitzergreifend und konnte die Finger nicht von ihr lassen, aber inzwischen fällt mir auf, dass sein Blick des Öfteren an Frauen hängen bleibt, die genauso aussehen wie Emma damals.

Gegen sechs nahm ich ein ausgiebiges Bad und wusch mir die Haare. Unten hörte ich, wie die Tür aufgeschlossen wurde und Lena mit Chris hereinkam. Ich schlüpfte in den Bademantel und nahm vor dem Spiegel Platz. An diesem Abend sparte ich nicht mit Make-up.

Erst die Grundierung, dann Rouge auf die Wangen, graugrüner Lidschatten, dunkelgrauer Eyeliner, mein geliebter Faltenabdeckstift, pflaumenfarbener Lippenstift und zum Schluss ein paar Tropfen von meinem Lieblingsparfüm hinter die Ohren und aufs Handgelenk –

Letzteres würde ich später noch einmal wiederholen.

Normalerweise husche ich zwischen Vor- und Hauptspeise rasch in mein Zimmer hinauf, um mein Make-up nachzubessern und mich frisch einzuparfümieren. Das gibt mir Selbstvertrauen.

Ich zog ein langes schwarzes Kleid mit Spaghettiträgern an und darüber ein zartes Oberteil aus kastanienbrauner Spitze, das am Kragen und an den Ärmeln mit schwarzem Samt besetzt war, und für das ich letztes Jahr in Italien ein kleines Vermögen bezahlt hatte. Dazu hochhackige Schuhe, meine Diamantkette und Diamantohrringe.

Anschließend warf ich einen kritischen Blick in den Spiegel, wobei ich mich langsam um die eigene Achse drehte, um mich von allen Seiten zu betrachten. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass ich schon auf die vierzig zuging. Es kostet eine Menge Mühe, jung zu bleiben.

Ich hörte Clive nach Hause kommen. Als Nächstes musste ich Chris ins Bett bringen und dafür sorgen, dass er alles bekam, was er brauchte, bevor die Gäste eintrafen.

Hatte ich eigentlich die Pralinen auf die Anrichte gestellt?

Chris war sonnenverbrannt und quengelig. Ich erlaubte ihm, vor dem Einschlafen noch eine Roald-Dahl-Kassette zu hören, und schaltete sein Nachtlicht an. Hoffentlich würde er während des Essens kein Theater machen. Clive war duschen gegangen.

Unten in der Küche zog ich eine große Schürze über meine schönen Sachen, verteilte die Pilze über die Kanapees und riss die Salatblätter in mundgerechte Stücke. Als Beilage zum Fisch würde es nur grünen Salat geben. Die wahre Eleganz liegt in der Einfachheit. Ich warf einen Blick aus dem Küchenfenster. Der Himmel hatte die Farbe von Himbeeren. Abendrot Schönwetterbot.

Josh und Harry waren inzwischen bestimmt schon in ihrem Camp eingetroffen und hatten auf amerikanische Zeit umgestellt.

»Hallo«, begrüßte mich Clive. Braun gebrannt und frisch geduscht, umgab ihn in seinem eleganten Anzug eine Aura des Erfolgs.

»Gut siehst du aus. Die Krawatte kenne ich ja noch gar nicht«, sagte ich. Ich wollte von ihm auch ein Kompliment über mein schickes Aussehen hören.

Er fummelte an seinem Krawattenknoten herum.

»Stimmt, sie ist neu.«

Es klingelte an der Tür.

Weder Sebastian noch seine Frau Gloria waren auch nur annähernd so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sebastian war groß und ziemlich kahl. Wäre seine Nervosität nicht so deutlich spürbar gewesen, hätte er auf eine finstere, hollywoodmäßige Art recht vornehm ausgesehen. Aus Clives Verhalten ihm gegenüber sprach ein Hauch von Verachtung, eine Spur von Überlegenheit. Schlagartig kam ich zu der Erkenntnis, dass Clive Sebastian mit seinem verflixten Übernahmeangebot über den Tisch ziehen würde und dieses freundschaftliche Abendessen eine Farce war. Gloria, die in der City als Headhunter arbeitete, war um einiges jünger als ihr Mann – ich schätzte sie auf Ende zwanzig. Sie besaß tatsächlich blondes, fast silbriges Haar, aber entgegen meinen Erwartungen war es nicht wasserstoffblondiert, sondern echt. Sie hatte hellblaue Augen, schlanke braune Arme und schmale Handgelenke. Sie trug ein schlichtes weißen Leinenkleid, kaum Make-up und als einziges Schmuckstück ein feines silbernes Armkettchen. Emma wirkte neben ihr fast ein wenig schlampig, und ich fühlte mich völlig overdressed.

Alle drei Männer wandten ihr aufmerksam das Gesicht zu, während wir draußen auf unserer halb fertigen Terrasse standen und Champagner tranken. Sie wusste natürlich genau, wie hübsch sie war. Immer wieder senkte sie lasziv den Blick oder lächelte geheimnisvoll. Ihr Lachen klang silbrig, wie zartes Glockengeläut.

»Hübsche Krawatte«, sagte sie zu Clive und lächelte ihn dabei kokett an. Am liebsten hätte ich ihr eine Flasche Rotwein übers Kleid geschüttet.

Die beiden kannten sich offenbar schon – was bei ihren Jobs wohl nicht weiter verwunderlich war. Sie, Sebastian, Clive und Jonathan unterhielten sich über den Footsie und zukünftige Märkte, während Emma und ich blöd daneben standen.

»Ich muss immer lachen, wenn von diesem Footsie-Index die Rede ist«, warf ich ein. »Er hat wirklich einen witzigen Namen.« Ich war fest entschlossen, mich nicht ignorieren zu lassen.

Gloria wandte sich höflich zu mir um. »Arbeiten Sie auch in der City?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, dass dem nicht so war.

»Lieber Himmel, nein!« Ich lachte laut und nahm einen Schluck von meinem Champagner. »Ich bin ja nicht mal in der Lage, beim Bridge die Punkte zusammenzuzählen.

Nein, Clive und ich haben uns damals darauf geeinigt, dass ich zu Hause bleiben und mich um die Kinder kümmern würde. Haben Sie Kinder?«

»Nein. Was haben Sie denn vorher gemacht?«

»Als Model gearbeitet.«

»Als Hand-Model«, fügte Emma hinzu. Meine Freundin Emma.

»Sie haben wirklich schöne Hände«, meinte Sebastian ziemlich steif.

Ich streckte sie ihnen hin. »Sie waren mal mein Kapital«, erklärte ich. »Damals habe ich die ganze Zeit Handschuhe getragen, sogar beim Essen und manchmal sogar im Bett.

Verrückt, nicht?« Jonathan schenkte uns nach. Gloria sagte etwas zu Clive, der sie lächelnd ansah. Oben begann Chris zu weinen. Ich kippte meinen Champagner hinunter.

»Ihr müsst mich einen Moment entschuldigen, die Pflicht ruft! Lasst euch nicht stören. Ich gebe euch Bescheid, wenn das Essen fertig ist. Bitte nehmt euch noch von den Kanapees!«

Nachdem ich Chris’ Kassette umgedreht und ihm einen weiteren Gutenachtkuss auf die Wange gedrückt hatte, sagte ich ihm, er solle jetzt Ruhe geben, weil ich sonst böse werden würde. Dann ging ich in unser Schlafzimmer, zog meine Lippen nach, fuhr mir mit der Bürste durchs Haar und tupfte ein wenig Parfüm auf mein Dekollete. Ich fühlte mich leicht beschwipst. Am liebsten hätte ich mich jetzt in ein kühles, frisch bezogenes Bett gelegt. Allein, versteht sich.

Zur Suppe trank ich sprudelndes Mineralwasser, aber zum Fisch gönnte ich mir ein Glas von dem guten Chardonnay, zum Brie einen roten Bordeaux und zum Nachtisch einen ziemlich guten Dessertwein. Zwischen all dem Alkohol wirkte der Kaffee wie ein kleiner Schock, der in meinem Kopf zumindest kurzfristig wieder für Klarheit sorgte.

»Was für ein raffiniertes Frauenzimmer«, sagte ich hinterher zu Clive, während ich mich mit einem Wattebausch abschminkte. Clive putzte sich gerade die Zähne.

Nachdem er sich gründlich den Mund ausgespült hatte, kniff er ein Auge zu und musterte mich mit dem anderen kritisch.

»Du bist ja betrunken!«, stellte er fest.

Ich verspürte plötzlich unbändige Lust, ihm ins Gesicht zu schlagen und meine Nagelschere in seinen Bauch zu rammen.

»Unsinn!«, erwiderte ich lachend. »Ich bin bloß ein bisschen beschwipst, Liebling. Ich finde, es ist alles recht gut gelaufen, meinst du nicht auch?«

7. KAPITEL

ein großes Laster sind Versandhauskataloge. Das ist irgendwie verrückt,

M

weil es mir im Grunde

überhaupt nicht ähnlich sieht. Wenn es etwas gibt, woran ich wirklich glaube, dann daran, dass die Dinge, mit denen man sich umgibt, genau passen müssen. Der Gedanke, sich für das Zweitbeste entschieden zu haben, nur weil es ein bisschen – oder viel – billiger war, und dieses Ding dann Jahr für Jahr in einer Ecke stehen zu sehen – das ist meine Vorstellung von Folter. Bevor man sich etwas kauft, muss man die Dinge anfassen, um sie herumgehen, ein Gefühl dafür bekommen, wie sie sich an der Stelle machen würden, die man für sie vorgesehen hat.

Aus diesem Grund sollte ich mich mit Katalogen eigentlich gar nicht befassen. Die Handtücher, die auf dem Bild so flauschig aussehen, können sich in Natura wie Kratzwolle anfühlen oder eine Spur von der abgebildeten Farbe abweichen, sodass sie nicht mehr zum Holzrahmen des wundervollen Spiegels passen, den man letzten Sommer auf einem Markt entdeckt hat. Das Salatbesteck kann im Katalog schön massiv aussehen, sich dann aber als billiges Plastik entpuppen. Natürlich weiß ich, dass man theoretisch alles zurückschicken kann, aber in der Praxis schafft man das irgendwie nie. Es ist wirklich nicht zu entschuldigen, und Clive äußert sich immer ziemlich verächtlich darüber, wenn er es zufällig mal mitbekommt, aber selbst brütet er schließlich auch bis tief in die Nacht über seinen blöden Weinkatalogen.

Jedes Mal, wenn so ein Versandhauskatalog eintrifft, kann ich einfach nicht widerstehen, ich muss ihn rasch durchblättern, und immer ist irgendwas drin, das mir ins Auge sticht: Turnschuhe oder Baseballjacken für die Jungs, ein praktischer Bleistifthalter, ein hübscher Zuckerlöffel, ein witziger Wecker oder ein Papierkorb, der sich oben im Arbeitszimmer gut machen könnte. Oft landen die Sachen dann im Speicher oder in der hintersten Ecke im Schrank, aber manchmal erweisen sie sich auch als Spitzenklasse. Das ist dann fast wie ein zusätzlicher Geburtstag. In mancher Hinsicht vielleicht noch besser.

Wollte man sarkastisch sein, könnte man sagen, dass gewisse Jungs – und auch gewisse Männer, deren Namen besser ungenannt bleiben –, durchaus mal einen Geburtstag vergessen, während ein Versandhaus es hingegen niemals versäumt, den bestellten Lampenschirm zu liefern, auch wenn er einem letztendlich gar nicht so gut gefällt, wie man gedacht hat.

Dreisterweise geben solche Versandhäuser die Namen ihrer Kunden an andere Firmen weiter, insbesondere dann, wenn ihre Computer dahinter gekommen sind, dass man dazu neigt, sich Dinge zu kaufen, die man eigentlich gar nicht braucht. Es hat ein bisschen was von dem Gefühl, das beliebteste Mädchen der Schule zu sein. Alle möchten mit dir befreundet sein, auch wenn du das nicht willst.

Also ehrlich, manchmal bekomme ich von den seltsamsten Leuten Prospekte zugeschickt. Erst kürzlich kam eine Broschüre von einer Firma, die Ponchos aus Lamahaar herstellt. So ein Ding kostet neunundzwanzig Pfund neunundneunzig, und für neununddreißig neunundneunzig bekäme man einen Doppelpack. Als ob irgendein halbwegs vernünftiger Mensch, der nicht zufällig in den Anden lebt, auch nur einen einzigen solchen Poncho gebrauchen könnte. Ich dachte nicht mal eine Sekunde lang darüber nach.

Das alles ist lediglich die Vorgeschichte zu dem, was am Montag passierte, als ich irgendwann am Vormittag die Treppe herunterkam und auf der Fußmatte den üblichen Schund liegen sah. Keine richtige Post natürlich, nur der übliche Packen lächerlich bunter Werbezettel, auf denen einem die Leute anboten, zu jeder Pizza eine kostenlose Cola mitzuliefern, die Fenster besonders gründlich zu putzen, das Haus zu schätzen und die Originalfenster durch Metallrahmen und Doppelfenster zu ersetzen.

Zwischen all diesen Blättern steckte ein Umschlag mit der Aufschrift: »Viktorianische Möbel – viele Sonderangebote.«

Das klang interessant, also öffnete ich den Umschlag.

Ich wette, Sie wissen nicht, wie Sie Ihre Briefe öffnen.

Sie machen es jeden Tag, aber Sie denken nie darüber nach. Ich weiß genau, wie es geht, denn ich war gezwungen, mich damit auseinander zu setzen. Man nimmt den Brief und dreht die Vorderseite mit der Adresse von sich weg. Wenn die Lasche des Kuverts ganz zugeklebt ist, versucht man eine Ecke zu lösen und vorsichtig daran zu ziehen, um auf diese Weise so viel Platz zu schaffen, dass man seinen Zeigefinger hineinschieben und den Umschlag entlang der Kante aufreißen kann. Jedenfalls machte ich es so, und das Komische daran war, dass ich keinen Schmerz fühlte.

Während ich den Umschlag öffnete, sah ich ein Stück graues Metall herausblitzen. Erst dann fiel mir auf, dass das Kuvert an einigen Stellen nass war, nass und voller roter Flecken.

Noch immer spürte ich keinen richtigen Schmerz, bloß ein dumpfes Ziehen in meiner linken Hand. Ich sah nach unten, und es dauerte ziemlich lang, bis ich begriff, was ich da sah. Alles war voller Blut, meine beige Hose, der Boden, meine Finger. Mir war noch immer nicht klar, wo das Blut herkam, ich starrte nur benommen auf den Umschlag, als hätte sich daraus warme rote Farbe auf den Boden ergossen. Mein Blick fiel auf das graue Metall.

Flache Metallstücke, die auf einem Streifen Pappe aneinander gereiht waren. Anfangs begriff ich nicht, worum es sich dabei handelte, aber dann fiel mir plötzlich mein Vater ein, wie er auf dem Rand der Badewanne saß und sich rasierte. Als kleines Mädchen hatte ich ihm oft dabei zugeschaut und den weißen Schaum auf seinem Gesicht bewundert, mit dem er aussah wie der Weihnachtsmann. Altmodische Rasierklingen.

Ich starrte auf meine Finger. Blut tröpfelte auf den blanken Holzboden. Ich hob meine Hand und sah sie mir genauer an. Am Zeigefinger klaffte eine tiefe Schnittwunde. Ich spürte, wie der Finger pulsierte, sah, wie das Blut herausquoll. Erst in dem Moment begann es wehzutun, und mir wurde auf einmal schwindlig und kalt und heiß, alles auf einmal. Ich schrie nicht um Hilfe. Mir wurde auch nicht schlecht. Stattdessen gaben einfach meine Beine nach, und ich glitt zu Boden. Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag. Wahrscheinlich waren es bloß ein paar Minuten, bis Lena herunterkam und losrannte, um Hilfe zu holen, und Lynne mit aufgerissenem Mund in der Tür erschien.

Sie trägt eine cremefarbene Hose und ein kastanienbraunes Shirt. Ihre Hand ist verbunden, und hin und wieder hält sie sie vorsichtig mit ihrer gesunden Hand, ah wäre es ein verletzter Vogel. Sie hat das Haar hinter die Ohren geschoben, was ihr Gesicht noch schmaler wirken, ihre Wangenknochen noch stärker hervortreten lässt. Sie sieht schon um Jahre älter aus. Ich drehe an ihrer Lebensuhr.

