Allira ignorierte die Fragen und strebte weiter dem Keller zu. Bruna tauchte auf, angezogen wie zur Fechtübung. Ihr Blick begegnete dem ihrer Mutter, und sie nickte.
Vor der Kellertür versammelten sich bereits die Diener mit ihren Familien. Allira entdeckte den alten Haushofmeister unter ihnen.
»Eduin?«
Der Mann trat vor und strich sich mit seiner knorrigen Hand ein verirrtes Haar aus dem Gesicht. »Ja, meine Lady?«
»Sorge dafür, dass alle in den Keller gehen. Schließe dann die Tür von innen ab und komme nicht eher wieder heraus, bis jemand die Nachricht bringt, dass keine Gefahr mehr besteht.«
»Kommt Ihr nicht mit, meine Lady?«
»Nein.« Bevor Allira ein weiteres Wort hinzusetzen konnte, drängten sich Kindra und einige der anderen Kinder an sie und klammerten sich an ihre Röcke, so dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor.
»Ich will nicht nach unten gehen, Mami, ich will hier bei dir bleiben«, sagte Kindra, und ihre Brüder und Schwestern wiederholten ihre Worte.
Allira machte sich sanft los. »Ich weiß, ihr wollt bei Mami bleiben, aber ihr müsst mit Charlena und Eduin gehen. Nun los, hört auf sie!«
Eduin bückte sich und hob Kindra hoch. »Soll dir der alte Eduin erzählen, wie er einmal ein böses Banshee überlistet hat?« Damit trug er sie die Stufen hinunter.
»Du hast doch nie ein Banshee gesehen«, meinte Kindra skeptisch.
»O doch!« Eduin drehte sich um und zwinkerte Allira zu. Dann verschwand er, sämtliche Kinder des Haushalts im Schlepptau.
Die letzte Person der Menschenmenge stieg die Treppe hinunter, und Cathal bog um die Ecke. Er stockte, als er Allira und Bruna bewaffnet und zum Kampf gekleidet sah, doch dann setzte er seinen Weg zu ihnen fort. »Auch ihr solltet in den Keller gehen, Lady Alton, Lady Bruna.«
»Wie viele Männer habt Ihr, Cathal?«
»Neun, Lady Alton. Lord Alton hat beinahe jeden, der ein Schwert zu führen versteht, mitgenommen.«
»Und wie viele Männer nähern sich uns?«
»Etwa ein Dutzend, schätze ich. Das lässt sich im Dunkeln schwer sagen, Lady.«
»Mit Bruna und mir habt Ihr elf Kämpfer, und dann stehen die Chancen ungefähr gleich.«
»Ja, Lady. Aber - habt Ihr jemals einen Menschen getötet, Lady?«
»Nein. Ihr?«
Cathal biss sich auf die Lippe. »Ich bin jetzt seit zehn Jahren in der Garde, Lady«, sagte er einfach.
»Ich habe sechsunddreißig Jahre lang trainiert, um mich gegen eine Vergewaltigung oder einen Überfall wehren zu können. Ich bin nie in die Lage gekommen, das anzuwenden, was ich gelernt habe, aber ich bin mindestens so gut wie einige der Männer, die Ihr bei Euch habt.«
Sie wandte sich Eduin zu, der die Treppe wieder hochgestiegen war und im Eingang stand. »Geh hinein und verschließe die Tür. Wir kommen zu euch, sobald wir können.«
»Ja, meine Lady«, sagte Eduin und zog sich zurück. Die Tür fiel ins Schloss, und Allira hörte, wie ein Riegel zugeschoben wurde.
»Was wird Lord Alton sagen, wenn Ihr getötet werdet, Lady?«, flehte Cathal.
»Was würde er sagen, wenn die Angreifer wegen ihrer größeren Zahl euch alle töteten und dann das Haus über den Köpfen von uns Übrigen ansteckten?«, gab Allira zurück und betrat die Halle. Dort umstanden sieben Männer den Kamin am anderen Ende des Raumes.
Sie drehten sich um und starrten Allira und Bruna entgeistert an.
Bevor jemand ein Wort sagen konnte, stürmte ein Mann durch den Vordereingang des Hauses herein.
»Sie haben meinen Anruf mit Steinwürfen beantwortet! Jetzt erklimmen sie die Mauer. Ich habe die erste Tür verriegelt, aber es gibt andere Möglichkeiten, ins Haus einzudringen.«
Die Männer wandten sich Cathal zu. »Wenn sie schon so weit gekommen sind, ist es am besten, wir erwarten sie hier«, meinte er.
»Was ist mit den Damen?«, platzte einer heraus.
»Die Damen werden für sich selbst sorgen«, erklärte Bruna sarkastisch.
Allira fing Brunas Blick ein und lächelte. Bruna hielt ihr Schwert bereits kampfbereit in der Hand. Anders als Allira, ließ sie sich nicht von Röcken behindern, sondern trug nur Jacke und Hose aus Leder und das Schwert. Obwohl diese Kleidung einen direkt nach unten geführten Hieb oder einen heftigen Stich mit einem schweren Langschwert nicht abhalten würde, war sie doch ein guter Schutz, wenn sie von einer Klinge nur gestreift wurde. Allira hoffte inständig, das Mädchen werde seine Fußarbeit nicht vergessen …
Ein gewaltiger Knall dröhnte durch das Haus. Die Fenster ratterten von den Schwingungen.
»Die Türen müssten alles aushalten, was sie haben«, bemerkte Allira.
»Ja, aber als Nächstes werden sie es mit den Fenstern versuchen«, antwortete Cathal aufgeregt. Das Geräusch wiederholte sich.
Dann hörte man, dass etwas zerschmettert wurde. »Sieht aus, als hätten sie die Fenster bereits entdeckt.« Bruna richtete ihr Schwert nach dem Lärm aus, der in einem anderen Raum ertönte.
Von draußen klangen Rufe herein. Die Angreifer fuhren fort, Fenster einzuschlagen, aber sie rannten nicht mehr gegen die Tür an.
»Verriegelt die Türen der Halle!«, befahl Cathal. Alle rannten zur nächsten Tür, warfen sie zu und sicherten sie. »Das wird uns zumindest ein bisschen Zeit geben«, setzte Cathal hinzu.
»Wozu soll das gut sein?«, fragte Bruna.
»Wenn sie auf Lebensmittel oder Geld aus sind«, sagte Allira,
»werden sie vielleicht das Haus plündern und uns in Ruhe lassen.«
»Aye, Lady Bruna. Es ist immer besser, einen Kampf zu vermeiden, wenn es sich machen lässt. Noch nie ist ein Mann in einer Schlacht gefallen, die gar nicht erst angefangen hat.«
Alle verstummten und lauschten auf die Schritte, die durch die anderen Räume des Hauses trampelten. Allira atmete tief durch, um ihre Ängste unter Kontrolle zu bringen. Als empfindsame Telepathin nahm sie die Spannung der Männer in der Halle wahr, die von normaler Furcht bis an die Grenze der Panik reichte. Domenic hatte ihr einmal gesagt, das sei für Männer, die vor einem Kampf stehen, normal, aber Allira fand darin nur einen geringen Trost. Sie fühlte sich krank. Mit aller Willenskraft schüttelte sie das Gefühl ab. Dieses eine Mal, auch wenn es nur dieses eine Mal war, würde sie nicht beiseite geschoben und beschützt werden. Sie würde die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit tragen, und das in vollem Bewusstsein der Gefahren und Konsequenzen.
Die Sekunden schleppten sich hin. Es juckte Allira an schlecht zu erreichenden Stellen. Sie hörte Fußbodenbretter quietschen. Die Schritte näherten sich der Halle.
Plötzlich splitterte die Tür neben Allira unter einem Axthieb und flog auf. Allira trat zur Seite. Ein Mann stand auf der Schwelle, zeigte mit dem Schwert auf Allira und sagte: »Da ist die Zauberin!«
Allira drehte sich um, schlug mit dem Schwert nach links und fand sich einem zweiten Angreifer gegenüber, der wild auf sie einhieb. Sie parierte den Streich mühelos und klopfte dem Mann leicht auf die Schulter, wie sie es mit ihren Gegnern bei den Fechtübungen täglich tat. Überrascht, dass die Lady sich so wirksam verteidigte, hielt der Mann für einen Augenblick inne. Allira wiederum erschrak darüber, dass sie eine Geste, die im Training üblich war, bei einem Mann angewendet hatte, der sie vielleicht töten würde. Auch sie zögerte -
lange genug, dass der Mann sein Erstaunen überwinden und den Kampf mit wilder Heftigkeit von neuem aufnehmen konnte. Allira setzte all ihre Fähigkeiten ein und blockierte ihn in jeder Bewegung.
Gerade als seine Verteidigung schwächer zu werden begann, spürte sie etwas ihre Jacke streifen. Sie sah kurz hin und entdeckte zu ihrem Entsetzen, dass ein anderer Mann sein Schwert gegen sie drückte.
Allira sprang zurück; sie beabsichtigte, sich im Sprung zu vergewissern, ob Blut auf der Klinge war oder nicht. Doch sie rutschte aus und fiel zu Boden.
Ohne nach unten zu blicken, immer mit einem Auge auf die Eindringlinge, gegen die jetzt weitere Burgleute vordrangen, kam sie wieder auf die Füße und stellte sich auf einen festen, trockenen Platz.
Alle Männer und Bruna hatten zu tun; Allira sah einen Gardisten, der sich gegen zwei verteidigte, und nahm einen der Feinde auf sich. Mit Befriedigung stellte sie fest, dass sich ihr Körper instinktiv richtig bewegte und ihrem Geist die Freiheit ließ, die nächsten Handlungen zu planen. Langsam entfernten sie und ihr Gegner sich von der Masse. Beide kämpften sie aggressiv. Sie hatte kein Gefühl mehr für die Zeit, bis sie eine Öffnung für eine balestra fand, ihre Chance nutzte und ihr Schwert dem Mann schnell durchs Herz stieß. Sekunden nachdem der Mann gefallen war, eilten zwei Gardisten herbei und beugten sich über ihn.
»Er ist tot, Lady«, stellte einer von ihnen überflüssigerweise fest.
Allira blickte von dem Toten zu ihrem Schwert und wieder zurück.
Dann drehte sie sich langsam um und zählte die Köpfe in der Halle.
Sieben Personen standen auf den Füßen, und sie erkannte, dass sie alle zu der ursprünglichen Schar der Verteidiger gehörten. Bruna war unter ihnen.