Sie trägt heute keine Ohrringe, kein Parfüm. Der rote Lippenstift macht ihr Gesicht blass. Sie hat den Puder zu dick aufgetragen, sodass ihre Wangen und ihre Stirn fleckig wirken. Sie geht wie eine Schlafwandlerin, ihre Füße schlurfen über den Boden. Sie lässt die Schultern hängen. Hin und wieder runzelt sie die Stirn, als würde sie versuchen, sich an etwas zu erinnern. Sie presst die Hand an ihr Herz, als wollte sie den Puls ihres Lebens unter der Handfläche spüren. Das hat die andere auch gemacht.

Alles an ihr war so sorgsam zusammengehalten, aber jetzt beginnt sie auseinander zu fallen. Stück für Stück bricht ihre Schale auf. Ich kann sie sehen. Die Teile von ihr, die sie niemals jemandem zeigen wollte. Angst bringt die Menschen dazu, ihr Innerstes nach außen zu kehren.

Manchmal verspüre ich den Wunsch zu lachen. Es ist alles so gut gelaufen. Das kann mein ganzes Leben so weitergehen. Das ist es, worauf ich gewartet habe.

8. KAPITEL

ut es weh?« Detective Chief Inspector Links beugte sich zu m

T

ir vor. Viel zu nah, gleichzeitig aber schien er weit weg zu sein.

»Ich habe Tabletten gegen die Schmerzen bekommen.«

»Gut. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Lieber Himmel, nicht schon wieder!«

Inzwischen weiß ich, dass die Polizei durchaus für ein paar Dinge zu gebrauchen ist: Polizisten bringen es beispielsweise fertig, dass man trotz der langen Warteschlange auf der Unfallstation sofort drankommt.

Sie fahren einen zum Krankenhaus und zurück und kochen Tee. Das Problem ist eher der Rest – das, was sie nicht zuwege bringen.

»Mir ist klar, dass das alles für Sie sehr schwierig ist.

Trotzdem brauchen wir Ihre Hilfe.«

»Warum? Ich habe genug von Ihren Fragen. Aus meiner Sicht ist die Sache ganz einfach: Da draußen gibt es einen Mann, der immer wieder an meine Haustür kommt.

Können Sie ihn nicht einfach verhaften, wenn er das nächste Mal einen Umschlag durch den Briefschlitz wirft?«

»So einfach ist das nicht.«

»Warum nicht?«

Links holte tief Luft. »Wenn sich jemand etwas wirklich in den Kopf gesetzt hat, dann –« Er brach abrupt ab.

»Dann was?«

»Wir würden gern ein paar Namen mit Ihnen durchgehen.«

»Meinetwegen. Möchten Sie Tee? Die Kanne ist voll.«

»Nein, danke.«

»Stört es Sie, wenn ich eine Tasse trinke?« Nachdem ich mir eingeschenkt hatte, schaffte ich es irgendwie, die Kanne auf dem Rand eines Tellers abzustellen, sodass sie ganz langsam kippte und dann auf den Steinboden krachte, wo sie in tausend Scherben zerbarst. Kochend heißer Tee spritzte durch die ganze Küche.

»Tut mir Leid, es muss an meiner Hand liegen. Wie ungeschickt von mir!«

»Lassen Sie mich helfen.« Links begann, Porzellanscherben aufzusammeln. Lynne machte sich ausnahmsweise auch mal nützlich, indem sie mit einem Mopp die restlichen Scherben zusammenfegte. Dann nahmen wir wieder am Küchentisch Platz. Lynne reichte Links eine Aktenmappe, die er sofort öffnete. Sie enthielt eine Liste von Namen, neben die in den meisten Fällen Fotos geheftet waren. Unter den Personen befanden sich mehrere Lehrer, ein Gärtner, ein Immobilienmakler, ein Architekt, die unterschiedlichsten Typen, in Anzügen, Jeans und T-Shirt, sauber rasiert oder mit Bartstoppeln.

Die Tabletten hatten mich in einen leicht benebelten Zustand versetzt, und mir war, als würde ich mich in Zeitlupentempo bewegen; das konnte aber auch an den Schmerzen oder am Schock liegen. Irgendwie fand ich es fast lustig, diese Auflistung langweiliger Leute durchzusehen, denen ich noch nie begegnet war.

»Was sind das für Leute? Kriminelle?«

Links schien sich ziemlich unbehaglich zu fühlen. »Aus rechtlichen Gründen«, antwortete er, »darf ich Sie nicht in alle Einzelheiten einweihen, aber ich kann immerhin so viel sagen, dass wir herauszufinden versuchen, ob möglicherweise Verbindungen bestehen zwischen Ihnen und, ähm …«, er schien nach den richtigen Worten zu suchen, »… Bereichen, in denen ähnliche Probleme aufgetreten sind. Sollte Ihnen eine dieser Personen auch nur vage bekannt erscheinen, könnte uns das weiterhelfen.

Vielleicht dieser Immobilienmakler, Guy Brand, um nur ein Beispiel zu nennen. Ich will ihm gar nichts unterstellen, aber ein Immobilienmakler hat nun mal Zutritt zu vielen Grundstücken und Wohnungen. Und Sie sind erst kürzlich umgezogen, nachdem Sie in vielen Teilen Londons nach einem Haus gesucht hatten.«

»Ja, ich habe Hunderte von Immobilienmaklern kennen gelernt. Leider habe ich, was Gesichter angeht, ein ganz fürchterliches Gedächtnis. Warum fragen Sie nicht ihn?«

»Das haben wir schon getan«, antwortete Links. »Ihr Name war nirgendwo aufgeführt. Allerdings schien in der Kundenkartei ein ziemliches Chaos zu herrschen.«

Ich sah mir das Foto noch einmal an. »Er kommt mir tatsächlich bekannt vor. Andererseits – Immobilienmakler sehen alle irgendwie gleich aus, finden Sie nicht?«

»Sie meinen also, dass Sie ihm möglicherweise schon mal begegnet sind?«

»So weit würde ich nicht gehen«, entgegnete ich. »Falls Sie aber herausfinden sollten, dass ich ihn tatsächlich schon mal getroffen habe, dann würde ich sagen, möglich wäre es.«

Mit dieser Antwort schien Links nicht sehr zufrieden zu sein.

»Ich kann Ihnen die Fotos dalassen, wenn Sie wollen.«

»Warum hat er das wohl getan?«, fragte ich unvermittelt.

»So viel Mühe, nur um etwas so Gemeines zu tun?«

Unsere Blicke trafen sich, und zum ersten Mal war er nicht in der Lage, seine Besorgnis zu verbergen. »Ich weiß es nicht.«

»Tja, das ist mir inzwischen auch schon klar geworden«, gab ich bissig zurück. Momentan krochen etwa acht von ihnen wie Ameisen im Haus herum, nahmen alles Mögliche in kleinen Schachteln und Plastiktüten mit, unterhielten sich im Flüsterton in irgendwelchen Ecken und sahen mich an, als wäre ich ein verwundetes Tier. Ich konnte nirgendwo hingehen, ohne einem von ihnen über den Weg zu laufen. Sie waren auf ihre Art sehr höflich, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass es im ganzen Haus praktisch keinen Ort gab, wo ich allein sein konnte.

Aufgebracht fügte ich hinzu: »Können Sie mir mal verraten, was Ihre Leute eigentlich tun, während ich mich hier abmühe und mir das Gehirn zermartere, um Ihnen zu helfen?«

»Ich versichere Ihnen, dass wir ebenfalls hart arbeiten«, erwiderte er. Bei näherer Betrachtung wirkte er tatsächlich ein bisschen müde.

Auf dem Weg nach oben kam mir ein Beamter entgegen, der gerade mit einem Stapel Papier nach unten ging. Ich flüchtete mich ins Bad, sperrte die Tür ab und lehnte mich einen Moment dagegen. Dann klatschte ich mir mit der unverletzten Hand Wasser ins Gesicht. Der Verband an der anderen war bereits von Blut durchtränkt. Ich setzte mich an meine Frisierkommode und versuchte unbeholfen, mit der linken Hand mein Make-up zu erneuern. Ich sah ein wenig mitgenommen aus, was in Anbetracht der Ereignisse ja nicht weiter verwunderlich war. Mein Haar hatte dringend eine Wäsche nötig. Bei dieser Hitze musste man sich fast jeden Tag den Kopf waschen. Ich übermalte die dunklen Ringe unter meinen Augen mit einem Abdeckstift und legte ein wenig Lippgloss auf. Allmählich ging mir die Sache ganz schön an die Nerven. Ich wünschte, Clive würde zurückrufen, damit ich endlich mit jemandem reden konnte, der nicht bei der Polizei war. Ich hatte ihn bereits über den Vorfall mit der Hand informiert.

Er war sehr geschockt gewesen und hatte darauf bestanden, Stadler zu sprechen, hatte ihn am Telefon mit aufgebrachten Fragen bombardiert, aber er war nicht mit einem Blumenstrauß zu mir nach Hause geeilt, wie ich insgeheim gehofft hatte.

Als Nächstes wollte Detective Inspector Stadler mit mir über die Details meines täglichen Lebens sprechen. Wir mussten uns ins Wohnzimmer zurückziehen, weil Mary den Küchenboden zu wischen begann.

»Wie geht es Ihrer Hand, Mrs. Hintlesham?«, fragte er mit seiner leisen, tiefen, drängenden Stimme.

An diesem heißen Tag hatte er seine Jacke ausgezogen und die Ärmel seines Hemds bis knapp unter die Ellbogen hochgekrempelt. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.

Wenn er mir eine Frage stellte, sah er mir immer fest in die Augen, als versuche er zu ergründen, ob ich die Wahrheit sagte oder nicht.

»Gut«, antwortete ich, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Die Wunde brannte. Durch Rasierklingen verursachte Schnitte tun immer höllisch weh, hatte die Ärztin gesagt, als sie die Wunde verband.

»Dieser Mensch weiß anscheinend, dass Sie mal Hand-Model waren.«

»Möglich.«

Er griff nach zwei Büchern. Erst jetzt merkte ich, dass es sich dabei um meinen Terminplaner und mein Adressbuch handelte.

»Können wir ein paar Dinge zusammen durchgehen?«

Ich seufzte. »Wenn es unbedingt nötig ist. Wie ich Ihrem älteren Kollegen schon erklärt habe – ich habe sehr viel zu tun.«

Er sah mich auf eine Weise an, die mir die Röte ins Gesicht trieb. »Sie wissen, dass das alles nur zu Ihrem eigenen Besten geschieht, Mrs. Hintlesham.«

Also ließ ich mein Leben Revue passieren.

Wir fingen mit meinem Terminplaner an. Stadler schlug jede einzelne Seite auf und bombardierte mich mit Fragen über Namen, Orte, Verabredungen.

Das war ein Friseurtermin, und da war ich mit Harry beim Zahnarzt. Das war ein Mittagessen mit Laura, Laura Offen. Ich buchstabierte Namen, beschrieb Geschäfte, erläuterte Termine mit Handwerkern, Französischlehrern und Tennistrainern, Verabredungen zum Frühstück oder zum Mittagessen, knappe Memos. Wir gingen immer weiter zurück, bis wir auf Dinge stießen, an die ich mich nicht mal mehr erinnern konnte, nachdem er sie mir vorgelesen hatte: all die Verhandlungen wegen des Hauses, all die Immobilienmakler und Bauinspektoren, die Baumchirurgen und Planer. Das Schuljahr. Mein gesellschaftliches Leben. All die Details meines Tagesablaufs. Immer wieder fragte mich Stadler, wo denn Clive gewesen sei, als dieses oder jenes geschah.

Als wir schließlich beim Neujahrstag angelangt waren, klappte er den Planer zu und griff nach dem Adressbuch.

Resigniert führte ich ihn durch den alten, vernachlässigten und völlig verstaubten Speicher meines gesellschaftlichen Lebens. So viele waren weggezogen oder gestorben. Paare hatten sich getrennt. Zu manchen Freunden hatte ich einfach den Kontakt abreißen lassen – oder sie zu mir.

Stadlers Fragen ließen mich zum ersten Mal kritisch über das gesellschaftliche Leben nachdenken, das ich in den letzten Jahren geführt hatte. Konnte dieser Kerl tatsächlich einer von diesen Namen sein?

Als hätte das noch nicht gereicht, zog Stadler anschließend auch noch Clives Rechnungen für das Haus heraus. Ich versuchte ihm zu erklären, dass mich diese Dinge nichts angingen, dass das ganz allein Clives Ressort war, weil ich kein Händchen für Zahlen hatte, aber er schien meine Worte gar nicht zu hören: 2300 für die Wohnzimmervorhänge, die wir noch gar nicht aufgehängt hatten, 900 für den Baumchirurgen, 3000 für den Kronleuchter, 66 für den Türklopfer, in den ich mich am Portobello Market verliebt hatte. Die Zahlen begannen zu verschwimmen, ich konnte nichts mit ihnen anfangen. Ich konnte mich überhaupt nicht daran erinnern, dass die Fliesen für den Steinboden so teuer gewesen waren.

Schrecklich, wie sich das zusammenläpperte.

Als wir fertig waren, sah er mich an, und ich dachte: Dieser Mann weiß mehr über mich als jeder andere Mensch auf der Welt, mit Ausnahme von Clive.

»Ist das wirklich relevant?«, fragte ich.

»Das ist genau das Problem, Mrs. Hintlesham. Wir wissen es nicht. Im Moment brauchen wir einfach nur Informationen. So viele wir kriegen können.«

Dann ermahnte er mich, in nächster Zeit besonders vorsichtig zu sein. Das Gleiche hatte Links auch schon zu mir gesagt.

»Wir wollen doch nicht, dass Ihnen noch mal so was passiert, oder?«

Er klang dabei recht optimistisch.

Draußen hatten die Blätter der Bäume einen dunklen, schmutzigen Grünton angenommen. Sie hingen schlaff von den Ästen, schienen sich in der drückenden, schwülen Luft kaum zu bewegen. Der Garten sah aus wie eine Wüste: Die Erde war von der Hitze hart und von Rissen durchzogen wie altes Porzellan. Manche der Pflanzen, die Francis erst vor kurzem eingesetzt hatte, ließen bereits die Blätter hängen. Die neue kleine Magnolie würde auf keinen Fall überleben. Alles war völlig ausgetrocknet.

Ich versuchte noch einmal, Clive anzurufen. Seine Sekretärin sagte, er sei gerade nicht da. Tut mir Leid, fügte sie hinzu, klang dabei aber überhaupt nicht so, als würde es ihr Leid tun.

Ganz anders Dr. Schilling. Sie kam nicht mit einer Liste zu überprüfender Namen in den Raum marschiert, um mich sofort mit Fragen zu bombardieren. Ihr Interesse galt zunächst meiner Verletzung, sie wickelte den Verband ab und nahm meine Finger in ihre schmale kühle Hand. Sie sagte, es täte ihr sehr Leid, als müsste sie sich persönlich dafür entschuldigen. Zu meinem Entsetzen war mir plötzlich nach Heulen zu Mute, aber ich würde mir bestimmt nicht die Blöße geben, in ihrer Gegenwart in Tränen auszubrechen. Diesen Gefallen würde ich ihr nicht tun.

»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, Jenny.«

»Worüber?«

»Könnten wir über Sie und Clive sprechen?«

»Ich dachte, das hätten wir schon getan.«

»Ich brauche noch ein paar Einzelheiten. Schaffen Sie das?«

»Ja, ich glaube schon, aber …« Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her. »… irgendwie habe ich dabei so ein komisches Gefühl. Ich möchte lediglich sicher sein, dass es Ihnen bei Ihren Fragen wirklich nur darum geht, diesen Kerl zu schnappen. Sie sind wahrscheinlich der Meinung, dass ich total verrückt bin und ein schreckliches Leben führe, aber ich bin glücklich damit. Ist das klar? Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Und falls ich sie doch brauche, dann will ich sie nicht.«

Dr. Schilling lächelte verlegen. »Ich bin überhaupt nicht dieser Meinung.«

»Dann ist es ja gut«, sagte ich. »Ich wollte bloß, dass wir uns verstehen.«

»Ja«, antwortete Dr. Schilling. Sie warf einen Blick auf das Notizbuch, das aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag.

»Sie wollten etwas über Clive und mich wissen.«

»Macht es Ihnen etwas aus, dass er so selten zu Hause ist?«

»Nein.« Sie wartete, aber ich fügte meiner Antwort nichts hinzu. Mittlerweile kannte ich ihre Tricks.

»Glauben Sie, dass er Ihnen treu ist?«

»Das haben Sie mich schon mal gefragt.«

»Aber Sie haben mir keine Antwort gegeben.«

Ich seufzte beleidigt. »Da Detective Stadler inzwischen sogar weiß, wann meine nächste Periode fällig ist, macht es wohl keinen Unterschied mehr, wenn ich mit Ihnen auch noch über mein Sexualleben spreche. Wenn Sie es unbedingt wissen wollen – kurz nachdem Harry auf die Welt kam, hatte er eine … eine Bettgeschichte.«

»Eine Bettgeschichte?« Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ja.«

»Wie lang ging das?«

»Ganz genau weiß ich es nicht. Vielleicht ein Jahr.

Achtzehn Monate.«

»Dann war das aber nicht nur eine Bettgeschichte, oder?

Eher schon was Ernsteres.«

»Er hatte nie vor, mich zu verlassen. Die andere hatte er zusätzlich. Männer verhalten sich immer so klischeehaft, finden Sie nicht? Ich war damals ständig müde und hatte ein bisschen zugenommen.« Ich berührte die Haut unter meinen Augen. »Ich wurde eben langsam älter.«

»Jenny«, sagte sie sanft, »Sie waren doch erst Ende zwanzig, als Harry geboren wurde.«

»Und wenn schon.«

»Was haben Sie dabei empfunden?«

»Darüber möchte ich nicht sprechen. Tut mir Leid.«

»Schon gut. Hat es noch andere gegeben?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht.«

»Sie wissen es nicht?«

»Ich will es nicht wissen. Wenn er irgendeine dumme Affäre hat, ist es mir lieber, er behält es für sich.«

»Sie glauben, dass er Affären hat?«

»Wie ich gerade gesagt habe: Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

Gegen meinen Willen musste ich daran denken, wie Clive Gloria angesehen hatte. Ich schob den Gedanken schnell wieder beiseite.

»Aber Sie selbst haben keine?«

»Wie ich Ihnen letztes Mal schon gesagt habe: Nein.«

»Nie?«

»Nein.«

»Und Sie waren auch nie nahe dran?«

»Lieber Himmel, nun hören Sie endlich auf!«

»Führen Sie und Ihr Mann ein befriedigendes Sexualleben?«

Ich schüttelte abwehrend den Kopf. »Tut mir Leid«, sagte ich.

»Ich kann nicht.«

»Schon gut.« Wieder klang ihre Stimme unerwartet sanft.

»Glauben Sie, dass Ihr Mann Sie liebt?«

Ich blinzelte. »Mich liebt?«

»Ja.«

»Ein großes Wort.« Sie reagierte nicht. Ich holte tief Luft.

»Nein.«

»Glauben Sie, dass er Sie mag, Sie gern hat?«

Ich stand auf. »Das reicht«, sagte ich. »Für Sie ist das leicht. Sie machen sich ein paar kurze Notizen über dieses Gespräch, und das war’s dann, aber ich muss damit leben, und das möchte ich nicht. Warum wollen Sie all diese Dinge von mir wissen? Ich habe die Rasierklingen schließlich nicht von Clive geschickt bekommen!« Neben der Tür blieb ich stehen. »Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen, dass das, was Sie da tun, ziemlich grausam ist? So, wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe zu tun …«

Dr. Schilling ging, und ich blieb allein im Wohnzimmer zurück. Ich fühlte mich, als hätte mich jemand auf den Kopf gestellt und mein ganzes Inneres auf den Boden geleert.

9. KAPITEL

raußen konnte ich den Wind in den Bäumen hören.

Am

D liebsten hätte ich die Fenster geöffnet und die Nachtluft in alle Räume gelassen, aber das ging nicht. Ich durfte nicht. Alles musste aus Sicherheitsgründen geschlossen und verriegelt bleiben. Die Luft im Haus war abgestanden, verbraucht. Ich war in diesem Haus eingesperrt, die Welt war ausgeschlossen, und ich spürte, wie alles rund um mich herum langsam wieder in Chaos und Hässlichkeit versank: Tapeten hingen von den Wänden, Stuckarbeiten brachen ab, Bodendielen waren herausgerissen, sodass man die dunklen, schmutzigen Löcher darunter sehen konnte. Der Staub und die Flusen und Fitzelchen vieler Jahre kamen langsam wieder an die Oberfläche. All die unvollendete Arbeit, all meine Träume von perfekten Räumen: kühles Weiß, Zitronengelb, Schiefergrau, Erbsengrün, Pointilismus in der Diele, ein Feuer im Kamin, tanzende Schatten auf dem weichen, cremefarbenen Teppich, das große Piano mit einem Strauß Gladiolen darauf, die runden Tischchen für Drinks in geschliffenen Gläsern, meine Drucke, von oben angestrahlt, und durch die Fenster weite Ausblicke auf grüne Rasenflächen und blühende Sträucher.

Mein Körper war schweißnass. Ich wendete mein Kissen, um eine kühlere Stelle für meinen Kopf zu finden.

Draußen rauschte der Wind in den Blättern. Um mich herum war es nicht völlig dunkel, die Straßenlampen warfen ein schmutzig oranges Licht in den Raum. Ich konnte schemenhaft meine Umgebung erkennen: die Frisierkommode, den Sessel, den großen Schrank, die etwas helleren Rechtecke der beiden Fenster. Und ich konnte sehen, dass Clive noch immer nicht da war. Ich setzte mich im Bett auf und spähte zu den Leuchtziffern des Weckers hinüber. Ich beobachtete, wie eine Sieben zu einer Acht anwuchs und dann zu einer Neun schrumpfte.

Halb drei, und er war noch immer nicht zu Hause. Lena würde erst morgen früh zurückkommen, sie übernachtete bei ihrem Freund, sodass es im Haus nur mich und Chris gab und all diese leeren, verfallenden Räume, und draußen einen Polizeiwagen. Mein Finger pochte, mein Hals schmerzte, meine Augen brannten. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Als ich aufstand, fiel mein Blick auf mein schemenhaftes Spiegelbild. In dem weiten Baumwollnachthemd sah ich aus wie ein Geist. Barfuß ging ich in Chris’ Zimmer hinüber. Seine Schlafhaltung erinnerte an einen Balletttänzer: den einen Fuß unters andere Knie geschoben, die Arme hochgeworfen. Seine Bettdecke lag neben ihm auf dem Boden. Das Haar klebte nass an seiner Stirn, der Mund war leicht geöffnet. Vielleicht sollte ich ihn zu Mummy und Daddy bringen, hinunter nach Hassocks. Vielleicht sollte ich selbst auch abhauen, diesen ganzen Schrecken hier hinter mir lassen, mich ins Auto setzen und das Weite suchen. Warum eigentlich nicht?

Was um alles in der Welt sollte mich davon abhalten, und warum hatte ich nicht schon viel eher an diese Möglichkeit gedacht?

Ich ging hinaus auf den Treppenabsatz und spähte hinunter. In der Diele brannte Licht, aber in den Zimmern war es dunkel. Ich schluckte, und plötzlich bekam ich kaum mehr Luft. So was Blödes. Das war wirklich dumm von mir, dumm, dumm, dumm. Draußen hielten zwei Polizisten Wache, und sämtliche Türen und Fenster waren zum Teil doppelt oder dreifach verriegelt, die unteren Fenster sogar mit hässlichen Eisengittern gesichert.

Außerdem besaßen wir eine Alarmanlage und einen Bewegungsmelder, der den ganzen Garten erhellte, wenn sich ihm jemand näherte.

Ich trat in den Raum, der einmal unser Gästezimmer sein würde, und schaltete das Licht an. Es war erst eine halbe Wand tapeziert. Die Tapetenrollen stapelten sich in der Ecke, gleich neben der Trittleiter und dem Tapeziertisch.

Das Messingbett musste erst noch zusammengebaut werden, die Einzelteile lagen auf dem Boden. Der Raum roch muffig. Ich spürte Wut in mir aufsteigen. Wenn ich jetzt den Mund aufmachte, würde sie als langer, nicht enden wollender Schrei, der in die Stille der Nacht hinausdringen und alle in der Stadt aufwecken würde, aus mir herausbrechen. Ich presste fest die Lippen zusammen.

Ich musste endlich wieder Ordnung in mein Leben bringen. Auf Hilfe brauchte ich dabei nicht zu hoffen, so viel war klar. Clive war nie da. Leo, Francis, Jeremy und all die anderen waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Mary schlich um mich herum, als hätte ich eine ansteckende Krankheit, mittlerweile konnte ich schon froh sein, wenn sie sich herabließ, die Mülleimer zu leeren.

Morgen würde ich ihr sagen, dass ich sie nicht mehr brauchte. Die Polizisten waren alle dumm und inkompetent.

Wären sie meine Handwerker gewesen, hätte ich sie längst gefeuert. In Zukunft würde ich mich einfach auf mich selbst verlassen müssen. Ich war jetzt auf mich allein gestellt. Ich spürte, wie unter meinem rechten Auge ein Nerv zu zucken begann. Als ich einen Finger auf die Stelle legte, fühlte ich ihn unter der Haut hüpfen wie ein kleines Insekt.

Ich griff nach der Dose mit dem Tapetenleim und las die Gebrauchsanweisung. Klang recht einfach. Warum machten die Leute immer so viel Aufhebens darum? Ich würde mit diesem Raum beginnen und dann nacheinander sämtliche Bereiche meines Lebens in Angriff nehmen und alles, was in Auflösung begriffen war, wieder zusammenfügen – so, wie es gewesen war.

Etwa eine halbe Stunde später kam Clive nach Hause. Als er die Tür aufschloss, erstarrte ich einen Augenblick, bis ich hörte, wie er die Schuhe auszog und in die Küche ging, wo er den Wasserhahn aufdrehte. Ich machte mit dem, was ich gerade tat, einfach weiter. Für Unterbrechungen hatte ich keine Zeit, ich musste unbedingt bis zum Morgen fertig sein.

»Jenny!«, rief er, als er mich im Schlafzimmer nicht fand.

»Jens, wo bist du?«

Ohne ihm eine Antwort zu geben, klatschte ich weiter den Leim auf die Tapete. »Jens!«, rief er, diesmal aus dem Bad – dem, dessen Wände eines Tages italienische Fliesen zieren würden. Der Saum meines Nachthemdes war schon voller Leim, ebenso der Verband meiner Hand, aber das machte nichts. Meine Verletzung schmerzte schlimmer denn je. Das Schwierigste an der Sache war, die Tapete gerade und ohne Blasen an die Wand zu bekommen.

Manchmal benutzte ich zu viel Leim, sodass die betreffende Bahn dunkle, feuchte Flecken aufwies, aber das würde bestimmt trocknen.

»Was um alles in der Welt machst du da?« Clive stand in der Tür und starrte mich an. Er trug ein weißes Hemd, rote Boxershorts und die Socken, die er letztes Jahr vom blöden Weihnachtsmann bekommen hatte.

»Wonach sieht es denn aus?«

»Jens, es ist mitten in der Nacht!«

»Und?« Er sagte nichts mehr, sah sich lediglich im Raum um, als wüsste er nicht recht, wo er war. »Was spielt es für eine Rolle, ob jetzt mitten in der Nacht ist?

Was spielt es für eine Rolle, wie spät es ist? Wenn es kein anderer macht, muss ich es eben selbst tun. Und es wird bestimmt kein anderer für mich machen, da kannst du Gift drauf nehmen. Eins habe ich inzwischen wirklich gelernt: Wenn man will, dass etwas getan wird, dann muss man es selbst tun. Pass um Himmels willen auf, wo du hintrittst!

Wenn du mir jetzt alles ruinierst, muss ich noch mal von vorn anfangen, und dazu fehlt mir die Zeit. Wie war dein Tag? Gut, nehme ich an, sonst wärst du bestimmt nicht bis drei Uhr morgens im Büro geblieben, stimmt’s, Liebling?«

»Jens.«

Ich stieg mit der klebrigen, verdrehten Tapetenbahn die Leiter hinauf. »Ich bin selbst schuld«, sagte ich. »Ich habe zugelassen, dass alles auseinander bricht. Erst ist es mir gar nicht aufgefallen, aber inzwischen sehe ich völlig klar.

Ein paar blöde Briefe, und schon lassen wir das Haus verkommen und verdrecken. Völlig bescheuert.«

»Jens, hör endlich auf damit! Es ist sowieso alles schief.

Außerdem hast du Leim im Haar. Komm von der Leiter runter!«

»Die Stimme des Herrn!«, fauchte ich.

»Du bist ja völlig durcheinander!«

»Ach, was du nicht sagst! Wundert dich das vielleicht?

Nimm deine Hand von meinem Knöchel!«

Er wich einen Schritt zurück. Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz hinter meinen Augen.

»Jenny, ich rufe jetzt Dr. Thomas an.«

Ich sah zu ihm hinunter. »Alle reden in diesem Ton mit mir, als wäre mit mir was nicht in Ordnung. Aber mir fehlt nichts. Sie brauchen bloß diesen Kerl zu fangen, und alles ist wieder, wie es war. Und du –«, ich deutete mit meinem leimtriefenden Pinsel auf ihn, sodass ein Tropfen auf seiner gerunzelten, zu mir emporgewandten Stirn landete,

»– du bist mein Ehemann, falls du das vergessen haben solltest. In guten und in schlechten Tagen – und jetzt haben wir gerade die schlechten.«

Ich versuchte die Tapete an der Wand glatt zu streichen, indem ich mich auf der Leiter hinunterbeugte, bis mir der Rücken wehtat, aber die vielen Falten blieben. Das feuchte Nachthemd klatschte gegen meine Schienbeine, und Schmutzkörnchen stachen mir in die Fußsohlen.

»Es ist sinnlos«, sagte ich, während ich mich im Raum umblickte. »Es ist völlig sinnlos.«

»Komm ins Bett.«

»Ich bin überhaupt nicht müde.« Ich war tatsächlich nicht müde, ganz im Gegenteil, ich sprühte vor Energie und Wut.

»Aber wenn du etwas für mich tun möchtest, kannst du Dr. Schilling anrufen und ihr sagen, dass langweilig wohl das beste Wort dafür ist. Sie weiß dann schon Bescheid.

Übrigens siehst du mit deinen Socken richtig lächerlich aus«, fügte ich boshaft hinzu.

»Wie du meinst.« In seiner Stimme schwangen Gleichgültigkeit und Verachtung mit. »Mach doch, was du willst! Ich gehe jetzt jedenfalls ins Bett. Die letzte Bahn hast du übrigens falsch herum hingeklebt.«

Um sechs brach Clive zur Arbeit auf. Er rief einen Abschiedsgruß zu mir herein, aber ich machte mir nicht die Mühe zu antworten. Chris stand an diesem Tag allein auf. Ich forderte ihn auf, sein Frühstück selbst zu machen.

Ein paar Minuten lang stand er in der Tür und sah mir zu.

Dabei machte er ein Gesicht, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Allein schon sein Anblick – er trug seinen blauen, mit Teddybären bedruckten Schlafanzug, hatte den Daumen im Mund und starrte mich aus traurigen Augen an – ließ mich vor Wut und Ungeduld fast platzen.

Er versuchte, mich zu umarmen, aber ich schüttelte ihn ab und erklärte, dass ich ganz klebrig sei. Als Lena eintraf, rannte er zu ihr, als wäre ich seine böse Stiefmutter. Meine neueste Busenfreundin, eine kleine Beamtin mit dem Gesicht eines Fuchses und dem Nachnamen Page, marschierte im Haus herum und überprüfte, ob alle Fenster verriegelt waren. Als sie ins Gästezimmer trat und mich in zurückhaltendem Tonfall begrüßte, tat sie so, als fände sie es ganz normal, dass ich im Nachthemd tapezierte. Ich ignorierte sie einfach. Dumme Kuh. Mein Vertrauen in die Polizei war mir völlig abhanden gekommen.

Als ich mit dem Tapezieren fertig war, nahm ich ein Bad. Ich wusch mir dreimal die Haare, enthaarte meine Beine, rasierte meine Achseln, zupfte die Härchen zwischen meinen Augenbrauen aus. Ich lackierte mir die Zehennägel und legte noch mehr Make-up auf als sonst, eine dicke Schicht Grundierung, weil meine Haut seltsam fleckig aussah, und anschließend ein bisschen Rouge und Eyeliner. Mein Gesicht wirkte wie eine Maske. Allerdings hatte ich Schwierigkeiten, meine Hand ruhig zu halten.