»Bist du verletzt, Mutter?«, rief sie quer durch den Raum.
»Nein«, antwortete Allira und betrachtete ihre Kleider, die ganz voll Blut waren. Auch ihre Klinge war rot. Die Lachen vermeidend, die sich auf dem Fußboden bildeten, ging sie in die Mitte der Halle. Sie musste an den Männern vorbei, die überall herumlagen. Im Turm und auf Armida hatte sie schon Verwundete versorgt, aber etwas Ähnliches wie hier hatte sie noch nie gesehen. Sie schluckte schwer und kämpfte gegen das Erbrechen an.
»Hier, Mutter.« Bruna reichte ihr einen langen Lappen. Allira wischte sich Hände und Stirn ab, dann säuberte sie die Klinge und steckte sie in die Scheide.
»Lady Alton?«, bat Cathal um ihre Aufmerksamkeit.
»Ja?« Allira wandte sich ihm zu.
»Könntet Ihr Euch um Caradoc hier kümmern? Er ist verwundet.«
Allira ging mit ihm, sah sich den Jungen an, der kaum sechzehn war, und untersuchte ihn so behutsam wie möglich. Er stöhnte leise.
Sie kam zu dem Schluss, dass ihm noch zu helfen war, und wollte sich aufrichten, um ihre Tasche zu holen, als Bruna damit leicht ihren Arm berührte. Allira nickte, nahm die Tasche, kniete sich wieder hin und verband den Jungen.
Dann nahm sie sich der anderen Männer an. Sie hatte nur Gedanken für ihre Arbeit, und so fiel ihr nicht eher auf, dass niemand mit ihr gesprochen hatte, bis sie den Arm des letzten Verwundeten verband.
»Lady Alton?«, fragte der Mann mit schwacher Stimme. Er war einer der Angreifer, nicht viel älter als Cathal. Was von seinem Hemd noch übrig war, sah verblichen und fadenkahl aus.
Allira nickte. »Ja«, bestätigte sie freundlich und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
»Ihr seid - nicht so, wie Baldric Euch beschrieben hat«, stellte er fest.
»Oh?«, fragte Allira neugierig.
»Er sagte, Ihr wäret eine böse Zauberin und würdet mit der Macht Eures Sternensteins Dämonen ausschicken, die die Ernten vernichten.«
Allira legte dem Mann die Hand auf die Stirn, die sich heiß anfühlte. Sie riss ein sauberes Stück von einer Bandage ab, tauchte sie in eine neben ihr stehende Wasserschüssel und wrang sie aus. »Eine Matrix ist ein Telepathie-Verstärker, sonst nichts«, erklärte sie dabei leise. »Im Turm habe ich gelernt, die Telepathie zu benutzen, nicht aber, Dämonen heraufzubeschwören.« Sanft legte sie das Tuch dem Mann auf den Kopf.
Cathal trat hinter Allira und sah scharf auf den Fremden hinunter.
»Wenn du mich fragst, dann ist Baldric der Dämon, der in unser Land einfällt, uns die Nahrung raubt und unsere Leute tötet.«
Der Mann blickte zu Cathal hoch. »Nein, Baldric ist ein guter Mann.
Er hat uns Essen gegeben. Meine Kinder, meine Frau … sie hungerten, bis Baldric kam. Er hat nur getötet, wenn es notwendig war … nur wenn die Leute sich weigerten zu teilen …«
»Sie weigerten sich, weil sie keine Lebensmittel übrig hatten, Mann!
Auch wir hungern!«
»Aber wir haben gar nichts mehr! Unsere Vorräte sind aufgebraucht
… bis zur Ernte … dauert es noch lange … Wild ist rar. Baldric sagte, Lady Alton …« Der Mann drehte den Kopf zur Seite und blinzelte müde. Das Tuch rutschte ihm von der Stirn; Allira nahm es und legte es ihm wieder auf.
»Pass auf, was du über Lady Alton sagst!«, warnte Cathal.
Allira seufzte. »Baldric hegt seit langem Groll gegen die Altons. Er wurde in Unehren aus der Garde entlassen, weil er einen Offizier angegriffen hatte. Ihr habt Euch ausnützen lassen, mein Freund.«
Der Mann schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Allira erhob sich steif. Cathal fasste ihren Arm und half ihr auf die Füße.
»Ihr seht sehr blass aus, Lady«, sagte er. Als Allira nicht antwortete, setzte er hinzu: »Vielleicht solltet Ihr Euch jetzt ausruhen, Lady.«
Allira streckte sich, und ein scharfer Schmerz durchfuhr ihre linke Seite. Sie legte die Hand über die Rippen und atmete flach, und da ließ er nach.
»Was fehlt dir, Mutter?« Bruna kam zu Allira und fasste ihren anderen Arm.
»Ich weiß es nicht, ich habe an der Stelle vorher nichts gespürt …«
»Wo, Mutter?«
»Auf der linken Seite.« Sie sah über die Halle hin. »Was ist mit all dem Blut geschehen?«
»Wir haben den Boden gesäubert, während du die Verwundeten behandelt hast. Die Toten haben wir hinter die Ställe getragen. Cathal hat einige der anderen dazu angestellt, Gräber für sie auszuheben.«
Allira schüttelte traurig den Kopf. »Die armen Menschen.«
»Sie hätten Euch getötet, Lady«, gab Cathal zu bedenken.
»Ich weiß«, sagte Allira leise. »Bruna«, bat sie ihre Tochter, »sag Eduin, er könne jetzt herauskommen. Lass die Männer, die transportiert werden können, in den Aufenthaltsraum der Gardisten bringen. Geht es nicht, sollen hier Behelfsbetten aufgestellt werden, damit sie wenigstens vom Fußboden wegkommen.« Allira sank vor Schwäche zusammen. Cathal und Bruna halfen ihr auf die Couch.
»Muss nur ausruhen«, flüsterte sie, legte sich auf die rechte Seite und schloss die Augen.
Allira hörte Stimmen. Ohne die Augen zu öffnen, blieb sie still liegen und kam zu dem Schluss, sie müsse geschlafen haben. Unter ihr war eine raue Oberfläche; sie musste immer noch auf der Couch sein. Zu müde, um die Augen zu öffnen, lauschte sie.
»Das hast du gut gemacht, Bruna, dass du Verbindung mit mir über die Matrix aufgenommen hast«, sagte eine vertraute Stimme. »Bist du auch ganz bestimmt nicht verletzt?«
»Ich habe nicht einen Kratzer abbekommen, Vater«, antwortete Bruna.
»Viele meiner Männer halten sich bei ihrem ersten Kampf nicht so gut«, erklärte Domenic. »Vielleicht hättest du ein Mann werden sollen.«
Schweigen folgte. Allira versuchte, die Augen zu öffnen, und stellte fest, dass es anstrengender war, als sie gedacht hatte. Anfangs passierte nichts anderes, als dass die Lider leicht flatterten. Sie konzentrierte sich und schaffte es, durch einen Spalt auf ihre unmittelbare Umgebung zu spähen.
Langsam wurde das Bild scharf. Vor ihr stand im rechten Winkel zu ihrem Gesichtsfeld Gabriel. Er beugte sich vor, die Hände auf den Knien. Mit der typischen Taktlosigkeit eines Elfjährigen sprudelte er hervor: »Mutter, du siehst schrecklich aus!«
Allira versuchte zu lachen, aber heraus kam nur ein schwaches Schnauben, gefolgt von einem Schmerz in der Seite. Sie zuckte zusammen, schloss die Augen und versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren.
»Hier, Liebste, trink das.« Allira wollte den Kopf heben, doch sie schaffte es nicht, und dann hob ihr jemand den Kopf an. Jemand schob ihr ein Kissen unter.
»Wir mussten die Wunde an deiner Seite mit mehreren Stichen nähen, aber es hätte schlimmer sein können - deine Rippen scheinen die Klinge aufgehalten zu haben«, sagte Domenic in aufmunterndem Ton. »Eine Narbe wird allerdings zurückbleiben.«
Allira brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. »Die Kleinen?«
»Allen Kindern geht es gut. Charlena hat die jüngeren über die Hintertreppe nach oben gebracht und ihnen erzählt, Mami schlafe.
Die anderen sind hier - wie du zweifellos bemerkt hast.«
Allira wandte den Blick von Domenic ab und sah die Gesichter ihrer Kinder, die sich um die Couch drängten und sie ängstlich beobachteten.
»Baldric?«
»Wir haben ihn erledigt«, antwortete Domenic. »Die armen Teufel, die ihm folgten, waren ausgehungerter als unsere Männer. Einen richtigen Kampf kann man es kaum nennen.«
»Und jetzt?«
Domenic zuckte die Schultern und kniete sich vor die Couch. »Ich weiß es nicht, Allira. Wir haben das bisschen Essen, das wir hatten, geteilt und die Überlebenden nach Hause geschickt. Wir haben nur wenig mehr als sie, und wenn das verbraucht ist …« Seine Stimme erstarb.
Allira versuchte, den Arm zu heben, um seine Hand zu fassen, brachte es aber nur fertig, mit den Fingern zu wackeln. Domenic sah die Geste, nahm die Hand, hob sie sanft und drückte seine Lippen darauf.
»Im Augenblick ist nur wichtig, dass du am Leben bist, Liebste.«
Behutsam legte Domenic die Hand seiner Frau wieder hin. Er streichelte ihr Haar. »Du hast es sehr gut gemacht, sagen die Leute.«
»Bruna«, begann Allira schwach.
»Sie hat es auch gut gemacht.«
»So gut wie ein Mann, Vater?«, neckte ihn Bruna, die hinter der Lehne der Couch stand.
»Ja«, stimmte Domenic widerwillig zu. Für einen Augenblick sah sein Gesicht merkwürdig aus. Allira fragte sich, ob er eine Vorausschau habe, wie sie den Altons manchmal zuteil wurde.
Schließlich seufzte er. »Du wirst es immer gut machen, Tochter.« Er stand auf und sah sie an.
Bruna lächelte. »Die Absicht habe ich, Vater«, meinte sie zuversichtlich.
Allira sah von ihrem Mann zu ihrer Tochter. Irgendwie beruhigt durch den Ausdruck, den sie hier wie dort sah, und die Gefühle, die sie wahrnahm, sank sie in friedlichen Schlaf.
Über Margaret Carter und ›Ihr eigenes Blut‹
Als ich Margaret Carters Geschichte angenommen hatte und sie um biografische Daten bat, antwortete sie mir auf lustigem Schreibpapier, das das Motto trug: ›Auf die reine Theorie - möge sie niemals für irgendwen von Nutzen sein.‹ Darauf trinke ich.
Margaret Carter macht augenblicklich ihren Doktor der Philosophie in Englisch. Ihre Dissertation schrieb sie über das Thema: ›Teufel, Gespenst oder Täuschung; Zweifel am Übernatürlichen als literarischer Kunstgriff in Schauerromanen‹. Sie hat auch eine klassische Kollektion herausgegeben: Dämonenliebhaber und seltsame Verführungen (Fawcett, 1972), und ihre Arbeit über C. S.
Lewis wurde von der Kent State University für die Anthologie Lewis als Kritiker angenommen.
Sie sagt, ihre ersten schriftstellerischen Versuche seien von Dracula inspiriert gewesen, und ihr größter Ehrgeiz sei es, einen Roman voll übernatürlichen Horrors zu schreiben. Sie ist Ehefrau eines Navy-Mannes, reichte eine Liste ihrer früheren Adressen ein, die wie ein Reiseführer für Amerika aussieht, und hat vier Söhne im Alter zwischen zwei und siebzehn.
›Ihr eigenes Blut‹ spielt nicht unter Freien Amazonen, setzte aber neue Parameter für Frauen, die in einer von Männern beherrschten Gesellschaft einen Platz für sich selbst schaffen wollen - und darum geht es den Freien Amazonen ja.
MZB
Ihr eigenes Blut
von Margaret L. Carter
Von dumpfem Kopfschmerz gequält, sah Gwennis über die Menge der Dienstboten und Freisassen hin, die sich in Dom Elric Serrais’
Gerichtshalle drängten. Sie hatte immer noch keine klare Vorstellung davon, warum ihre Mutter Alanna sich heute Morgen so unvermittelt entschlossen hatte, sie herzubringen. Sie beide hatten keine Eingabe und keine Bitte um Gerechtigkeit vor den kleinen Ridenow-Lord zu bringen, dem sie dienten. Oder hatte Alanna im Sinn, sich bei dem vai dom darüber zu beklagen, dass ihr Mann Gwennis geschlagen hatte?
Das schien weit hergeholt, denn auch ein Hirte hatte so viel Recht über seine Nachkommenschaft.
Abgesehen davon waren die Prügel nur die letzten und schlimmsten von hunderten gewesen. Als Gwennis am Morgen das einzige Milchtier der Familie gemolken hatte, war ihr plötzlich ein Schmerz durch den Nacken gefahren. Sie hatte gesehen, dass die Stallkatze ein Nagetier im Stroh ansprang. Nur hatte das Wissen, dass die würgende Qual in Wirklichkeit die des kleinen, zappelnden Wesens war, sie nicht davon abgehalten, sich aufschreiend zusammenzukrümmen, denn ihr war, als breche ihr eigener Hals. Die Wände des Schuppens drehten sich um sie, sie war sich vage bewusst, dass der Milcheimer umkippte und ihr Vater sie packte.
Durch den neuen Schmerz der auf Kopf und Gesicht hämmernden Fäuste hörte sie ihn die gewohnte Beschimpfung brüllen: »Du von sechs Vätern gezeugtes Balg mit nichts als Federn im Kopf! Glaubst du, Milch kommt aus dem Boden wie Wasser?«
Nachdem ihr Vater an seine Arbeit gegangen war, hatte Gwennis die neuen Male ihrer Mutter gezeigt, deren einzige Bemerkung lautete: »Es wird schlimmer. Eines Tages wird er dich umbringen.«
Das wurde in sachlichem Ton gesprochen, denn der Vorfall war zu gewöhnlich, um Emotionen darauf zu verschwenden.
Manchmal fragte sich Gwennis, warum sie nicht bereits zu der Schwachsinnigen geworden sei, für die ihr Vater sie hielt. Diese Anfälle mit ihren unabänderlichen Folgen plagten sie schon zwei Jahre lang, seit sie dreizehn geworden war. Ihre erste Erfahrung hatte die Geburt ihres jüngsten Bruders zum Anlass. Während Alanna sich fast ohne ein Stöhnen unter den Händen der Hebamme keuchend abmühte, hatte sich Gwennis in ihrem Dachbodenbett zusammengekrümmt und bei jeder neuen Wehe geschrien. Ihr Vater Piedra, der auch vor dieser Nacht nie freundlich zu ihr gewesen war, hätte sie wegen des Lärms geohrfeigt und aus dem Haus gejagt. Bald war sie sich bewusst, dass sie den Schmerz einer jeden leidenden Kreatur, ob Mensch, ob Tier, innerhalb einer Entfernung von rund hundert Fuß mitempfand. Das einzige Gute an diesem Fluch waren seine begrenzte Reichweite und die Tatsache, dass er sich auf Wesen beschränkte, die ein Bewusstsein besaßen. Gwennis brauchte nicht den Tod von jeder Fliege und jedem Floh zu teilen. Gezwungen, sich selbst zu schützen, hatte sie gelernt (wenn ihr so viel Zeit blieb, sich zu sammeln), in das Zentrum der Qual hineinzugreifen und sie auf mentale Weise zu dämpfen. Trotzdem wurde sie mindestens ein-oder zweimal alle zehn Tage dafür bestraft, dass sie Geschirr zerbrochen oder, desorientiert, wie sie war, eine Gemüsepflanze anstatt eines Unkrauts ausgerissen hatte, so häufig waren die Attacken. Sie hatte auch festgestellt, dass sie es nicht länger über sich brachte, Fleisch zu essen. Wegen dieser Abneigung und wegen der Anfälle nannten ihre Mutter und ihre Schwestern sie kränklich und
›wunderlich‹. Piedra hingegen beschuldigte sie, sich vor der Arbeit zu drücken und (was nicht recht verständlich war) ›sich etwas einzubilden‹ - als habe man Anlass, stolz zu sein, wenn man dauernd im ungeeignetsten Augenblick ohnmächtig wurde!
Im Lauf des Vormittags wurde Gwennis es bald müde, die Ohren anzustrengen, um die Einzelheiten der Beschwerden ihrer Nachbarn aus dem Stimmengesumm in der Halle herauszuhören. Sie und Alanna standen in einer Ecke, warteten darauf, dass sie an die Reihe kämen, nahmen ab und zu einen Schluck aus den Wasserschläuchen, die sie mitgebracht hatten, und knabberten ein paar Stücke Trockenobst. Gwennis hatte Dom Elric noch nie so aus der Nähe gesehen. Er war ein großer, magerer Mann, dessen bronzenes Haar fast völlig zu Grau verblichen war. Sie wusste nichts von ihm, was über das allgemeine Gerede hinausging, und es hieß, er sei gerecht und großzügig. Viermal verheiratet gewesen, war er jetzt Witwer mit nur einem überlebenden Kind, einem Jungen, noch keine fünf Jahre alt. Der Junge, so ging das Gerücht, litt an einer seltsamen Krankheit, an der er wahrscheinlich sterben würde, lange bevor er erwachsen war. Dom Elrics Besitz war klein, und es war nicht damit zu rechnen, dass er eine fünfte Familie fand, die ihm eine Tochter zur Frau gab.
Sein mutmaßlicher Erbe war ein Emmasca-Cousin und seine verwitwete, kinderlose Schwester führte ihm den Haushalt. Gwennis hatte die vai domna nie gesehen, aber gehört, nach dem frühen Tod ihres Gatten habe die Dame sich dem Befehl ihres Bruders, ein zweites Mal zu heiraten, widersetzt und stattdessen ein skandalöses Leben gewählt.
Um die Mittagszeit war die Halle bis auf Dom Elrics Hausdiener und ein paar Nachzügler, die ihre Kinder und Habseligkeiten zusammensuchten, leer. Alanna zog Gwennis nach vorn und hieß sie, sich vor dem Hochsitz des Lords zu verbeugen. »Vai dom, ich möchte unter vier Augen eine Gunst von Euch erbitten.«
Er runzelte die Stirn, doch nicht unfreundlich. »Ich kann mich nicht an Euren Namen erinnern, mestra.«
»Ich bin Alanna, die Frau Piedras, Eures obersten Hirten. Es geht um meine älteste Tochter hier.«
Gwennis, die vom Kopfweh immer noch benommen war, wunderte sich, wie ihre Mutter hatte auf den Einfall kommen können, sich über Piedras Härte bei dem Herrn zu beklagen. Wenn ein Mann seine Kinder nicht gerade ermordete, hatte niemand das Recht, sich einzumischen. Gwennis spürte Dom Elrics hellgraue Augen auf sich ruhen, als könne er ihren Schädel öffnen und ihr ins Gehirn sehen.
Erschauernd dachte sie, dass er es vielleicht wirklich konnte. Hatten nicht alle Angehörigen der Hastur-Sippe Zauberkräfte?
Nach kurzem Nachdenken sagte er: »Nun gut. Ich will mit Euch im Büro des coridom sprechen.«
Ein paar Minuten später führte ein offensichtlich nicht damit einverstandener Haushofmeister Mutter und Tochter in ein kleines, einfaches Zimmer, dessen Möbel hauptsächlich aus einem Schreibtisch und zwei niedrigen Sofas bestanden. Dom Elric setzte sich und winkte ihnen, es ihm nachzutun. »Ihr braucht nicht zu stehen, wenn wir allein sind. Was ist das jetzt für eine wichtige Angelegenheit? Ich hoffe, sie ist wichtig genug, um diesen Unsinn zu rechtfertigen.«
»Ich wollte Euch nur eine Peinlichkeit ersparen, vai dom«, erwiderte Alanna. Gwennis staunte über die schlaue Unverschämtheit, die sie an ihrer Mutter gar nicht kannte. »Das ist meine Tochter Gwennis. Sie wurde zu Mittwinter vor fünfzehn Jahren beim Fest gezeugt. In der Nacht lag ich bei mehreren Männern, einschließlich meinem Verlobten. Nur einer von ihnen kann ihr dies gegeben haben.« Sie fasste nach einer Locke von Gwennis’ feuerfarbenem Haar.
Gwennis stand da wie gelähmt, bestürzt über ihre eigene Naivität.