Immer wieder malte ich mit dem Lippenstift über den Mund hinaus, was mich aussehen ließ wie eine betrunkene alte Frau. Schließlich schaffte ich es doch. Der dezente Pflaumenton fiel kaum auf. Nun kam mir das Gesicht im Spiegel wieder bekannt vor: Jennifer Hintlesham, wie aus dem Ei gepellt.

Ich entschied mich für einen schwarzen Rock, schwarze Pantoletten und eine hübsche weiße Bluse. Ich wollte geschäftsmäßig aussehen, schick und cool, aber der Rock war mir an der Taille viel zu weit. Demnach hatte ich ganz schön abgenommen. Na ja, etwas Gutes musste die Sache ja haben.

Ich schickte Lena mit Chris ins Londoner Aquarium und sagte ihr, sie solle dort mit ihm zu Mittag essen. Chris wollte lieber bei mir bleiben, aber ich warf ihm einen Handkuss zu und ermahnte ihn, nicht albern zu sein, er werde bestimmt einen schönen Tag haben. Dann zahlte ich Mary den Lohn für eine Woche aus und erklärte ihr, dass ich sie nicht mehr brauchte. Ich fuhr mit dem Finger über die Mikrowelle und zeigte ihr den Staub. Sie stemmte die Hände in die Hüften und gab mir zur Antwort, sie wäre sowieso nicht mehr gekommen, es sei der absolute Horror, in diesem Haus zu arbeiten.

Anschließend machte ich mir eine Liste, nein, zwei Listen. Auf die erste schrieb ich, was im Haus alles zu tun war. Dafür brauchte ich nicht lang. Die zweite war für Links und Stadler und wesentlich komplizierter, sodass ich vier Tassen Kaffee trank, bis ich endlich fertig war. Sie hatten gesagt, alles, was mir dazu einfalle, könne wichtig sein.

Dr. Schilling und Stadler trafen gemeinsam ein, beide mit ernster, geheimnisvoller Miene. Ich forderte sie auf, mir in Clives Arbeitszimmer zu folgen.

»Sie brauchen gar nicht so besorgt dreinzublicken«, sagte ich.

»Ich habe nämlich beschlossen, Ihnen alles zu sagen.

Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Nein? Stört es Sie, wenn ich mir noch eine einschenke? Oops!«

Ich hatte die Hälfte auf den Schreibtisch gegossen und wischte die Pfütze mit irgendeinem Dokument auf, das neben dem Computer lag und mit den Worten »Ohne Verbindlichkeit« überschrieben war.

»Jenny …«

»Augenblick. Ich habe für Sie eine Liste zusammengestellt. Lauter Dinge, von denen ich dachte, dass Sie sie wissen sollten. Und ich habe versucht, diese Haratounian anzurufen.«

Dr. Schilling warf Stadler einen durchdringenden Blick zu, als wollte sie ihn auf diese Weise auffordern, mir etwas zu sagen. Stadler runzelte die Stirn.

»Ehrlich gesagt bin ich in meinem Leben vielen seltsamen Männern begegnet«, begann ich, an Stadler gewandt. »Im Grunde finde ich euch Männer alle seltsam.

Da fällt keiner besonders aus dem Rahmen, weil alle aus dem Rahmen fallen.« Ich lachte und nahm einen weiteren Schluck von meinem Kaffee.

»Mein erster Freund, eigentlich mein einziger Freund, wenn man Clive nicht mitzählt, hieß Jon Jones. Er war Fotograf, ist es immer noch, vielleicht kennen Sie ihn, er fotografiert halb nackte Models. Als ich ihn kennen lernte, war ich auch Model, natürlich nur Hand-Model, sodass ich mein Oberteil nicht ausziehen musste, zumindest nicht in der Öffentlichkeit, aber privat hat er eine Menge Fotos von mir gemacht. Als wir uns trennten – eigentlich war es gar keine richtige Trennung, es war eher so, dass er langsam das Interesse an mir verlor, sodass ich irgendwann nicht mehr sicher war, ob wir überhaupt noch zusammen waren

–, na ja, wie auch immer, jedenfalls lernte ich bald darauf Clive kennen, und ich bat Jon, mir die Fotos zu geben, aber er lachte bloß und sagte, das könne ich vergessen, er habe das Copyright. Wahrscheinlich liegen sie noch immer irgendwo bei ihm rum.«

»Jenny«, unterbrach mich Dr. Schilling, »möchten Sie vielleicht etwas essen?«

»Keinen Hunger«, antwortete ich und nahm einen weiteren großen Schluck von meinem Kaffee. »Bevor das hier losging, hatte ich sowieso ein bisschen zugelegt, vor allem an den Hüften. Na ja, jedenfalls glaube ich nicht, dass ich eine besonders sinnliche Frau bin.« Ich beugte mich vor und murmelte leise:

»Für mich fängt die Erde nicht zu beben an!«

Dr. Schilling nahm mir die Kaffeetasse aus der Hand.

Ich bemerkte, dass sie auf Clives Schreibtisch einen Ring hinterlassen hatte. Egal. Ich würde ihn später mit dieser Wunderpolitur behandeln. Die Fenster würde ich auch alle putzen, damit es wenigstens wieder so aussah, als würde mich nichts von der Welt draußen trennen.

»Eigentlich wollte ich ja was ganz anderes sagen. Das kommt davon, weil Sie mich immer über mein Sexleben ausfragen, Dr. Schilling! Ich habe alle Männer aufgelistet, von denen ich finde, dass sie sich mir gegenüber seltsam benehmen.« Ich fuchtelte mit der Liste vor den beiden herum. »Ich muss zugeben, dass sie ziemlich lang geworden ist, aber um es Ihnen ein bisschen leichter zu machen, habe ich die besonders seltsamen Typen mit Sternchen versehen.« Blinzelnd starrte ich auf das Blatt hinunter. Meine Schrift kam mir an diesem Morgen ziemlich krakelig vor, aber vielleicht lag es auch nur daran, dass ich vor Müdigkeit schon nicht mehr gerade schauen konnte. Obwohl ich mich überhaupt nicht müde fühlte.

Stadler nahm mir die Liste aus der Hand.

»Kann ich eine Zigarette haben?«, fragte ich ihn. »Ich weiß, dass Sie rauchen, auch wenn Sie es in meiner Gegenwart nie tun. Ich habe Sie durchs Fenster beobachtet. Wissen Sie, dass ich Sie oft beobachte, Detective Inspector Stadler? Ich beobachte Sie, und Sie beobachten mich.«

Er zog ein Päckchen aus der Tasche, nahm zwei Zigaretten heraus, zündete beide an und reichte mir eine.

Es war eine seltsam intime Geste, die mich kichernd zurückweichen ließ.

»Clives Freunde sind alle eigenartig«, sagte ich. Dann musste ich erst mal eine Weile husten. Jedes Mal, wenn ich an der Zigarette zog, verschwamm der Boden, und meine Augen tränten.

»Sie wirken so respektabel, aber ich wette, sie haben alle heimliche Affären oder hätten zumindest gern welche.

Männer sind wie Tiere in einem Zoo. Man muss sie in Käfige sperren, damit sie nicht überall herumlaufen. Wir Frauen sind die Zoowärter. Das ist doch der Sinn der Ehe, oder nicht? Wir versuchen, die Männer zu zähmen.

Vielleicht ist es auch eher wie im Zirkus, nicht wie im Zoo. Ist ja auch egal.

Ich habe versucht, alle aufzuschreiben, die jemals dieses Haus betreten haben, sogar die, die nicht in meinem Adressbuch oder Terminplaner stehen. Als Erstes mal die vielen Männer, die im Garten und im Haus gearbeitet haben. Sie wissen ja, wie die sich benehmen. Wobei die anderen, ehrlich gesagt, auch nicht besser sind. Die Männer sind doch alle gleich. Ohne Ausnahme. Wenn ich beispielsweise an die Väter in Chris’ Kindergarten denke oder an die Typen, die mir in Joshs Computerklub untergekommen sind … Da sind auch ein paar ziemlich schräge Vögel dabei. Und …« Ich hatte noch etwas anderes sagen wollen.

Dr. Schilling legte mir eine Hand auf die Schulter.

»Kommen Sie, Jenny, ich mache Ihnen ein Frühstück.«

»Ist immer noch Frühstückszeit? Lieber Himmel! Na ja, wenigstens habe ich dann noch jede Menge Zeit, die Zimmer der Jungs sauber zu machen. Aber wir sind die Liste noch gar nicht richtig durchgegangen!«

»Los, ab in die Küche mit Ihnen!«

»Ich habe Mary entlassen, müssen Sie wissen.«

»Wirklich?«

»Jetzt bin nur noch ich übrig. Na ja, ich und Chris und Clive. Aber die zählen nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie werden mir kaum beistehen, oder? Männer helfen einem grundsätzlich nicht. Das ist zumindest die Erfahrung, die ich gemacht habe.«

»Toast?«

»Was da ist. Egal. Mein Gott, in dieser Küche sieht es vielleicht aus! Überall herrscht Chaos, wo man auch hinsieht. Wie um alles in der Welt soll ich das bloß schaffen, jetzt, wo ich niemanden mehr habe, der mir hilft?«

10. KAPITEL

n das, was danach kam, erinnere ich mich nur noch verschwomm

A

en. Ich verkündete, dass ich einkaufen gehen wolle, und fing wohl auch an, nach meiner Jacke zu suchen, konnte sie aber nicht finden. Alle um mich herum versuchten mich davon abzuhalten. Ihre Stimmen schienen aus allen Richtungen zu kommen und zugleich von innen an mir zu kratzen, als würden im Inneren meines Schädels Wespen herumkrabbeln und darauf warten, mich zu stechen. Ich forderte sie schreiend auf zu verschwinden und mich in Ruhe zu lassen. Die Stimmen verstummten, aber dann bemerkte ich, wie jemand mich am Arm nahm.

Plötzlich war ich in meinem Schlafzimmer und Dr. Schilling so nahe an meinem Gesicht, dass ich ihren Atem spüren konnte. Sie sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich fühlte ein kurzes Pieksen am Arm, und dann versank alles ganz langsam in Dunkelheit und Stille.

Es war, als läge ich auf dem Grund einer tiefen, dunklen Grube. Hin und wieder tauchte ich auf und sah Gesichter, die Dinge zu mir sagten, die ich nicht verstand, aber dann sank ich zurück in die wohltuende Dunkelheit. Als ich aufwachte, war es damit wieder vorbei. Alles erschien mir grau, kalt und schrecklich. Eine Polizistin saß neben meinem Bett. Als sie feststellte, dass ich wach war, stand sie auf und verließ den Raum. Ich hätte so gern weitergeschlafen, nur um nichts mitzubekommen, aber es ging nicht. Ich dachte daran, wie ich mich aufgeführt hatte, schob den Gedanken jedoch gleich wieder weg. Ich wusste selbst nicht, was mit mir los war, aber es hatte auch keinen Sinn darüber nachzudenken.

Nach einer Weile traten Dr. Schilling und Stadler in den Raum. Sie wirkten ein bisschen nervös, als hätte man sie ins Büro der Schuldirektorin zitiert. Ich fand das irgendwie witzig, bis mir einfiel, dass sie wahrscheinlich bloß befürchteten, ich könnte mich weiterhin so verrückt benehmen. Anscheinend ging es mir wirklich schon besser, denn plötzlich ärgerte es mich, dass diese Leute einfach in mein Schlafzimmer kamen. Ich blickte an mir hinunter und stellte fest, dass ich ein kurzes grünes Nachthemd trug. Wer hatte mir meine anderen Sachen ausgezogen und mir das übergestreift? Und wer hatte dabei zugesehen? Noch so etwas, worüber ich nicht nachdenken wollte.

Stadler blieb neben der Tür stehen, aber Dr. Schilling trat an mein Bett und hielt mir eine von den großen französischen Keramiktassen hin, die eigentlich für die Kinder bestimmt waren. Natürlich konnte sie das nicht wissen. Die Hintlesham-Küche war ein kompliziertes Gefüge, und nur ich kannte mich darin aus. Weiß der Himmel, was sie dort noch alles anstellten.

»Ich habe Ihnen Kaffee gemacht«, sagte sie. »Schwarz, so wie Sie ihn mögen.« Ich setzte mich auf, um meine Hände um die warme Tasse zu legen. Der Verband war dabei ein bisschen störend, schützte mich aber vor der Hitze. »Soll ich Ihnen Ihren Morgenmantel bringen?«

»Ja, bitte. Den aus Seide.«

Ich stellte den Kaffee auf dem Nachttisch ab und kämpfte mich umständlich in den Morgenmantel. Ich musste daran denken, wie ich mich mit dreizehn am Strand in meinen Badeanzug gequält hatte, den Körper straff mit einem Badetuch umwickelt. Ich benahm mich noch immer so albern wie damals. Kein Mensch interessierte sich für meine nackten Beine. Dr. Schilling zog sich einen Stuhl heran, und Stadler trat ans Fußende des Betts. Ich war fest entschlossen, kein Wort zu sagen.

Es gab nichts, wofür ich mich entschuldigen musste. Ich wollte nur, dass sie wieder gingen, aber da ich langes Schweigen noch nie ertragen konnte, redete ich schließlich doch.

»Das ist ja wie zur Besuchszeit im Krankenhaus.« In meiner Stimme lag mehr als nur eine Spur Sarkasmus.

Keiner von beiden erwiderte etwas, sie starrten mich bloß voller Verständnis und Mitgefühl an. Widerlich. Wenn ich etwas nicht ertragen kann, dann ist es die Vorstellung, bemitleidet zu werden.

»Wo ist Clive?«

»Er hat in der Nacht nach Ihnen gesehen. Wir haben heute schon Dienstag. Er musste zur Arbeit, aber ich werde ihn gleich anrufen und ihm sagen, dass Sie auf dem Weg der Besserung sind.«

»Bestimmt gehe ich Ihnen schon total auf die Nerven«, sagte ich zu Dr. Schilling.

»Das ist komisch«, antwortete sie, »weil ich nämlich gerade dasselbe gedacht habe. Ich meine, andersherum natürlich. Bestimmt gehe ich Ihnen schon total auf die Nerven. Wir haben vorhin über Sie gesprochen.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Nicht auf eine negative Weise. Einer der Punkte, über die wir diskutiert … oder vielmehr gesprochen haben …«

Sie sah dabei zu Stadler hinüber, aber der fingerte an seinem Krawattenknoten herum und schien ihr gar nicht zuzuhören. »Ich bin der Meinung … wir sind beide der Meinung, dass wir Ihnen gegenüber nicht offen genug waren, und ich möchte etwas tun, um das wieder gutzumachen. Jenny …« Sie hielt einen Moment inne.

»Zum einen, Jenny, möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, falls ich wirklich zu penetrant war. Sie wissen wahrscheinlich, dass ich tagsüber als Psychiaterin Patienten behandle. Hier aber besteht meine Aufgabe darin, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um der Polizei zu helfen, diesen gefährlichen Menschen zu fassen.«

Ihre Stimme klang jetzt sehr sanft, als spräche sie zu einem Kind, das mit Fieber im Bett lag. »Sie sind zur Zielscheibe eines Mannes geworden, der von Ihnen besessen ist. Eine Möglichkeit, diesen Menschen hinter Schloss und Riegel zu bringen, besteht darin herauszufinden, wieso er ausgerechnet auf Sie aufmerksam geworden ist, und das bringt manchmal mit sich, dass ich ebenfalls ziemlich aufdringlich werden muss. Eigentlich wollte ich Ihnen nur sagen, dass Sie schon einen sehr guten Arzt haben und ich ihn nicht ersetzen möchte. Ebenso wenig möchte ich Ihnen vorschreiben, wie Sie Ihr Leben führen sollen.«

Ich sah sie mit fragendem Blick und gerunzelter Stirn an.

Plötzlich stellte ich mir die beiden vor, wie sie über mich diskutierten und den Entschluss fassten, zu mir hineinzugehen und mich besonders vorsichtig und

›einfühlsam‹ zu behandeln. Diese komische Jenny Hintlesham, mir der man so behutsam umgehen muss.