Die ganze Zeit hatte sie Piedras Lieblingsschimpfwort ›von sechs Vätern gezeugt‹ für eine Beleidigung ohne tiefere Bedeutung gehalten. Kein Wunder, dass ihr Vater - nein, Pflegevater - ihren Anblick verabscheute. Und ein fast ebenso großes Wunder wie ihre eigene Abstammung war, dass ihre abgearbeitete Mutter mit dem faltigen Gesicht und dem spülwasserfarbenen Haar einmal hübsch genug gewesen sein musste, um einen Edelmann in Versuchung zu führen. Und wiederum, wer konnte sich vorstellen, dass dieser ernste Lord sich so leichtfertig amüsierte?
Dom Elric sagte: »Was ist Euer Begehren, mestra? Wenn Ihr wollt, dass ich sie anerkenne, dann hättet Ihr die Sache vor fünfzehn Jahren zur Sprache bringen sollen.«
Alanna sah ihn ausdruckslos an. »Daran habe ich nie gedacht, vai dom.«
Das war die einfache Wahrheit, erkannte Gwennis. Alles, was die Frau wollte, war, ihre Tochter auf eine Weise loszuwerden, die ihr eigenes Gewissen entlastete. Alanna fuhr fort: »Sie hat Anfälle, sie ist zu kränklich für die Arbeit draußen. Mein Mann schlägt sie, und ich fürchte um ihr Leben. Ich bitte Euch, ihr irgendeine Stellung im Großen Haus zu geben, wo sie ohne Angst tätig sein kann. Sie ist nicht kräftig, aber sie hat geschickte Hände und ist nicht so einfältig, wie sie aussieht.«
Gwennis wand sich bei der unfreundlichen Beschreibung, Wer würde sich einfallen lassen, ein Milchtier oder ein chervine aufgrund dieser Spezifikation zu kaufen?
Nach einer der nachdenklichen Pausen, die charakteristisch für ihn waren, rief Dom Elric den coridom, der gleich außerhalb der Tür wartete, und befahl: »Bitte Domna Calinda her.«
Kurze Zeit später betrat eine Frau mittleren Alters, die ebenso groß war wie ihr Bruder, das Zimmer. Überrascht stellte Gwennis fest, dass ihr kastanienbraunes Haar kurz geschnitten war wie das eines Jungen, obwohl ihr Kleid das einer Lady war. »Calinda«, sagte Dom Elric, »kannst du ein neues Mädchen brauchen?«
Nach einem scharfen Blick auf ihn musterten die Augen der Dame Gwennis von oben bis unten. »Kannst du nähen, Mädchen?«
Alanna antwortete für sie. »Natürlich keine eleganten Sachen, aber in einfachen Näharbeiten ist sie gut.«
Domna Calinda wandte sich ihrem Bruder zu. »Wir könnten sie anstellen, das Leinenzeug auszubessern.«
»Sehr gut«, sagte Dom Elric. »Du bleibst hier, Kind. Geh mit Domna Calinda, und sie wird dich in deine Pflichten einweisen.«
Gwennis’ Mutter umarmte sie steif. »Morgen bringe ich dir deine Kleider. Arbeite fleißig und mache der vai domna keinen Ärger.« Sie war gegangen, bevor Gwennis ganz begriffen hatte, was sich abspielte.
Die Lady gab einen Ton von sich, den man fast ein Schnauben hätte nennen können. »Komm, Mädchen, bleib hier nicht mit offenem Mund stehen.«
Wenn Gwennis’ neues Leben als Dienerin im Großen Haus einsam war, wurde sie sich der Tatsache doch nicht völlig bewusst. Sie hatte sich auch zu Hause einsam gefühlt. Noch bevor die Krankheit sie befallen hatte, war sie als die Älteste und als Zielscheibe von Piedras Missmut von den jüngeren Kindern abgesondert gewesen. Und in den beiden letzten Jahren war die Entfremdung zwischen ihr und ihren Schwestern noch größer geworden. Sie grollten ihr, weil sie nicht so schwer arbeiten konnte, und ein bisschen war auch abergläubische Furcht vor ihrer ›Wunderlichkeit‹ dabei. Wirkliche Zuneigung gab es nur zwischen ihr und ihrem Baby-Bruder, der eher ein Schoßtier als ein Freund war. Die ständig überarbeitete Alanna hatte auch weder Zeit noch Lust, für ihre ›merkwürdige‹ Tochter besondere Fürsorge aufzuwenden. Was die materiellen Dinge betraf, so fand Gwennis ihr Bett im Schlafraum der Dienerinnen luxuriös, nachdem sie ihr Leben lang den Dachboden einer aus zwei Räumen’
bestehenden Hütte mit vier Schwestern geteilt hatte. Es gab auch mehr und abwechslungsreicher zu essen im Großen Haus. Die Arbeit fiel ihren geschickten Fingern leicht. Das Beste war, dass sie keine Angst mehr haben musste, geschlagen zu werden. Unter Domna Calindas Regiment gab es keine körperlichen Misshandlungen und nicht einmal Beschimpfungen. In den ersten acht Tagen ihrer neuen Tätigkeit hatte Gwennis tatsächlich nicht einen einzigen ›Anfall‹.
An den Sommermorgen setzten sich die Mädchen, wenn die Sonne die dünne Decke des über Nacht gefallenen Schnees weggetaut hatte, mit ihrem Nähzeug oft in den Burghof unter die Obstbäume. Eines Tages erzählte eine der anderen beiden Dienerinnen, die mit Ausbesserungsarbeiten beauftragt waren, Gwennis etwas über die Familie des Lords.
Nach einem vorsichtigen Blick zur inneren Tür sagte Hilary, eine schmächtige Blondine: »Du bist nun beinahe zehn Tage hier, Gwen.
Was hältst du von Domna Calinda?«
Die Zumutung, ein Urteil über die Dame des Hauses auszusprechen, entsetzte Gwennis. Bisher hatte sie für die Schwester des Lords nichts anderes als Dankbarkeit empfunden, denn wenn auch ihr Aussehen sie einschüchterte und ihre Stimme ausgesprochen scharf war, grausam war sie nie. Gwennis murmelte: »Die vai domna ist immer freundlich zu mir gewesen.«
»Natürlich, aber hast du dir noch nie Gedanken über ihr Haar und ihre - nun - diese männliche Art, die sie an sich hat, gemacht?«
Das hatte Gwennis tatsächlich getan, aber sie war viel zu schüchtern, um das geradeheraus zuzugeben. Sie räumte nur ein: »Ich habe noch nie gesehen, dass das Haar einer Dame auf diese Art geschnitten war.« Dabei hielt sie die Augen auf das Bettlaken gerichtet, das sie säumte.
Hilary freute sich über die Gelegenheit, einer Neuen den Klatsch beizubringen, den das übrige Personal längst kannte. »Vermutlich hast du auch noch nie von den Freien Amazonen gehört.«
So erschrocken, dass sie den Kopf hob, erwiderte Gwennis: »Ganz so unwissend bin ich nicht. Ich weiß, dass es sie gibt, wenn auch sonst nichts weiter. Frauen, die wie Männer leben - ist das der Grund …?«
Hilary nickte. »Domna Calinda ist eine von ihnen. Als ihr Mann jung gestorben war, wollte sie nicht wieder heiraten. Sie lehnte den Mann ab, dem Dom Elric sie versprochen hatte. Man sagt, er sei wütend gewesen, als sie weglief und sich den Amazonen anschloss.«
Ysabet, das andere Hausmädchen, ein paar Jahre älter, setzte hinzu:
»Dann starb die letzte Frau des vai dom im Wochenbett, und Domna Calinda kehrte zurück. Beinahe hätte er sie von seiner Tür vertrieben.
Ich war hier - es war eine schreckliche Szene.«
»Doch dann ließ er sie bleiben?«, fragte Gwennis, wider Willen neugierig geworden.
Hilary zuckte die Schultern. »Ihm blieb nichts anderes übrig. Wie sollte er ohne Frau für ein Neugeborenes sorgen? Außerdem hatte sie bei den Amazonen gelernt, die Arbeit eines Schreibers zu tun.«
»Sie ist nur des kleinen Lerrys wegen zurückgekommen«, sagte Ysabet. »Ich glaube nicht, dass sie es sonst ertragen würde.«
»Was denn?«, fragte Gwennis.
»Der vai dom verzeiht ihr nicht, dass sie eine Amazone ist, und lässt sie nie vergessen, dass sie der Familie Schande macht. Ich nehme an, sie wird nur so lange bleiben, bis das arme Kind stirbt.«
»Was nicht mehr lange dauern wird«, seufzte Hilary.
Gwennis hatte immer nur flüchtige Blicke auf den Jungen erhascht, wenn er an schönen Morgen unter den Augen seiner Kinderfrau im Hof spielte. »Was fehlt ihm?«
»Was, weißt du das nicht?« Aus Ehrfurcht vor dem traurigen Thema dämpfte Hilary die Stimme. »Er leidet an einer Krankheit des Blutes. Bei jeder winzigen Schnittwunde besteht Lebensgefahr. Er ist schon mehr als einmal beinahe gestorben.« In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Hilary warf einen Blick zurück und nahm ihre vernachlässigte Arbeit auf.
Lerrys Kinderfrau Mhari kam aus dem Haus und führte den jungen Lord an der Hand. Er war klein für sein Alter, nicht viel größer als Gwennis’ Bruder, aber abgesehen davon hätte ein zufälliger Beobachter nicht erraten, dass er kränkelte. Trotzdem war diese Tatsache sofort an dem ängstlichen Geflatter der Kinderfrau zu erkennen, als er seine Hand aus ihrer befreite und begann, auf einem Fuß von einem Pflasterstein zum nächsten zu hopsen.
Mhari setzte sich auf eine Bank in die Nähe der drei Mädchen.
»Wenn er nur begreifen würde, dass er vorsichtig zu sein hat«, sagte sie. »Andererseits muss unbedingt vermieden werden, ihm vor allem Angst zu machen.« Sie fuhr fort, jede seiner Bewegungen zu beobachten, während sie gleichzeitig über das bevorstehende Mittsommerfest redete. Dazwischen zwitscherte sie dem Jungen ständig Warnungen zu, die ihren Wunsch, ihm keine Angst zu machen, Lügen straften. Gwennis, die die Nervosität der Frau ansteckend fand, ertappte sich dabei, dass sie Lerrys verstohlen aus dem Augenwinkel betrachtete.
Seines Hüpfseils müde, kletterte er auf eine der Steinbänke an der Wand und versuchte, ein niedrig hängendes Büschel von Schwarzbeeren zu erreichen. »Lerrys, komm sofort herunter!«, befahl Mhari. Ein scharfer Ton war an die Stelle ihrer gewohnheitsmäßigen Ermahnungen getreten. Wie jedes normale Kind schielte er zu ihr hin, ob sie es ernst meine, und kroch einen oder zwei Zoll höher. »Lerrys, ich habe dir gesagt, du sollst herunterkommen!« Mhari stand auf und ging zu ihm.
Da die begehrten Beeren immer noch außerhalb seiner Reichweite waren, setzte Lerrys ein Knie auf den unteren Sims der Wand. »Nein -
lass das!« Er drehte sich grinsend zu seiner Kinderfrau um, und ein Fuß rutschte ab. Vergeblich versuchte er, sich mit beiden Händen an der rauen Oberfläche der Wand festzuhalten, und Mhari streckte einen Augenblick zu spät die Arme nach ihm aus. Sich drehend, als wolle er sich abfangen, fiel der Junge auf das Kopfsteinpflaster.
Das Jammergeschrei des Kindes durchbohrte Gwennis, und gleichzeitig explodierte der Schmerz in ihrem Kopf. Lerrys schrie weniger aus Schmerz als aus Furcht - wenn er auch noch zu klein war, um zu begreifen, dass er vorsichtig sein musste, war er doch groß genug, um sich an die Folgen früherer Verletzungen zu erinnern
-, aber auch der Schmerz war real. Gwennis drückte die Hände an die Schläfen. Ihre Gedanken suchten nach der Quelle der Qual und quetschten sie zusammen, als wollten sie sie auslöschen. Der Schmerz war wie eine Lehmkugel in ihren Fäusten, und sie presste sie zu einem Steinchen und dann zu einem Nichts zusammen. Irgendwie gehörte Blut dazu, das nicht gestillt werden konnte, bis sie es zu seinem Ursprung zurückzwang und ihm zu fließen verbot. Als endlich die rote Flut zu einem Tröpflein eingedämmt war, wurde sich Gwennis ihres eigenen Wimmerns bewusst und verstummte.
Gleichzeitig sah ein kleiner Teil ihres Ichs, wie Mhari das Kind an sich riss und rief: »Holt Domna Calinda - schnell!« Lerrys hatte sich die Lippe aufgerissen und die Nase angestoßen, und Blut strömte aus beiden Verletzungen. Nicht der Rede wert bei einem normalen Jungen, waren sie offenbar gefährlich für ihn. Die Dame des Hauses eilte herbei und sah erstaunt, dass die Blutung von selbst langsamer wurde.
Als ihr Anfall vorüber war, spürte Gwennis, dass Domna Calindas Augen auf ihr ruhten. »Du«, flüsterte die Dame.
Jetzt weiß sie von meiner Krankheit, dachte Gwennis unglücklich, und wird mich wegschicken. »Verzeiht mir, vai domna - nur eine Sekunde der Schwäche - es wird nicht wieder vorkommen.«
Die Lady achtete gar nicht auf ihre Worte. »Wie lange hast du dieses laran schon, Mädchen?«
»Ich weiß nicht, was Ihr meint, meine Dame - laran ist nur für die Hastur-Sippe.«
Domna Calinda beugte sich vor und sagte in hartem Flüsterton:
»Und wie nennst du dich selbst - mit diesem Haar? Meinst du, ich kann nicht erraten, warum mein Bruder so plötzlich Interesse für die Tochter eines Hirten zeigte?«
In der Verwirrung schien niemand diesen Wortwechsel bemerkt zu haben. Domna Calinda nahm Mhari den schluchzenden Jungen ab und zog die Beine seiner Lederhose hoch. »Avarra gebe, dass er diesmal keine blauen Flecken davongetragen hat. Am besten bringst du ihn nach oben ins Bett.« Sie begleitete den Jungen und die Kinderfrau ins Haus, ohne einen weiteren Blick für Gwennis zu haben. Gwennis nahm ihre Näharbeit und versuchte, so zu tun, als sei sie nur beim Anblick des Blutes in Panik geraten.
In dieser Nacht wurde Gwennis von einer Hand auf ihrer Schulter geweckt. Sie fuhr in ihrem schmalen Bett hoch und sah Mhari, eingehüllt in einen abgetragenen Morgenrock, angestrahlt vom Licht einer Öllampe, die sie in der Hand trug. »Steh auf! Der vai dom will, dass du in Master Lerrys’ Zimmer kommst.«
Gwennis streifte Jacke und Rock über und fuhr mit den Füßen in die Pantinen. Dabei murmelte sie bestürzt und nur halb wach: »Aber ich weiß doch gar nicht, wo es ist.«
Mhari führte sie durch dunkle Korridore in einen Teil der Burg, der ihr fremd war. Hier lagen die Räume des Lords. Dem Mädchen kam der Gedanke, Dom Elric habe von ihrer Anfälligkeit gehört und wolle sie hinauswerfen. Erst später erkannte sie, wie absurd die Vorstellung war, der Lord werde ein Hausmädchen höchstpersönlich entlassen, und das um Mitternacht. Mhari zog Gwennis in Lerrys’
Schlafzimmer, ohne anzuklopfen. Domna Calinda und Dom Elric waren beide anwesend, Letzterer noch vollständig angezogen. Es konnte also doch noch nicht sehr spät sein.
»Komm her, Mädchen«, befahl die Dame, als Gwennis an der Tür stehen blieb.
Sie näherte sich dem Bett, in dem Lerrys bleich und in einem benommenen Halbschlaf lag. Irgendwo im Hintergrund spürte sie das dumpfe Pochen des Schmerzes. Dom Elric sagte: »Ich hörte von meiner Schwester, du habest ein laran, das die Leiden meines Sohnes lindern kann.«
»Das hat sie - hat sie gesagt, vai dom. Aber ich weiß gar nichts über Zauberei.«
»Nun, du musst es versuchen.« Er schlug die Bettdecke zurück, zog das Nachthemd des Jungen hoch und enthüllte ein Knie, auf dem sich ein Fleck in dunklem Purpur zeigte. »Wenn er sich verletzt, blutet er oft stundenlang unter der Haut. Kannst du diese Blutung stillen, wie du es mit der anderen gemacht hast?«
Gwennis taumelte fast körperlich unter dieser Forderung. Nie zuvor hatte sie versucht, ihren Fluch mit ruhiger Überlegung zu kontrollieren. Der Lord verlangte von ihr, nach dem Schmerz zu fassen, statt vor ihm zu fliehen. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Mut aufbrachte, diese Folter durchzustehen. Aber sie sagte nur: »Ich weiß es nicht, vai dom. Das habe ich noch nie gemacht.«
»Dann tu dein Bestes.« Er seufzte.
Gwennis spürte Domna Calindas bohrenden Blick, wandte sich ab und konzentrierte sich auf das verletzte Bein des Kindes. Beinahe sofort verblassten das Zimmer, das Bett und der Umriss von Lerrys’
Körper. Sie sah nur noch den dunklen Klumpen des Schmerzes.
Anders als bei den ersten Wunden war die Blutung nicht übermäßig stark. Gwennis hätte sich ohne Schwierigkeiten davon befreien und sich zurückziehen können. Stattdessen musste sie hineintauchen. Mit einem langen, zittrigen Atemzug rückte sie in Gedanken näher heran, bis sie die Verletzung als eine sich träge in Spiralen bewegende Strömung in einem stagnierenden Teich sah, die sie anzuziehen, hinunterzuziehen, zu ertränken drohte. Gwennis brauchte alle Willenskraft, um nicht zu fliehen.
Jetzt war auch sie körperlos, nichts als ein schwebender Funke Bewusstsein. Über die Oberfläche des dunklen Wassers dahingleitend, erkannte sie die Quelle von Schmerz und Blut als eine Lücke in dem Schlick auf dem Boden des Teiches, aus der ein Strom stinkenden Morasts gurgelte. Ihre Angst davor, verschlungen zu werden, konnte sie nur überwinden, indem sie freiwillig hineintauchte. Sie warf sich in die tiefe Mitte des Teiches und blockierte den Abfluss mit ihrem eigenen Sein - sie stellte es sich als einen Lichtpunkt vor, der ihr Ich enthielt. Obwohl das Gift sie beinahe erstickte, konzentrierte sie sich darauf, Licht auszugießen, um es zu neutralisieren. Einen Augenblick darauf versiegte der Strom. Das rhythmische Pochen des Schmerzes wurde langsamer und verschwand.
Sie hatte gewonnen! In einem Ausbruch von Freude stieg sie nach oben. Doch statt sich in ihrem Körper wieder zu finden, schwebte sie über Lerrys’ Bett. Sie sah das Kind, Mhari, Dom Elric, Domna Calinda und sich selbst, zusammengesunken in einem Sessel. Sie bemerkte, dass ihre Augen glasig in Trance blickten und die Kinderfrau ihre Schultern stützte, als könne sie sich nicht allein aufrecht halten.
Domna Calinda sagte: »Sieh nur, sie hat es geschafft! Ich habe noch nie so viel Kraft in einem so jungen Menschen gesehen - und sie hat nicht einmal eine Matrix.«
Dom Elric fasste Gwennis’ Schulter. In ihren Körper zurückgeschleudert, war sie blind vor Schwindel, und der Raum drehte sich um sie. Durch das Summen in ihren Ohren hörte sie ihn sagen: »Kind, du hast mir einen großen Dienst erwiesen. Dank dir wird mein armer Junge, ganz gleich, wie oft dies passiert, so lange leben, wie die Götter es ihm erlauben - auch wenn er vielleicht nicht zum Mann heranwachsen wird. Du bist meine Nedestro-Tochter …«
Die Lady unterbrach ihn. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um von diesen Dingen zu sprechen. Siehst du nicht, in welchem Zustand sie ist?«
Er schüttelte sie ab. »Ich muss es sagen. Kind - Gwennis - du bist meine Tochter, und ich werde dich als solche anerkennen. Ich werde dafür sorgen, dass du eine gute Heirat machst, und dein Sohn wird mein Erbe sein.«
Domna Calinda half Gwennis auf die Füße. »Genug davon. Komm, Mädchen, du musst schlafen.«
Gehorsam machte Gwennis einen Schritt weg vom Bett. Sofort schwoll das Summen in ihrem Kopf zu einem Brüllen an, und Gräue hüllte sie ein.