»Ich vermute, Sie haben mittlerweile festgestellt, dass ich total plemplem bin«, sagte ich. Das war als niederschmetternde Abfuhr gedacht, aber es kam ganz anders an.

Dr.

Schilling lächelte nicht. »Sie meinen, wegen gestern?« Ich gab keine Antwort. Ich hatte nicht vor, über irgendetwas, das gestern passiert war, mit ihr zu reden.

»Sie stehen unter sehr großem Druck. Wir alle hier. Wir versuchen, Ihnen zu helfen, aber der größte Druck lastet auf Ihnen. Für Sie ist es am schlimmsten. Sie sollen wissen, dass uns das durchaus bewusst ist.«

Ich hob meine verbundene Hand und betrachtete sie.

Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber sie schien mehr wehzutun, wenn ich sie ansah. »Spüren Sie meine Schmerzen auch?«, fragte ich in ziemlich bitterem Ton.

»Ich will nicht, dass Sie Mitleid mit mir haben«, fügte ich hinzu. »Ich möchte, dass Sie dem allen ein Ende machen.«

Ich rechnete mit einer wütenden oder genervten Reaktion, aber Dr.

Schilling blieb völlig ruhig. »Ich

weiß«, sagte sie nur. »Darüber wird Detective Inspector Stadler jetzt mit Ihnen sprechen.«

Sie schob ihren Stuhl ein Stück zur Seite, saß aber noch immer ganz in meiner Nähe. Stadler trat vor. Seine Miene erinnerte mich an einen freundlichen Schutzmann, der in eine Grundschule gekommen ist, um den kleinen Knirpsen ein paar Hinweise für sicheres Verhalten im Straßenverkehr zu geben. Das passte gar nicht zu seinem Libertingesicht. Er zog sich einen Stuhl heran. »In Ordnung, Jenny?«, fragte er.

Obwohl ich leicht schockiert war, weil er mich einfach beim Vornamen nannte, nickte ich. Aus der kurzen Entfernung sah ich zum ersten Mal, dass er eins von diesen neckischen Grübchen am Kinn hatte, die einen irgendwie dazu reizen, mit dem Finger hineinzustupsen.

»Sie fragen sich natürlich zu Recht, wieso wir diesen Mann nicht einfach schnappen. Das ist schließlich unser Job, stimmt’s? Ich möchte Ihnen hier keinen Vortrag halten, aber Fakt ist, dass die Mehrzahl der Verbrechen verdammt leicht aufzuklären ist, weil die meisten Leute sich dabei nicht viel Mühe geben. Sie werden handgreiflich oder stehlen etwas, jemand sieht ihnen dabei zu, und das war’s. Wir brauchen ihnen nur noch die Handschellen anzulegen. Ganz anders verhält es sich mit dem Verbrechertyp, mit dem wir es hier zu tun haben. Er ist kein Genie, aber die Sache ist sein Hobby, und er steckt eine Menge Mühe und Energie hinein. Genauso gut hätte er einen Anorak anziehen und von einer Brücke aus Züge beobachten können, aber stattdessen hat er sich Sie ausgesucht.«

»Wollen Sie damit sagen, dass er nicht zu fassen ist?«

»Zumindest ist es schwierig, ihn auf normale Art zu fassen.«

»Er ist bis an meine Haustür gekommen. Unter Ihrer Nase.«

»Nun gehen Sie doch nicht gar so streng mit uns ins Gericht!«, erwiderte Stadler mit einem verlegenen Lächeln.

»Aber das ist ein ganz entscheidender Punkt«, mischte sich Dr. Schilling ein. »Wenn er wollte, könnte er eine Frau einfach tätlich angreifen. Aber ihm geht es darum, seine Macht und Überlegenheit zu demonstrieren.«

»Seine Psyche interessiert mich nicht«, erklärte ich gereizt.

»Mich schon«, entgegnete Dr. Schilling. »Seine Psyche ist einer unserer größten Trümpfe. Damit können wir ihn schnappen, indem wir sie gegen ihn einsetzen. Und eine der viel versprechendsten Möglichkeiten, das zu tun, besteht darin, Sie so zu sehen, wie er es tut. Auch wenn das für Sie nicht sehr schön ist, fürchte ich.«

»Wir sind auf Sie angewiesen«, meinte Stadler. »Uns ist klar, dass wir Sie damit noch mehr unter Druck setzen, aber wir hätten gern, dass Sie über Ihr Leben nachdenken und uns informieren, falls Sie dabei auf irgendwelche Auffälligkeiten stoßen.«

»Wir haben es hier nicht mit einem gewöhnlichen Spanner zu tun«, fügte Dr. Schilling hinzu. »Es könnte jemand sein, dem Sie auf der Hauptstraße öfter als normal in die Arme laufen. Genauso gut könnte es ein Freund sein, der Ihnen plötzlich ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenkt als sonst, oder ein bisschen weniger. Er möchte seine Macht ausspielen, und deshalb ist es entscheidend, dass Sie bewusst auf Ihre Umgebung achten, auf alles, was neu oder ungewöhnlich ist. Wie wir gesehen haben, geht es ihm beispielsweise darum, zu demonstrieren, dass er trotz Polizei Dinge zu Ihnen ins Haus schaffen kann.«

Ich schnaubte verächtlich.

»Das Problem sind nicht so sehr die Sachen, die neu eintreffen«, sagte ich, »sondern eher die alten, die verschwinden.«

Stadler riss den Kopf hoch. »Was meinen Sie damit?«

»Nichts, was Ihnen irgendwie weiterhelfen wird. Sind Sie jemals umgezogen? Es waren zwei Möbelwagen nötig, um unser ganzes Zeug hierher zu verfrachten, und ich bin davon überzeugt, dass irgendwo auf der M25 noch immer ein kleiner Lieferwagen mit all den Sachen herumkurvt, die es nicht bis zu uns geschafft haben. Schuhe, Teile von Küchenmaschinen, meine Lieblingsbluse und so weiter.«

»Sind Sie sicher, dass das alles während des Umzugs abhanden gekommen ist?«

»Nun, seien Sie nicht albern«, sagte ich. »Der Mann kann unmöglich all dieses Zeug gestohlen haben, es sei denn, er wäre mit einem Lieferwagen und vier Helfern vorgefahren. Und das hätten sogar Sie mitbekommen.«

»Trotzdem …«, meinte Stadler nachdenklich. Er beugte sich zu Dr. Schilling hinüber und flüsterte ihr etwas zu.

Dann blickte er hoch. »Jenny, könnten Sie uns einen Gefallen tun?«

Das Ganze sah aus wie ein Kofferraum-Flohmarkt, organisiert von einem blinden Geisteskranken. Nachdem Stadler uns telefonisch angekündigt hatte, waren die beiden mit mir zum Polizeirevier gefahren, wo ich, wie Stadler mir erklärte, einen Blick auf ein paar Gegenstände werfen sollte. Im Wagen legte mir Dr. Schilling die Hand auf den Arm – eine Geste, die mich schaudern ließ – und meinte, ich solle mir die Sachen einfach nur ansehen und sagen, was mir dazu einfalle. Spontan fiel mir dazu eigentlich nur eins ein: dass das Ganze verdammt nach Hokuspokus klang.

Als ich die Sachen dann sah, musste ich fast lachen. Ein Kamm, ein ziemlich billig aussehender rosa Slip, ein Plüschteddy, ein Stein, eine Trillerpfeife, ein eindeutig pornografisches Kartenspiel.

»Also ehrlich«, sagte ich. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie sich davon …«

Plötzlich hatte ich das Gefühl, als würde mir jemand in den Magen boxen und gleichzeitig einen Elektroschock verpassen. Da war es. Das komische kleine Medaillon.

Alle möglichen Erinnerungen stürmten auf mich ein. Ein Tag und eine Nacht in Brighton, an unserem ersten Hochzeitstag. In späteren Jahren hatten wir noblere Orte besucht, aber diese erste Reise war die schönste gewesen.

Wir waren durch all die schnuckeligen kleinen Einkaufsstraßen in der Nähe der Strandpromenade gewandert und hatten über die schrecklichen Souvenirläden gelästert. Einen Moment später fiel uns dieses Medaillon im Schaufenster eines Juweliers auf, und Clive war hineingegangen und hatte es mir einfach gekauft. Ein weiterer Gedanke schoss mir durch den Kopf.

In jener Nacht im Hotel hatte Clive mich ausgezogen. Nur meine neue Kette hatte er nicht abgenommen. Das silberne Medaillon hatte zwischen meinen Brüsten gehangen. Er hatte zuerst es und dann meine Brüste geküsst. Verrückt, welche Dinge sich ins Gedächtnis eingraben. Ich spürte, wie ich rot wurde. Fast wären mir die Tränen gekommen.

Ich griff nach dem Medaillon, spürte das vertraute Gewicht auf meiner Handfläche.

»Hübsch, nicht wahr?«, meinte Stadler.

»Es gehört mir«, antwortete ich.

Sein Gesicht nahm einen völlig verdutzten Ausdruck an.

Es war fast schon komisch. »Was?«, fragte er atemlos.

»Ein Geschenk von Clive«, antwortete ich wie in Trance. »Ich konnte es in letzter Zeit nicht finden.«

»Aber …«, begann Stadler. »Sind Sie sicher?«

»Natürlich«, antwortete ich. »Es lässt sich von hinten öffnen. Der Verschluss ist ziemlich knifflig. Es enthält eine Locke von meinem Haar. Hier, sehen Sie.«

Er starrte auf das Schmuckstück hinunter. »Ja«, erwiderte er, immer noch atemlos. Dr. Schilling rang ebenfalls nach Luft. Sie sahen sich beide mit offenem Mund an. »Einen Moment!«, sagte er. »Einen Moment!«

Und er spurtete los, rannte regelrecht aus dem Raum.

11. KAPITEL

as Ganze war mir völlig schleierhaft. Ich verstand es einfach nicht. Nichts davon. Ich hatte das Gef D

ühl,

eins von den verflixten Computerspielen vor mir zu haben, die Josh per Post zugestellt bekommt und jedes Mal sein mürrisches Gesicht aufleuchten lassen, aber ich kannte nicht mal die Sprache, das Alphabet, in dem dieses Spiel geschrieben war. Für mich waren es bloß Pünktchen, Striche und Zeichen, ein unverständlicher Code. Ich warf einen Blick zu Dr. Schilling hinüber, als könnte sie mich aufklären, aber sie reagierte lediglich wieder mit diesem unverbindlichen, beruhigenden Lächeln, das mir immer eine Gänsehaut verursachte. Mein Blick wanderte zu dem Medaillon, das ich zwischen all den anderen seltsamen Gegenständen an seinen Platz zurückgelegt hatte. Erneut streckte ich die Hand aus, berührte es diesmal nur leicht mit einem Finger, als befürchtete ich, es könnte vor meinen Augen explodieren.

»Ich will nach Hause«, sagte ich. Das war nicht wirklich ernst gemeint, aber ich musste etwas sagen, um das Schweigen zu brechen, das sich in dem tristen kleinen Raum ausgebreitet hatte.

»Es dauert nicht mehr lang«, antwortete Dr. Schilling.

»Ich brauche etwas zu essen. Ich habe Hunger.«

Sie nickte geistesabwesend, mit leicht gerunzelter Stirn.

»Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal was gegessen habe. Es muss Ewigkeiten her sein.« Ich versuchte, mir die letzten Tage ins Gedächtnis zu rufen, aber es war, als würde ich in eine tintenschwarze Dunkelheit hineinspähen. »Kann mir jemand verraten, wie mein Medaillon hierher gekommen ist?«

»Ich bin sicher, das wird sich …«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, weil in dem Moment Stadler und Links den Raum betraten und mir gegenüber Platz nahmen. Beide Männer wirkten sehr aufgeregt.

Links hob das Medaillon an seinem silbernen Kettchen hoch. »Sind Sie ganz sicher, dass das Ihnen gehört, Mrs. Hintlesham?«

»Natürlich bin ich sicher. Clive hat sogar ein Foto davon, für unsere Versicherung.«

»Wann haben Sie die Kette verloren?«

Darüber musste ich erst mal nachdenken.

»Schwer zu sagen. Ich weiß noch, dass ich sie zu einem Konzert getragen habe. Das war am neunten Juni, dem Tag vor dem Geburtstag meiner Mutter. Ein paar Wochen später wollte ich sie zu einem Fest in Clives Kanzlei tragen, konnte sie aber nicht finden.«

»Erinnern Sie sich an das genaue Datum?«

»Lieber Himmel! Wozu habe ich Ihnen eigentlich meinen Terminplaner gegeben? Es muss irgendwann im Juni gewesen sein, Ende Juni.«

Stadler blickte auf das Notizbuch, das aufgeschlagen auf seinem Schoß lag, und nickte zufrieden.

»Wieso ist das so wichtig? Wo haben Sie die Kette gefunden?«

Stadler sah mir in die Augen, und ich zwang mich, seinem Blick nicht auszuweichen. Einen Moment lang dachte ich, er würde mir etwas sagen, aber der Moment ging vorüber, und er schaute wieder mit diesem Ausdruck heimlicher Befriedigung auf sein Notizbuch hinunter.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann sagte ich laut: »Kann mir mal bitte jemand verraten, was hier vor sich geht?!« Aber der Zorn in meiner Stimme war nicht echt, meine ganze Wut plötzlich verraucht. »Ich verstehe das alles nicht!«

»Mrs. Hintlesham«, begann Links, »lassen Sie mich klarstellen …«

»Nicht jetzt«, fiel ihm Dr. Schilling ins Wort. Sie stand auf.

»Ich fahre Jenny jetzt nach Hause. Sie war die letzten Tage sehr großer Belastung ausgesetzt und muss sich erst mal ein wenig erholen. Wir verschieben das auf später.«

»Was? Was wollten Sie klarstellen?«

»Kommen Sie, Jenny.«

»Ich mag keine Geheimnisse. Ich mag es nicht, wenn andere Leute Dinge über mich wissen, von denen ich keine Ahnung habe. Ist Ihnen der Kerl ins Netz gegangen?«

Dr. Schilling schob eine Hand unter meinen Ellbogen.

Ich stand auf. Warum um alles in der Welt trug ich eigentlich diese Baumwollhose? Ich hatte sie schon seit Jahren nicht mehr angehabt. Sie stand mir überhaupt nicht.

Alle benahmen sich mir gegenüber so seltsam. Das Haus war von einer neuen Art von Energie erfüllt, als wären die Vorhänge zurückgezogen und alle Fenster aufgerissen worden. Natürlich erklärte mir niemand etwas, aber Dr. Schilling leistete mir zusammen mit einer gelangweilt wirkenden Polizeibeamtin Gesellschaft. Links und Stadler tauchten kurz darauf ebenfalls auf. Sie gaben sich alle irgendwelche Zeichen oder flüsterten miteinander, wobei sie jedes Mal in meine Richtung sahen, aber sofort den Kopf abwandten, wenn sich unsere Blicke trafen.

Dr.

Schilling wirkte nicht so enthusiastisch wie die anderen.

»Meinen Sie, Sie könnten Ihren Mann anrufen, Mrs. Hintlesham?«, fragte Stadler, der mir in die Küche gefolgt war.

»Warum rufen Sie ihn nicht selbst an?«

»Wir möchten mit ihm sprechen. Wir dachten, dass es für ihn vielleicht angenehmer ist, das von Ihnen zu hören.«

»Wann?«

»Jetzt gleich.«

»Wozu soll denn das um Himmels willen gut sein?«

»Wir müssen ein paar Punkte klären.«

»Wir sind am frühen Abend zu einer Cocktailparty eingeladen. Mit wichtigen Leuten.«

»Je schneller wir mit ihm reden können, desto schneller ist er uns wieder los.« Ich griff nach dem Hörer. »Er wird verärgert sein«, sagte ich.

Er war sogar sehr verärgert.

Das Telefon klingelte. Es waren Josh und Harry. Obwohl sie aus Amerika anriefen, wo gerade früher Morgen war, klangen sie, als wären sie gleich um die Ecke und würden jeden Moment ins Haus gestürmt kommen. Harry erzählte mir, dass er im See einen Zander gefangen und das Surfen gelernt habe. Josh fragte mich, wie es zu Hause laufe.

Seine Stimme sprang aus der Jungen- in die Männerlage, wie sie es immer tat, wenn er sich aufregte.

»Gut, mein Schatz.«

»Ist die Polizei noch immer da?«

»Ich glaube, sie macht Fortschritte.« Ich spürte, wie sich bei diesen Worten ein Hauch von Hoffnung in mir regte.