Als ihr Bewusstsein zurückkehrte, spürte sie sofort, dass die Bettwäsche an ihrer Haut nicht der grobe Stoff aus dem Schlafsaal der Dienstboten war. Sie zögerte, die Augen zu öffnen, denn sie hatte Angst, der Schwindel lauere auf sie. Deshalb lag sie ein paar Sekunden still und lauschte. Jemand, der neben dem Bett saß, wechselte mit raschelnden Röcken die Stellung. Gwennis wusste, bevor sie es sah, dass Domna Calinda da war. Sie befand sich in einem kleinen, aber gut möblierten Zimmer mit verblassten Teppichen an den Wänden und Vorhängen um das Bett, auf dem eine Daunensteppdecke lag. Die Dame sah sie an und hielt eine Tasse mit etwas Heißem.
»Kannst du dich aufsetzen?«, fragte sie. »Du musst trinken und essen.« Automatisch gehorchte Gwennis ihrer Herrin. Das Zimmer machte einen Satz, und ihr Magen tat es ihm nach. Sie wandte den Kopf von der ihr hingehaltenen Tasse weg.
»Du musst«, wiederholte die Lady. »Die Anwendung von laran entzieht dem Körper alle Kraft.«
Das Mädchen nahm die Tasse mit dem dampfenden Rindentee und verzog das Gesicht, stellte aber schon beim ersten Schluck überrascht fest, dass seine Wärme beruhigte. Als sie die Tasse halb leer hatte, wurde ihr nicht mehr übel beim Anblick einer Schüssel Nussbrei mit viel Honig, die ihr als Nächstes angeboten wurde. »Ist es wirklich laran, meine Lady?«
»Ja, und sehr starkes«, gab sie herb zurück. »Würden andernfalls all diese Umstände gemacht?«
Langsam wurde Gwennis klar, warum sie in einem eigenen Zimmer lag und von der Dame des Hauses bedient wurde, aber sie war noch lange nicht so kühn, dass sie weitere Fragen gestellt hätte. Domna Calinda befahl ihr zu schlafen und ging, und nun fiel Gwennis das Versprechen Dom Elrics ein - er wolle sie anerkennen und ihren Sohn zu seinem Erben machen. Wenn sie je einen Sohn haben sollte - die ganze Situation kam ihr traumartig vor. Vor diesem Tag hatte sie selbst nur halb daran geglaubt, sie sei Dom Elrics Tochter. Jetzt hatte sie Leute ihrer eigenen Art, ihres eigenen Blutes gefunden oder war vielmehr von ihnen gefunden worden. Ein Platz würde für sie geschaffen werden, sie würde dazugehören. Ihre ›Krankheit‹ war merkwürdigerweise nicht länger ein Fluch, sondern eine Gabe.
Warum war sie dann nicht glücklicher? Vielleicht würde sie glücklich sein, wenn sie sich an die Idee gewöhnt hatte, wenn der Traum für sie Wirklichkeit geworden war.
Eine Weile schlief sie. Zwei Stunden später wurde sie von neuem aus dem Schlaf gerüttelt. Dom Elric und Domna Calinda standen beide an ihrem Bett. »Steh auf, Kind«, sagte der Lord. »Lerrys hat wieder innere Blutungen - wir brauchen dich.«
Auch diesmal, als Gwennis sich aufsetzte, drehte sich das ganze Zimmer um sie, schlimmer als zuvor. Sie hatte das Gefühl, es könne in jedem Augenblick anfangen, so schnell zu kreisen, dass es sich von dem Haus losreißen und durch die Nacht davonfliegen werde.
Domna Calinda sagte: »Du brauchst nicht zu kommen, Mädchen.
Elric, man kann nicht von ihr erwarten, dass sie so bald schon wieder arbeitet.«
»Hör auf, dich einzumischen!«, fuhr er sie an. »Ich habe dir bereits gesagt, wir haben keine Wahl.«
Gegenstand eines Streits zu sein beunruhigte Gwennis noch mehr als die Übelkeit erregende Desorientierung. Sie umklammerte den Bettpfosten und versuchte aufzustehen. »Ich werde kommen …« Das Wirbeln verstärkte sich. Sie wurde mit Gewalt aus ihrem Körper geworfen. Sofort sah und hörte sie mit blendender Klarheit, während alle anderen körperlichen Empfindungen gnädigerweise ausgelöscht waren. Irgendwo unter der Decke hängend, sah sie auf Dom Elric und Domna Calinda nieder, die sich vor ihrem schlaffen Körper stritten.
»Siehst du?«, sagte die Lady. »Wenn du so weitermachst, wirst du sie umbringen, ohne dass dein Sohn einen Nutzen davon hätte. Ich bin keine leronis, aber ich weiß recht gut, was die Schwellenkrankheit anrichten kann. Und es heißt, je stärker das laran, desto größer die Gefahr.«
»Ihre Kraft ist das, was Lerrys in diesem Augenblick braucht«, sagte Dom Elric. »Und für ihn werde ich alles riskieren.«
»Einschließlich des Lebens dieses Kindes, das zu unwissend ist, um auch nur zu ahnen, was du von ihm verlangst? Und wenn sie stirbt, was wird dann aus deiner Hoffnung auf einen Erben?«
»In dieser Notlage bin ich nur, weil du nicht den schicklichen Begriff von der Loyalität gegenüber deiner Familie hast. Wenn du deine Pflicht getan und wieder geheiratet hättest …«
»Ich habe meine ›Pflicht‹ einmal auf dein Gebot hin getan - einen Mann geheiratet, den ich kaum kannte, und eine Totgeburt gehabt, die mich beinahe das eigene Leben gekostet hätte. Als Lorills Tod mir die Freiheit gab, sah ich darin eine zweite Chance aus der Hand der Göttin.«
»Und verschleudertest sie an diese Amazonen. Unnatürliche Weiber
- es müsste gesetzlich verboten werden, dass sie Frauen lehren, selbstsüchtige Wünsche über die Belange des eigenen Blutes und Clans zu setzen.«
Irgendwann während dieser Diskussion sah Gwennis, dass ihr Körper auf das Bett gehoben wurde, und spürte, wie ihr Bewusstsein in ihn einsank. Trotzdem war ihr, als höre sie die beiden Stimmen immer noch, während die Sprecher die Korridore entlanggingen, und sehe sie durch Wände, die vor ihren Blicken zu Transparenz zerschmolzen.
»Selbstsüchtig?«, gab Domna Calinda zurück. »Ist es bei einer Frau Selbstsucht, wenn sie das Recht auf die freie Wahl ihres eigenen Schicksals verlangt, ein Recht, das allen Männern von Geburt an zusteht?«
»Was heißt hier freie Wahl? Meinst du, ich habe rein zum Vergnügen vier Frauen genommen? Aber ich weiß, wie wichtig es ist, einen Erben meines eigenen Blutes zu haben, auch wenn du es nicht weißt.«
»Dann bist du ein Tor, Bruder. Und dieses Mädchen wird deiner Torheit geopfert werden, so wie ich beinahe geopfert worden bin. Das arme Ding, wahrscheinlich wird sie es für eine große Ehre halten, dass sie verheiratet wird, um dir einen Enkel zu geben!«
Gwennis folgte ihnen mit ihrem merkwürdig erweiterten Sehvermögen in Lerrys’ Zimmer, wo Mhari am Bett des Jungen weinte. Gwennis spürte die Verletzung des Kindes als ein fernes, dumpf-rotes Pulsieren. Es war, als strecke sie Phantom-Fühler aus und streichele das wehe Glied, bis das Rot zu kühler Klarheit verblasste.
Dann war sie zurück in dem Bett mit den Vorhängen, fest eingeschlossen in ihrem Körper, und ziellose Empfindungen fluteten wie Wellen über sie hin. Sie sehnte sich, wieder in diesen körperlosen Zustand zu entfliehen, doch sie konnte den Weg nicht finden und fühlte sich gefangen. Lautlos schrie sie ihre Qual hinaus, für wie lange, wusste sie nicht. Endlich fasste eine Hand die ihre.
Als ihr Kopf sich klärte, war es immer noch dunkel. Domna Calinda, deren Umriss eine einzige Kerze erhellte, saß wieder am Bett.
»Ich - ich glaube, ich habe Euch gerufen, meine Lady.«
Domna Calinda nickte. »Ich habe dich gehört, obwohl mein eigenes laran nicht der Rede wert ist.«
»Es tut mir Leid, dass ich eine solche Plage bin.«
»Plage?«, schnaubte die Dame. »Mein Bruder hält dich für ein Geschenk vom Herrn des Lichts.«
»Wie geht es dem kleinen Jungen?«
»Gut, zumindest im Augenblick.«
Die Augen niederschlagend, zwang Gwennis sich, ihre neuen Zweifel auszusprechen. » Vai domna, ich bin mir nicht sicher, ob ich einen Edelmann heiraten möchte oder - oder was der vai dom sonst für mich plant.«
Domna Calindas scharfer Blick verriet Gwennis, die Lady wusste, dass sie den Streit von vorhin belauscht hatte. »Und was möchtest du stattdessen tun, mein Mädchen?«
»Ich hörte Euch von den Freien Amazonen sprechen - dass sie die Frauen ihr Geschick wählen lassen.«
»Dann möchtest du zu den Entsagenden gehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Gwennis. »Als Kriegerin zu leben - und den Männern für immer zu entsagen …« Obwohl, dachte Gwennis, ihre bisherigen Erfahrungen mit Männern in ihr keine große Sehnsucht geweckt hatten, sie besser kennen zu lernen.
Die Lady sagte mit einem dünnen Lächeln: »Komme ich dir wie eine Schwertfrau vor? Wir üben alle ehrenhaften Berufe aus. Unser ganzes Glaubensbekenntnis besteht darin, dass alle Frauen unterschiedlich sind, ebenso wie die Männer. Du, zum Beispiel, bist vielleicht für die Heilkunst bestimmt.«
Dieser Gedanke traf Gwennis wie eine Offenbarung; sie hatte sich nie irgendeine besondere Fähigkeit zugetraut. »Meint Ihr, das könnte ich?«
»Mag sein - wer weiß? Man braucht dazu mehr als nur laran. Was nun die Abwendung von allen Männern betrifft, so ist das auch ein Missverständnis. Viele Entsagende gehen Freipartner-Ehen ein. Wir schwören nur, niemals das Eigentum eines Mannes zu werden oder Kinder für den Stolz eines Hauses oder Clans zu gebären.«
Gwennis dachte kurz daran, dass Dom Elric, obwohl er es zweifellos gut meinte, sie nur ihres neu entdeckten laran wegen wollte. An ihr selbst war er ebenso wenig interessiert wie ihr Pflegevater. Hier war eine Chance, zu lernen, was dieses Selbst wirklich war. »Ja - ich möchte gern zu ihnen gehen.«
»Wenn das dein aufrichtiger Wunsch ist, kann ich dir den Weg zum Gildenhaus von Serrais beschreiben. Bringst du es fertig, einen Tag lang allein durch die Gegend zu wandern? Du musst vor Sonnenaufgang gehen, ohne jede Begleitung, sogar ohne ein Reittier, wenn Elric nichts merken soll. Er wird außer sich sein vor Wut, wenn er feststellt, dass du verschwunden bist.«
Gwennis erkannte die Warnungen als erste Prüfung ihrer Entschlossenheit, ihrer Bereitschaft, ohne den Schutz zu leben, den eine ›schwache Frau‹ normalerweise beanspruchen konnte. (Sie nahm einen kurz aufblitzenden, unausgesprochenen Zweifel wahr: »Dieses Mädchen benimmt sich wie ein Rabbithorn in den Klauen eines Banshees. Das Gildenhaus ist kein Asyl für Unfähigkeit.«) »Ich werde tun, was ich muss, meine Lady. Aber - aber Lerrys. Wenn ich jetzt gehe …«
»Dann ist er nicht schlimmer dran als in der Zeit, ehe du kamst. Ich bin nicht die Bewahrerin deines Gewissens, Gwennis, aber zweifellos weißt du nicht, wie gefährlich ein unausgebildeter Telepath sein kann. Später magst du in einer Verfassung sein, in der du ihm besser helfen kannst.«
Zum ersten Mal hatte die Lady sie mit ihrem Eigennamen angeredet. Gwennis warf die Decke zurück und stand auf. Diesmal wurde sie nicht von Schwindel erfasst. »Dann will ich ins Gildenhaus gehen. Und ich werde zurückkommen, falls Dom Elric mich haben will, um meinem Halbbruder zu helfen - nachdem ich meinen eigenen Weg gefunden habe.«
Über Susan Holtzer und ›Die Nase des Kamels‹
Eine hervorstechende Eigenart der darkovanischen Kultur ist die ausgesprochene Technophobie. Das hat nicht allzu intelligente Leser zu dem Schluss verführt, ich selbst sei entweder Technophobin oder Libertarierin.
Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ich verdanke die Fortsetzung meiner Existenz und die von mindestens zweien meiner Kinder der Technologie, und den Libertarianismus halte ich (wenn auch vielleicht nicht in der Theorie, so doch in der Praxis) für eine scheußliche Variante des sozialen Darwinismus mit der These vom ›Überleben der Reichsten‹.
Warum habe ich dann die Darkovaner mit so viel Abscheu vor der Technik und einer Regierung ausgestattet? Nun, damals schien es mir eine gute Idee zu sein; Darkover ist vor allem ein
›Gedankenexperiment‹ (um in der Sprache der Philosophie zu reden), und zumindest auf dem Papier und in der Phantasie funktioniert die darkovanische Kultur. Susan Holtzer hat die darkovanische Technophobie hergenommen und mit ein bisschen Haarspalterei eine amüsante Geschichte verfasst, wie man eine Bresche für die Technologie schlagen kann.
Susan sagt: »Ich habe jede vorstellbare Art von Non-Fiction geschrieben, auch während der drei unfruchtbaren Jahre, als ich einen Sauhaufen von mittleren Managern davon zu überzeugen versuchte, dass es das Wort Tutee nicht gibt.« (Ist ein Tutee einer, um den sich ein Tutor kümmert? Das Wort sollte es dann aber geben; eine derartige Lücke fordert Wortneubildungen und Sprachschnitzer heraus.) Sie nennt sich ›einen politischen Ausbrenner der Sechziger, der mehr Realität in der Science-Fiction als im zeitgenössischen Amerika findet.‹ (Nichtsdestotrotz ist sie ein Fan der Green Bay Packers und würde lieber ihren rechten Arm hergeben als ihr geliebtes New York. Okay, sie ist Linkshänderin, aber viel zeitgenössischer als das kann einer nicht gut sein.) Doch wollen wir jetzt nicht weiter über die Natur der Realität in der Science-Fiction und im zeitgenössischen Amerika, sondern über Susans Versuch nachdenken, auf Darkover (eine begrenzte) Technologie einzuführen.
MZB
Die Nase des Kamels
von Susan Holtzer
Elinda beugte sich tiefer über den Motor des Luftwagens, so dass ihr Gesicht nur noch ein paar Zoll von den sich drehenden Rotoren entfernt war. Benutze alle deine Sinne, hatte Sam gesagt. Nun, ihre Augen verrieten ihr nichts, und ihre Nase entdeckte nur den normalen Geruch von überhitztem Treibstoff. Sie legte den Kopf auf die Seite und lauschte.
»Nun?«, fragte der Mann hinter ihr ungeduldig.
»Ich glaube …« Sie zögerte. »Die Zündungseinstellung ist nicht in Ordnung.«
»Aye, aber warum?«
»Das muss doch am Mikroprozessor liegen, oder?«
»Ach ja?«
»Es liegt am Mikroprozessor, jawohl!«, erklärte Elinda. »Diagnose: Mikroprozessor ist zu ersetzen.«
»Verdammt!« Sein Zorn ließ sie zusammenzucken. »Hör richtig hin!« Er stieß sie nach vorn, bis ihre Nase den Motor fast berührte.
»Hörst du schlecht, Mädchen? Dieser tiefe, schnurrende Ton - das ist Metall auf Metall.«
Sie konzentrierte sich, schloss die anderen Geräusche des Raumhafens aus. Nach einer Weile seufzte sie. »Natürlich. Und der Mikroprozessor spinnt, weil er versucht, die Bewegung der Stange zu kompensieren.« Sie zeigte darauf. »Diese da.«
»Richtig!« Sam McCanns sommersprossiges Gesicht strahlte sie an.
»Aus dir wird doch noch ein Techniker, auch wenn du ein Mädchen und eine Barbarin bist.« Elinda fasste seine Worte so auf, wie sie gemeint waren, als Kompliment, denn sie wusste, für den stämmigen Terraner war jeder ein Barbar, der Maschinen nicht liebte und nicht verstand. Das Wort wandte er unparteiisch auf Männer und Frauen, auf Darkovaner und Terraner an.
»Komm.« Er schloss die Haube über dem widerspenstigen Motor.
»Ertränken wir den Ölgeschmack in einem Glas guten terranischen Biers. Ich lade dich ein.«
Sie schlenderten über die weite Betonfläche, und er musterte sie mit einem eigentümlichen Blick. »Du bist schon eine merkwürdige Darkovanerin, weißt du.«
»Und ob ich das weiß«, lachte Elinda. »Wenn mein Vater richtig böse auf mich wurde, pflegte er zu sagen, ich sei schon verkehrt aus dem Mutterleib gekommen.«
»Jedenfalls bist du der einzige Mensch auf Darkover, der sich entschlossen hat, unsere Technik zu studieren. Ja, sicher, ein paar von euch Freien Amazonen arbeiten in unserer medizinischen Abteilung, aber außer dir ist keine auch nur entfernt an mechanischen Dingen interessiert. Ich kann mir bloß nicht vorstellen«, sagte er ernsthaft,
»wie du darauf gekommen bist, dass du dich dafür interessierst.«
»Daran ist mein Bruder schuld«, antwortete Elinda. »Als ich sieben Jahre alt war, kam er mit einem kleinen Modell eines Hubschraubers nach Hause, das er in der Handelsstadt gekauft hatte. Es war nur ein Spielzeug, eine Kuriosität; nach ein paar Tagen schenkte er es mir.«
Sie hielt inne. Die alten Erinnerungen stiegen wieder auf.
»Dann sah ich eines Tages einen richtigen Hubschrauber über uns hinwegfliegen, und ich konnte nicht verstehen, warum er flog und meiner nicht. Also zerlegte ich das Modell und setzte es wieder zusammen und versuchte, das herauszufinden. Danach nahm ich die Wasserpumpe auseinander, um zu sehen, wie sie funktionierte. Dafür bekam ich von meinem Vater zum ersten Mal Schläge.«
Sie setzte nicht hinzu, dass sie sich damals entschlossen hatte, den Eid der Entsagenden zu leisten. Jemand hat einmal gesagt, jede Freie Amazone habe ihre Geschichte, und jede Geschichte sei eine Tragödie. Nun, ihre war wahrscheinlich weniger tragisch als die meisten anderen. Sie suchte nach einem neuen Gesprächsthema und nahm eine flüchtige Bewegung wahr.
»Was, in aller Welt, ist denn das?«
»Wo?« Sie hatten die betonierte Fläche des Raumhafens verlassen und nahmen eine Abkürzung über den Hof der Unterkünfte für Durchgangsreisende. »Meinst du den Jungen auf dem Fahrrad?«
»Fahrrad?« Elinda hatte zu Beginn ihrer Ausbildung einen umfassenden Schlafkurs in der terranischen Sprache erhalten, aber an dieses Wort erinnerte sie sich nicht.
»Ein Kinderspielzeug, auf dem man fahren kann.«
»Ich möchte es mir ansehen.« Sie lief über den Hof bis zu der Stelle, wo sie einen Jungen beobachten konnte, der in Kreisen auf dem seltsamen Gerät herumkurvte. Es bewegte sich viel zu schnell, als dass Elinda den Mechanismus deutlich hätte erkennen können.
»Kannst du ihn bitten anzuhalten?«, fragte sie Sam, der gutmütig die Schultern zuckte und dem Jungen winkte.
»Macht es dir etwas aus, wenn sich die Dame dein Rad ansieht?«
»Nein, Sir.« Der Junge hielt vor ihnen an und stieg mit Schwung ab.
»Es ist ein Himalaja-Rennrad. Sehen Sie? Fünfzehn Gänge, hydraulische Bremsen und Filene-Getriebe. Diese Ausführung brauche ich auf Castel - dahin sind wir unterwegs.«
Elinda kniete sich neben dem Rad auf den Boden, ohne an ihre Würde oder das raue Pflaster zu denken, und untersuchte das Gerät.
»Ich verstehe«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu den anderen.
»Alles wird mit diesen Kabeln bewerkstelligt. Antriebskette, Zahnrad-Übersetzung, Bremsen …« Sie sah zu dem Jungen hoch.
»Wie schnell fährt es?«
»Auf ebenem Boden beinahe 50«, erklärte er stolz.
»Fünfzig Stundenkilometer?« Elinda stand auf und begegnete Sams amüsiertem Blick mit aufgeregtem Gesichtsausdruck.