»Müssen wir wirklich noch zwei Wochen hier bleiben?«

»Sei nicht albern, Liebling, ihr habt bestimmt eine Menge Spaß. Reicht euer Geld?«

»Ja, aber …«

»Und habe ich euch die richtigen Klamotten eingepackt?

Oh, und denk daran, Harry zu sagen, dass in deinem Rucksack Reservebatterien für seinen Walkman sind.«

»Ja, mach ich.«

Ich legte auf. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass unser Gespräch nicht besonders gut gelaufen war. Christo tapste vorbei, eine Decke im Schlepptau. Beim Anblick seines fleckigen, trotzigen Gesichts empfand ich plötzlich Schuldgefühle.

»Hallo, Christo«, sagte ich zu ihm. »Bekommt Mummy einen Kuss?«

Er wandte sich zu mir um.

»Ich bin nicht Christo«, erwiderte er. »Ich bin Alexander. Und du bist nicht meine Mummy.« Lena rief mit ihrem schwedischen Singsangakzent nach ihm. »Ich komme schon, Mummy!«, erwiderte er und warf einen triumphierenden Blick in meine Richtung, bevor er losrannte.

Ich vertauschte meine Hose mit einem gelben Sommerkleid. Während ich meine Ohrringe anlegte, warf ich einen Blick in den Spiegel. Ich trug kein Make-up.

Mein Gesicht wirkte schmal und bleich, meine Frisur war eine Katastrophe, meine Augen hatten einen seltsamen Glanz, obwohl die Haut unter ihnen wie dünnes, knittriges Papier aussah, und über meine Wange zog sich ein langer roter Kratzer. Wie war er dort hingekommen? Ich erkannte mich selbst kaum wieder.

Dr. Schilling bestand darauf, dass ich das Kräuteromelett aß, das sie mir zubereitet hatte. Die Kräuter hatte ich eigentlich für das Abendessen aufgespart, das ich für nach der Cocktailparty geplant hatte. Egal. Ich aß das ganze Omelett in ein paar Bissen, wobei ich kaum kaute und nach jeder hastig hinuntergeschlungenen Gabel voll ein Stück dunkles, leicht altbackenes Brot nachschob. Mir war gar nicht bewusst gewesen, was für einen Heißhunger ich hatte. Dr. Schilling sah mir beim Essen zu, das Kinn nachdenklich auf eine Hand gestützt. Sie starrte mich an, als würde ich ihr Rätsel aufgeben. Bald, dachte ich, wäre ich wieder in der Lage, alles in den Griff zu bekommen, das Haus einer Grundreinigung zu unterziehen, die Handwerker, den Gärtner und die Putzfrau zurückzuholen, tief durchzuatmen und die Energie zu finden, wieder Jenny Hintlesham zu sein. Jetzt aber hatte es etwas angenehm Betäubendes, sich ausnahmsweise mal umsorgen zu lassen. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, in meinem eigenen Haus zu sein. Es war für mich nur noch ein Ort, an dem ich saß und darauf wartete, dass etwas passierte. Alle warteten darauf, dass etwas passierte.

Ich riss die Augen auf. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, eine Tür knallte zu, in der Diele waren schwere Schritte zu hören.

»Jenny. Jens, wo bist du?«

Grace Schilling und ich erhoben uns gleichzeitig, aber Stadler und Links waren schneller als wir. Wir trafen alle an der Treppe zusammen.

»Was geht hier vor?«, fragte Clive mit finsterer Miene.

Er sagte das so laut und abgehackt, dass mir der Kopf davon wehtat. In dem Moment fiel sein Blick auf eine Schachtel, die, gefüllt mit seinen wertvollen Dokumenten, auf dem Dielenboden stand. Ich sah, wie an seiner Stirn eine Ader zu pulsieren begann.

»Mr. Hintlesham«, begann Stadler, »danke, dass Sie gekommen sind.« Er war viel größer als Clive, der neben ihm vierschrötig und rotgesichtig wirkte.

»Ja?«

Er sprach mit Stadler, als wäre er ein besonders unwichtiger Geschäftspartner.

»Wir würden es vorziehen, wenn Sie uns begleiten könnten«, sagte Links.

Clive starrte ihn an. »Wie meinen Sie das?«, fragte er.

»Warum nicht hier?«

»Wir möchten, dass Sie eine Aussage machen. Es wäre wirklich besser.«

Clive warf einen Blick auf seine Uhr. »Herrgott noch mal! Ich hoffe für Sie, dass es wirklich wichtig ist!«

»Bitte«, sagte Stadler und hielt ihm die Tür auf. Clive wandte sich zu mir um, bevor er ging.

»Ruf Jan an und erzähl ihr irgendwas!«, fuhr er mich an.

»Irgendwas, das uns nicht beide wie Idioten aussehen lässt. Und Becky. Geh zu dieser Party und tu recht gut gelaunt, als wäre alles völlig normal, hörst du?« Ich legte ihm eine Hand auf den Arm, aber er schüttelte sie mit einer heftigen Bewegung ab. »Ich hab von diesem ganzen Theater die Schnauze voll«, schimpfte er.

»Gestrichen voll.«

Grace Schilling, die sich ebenfalls verabschiedete, knöpfte energisch ihre Jacke zu, ehe sie aus der Tür eilte.

Ich rief in der Kanzlei an und erklärte Jan, dass Clive Probleme mit dem Rücken habe. »Schon wieder?«, antwortete sie sarkastisch, was ich überhaupt nicht verstand. Zu Becky Richards sagte ich zwei Stunden später das Gleiche, woraufhin sie verständnisvoll lachte.

»Männer sind richtige Hypochonder, nicht wahr?«

Ich blickte mich im Raum um. All die Frauen in ihren schwarzen Kleidern und die Männer in ihren dunklen Anzügen. Die meisten von ihnen kannte ich zumindest vom Sehen, aber ich brachte plötzlich nicht mehr die Kraft auf, mich mit ihnen zu unterhalten. Mir fiel kein einziges Wort ein, das ich hätte sagen können. Ich fühlte mich völlig leer.

12. KAPITEL

live ließ auf sich warten, und ich fühlte mich zunehm

C

end fehl am Platz. Nervös spielte ich mit dem Glas in meiner Hand, sah mir Bilder an und wanderte zielstrebig von einem Raum in den anderen, als hätte ich irgendwo eine dringende Verabredung mit jemandem. Fast ein wenig entsetzt stellte ich fest, dass es für mich inzwischen eine völlig ungewohnte Erfahrung war, allein auszugehen. Irgendwie erschien es mir auch nicht richtig.

Ich habe schon manchmal im Scherz zu Clive gesagt, dass die Leute sowieso nur ihn sehen wollen, wenn wir gemeinsam eine Party besuchen, und ich im Grunde nur als Mrs. Clive dabei bin.

Deswegen war es für mich eher eine Erleichterung als eine Peinlichkeit, als Becky mir mitteilte, dass jemand an der Tür sei, der mit mir sprechen wolle.

»Ein Polizist«, erklärte sie verlegen und etwas verwirrt, aber mit viel Taktgefühl.

Wir wissen schließlich alle, was ein Polizist an der Tür für normale Menschen wie uns bedeutet: Jemand, den wir lieben, hat einen Unfall gehabt, ein Familienmitglied ist verschwunden oder gestorben. Aber da ich kein ganz so normaler Mensch mehr war, ging ich an die Tür, ohne mir Sorgen zu machen. Draußen warteten Stadler und ein uniformierter Beamter, den ich noch nie gesehen hatte.

Becky blieb einen Moment bei uns stehen, teils aus Höflichkeit, teils aus Neugier. Da der Beamte in ihrer Gegenwart offenbar nichts sagen wollte, drehte ich mich zu ihr um und sah sie fragend an. »Falls ich irgendwas tun kann, ich bin drinnen«, erklärte sie, ehe sie sich widerstrebend zurückzog.

Ich wandte mich wieder dem Beamten zu.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er. »Man hat mich geschickt, um Ihnen auszurichten, dass Ihr Mann nicht kommen kann. Mr. Hintlesham wird noch verhört.«

»Oh«, sagte ich. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Wir versuchen lediglich ein paar Details zu klären.«

Wir standen vor Beckys Haustür und sahen uns an.

»Eigentlich möchte ich gar nicht wieder hineingehen«, sagte ich.

»Wir können Sie nach Hause fahren, wenn Sie wollen«, entgegnete Stadler. Dann fügte er hinzu: »Jenny«, und ich lief knallrot an.

»Ich hole meine Jacke.«

Während der kurzen Fahrt sprach keiner der beiden mit mir. Ein oder zwei Mal wechselten Stadler und der Beamte ein paar leise Worte. Am Haus angekommen, begleitete mich Stadler die Treppe hinauf. Während ich den Schlüssel im Schloss drehte, hatte ich einen Moment lang das alberne Gefühl, als wären wir beide gemeinsam aus gewesen und würden uns nun voneinander verabschieden.

»Wird Clive heute Abend noch zurückkommen?«, fragte ich in bestimmtem Tonfall, als wollte ich mich selbst davon überzeugen, wie dumm dieser Gedanke war.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Stadler.

»Worüber sprechen Sie mit ihm?«

»Wir versuchen mit seiner Hilfe noch ein paar Fragen zu klären, die sich im Verlauf unserer Ermittlungen ergeben haben.«

Stadler sagte das ganz beiläufig und ließ dabei den Blick schweifen. »Ach ja, da wäre noch was. Im Rahmen dieses neuen Ermittlungsschwerpunkts würden wir Ihr Haus morgen früh gern noch etwas genauer durchsuchen. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?«

»Nein, ich glaube nicht. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass es dort etwas gibt, das Sie noch nicht gesehen haben. Welchen Teil des Hauses wollen Sie denn durchsuchen?«

Stadler tat wieder ganz lässig. »Verschiedene Teile. Ein paar von den oberen Zimmern. Unter Umständen auch das Arbeitszimmer Ihres Mannes.«

Clives Arbeitszimmer. Es war der erste Raum, den wir im neuen Haus eingerichtet hatten, was eigentlich eine Frechheit war, weil es niemand außer Clive bewohnte. Wo auch immer wir gelebt hatten, darauf hatte Clive bestanden: ein Zimmer, in dem er allein sein und seine persönlichen Sachen unterbringen konnte. Ich weiß noch, wie ich, als wir die Räume planten, mit einem Lachen protestierte, dass ich schließlich auch kein solches Allerheiligstes besäße, woraufhin er geantwortet hatte, das mache nichts, da ja das ganze Haus mein Allerheiligstes sei.

Der Raum war nicht wirklich abgeschlossen und verriegelt, aber das war auch gar nicht nötig. Den Jungs war es unter Androhung von Folter und Todesstrafe verboten, auch nur einen Fuß hineinzusetzen. Ich hingegen war nicht völlig ausgeschlossen. Manchmal ging ich zu ihm hinein, während er die Buchführung machte oder Briefe schrieb. Er reagierte darauf keineswegs wütend und schickte mich auch nicht wieder hinaus, sondern nahm mit freundlicher Miene den Kaffee entgegen oder hörte sich an, was ich zu sagen hatte, wartete dann aber, bis ich fertig war und mich wieder zum Gehen wandte. Er behauptete immer, nicht arbeiten zu können, wenn ich im Raum sei.

Deshalb hatte ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, als ich – nachdem ich eine Runde durchs Haus gedreht und mich für die Nacht fertig gemacht hatte – in Nachthemd und Morgenmantel das Arbeitszimmer betrat.

Schon in dem Moment, als ich das Licht anknipste, empfand ich starke Schuldgefühle, sodass ich, obwohl es schon fast Mitternacht war, rasch zum Fenster hinüberging und die Vorhänge zuzog. Erst dann fühlte ich mich in dem Raum wirklich sicher.

Das Zimmer war Clive: ordentlich, effektiv, nüchtern, fast kahl. An den Wänden hingen nur einige wenige Bilder. Ein kleines verschwommenes Aquarell von einem Segelboot, das er von seiner Mutter geerbt hatte. Ein alter Kupferstich von seiner Privatschule, den er als Junge bekommen hatte. Ein Foto, das ihn mit einer Gruppe von Kollegen bei einem Festessen zeigte, alle mit Zigarren, glänzenden roten Gesichtern und leeren Gläsern. Sie hatten einander die Arme um die Schultern gelegt, und Clive wirkte ein wenig gehetzt und verlegen. Er schätzte es nicht, angefasst zu werden, vor allem nicht von anderen Männern.

Das Arbeitszimmer meines Mannes. Was konnte hier für die Polizei von Interesse sein? Natürlich hatte ich nicht vor, seine Sachen zu durchwühlen. Bei ihm herumzuschnüffeln, während er bei der Polizei war, erschien mir äußerst unloyal. Ich wollte mich nur ein wenig umsehen. Vielleicht würde ich ein gutes Wort für ihn einlegen müssen, und dann war es wichtig, dass ich Bescheid wusste. Zumindest redete ich mir das ein.

In dem Raum standen zwei Aktenschränke, ein großer brauner und ein kleiner, stummeliger aus grauem Metall.

Ich öffnete sie beide und sah flüchtig die Ordner und Papiere durch, die aber alle unglaublich langweilig waren.

Dokumente über Hypotheken, Gebrauchsanweisungen, unzählige Rechnungen und Garantiescheine, Lieferscheine, Schreiben von Steuerberatern. Bei ihrem Anblick empfand ich so etwas wie Liebe für Clive. Das alles machte er, damit ich es nicht tun musste. Mir überließ er den interessanten, kreativen Teil, den langweiligen übernahm er. Alles davon war erledigt, alles geregelt. Es war nichts offen, keine Rechnung unbezahlt, kein Brief unbeantwortet. Was hätte ich bloß ohne ihn angefangen? Die einzelnen Papiere sah ich mir nicht näher an, ich wollte nur sichergehen, dass die Ordner tatsächlich nur Akten enthielten.

Ich schloss den zweiten Aktenschrank. Das war alles so idiotisch. In diesem Arbeitszimmer gab es nichts, was für die Polizei auch nur im Entferntesten von Interesse sein konnte, außer vielleicht die Hypothekendokumente.

Ansonsten verschwendeten sie lediglich ihre Zeit. Das hätte ich ihnen gleich sagen können, wenn sie mich gefragt hätten.

Ich rollte die Schreibtischabdeckung zurück. Das verursachte ziemlich viel Lärm, sodass ich mich nervös umblickte. Ich achtete darauf, nichts zu tun, was nicht innerhalb weniger Sekunden rückgängig zu machen war, falls es unten an der Haustür klingeln sollte. Wie nicht anders zu erwarten, fand ich nichts Interessantes. Es war eine von Clives Grundregeln, seinen Schreibtisch stets in aufgeräumtem Zustand zu verlassen. Auf der Arbeitsfläche befanden sich nur Kugelschreiber, Bleistifte, Radiergummis, ein ziemlich teurer elektrischer Bleistiftspitzer, Gummibänder und Büroklammern, alles in speziell dafür vorgesehenen Behältnissen. Die Fächer enthielten Umschläge, Notizzettel, Visitenkarten, Adressenaufkleber. Immerhin würden die von der Polizei beeindruckt sein, wenn sie schon sonst nichts fanden.

Blieben nur noch die Schubladen. Ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl und zog die flache Schublade über meinen Knien heraus. Lauter Ansichtskarten. Alle unbeschrieben. Dann die Schubladen zu beiden Seiten.

Scheckbücher, neue und leere. Urlaubsprospekte für den Winter. Eine Menge Papierkram von Matheson Jeffries, wo Clive arbeitete.

In der untersten Schublade rechts lagen mehrere große, prall gefüllte braune Umschläge. Ich inspizierte den obersten. Er enthielt lauter handgeschriebene Briefe.

Immer dieselbe Unterschrift. Ich sah mir einen davon etwas genauer an. Es handelte sich um einen langen, drei Seiten umfassenden Brief. Unterschrieben mit Gloria. Mir war klar, dass es kaum einen schlimmeren Vertrauensbruch gab, als unerlaubterweise die persönlichen Briefe eines anderen Menschen zu lesen.

Außerdem erfuhr man dabei nur selten etwas Gutes über sich. Ich wusste, dass ich sie nicht lesen durfte. Das einzig Richtige wäre gewesen, sie sofort zurückzulegen, endlich schlafen zu gehen und mir das Ganze aus dem Kopf zu schlagen. Gleichzeitig musste ich daran denken, dass diese Briefe am Morgen wahrscheinlich von der Polizei gelesen werden würden, wenn auch aus anderen Beweggründen.

War es da nicht besser, zumindest eine ungefähre Vorstellung von ihrem Inhalt zu haben?

Ich entschloss mich zu einem Kompromiss, indem ich die Briefe nur überflog und hin und wieder einen Satz oder ein Wort las. Eigentlich hätte es schwierig sein müssen, auf diese Weise einen Eindruck von ihrem Inhalt zu bekommen, aber irgendwie schienen mir bestimmte Worte und Formulierungen regelrecht ins Auge zu springen: Liebling … du fehlst mir so … musste an letzte Nacht denken … zähle die Stunden. Seltsamerweise empfand ich anfangs keine Wut auf Clive, nicht einmal auf Gloria, sondern nur Verachtung, weil ihre Briefe so abgedroschen klangen. Müssen sich Leute, die heimliche Affären haben, immer in den gleichen, alten, abgenutzten Phrasen ausdrücken? Hatte Clive das wirklich nötig? Dann musste ich an den Abend denken, an dem ich Gloria kennen gelernt hatte, daran, wie sie sich während des Essens zu Clive hinübergebeugt und ihm etwas zugeflüstert hatte.

Meine Wangen begannen zu brennen. Vorsichtig schob ich die Briefe zurück in den Umschlag. Den letzten hatte sie ihm erst vor kurzem geschrieben.

Ich hätte gar nicht erst damit anfangen sollen. Es kam bestimmt nichts Gutes dabei heraus. Bloß noch mehr Schmerz, noch mehr Erniedrigung.

Nur noch ein kleines Stück. Einen ganzen Absatz, nicht nur einen einzelnen Satz. Ich würde Gloria einen ganzen Absatz lang die Chance geben, sich darzustellen. Den letzten Absatz des jüngsten Briefes. Ich wollte wissen, wo ich stand.

»Aber jetzt muss ich aufhören, Liebling. Ich schreibe diesen Brief im Büro, und es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Der Gedanke, dich nicht zu sehen, ist mir unerträglich, aber im September haben wir ja Genf.« Genf.

Eine Geschäftsreise. Davon hatte er noch gar nichts erwähnt. »Ich gebe es nur ungern zu, aber manchmal hasse ich sie auch, fast so sehr wie du.«

Ich legte den Brief weg und schluckte heftig, aber der Kloß in meinem Hals blieb. Demnach empfand er also Hass auf mich. Nicht Liebe. Nicht einmal Sympathie.

Hass. Ich sah wieder auf den Brief hinunter. »Aber das dürfen wir nicht. Wir werden eine Lösung finden und es irgendwie schaffen, zusammen zu sein. Wir werden einen Weg finden. Das hast du kürzlich zu mir gesagt, und ich glaube dir. All meine Liebe, Gloria.«

Ich faltete den Brief zusammen und schob ihn vorsichtig zurück in den Umschlag, ganz unten, wo er hingehörte.

Mein Blick fiel auf die anderen prall gefüllten Umschläge in der Schublade, und allein schon der Gedanke an ihren Inhalt erfüllte mich mit einem Gefühl tiefer Trostlosigkeit.

Als ich den obersten anhob, sah ich, dass darunter ein Foto lag. Ein Foto von einer Frau, aber nicht von Gloria. Es war offenbar auf einer Party aufgenommen worden. Die Frau hob lachend ihr Glas, während sie in die Kamera blickte.

Sie war ganz anders als die Frauen, die ich kannte.

Irgendwie lustig. Klein, schlank und sehr jung.

Dunkelblondes Haar, Minirock, billige Bluse, aber alles recht lässig. Einen verrückten Augenblick lang fand ich, dass sie nett aussah, dass sie meine Freundin hätte sein können. Aber dann stieg eine solche Wut in mir hoch, dass es mir richtig übel wurde und ich ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte. Ich legte die Aufnahme zurück und schloss die Schublade. Als ich den Raum verließ, hätte ich beinahe vergessen, das Licht zu löschen.

13. KAPITEL

ch war von Dunkelheit umgeben. Mein ganzes Leben bestand nur noch aus Dunkelhei

I

t. Alles, was ich einmal

als selbstverständlich betrachtet hatte, drohte nun über mir zusammenzubrechen. Ich war davon ausgegangen, dass dort draußen jemand war, der mir etwas antun wollte, und dieser Gedanke war schon erschreckend genug gewesen, aber nun erkannte ich, dass ich nirgendwo sicher war.

Nicht dort draußen, nicht hier drinnen, nicht bei dem Menschen, mit dem ich seit fünfzehn Jahren verheiratet war, nicht einmal in meinem eigenen Haus, meinem eigenen Zimmer, meinem eigenen Bett. Nirgendwo.

Josh und Harry waren in Amerika, in einem Zelt auf einem Berg, weit weg von zu Hause. Christo tat so, als wäre ich gar nicht seine Mutter. Und Clive hasste mich.

Zumindest hatte er das zu Gloria gesagt. Während ich in dieser Nacht in meinem Bett lag, testete ich das Wort, testete es, wie man eine Batterie testet, indem man sie mit der Zungenspitze berührt. Hass. Hass. Hass. Das Wort saß wie ein Stachel in meinem Gehirn. Mein Mann hasste mich. Seit wann, fragte ich mich. Seit Gloria oder schon vorher? Immer schon?

Draußen strich der Wind leise durch die von der Hitze schlaffen Bäume. Ich stellte mir vor, dass dort draußen jemand stand und auf mein Fenster starrte.

Vielleicht wünschte sich mein Ehemann meinen Tod.

Mit einem Ruck setzte ich mich auf, schaltete die Nachttischlampe an. Nein, das war lächerlich. Verrückt, ein völlig verrückter Gedanke. Aber warum behielt ihn die Polizei so lange da?

Nach einer Nacht wirrer Träume ging ich im Morgengrauen in Christos Zimmer hinüber und setzte mich an sein Bett. Durch die Vorhänge fiel gedämpftes Licht. Ein weiterer glühend heißer Tag stand uns bevor.

Christo hatte seine Bettdecke abgeworfen und das Schlafanzugoberteil aufgeknöpft. Mit einer Hand umklammerte er den Plüschdelfin, den Lena ihm im Zoo gekauft hatte. Sein Mund war leicht geöffnet, und hin und wieder murmelte er ein paar unverständliche Worte.

Heute, nahm ich mir vor, würde ich alles in die Wege leiten, um ihn mit Lena zu meinen Eltern zu schicken. Das hätte ich schon längst tun sollen. Dieses Haus war kein Ort mehr für ein Kind.

Die Polizei erschien ziemlich früh. Drei Beamte fielen wie ein Sondereinsatzkommando in Clives Büro ein. Ich tat so, als wären sie gar nicht da.

Ich stellte mich in die Küche und bereitete Christo und Lena das Frühstück zu. Lena, die fast nie etwas aß, stocherte nur ein bisschen in ihrer gegrillten Tomate herum und versuchte den Rest dann zu einem Haufen zusammenzuschieben, damit es so aussah, als hätte sie einen Teil davon gegessen. Christo verschmierte erst den Dotter seines Spiegeleis über den ganzen Teller und erklärte dann, das sei alles ganz eklig, und er wolle stattdessen lieber Schokoflakes. »Wie lautet das Zauberwort?«, fragte ich automatisch. Bitte. Bitte zwing mich nicht, dieses eklige Zeug zu essen.

Die Polizisten trugen große Kartons aus dem Haus, dieselben, die erst vor ein paar Monaten von mürrischen, genervten Möbelpackern hineingetragen und planlos gestapelt worden waren. Christo fiel die Abwesenheit seines Vaters gar nicht auf, weil dieser in der Regel sowieso schon weg war, wenn der Junge aufstand. Weg, bevor er aufstand, und zurück, nachdem er längst schlief.

Hass. Mein Mann hasste mich.

In der Küche ging es drunter und drüber. Seit ich Mary entlassen hatte, sah es im ganzen Haus aus wie in einem Schweinestall. Morgen würde ich alles putzen. Morgen, nicht heute. Mein Blick wanderte an meinen nackten Beinen hinunter. Sie müssen schon wieder enthaart werden, dachte ich, und mein Nagellack blättert auch ab.

»Geht es Ihnen nicht gut, Mrs. Hintlesham?«, fragte Lena mit ihrer Singsangstimme. Wie hübsch sie in ihrem kurzen Sommerkleidchen aussah, so blond und schlank, die zarten Arme von der Sonne gebräunt. Vielleicht war Clive das auch schon aufgefallen. Ich starrte sie an, bis ihr Gesicht vor meinen Augen zu verschwimmen begann.

»Mrs. Hintlesham?«

»Doch, doch, mir geht es gut.« Ich legte die Hand an mein Gesicht. Meine Haut fühlte sich dünn und alt an.

»Ich habe schlecht geschlafen …«

»Ich möchte mir die Zeichentrickfilme ansehen.«

»Nicht jetzt, Christo.«

»Ich möchte einen Zeichentrickfilm sehen!«

»Nein.«

»Du bist ein Arschloch.«

»Christo!« Ich packte ihn am Oberarm und kniff heftig zu.

»Was hast du gerade gesagt?«

»Nichts.«

Ich ließ ihn los und drehte mich zu Lena um, die mich mit ernster Miene ansah.

»Das ist heute alles ein bisschen kompliziert«, sagte ich vage.

»Vielleicht könnten Sie mit Christo in den Park gehen, zur Hüpfburg. Ihr könntet ein Picknick machen.«

»Ich will aber nicht picknicken!«

»Bitte, Christo.«

»Ich will bei dir bleiben!«

»Heute nicht, Liebling.«

»Komm, Chrissy, lass uns die Sachen aussuchen, die du heute anziehen willst.« Mit diesen Worten stand Lena auf.

Kein Wunder, dass Christo sie liebte. Sie wurde nie böse, sprach immer nur mit dieser lustigen Singsangstimme mit ihm.

Ich ließ den Kopf auf die Hände sinken. Überall Staub und Dreck. Ein Berg Bügelwäsche. Niemand, der mir half.

Clive zur Befragung auf dem Polizeirevier. Welche Fragen sie ihm wohl stellten? Hassen Sie Ihre Frau, Mr. Hintlesham? Wie sehr hassen Sie sie? Genug, um ihr Rasierklingen zu schicken?

Die beiden brachen Hand in Hand auf. Christo trug rote Shorts und ein gestreiftes Hemd. Ich starrte auf das langsam eintrocknende Essen auf ihren Tellern. Ich starrte auf die Fenster, die dringend geputzt werden mussten. An der Lampe über mir entdeckte ich eine Spinnwebe. Ich fragte mich, wo wohl die dazugehörige Spinne war.

Als es an der Haustür klingelte, fuhr ich erschrocken zusammen. Es war Stadler, verknittert und schwitzend, mit Bartstoppeln im Gesicht. Er sah aus, als hätte er gar nicht geschlafen.

»Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Jenny?« Er nannte mich jetzt immer Jenny, als wären wir Freunde oder gar ein Liebespaar.

»Noch mehr Fragen?«

»Nur eine«, antwortete er mit einem müden Lächeln.

Wir gingen nach unten. Mein Angebot, ihm Kaffee und Frühstück zu machen, lehnte er ab.

Er blickte sich um. »Wo ist Lynne?«

»Sie sitzt draußen in ihrem Wagen«, sagte ich. »Sie mussten eigentlich an Ihr vorbeigekommen sein.«

»Ach ja, stimmt.« Er schien gar nicht mehr richtig wach zu sein.

»Sie wollten mir eine Frage stellen?«

»Ja, richtig«, sagte er. »Es geht lediglich um ein Detail.

Können Sie sich erinnern, wo Sie am Samstag, dem siebzehnten Juli waren?«

Ich unternahm einen zaghaften Versuch, gab aber schnell auf.

»Sie haben doch meinen Terminplaner.«

»Ja, aber da steht an diesem Tag nur: ›Fisch abholen‹.«

»Ach ja. Jetzt fällt’s mir wieder ein.«

»Was haben Sie an diesem Tag gemacht?«

»Ich war zu Hause und habe gekocht, Verschiedenes vorbereitet.«

»Mit Ihrem Mann?«

»Nein.« Stadler hob erstaunt den Blick. Dann breitete sich auf seinem Gesicht ein triumphierendes Lächeln aus, obwohl er versuchte, es zu unterdrücken. »Sie brauchen gar nicht so überrascht zu tun«, sagte ich. »Sie wissen doch ganz genau, dass er fast nie zu Hause ist.«

»Wissen Sie, wo er an dem Tag war?«

»Er hatte einen Termin. Hat er zumindest gesagt.

Irgendwas wichtiges Geschäftliches.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja. Ich hatte nämlich vor, schön für uns zu kochen.

Morgens hat er mir dann eröffnet, dass er weg müsse.«

Ich konnte mich noch genau an den Tag erinnern. Es war Lenas freier Tag gewesen. Harry und Josh hatten sich ständig gezankt, bis sie schließlich von Freunden abgeholt wurden, während Christo fast den ganzen Tag fern sah und Lego spielte; abends war er schlecht gelaunt und müde von der Hitze ins Bett gegangen. Ich hatte nach dem ruinierten Tag in der Küche gesessen und auf den Tisch mit dem schönen Essen hinuntergestarrt, den ich mit langstieligen Weingläsern und Blumen aus dem Garten so festlich gedeckt hatte. Clive war nicht gekommen.

»Dann war er also den ganzen Tag unterwegs?«

»Ja.«

»Wissen Sie noch, von wann bis wann er weg war?«

Als ich ihm darauf antwortete, fiel mir selbst auf, wie dünn und traurig meine Stimme klang. »Als er ging, hatte der Fischhändler noch nicht auf. Zurückgekommen ist er so gegen Mitternacht. Vielleicht auch ein bisschen später.

Jedenfalls war er noch nicht da, als ich ins Bett gegangen bin.«

»Wären Sie bereit, diese Aussage zu unterschreiben?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Wenn Sie es für nötig halten. Ich nehme an, Sie werden mir nicht sagen, wieso das eine Rolle spielt.«

Zu meiner großen Überraschung nahm Stadler meine Hand.

»Jenny«, sagte er mit sanfter Stimme, »ich kann Ihnen nur sagen, dass das alles bald vorüber sein wird, falls das ein Trost für Sie ist.«

Ich spürte, wie ich rot wurde. »Oh.« Mehr brachte ich nicht heraus. Ich kam mir vor wie ein Idiot.

»Ich bin bald zurück«, erklärte er.

Ich wollte nicht, dass er ging, aber das konnte ich ihm natürlich nicht sagen. Stattdessen entzog ich ihm meine Hand. »Gut.«

Ich legte mich auf mein sonnenbeschienenes Bett. Meine Arme und Beine fühlten sich so schwer an, dass ich sie kaum bewegen konnte, mein Gehirn war so träge, als befände ich mich unter Wasser.

Ich ließ mir ein kaltes Bad ein, schloss die Augen und versuchte, alle Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen.

Anschließend wanderte ich von Raum zu Raum. Was hatte mir an diesem Haus eigentlich jemals gefallen? Es war hässlich, abweisend, genügte nicht meinen Ansprüchen.

Ich würde hier ausziehen, noch mal neu anfangen.

Ich wünschte, Josh würde anrufen. Ich wollte ihm sagen, dass er nicht im Feriencamp bleiben musste, wenn es ihm so gar nicht gefiel. Es lohnte sich nicht, sich zu quälen, so viel war mir inzwischen klar geworden.

Ich ging in die Zimmer der Jungs und berührte die Sachen in ihren Schränken, die Pokale auf ihren Regalen.

Wir waren alle so weit voneinander entfernt. In der Diele fiel mein Blick auf mein Spiegelbild: eine dünne Frau mittleren Alters, die mit ihren fettigen Haaren und knochigen Knien wie verloren in einem für sie viel zu großem Haus herumwandert.

Draußen war der Himmel diesig von der Hitze und den vielen Abgasen.

Vielleicht konnten wir aufs Land ziehen, in ein kleines Häuschen mit Rosen vor der Tür. Mit einem Swimmingpool und einer Buche, auf die die Jungs hinaufklettern konnten.

Es klingelte an der Tür.

Ich bekam kein Wort heraus. Das konnte einfach nicht sein. Es war nicht möglich, nicht real. Ich schüttelte nur den Kopf, als könnte ich dadurch Klarheit in die ganze Verwirrung bringen. Links beugte sich zu mir vor, als hätte er es mit einer kurzsichtigen und schwerhörigen Wahnsinnigen zu tun.

»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe, Mrs. Hintlesham?«

»Was?«

»Ihr Mann, Clive Hintlesham«, begann er, als müsste er es mir ganz langsam erklären, Detail für Detail. »Vor einer Stunde. Er wurde des Mordes an Zoë Haratounian angeklagt. Wir gehen davon aus, dass er sie am Morgen des siebzehnten Juli 1999 umgebracht hat.«

»Ich verstehe nicht«, sagte ich. »Das ist doch verrückt.«

»Mrs. Hintlesham, Jenny …«

»Verrückt«, wiederholte ich. »Völlig verrückt.«

»Sein Anwalt ist informiert. Er wird morgen früh vor Gericht erscheinen, dem St. Steven’s Magistrates’ Court.

Sie werden eine Kaution beantragen. Der Antrag wird abgelehnt werden.«

»Wer ist diese Frau überhaupt? Was hat sie mit Clive zu tun? Mit mir und den Briefen?«

Links war anzusehen, wie unwohl er sich in seiner Haut fühlte. Nachdem er tief Luft geholt hatte, antwortete er langsam und bedächtig, mit leiser Stimme, obwohl niemand da war, der uns hätte belauschen können.

»Einzelheiten darf ich Ihnen nicht verraten«, sagte er,

»aber auf Grund der besonderen Umstände hielt ich es für angebracht, Sie vorzubereiten. Wie es scheint, hatte Ihr Mann eine Affäre mit ihr. Wir gehen davon aus, dass er ihr Ihr Medaillon geschenkt hat. Wir haben bei seinen Sachen ein Foto von ihr gefunden.«

Ich erinnerte mich an das Foto, das ich letzte Nacht gesehen hatte: die junge Frau mit dem fröhlichen, lachenden Gesicht, in der Hand ein Glas, um damit auf eine Zukunft zu trinken, die sie nicht haben würde. Ich schluckte. Eine Welle der Übelkeit stieg in mir hoch.

»Deswegen muss er sie noch lange nicht umgebracht haben.«

»Miss Haratounian hat auch solche Briefe bekommen wie Sie. Geschrieben von derselben Person. Wir gehen davon aus, dass Ihr Mann sie bedroht und dann umgebracht hat.«

Ich starrte ihn an. Ein Puzzle begann sich zusammenzufügen, aber was dabei herauskam, ergab keinen Sinn, es war bloß ein Durcheinander aus schrecklichen Bildern. Ein böser Traum.

»Wollen Sie damit sagen, dass Clive mir diese Briefe geschrieben hat?«

»Alles, was wir im Moment mit Sicherheit sagen können, ist, dass Ihr Mann des Mordes an Miss Haratounian angeklagt worden ist.«

»Sagen Sie mir Ihre persönliche Meinung.«

»Mrs. Hintlesham …«

»Sie müssen es mir sagen. Es ergibt keinerlei Sinn.«

Links schwieg einen Moment, sichtlich hin und her gerissen.

»Das alles ist für Sie sehr schmerzlich«, sagte er schließlich. »Ich wünschte, wir könnten Ihnen das ersparen. Möglicherweise wollte er sich dieser Frau entledigen, aus welchem Grund auch immer. Nachdem er das getan hatte, nutzte er offenbar die Tatsache, dass niemand von seiner Bekanntschaft mit ihr wusste. Aus diesem Grund … nun ja, wenn Sie von derselben Person bedroht würden, die diesen Mord begangen hatte, dann würde man ihn nicht verdächtigen.« Er schwieg einen Moment. »Zumindest stellt sich die Sache für mich so dar«, fügte er dann verlegen hinzu. »Tut mir Leid.«

»Kann es wirklich sein, dass er mich so sehr hasst?«

Links gab keine Antwort.

»Hat er es zugegeben?«

»Bis jetzt leugnet er sogar, Miss Haratounian überhaupt zu kennen«, antwortete Links trocken. »Was ziemlich dreist ist.«

»Ich möchte ihn sehen.«

»Das ist Ihr gutes Recht. Sind Sie sicher?«

»Ich möchte ihn sehen.«

»Du glaubst das doch nicht, oder, Jenny? Jens! Du kannst dieser lächerlichen Anschuldigung doch unmöglich Glauben schenken!« In seiner Stimme mischten sich Wut und Angst. Sein Gesicht war rot und ungewaschen, seine Sachen fleckig. Ich starrte ihn an. Meinen Mann.

Hängebacken, ein dicker Hals, leicht blutunterlaufene Augen.

»Jens!«, sagte er noch einmal.

»Warum sollte ich es nicht glauben?«

»Jens, ich bin’s, Clive, dein Mann! Ich weiß, dass in letzter Zeit alles ein bisschen hektisch war, aber ich bin trotzdem noch der alte Clive.«

»Hektisch«, wiederholte ich. »Hektisch.«

»Wir sind seit fünfzehn Jahren verheiratet, Jens. Du kennst mich. Sag ihnen, wie absurd das alles ist! Ich war an dem Tag mit dir zusammen. Das weißt du ganz genau, Jens!«

Eine Fliege ließ sich auf seiner Wange nieder. Er schlug sie mit einer heftigen Handbewegung weg.

»Erzähl mir von Gloria«, sagte ich. »Ist es wahr?«

Er wurde rot und wollte etwas sagen, hielt dann aber inne.

Ich betrachtete ihn, die Haare in den Nasenlöchern, den Schmutzrand am Hemdkragen, die trockene Haut an den Ohren, die Schuppen im Haar. Clive sah nur gut aus, wenn er sich sorgfältig pflegte. Im Gegensatz zu Stadler gehörte er nicht zu den Menschen, die nach einer durchwachten Nacht fast noch besser aussahen als sonst – die die ganze Nacht aufbleiben konnten und trotzdem noch sexy wirkten.

»Ich glaube nicht, dass es zwischen uns noch etwas zu besprechen gibt. Oder bist du da anderer Meinung?«

»Ja«, sagte er. »Allerdings.«

»Leb wohl.«

»Du wirst schon sehen!«, rief er. »Du wirst schon sehen, und dann wird es dir Leid tun! Du machst den größten Fehler deines dummen kleinen Lebens!« Seine Faust krachte auf den Tisch. Der mondgesichtige Beamte an der Tür erhob sich. »Das wirst du mir büßen, verlass dich drauf!«

In dem Polizeiwagen vor meinem Haus saß jetzt nur noch ein einzelner Beamter, und der hatte sich hinter einer Zeitung verschanzt und schien halb zu schlafen. Clives Büro sah aus, als hätte dort ein Einbrecher gewütet. Das Haus war eine aus halb fertigen Räumen bestehende Baustelle, der Garten ein Ödland. In den Beeten, die Francis für die blühenden, süß duftenden Sträucher vorbereitet hatte, wuchsen Brennnesseln. Das Gras war von der Hitze gelb.

Ich machte eine Flasche Champagner auf und trank ein Glas, von dem mir prompt übel wurde. Eigentlich hätte ich etwas essen sollen, aber das erschien mir völlig unmöglich. Es sei denn, Grace Schilling wäre gekommen und hätte mir noch mal so ein weiches, köstliches Kräuteromelett zubereitet. Ich wünschte mir, Josh würde anrufen und sagen, dass er nach Hause unterwegs war.

Ich saß allein in der Küche, gedemütigt, aber frei.

14. KAPITEL

in Tag hektischer Betriebsamkeit beruhigte mich.

Das war genau das, was ich

E

jetzt brauchte. Es hielt

mich davon ab, zu viel über alles nachzudenken, und dämpfte das Dröhnen in meinem Kopf, das ich einfach nicht loswurde, egal, welche Tabletten ich nahm. Am nächsten Morgen saß ich mit Lynne in der Küche. Es war sonnig, aber noch nicht so schrecklich heiß, und ich empfand fast so etwas wie Ruhe. Lynne trug wieder ihre Uniform. Seit alles vorüber war, hatte sich die Atmosphäre im Haus entspannt, und zwischen Lynne und mir herrschte Abschiedsstimmung. Wir hatten schon fast eine ganze Kanne Kaffee geleert und knabberten beide an unserem Toast herum, als Lynne mich fragte, ob sie eine Zigarette rauchen dürfe. Ich bat sie, mir auch eine zu geben, und holte uns als Aschenbecher eine Untertasse.

Der erste Zug fühlte sich irgendwie sündig an, als wäre ich wieder vierzehn, aber dann empfand ich es als sehr beruhigend. Vielleicht würde ich in meinem neuen Leben wieder zu rauchen beginnen.

»Früher habe ich geraucht, um abzunehmen«, erklärte ich.

»Zumindest war das eine angenehme Nebenwirkung. Als ich dann mit Josh schwanger war, hörte ich auf. Mein Hintern und meine Oberschenkel sind nie wieder so geworden wie damals.«

Lynne schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte Ihre Figur«, meinte sie.

Ich starrte sie skeptisch an. »Sie würde Ihnen nicht gefallen«, erwiderte ich. »Sie haben mich noch nicht nackt gesehen.«

Wir zogen beide an unseren Zigaretten. Nach all den Jahren kam ich mir wie eine Anfängerin vor. Ich würde noch viel üben müssen.

»Dann waren Sie gestern also fleißig?«, erkundigte sich Lynne. »Wann brechen Sie auf?«

»Ich fliege heute Abend nach Boston.«

»Wissen es die Jungs schon?«

Ihre Frage brachte mich fast zum Lachen. »Die Vorstellung, Josh am Telefon mitzuteilen, dass sein Vater

… ich hielt das für keine sehr gute Idee. Nein, ich bin sicher, Dr.

Schilling würde auch dazu raten, es ihm persönlich zu sagen.«

»Ja, das ist wahrscheinlich besser.«

»Den Großteil des Nachmittags habe ich am Telefon verbracht, um mit meinem Architekten und den verschiedenen Baufirmen zu sprechen, und mit Francis, meinem phantastischen Gärtner. Anfang nächster Woche kommen wir zurück, und dann kann die Arbeit am Haus beginnen.«

Lynne zündete sich eine weitere Zigarette an. Als sie meinen Blick bemerkte, gab sie mir auch noch eine. »Wird das nicht ein seltsames Gefühl sein?«, fragte sie. »Mit all dem wieder anzufangen?«

»Diesmal ist es anders«, erwiderte ich. »Deswegen hat das am Telefon auch so lang gedauert. Sie werden alles nur ein wenig aufpeppen, ein bisschen weiße Farbe an die Wände klatschen, im Garten ein paar Büsche pflanzen.

Dann verkaufe ich das Haus.«

Lynnes Augen weiteten sich überrascht. »Sind Sie sicher?«

»Noch lieber wäre es mir, das Ganze samt Inhalt anzuzünden und einfach davonzulaufen, aber da das nicht geht, werde ich es wohl verkaufen müssen.«

»Sie sind doch gerade erst eingezogen.«

»Ich kann seinen Anblick einfach nicht mehr ertragen.

Ich bin hier so unglücklich gewesen. Das Haus kann zwar nichts dafür, aber trotzdem …«

»Haben Sie mit Dr. Schilling darüber gesprochen?«

»Warum sollte ich mit ihr darüber reden?«, fragte ich in leicht angriffslustigem Ton. »Die Aufgabe von Grace Schilling war es, ihr fachliches Wissen einzusetzen, um den Mann zu fassen, der mich belästigt hat. Wie Sie wissen, ist dieser Mann inzwischen gefasst!« Ich hielt inne. »Tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht schon wieder anschreien.«

»Ist schon gut.«

»Ich nehme an, das war für Sie alles andere als ein angenehmer Job.«

»Wieso?«

»Na ja, es war bestimmt kein Spaß, auf eine so übellaunige, unglückliche Person wie mich aufzupassen.«

Lynne sah mich mit ernster Miene an. »Sie sollten so was nicht sagen. Es war fürchterlich. Wir haben uns Ihretwegen ganz schrecklich gefühlt. Das tun wir immer noch.«

»Immer noch?«

»Na ja, wir sind natürlich froh, dass wir den Schuldigen erwischt haben, aber weniger begeistert darüber, dass es Mr. Hintlesham ist.«

Es dauerte eine Weile, bis ich ihr darauf eine Antwort gab. Über Lynnes Schulter hinweg blickte ich in den Garten hinaus. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie selbst Francis es schaffen sollte, ihn innerhalb von zwei Wochen so hinzukriegen, dass man das Ganze verkaufen konnte.

Nun ja, wir würden sehen.

»Mir fallen bloß immer wieder Einzelheiten aus unserer Ehe ein, und ich frage mich wirklich, wie es dazu kommen konnte. Ich weiß, dass wir Probleme hatten, aber ich verstehe trotzdem nicht, wieso er mich so hasste. Was habe ich ihm getan? Was hat ihm dieses arme Mädchen getan, diese Zoë, außer dass sie mit ihm ins Bett gegangen ist?« Lynne wich meinem Blick nicht aus, das muss ich zu ihrer Ehrenrettung sagen, aber Antwort gab sie mir keine.

»Und selbst wenn er wirklich einen solchen Hass auf mich hatte, musste er dann gleich auf die Idee kommen, mich umzubringen? Mich leiden lassen? Ich hätte ihm das nie zugetraut. Sie vielleicht? Nun sagen Sie schon was!«

Lynnes Blick wirkte etwas unsicher.

»Ich muss da vorsichtig sein«, erklärte sie. »Wegen der gerichtlichen Anhörung und all dem. Aber Menschen tun nun mal solche Dinge. Mr. Hintlesham hatte jemand anderen kennen gelernt, und er wusste, dass Sie nicht in eine Scheidung einwilligen würden.« Sie zuckte mit den Achseln. »Der letzte Mörder, mit dem ich zu tun hatte, war ein vierzehnjähriger Junge, der seine Oma umbrachte, weil sie sich weigerte, ihm Geld für ein Lotterielos zu geben. Wie eine von meinen Ausbilderinnen immer gesagt hat: Man braucht keine besondere Qualifikation, um zum Mörder zu werden.«

»Demnach trauen Sie ihm ein solches Verbrechen also wirklich zu? Glauben Sie, man wird ihn schuldig sprechen?«

Lynne zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. »Es wird erst dann gegen jemanden Anklage erhoben, wenn eine Wahrscheinlichkeit von fünfundsiebzig Prozent besteht, dass es zu einer Verurteilung kommt. So weit ich weiß, hat die Staatsanwaltschaft im Fall Ihres Mannes nicht gezögert, Anklage zu erheben. Zum einen besteht eindeutig eine Verbindung zu dem toten Mädchen, Zoë, auch wenn Ihr Mann versucht hat, das zu leugnen. Hinzu kommen sein fehlendes Alibi und die gegen Sie gerichteten Drohungen, seine Affäre, sein klares Motiv.

Da hat er schlechte Chancen, ungeschoren davonzukommen.«

»Was, wenn der Mordfall separat verhandelt wird?«, fragte ich zögernd.

»Keine Chance!«, antwortete Lynne. »Aufgrund der Briefe, die Sie beide bekommen haben, sind die beiden Fälle untrennbar miteinander verbunden.«

»Die halbe Zeit glaube ich, dass er unschuldig ist und zu Unrecht verurteilt werden wird, und die restliche Zeit befürchte ich, dass er schuldig ist und ungeschoren davonkommt. Er ist clever. Und er ist Anwalt. Ich weiß einfach nicht, was ich denken soll.«

»Er wird nicht davonkommen«, erwiderte Lynne bestimmt.

Wir tranken unseren Kaffee und rauchten unser Zigaretten zu Ende.

»Haben Sie schon gepackt?«, fragte sie.

»Das ist einer der nächsten Punkte auf meiner Liste«, erwiderte ich. »Ich nehme nur eine kleine Tasche mit.«

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.«

»Es wird ein seltsames Gefühl sein, nicht mehr bewacht zu werden«, erklärte ich.

»Sie werden nicht völlig unbewacht sein. Wir haben weiter ein Auge auf Sie.«

Ich verzog das Gesicht. »Heißt das, die Polizei ist sich nicht ganz sicher?«

»Nur um zu sehen, ob es Ihnen gut geht.«