»Sam, ich möchte mit Cholayna sprechen. Kommst du mit? - Hab vielen Dank«, sagte sie zu dem verblüfften Jungen. »Komm, Sam.«
Mann und Junge zuckten die Schultern und grinsten sich an, und Sam ließ sich von Elinda in Richtung des Terranischen HQ fortziehen.
» Was möchtest du?« Cholayna Ares beugte sich über ihren Schreibtisch und starrte das auf der anderen Seite sitzende Mädchen an.»Fahrräder. Das sind mechanische Geräte mit Pedalen, die mit den Füßen getreten werden, und man kann damit fahren.« Elinda nahm sich einen Schreibstift und fing an, eine Skizze zu zeichnen. Cholayna verkniff sich das Lachen und hob die Hand.
»Lass nur, ich weiß, was Fahrräder sind. Aber, um alles in der Welt, zu welchem Zweck brauchst du eins?«
»Nicht eins, mehrere. Für das Gildenhaus. Siehst du nicht, wie wunderbar sie uns zustatten kämen?«
»Am besten klärst du mich auf«, sagte Cholayna trocken.
»Denk doch nach!«, sprudelte Elinda hervor, ohne den Ton der anderen Frau zu bemerken. »Sie sind schnell, sie sind leise, sie sind sauber. Sie brauchen nicht gesattelt oder gefüttert oder gestriegelt oder in den Stall gebracht zu werden. Und sie werden niemals krank oder müde und bekommen keine Koliken.« Ihre Worte prasselten wie die von einem Feuerwerkskörper wegstiebenden Funken. »Oh, natürlich können sie die Pferde nicht ersetzen, nicht auf langen Reisen, aber für unsere unaufhörlichen kleinen Besorgungen wären sie ein Geschenk der Göttin. Und einige Straßen in der Innenstadt von Thendara sind so überfüllt, dass man kaum zwei Pferde aneinander vorbei bekommt, während ein Fahrrad längst nicht so viel Platz beansprucht.«
Fahrräder! Cholayna Ares, Chefin des Nachrichtendienstes auf Darkover, was den zweithöchsten terranischen Rang auf dem Planeten darstellte, dachte über das Mädchen und seine Bitte nach.
Sie wusste, Elinda n’ha Mardra besaß hinter ihrem unschuldigen Mondgesicht den wohl schärfsten Intellekt, den sie unter den Darkovanern gefunden hatten, und vielleicht, dachte Cholayna, den schärfsten Intellekt auf Darkover. Elindas IQ ging über die Werte der üblichen Skala hinaus, ihr Kreativitätsindex lag höher als Cholaynas eigener, und sogar ihre Geschicklichkeit auf technischem Gebiet lag um die 95 Punkte.
Aber Fahrräder! Schließlich war das Kind erst siebzehn.
»Bei Pferden ist das Problem, dass man so viel Zeit braucht, um sie fertig zu machen«, fuhr Elinda fort. »Ich habe schon erlebt, dass Marisela Minuten und Minuten verschwendete, weil sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie schneller am Ziel sein würde, wenn sie zu Fuß ging oder wenn sie sich erst damit aufhielt, ein Pferd zu satteln.«
»Hast du darüber mit anderen Mitgliedern deiner Gilde diskutiert?«, fragte Cholayna neugierig.
Elinda schüttelte den Kopf. »Ich habe heute Nachmittag zum ersten Mal ein Fahrrad gesehen.«
»Meinst du, deine Schwestern werden deine Begeisterung teilen?«
»Warum denn nicht? Freie Amazonen haben keine Angst vor Neuerungen. Wenn etwas besser funktioniert, benutzen wir es.«
Cholayna nahm die unbewusste Arroganz des Mädchens zur Kenntnis und lehnte sich nachdenklich auf ihrem Stuhl zurück.
Unser größtes Problem hier ist der Widerstand der Darkovaner gegen Maschinen. Sie weigern sich nicht nur, sie selbst zu benutzen, sie verbieten uns sogar, dass wir sie außerhalb der Terranischen Zone benutzen. Aber der Bann bezieht sich auf motorisierte Geräte. Soweit sie sich erinnern konnte, wurden Fahrräder im Vertrag nicht erwähnt.
Innerlich schüttelte sie sich vor Lachen - wer wäre auch auf den Gedanken gekommen?
Also Fahrräder. Nicht als bedrohlich angesehene, nicht verbotene mechanische Geräte. Sie konnten die Straßen Thendaras füllen und sogar die konservativsten Darkovaner an die Anwesenheit von Maschinen gewöhnen.
»Die Nase des Kamels«, murmelte Cholayna.
»Wie bitte?«, fragte Elinda.
»Eine Sage, die wir auf Alpha haben«, antwortete Cholayna. »Sie handelt von einem großen, stinkigen Wüstentier, das es mit List schaffte, in ein Zelt eingelassen zu werden, indem es in kleinen Abschnitten um Obdach bat.«
»Ich verstehe«, nickte Elinda, und Cholayna stellte mit einiger Überraschung fest, dass Elinda tatsächlich verstand.
»Fahrräder.« Cholayna lachte. »Wird ein halbes Dutzend genügen?«
»Was wird der Alte - Verzeihung, was wird der Koordinator dazu sagen?«, fragte Sam zweifelnd.
»Russ Montray? Keinen Ton. Haben Sie nichts davon gehört? Sein Versetzungsgesuch ist genehmigt; er wird gehen, sobald ein neuer Legat ernannt worden ist. Im Augenblick ist er so glücklich, dass er zu allem Ja sagen würde.« Sie wandte sich an Elinda. »Gib mir eine Woche Zeit.«
Die Fahrräder, die Cholayna lieferte, waren eher eine Variante als eine Kopie des Himalaja-Rennrades. Elinda hatte um breite, nagelsichere Ballonreifen, einen stabilen Rahmen aus einer Magnesiumlegierung und eine Fünfgangschaltung gebeten. Das Modell war nicht so schnell wie das des Jungen, aber praktischer für das raue Kopfsteinpflaster auf den Straßen Thendaras. Sie hatte noch einen Tragekorb über dem hinteren Rad hinzugefügt und die waagerechte Stützstange niedriger anbringen lassen, damit Röcke, falls eine Amazone sie bevorzugte, nicht unschicklich hochgezogen würden.
Sie führte ihren Gildenschwestern die Fahrräder mit einem atemlosen Enthusiasmus vor, der zu ihrer Bestürzung nur in geringem Ausmaß geteilt wurde. Ein paar Frauen erklärten sich einverstanden, die fremdartigen Geräte auszuprobieren, und nach einer oder zwei Fahrten in die Stadt lehnten auch sie sie entschieden ab. Zehn Tage später musste Elinda zugeben, dass ihre wunderbaren Fahrzeuge kein ungetrübter Erfolg waren.
»Ich möchte mir heute Vormittag auf dem Markt neue Stiefel bestellen«, sagte Torayza eines Morgens beim Frühstück. »Hat jemand Lust mitzukommen?«
»Ich fahre mit dir«, meldete sich Elinda. »Ich bin dort mit Sam verabredet.«
»Danke, aber ich gehe zu Fuß«, erklärte Torayza fest. »Ich bin nicht in der Stimmung, mich verhöhnen und mir Steine nachwerfen zu lassen.«
Elinda zuckte die Schultern. »Ignoriere diese cralmacs. Warum ärgerst du dich über sie?«
»Wir können sie nicht ignorieren, und du solltest es auch nicht tun«, fiel Fellina ein. »Ehrlich, Eli, du machst uns alle zum Gespött.« Rund um den Tisch wurden Zustimmungen gemurmelt.
»Das stimmt.« Rafaella sah Elinda finster an. »Ich habe die Absicht, Mutter Lauria beim nächsten Haustreffen darum zu bitten, dass sie die Geräte verbietet.«
»Ich habe nicht das Recht, einen solchen Befehl zu erteilen«, fiel Mutter Lauria ein. »Es ist keine Eidesangelegenheit, und ich habe auch keine Autorität dieser Art über freie Frauen. Niemand wird gezwungen, die Geräte zu benutzen.«
»Das tut auch niemand mehr außer Elinda«, erklärte Rafaella zornig. »Trotzdem, wird eine von uns gedemütigt, bedeutet das eine Demütigung für uns alle.«
»Solange Elinda sich anständig benimmt und keinen Ärger heraufbeschwört, steht es uns nicht zu, ihr Vorhaltungen zu machen.«
»Es wird aber Ärger geben«, behauptete Rafaella. »Die Leute verlangen schon, der Rat solle die Geräte aus der Stadt verbannen.«
Elinda sah unglücklich auf ihren Teller nieder. Sie war so sicher gewesen, ihre Schwestern würden sich über die neuen Fahrzeuge ebenso freuen wie sie. Und nun stand zu befürchten, dass sie nicht einmal mehr ihr eigenes Rad benutzen durfte.
»Ich war überzeugt, sie würden begeistert sein«, sagte sie traurig zu Sam, als sie ihn auf dem Marktplatz einholte.
»Du bist deiner Zeit voraus, das ist alles.« Er wendete sein Rad.
»Los, fahren wir zum Raumhafen um die Wette.«
Lachend sausten sie durch die engen Straßen. Die Hohnrufe der Passanten, die Elinda immer ignoriert hatte, wurden für sie zu einer Herausforderung, ihre Geschwindigkeit zu steigern. An einer Ecke raste Sam, tief über den Lenker gebeugt, triumphierend an ihr vorüber und ging als Erster in die Kurve.
Elinda hörte das Gebrüll, bevor sie sah, was passiert war. Sie entdeckte Sam in einem Durcheinander von Pferden und Männern und sich drehenden Rädern. Ein Tieflader lehnte schief an dem Gebäude zu ihrer Rechten, und seine aus Baumstämmen bestehende Fracht war über die Straße gerollt.
Elindas Fahrrad schleuderte wild. Sie riss verzweifelt an der Lenkstange und kämpfte darum, das Gleichgewicht zu bewahren.
Endlich gewann sie die Kontrolle zurück. Sie schoss an einem mit offenem Mund dastehenden Arbeiter vorbei, auf den Lastwagen hinauf, in einem unmöglichen Winkel über die schräg stehende Oberfläche und gelangte mit scharrenden Reifen wieder hinunter auf die Straße. Jetzt hatte sie Spielraum und konnte anhalten.
»Sam!« Sie sprang ab und kletterte über den Holzhaufen. »Bist du verletzt?«
Er lag auf dem Boden, halb unter und halb über seinem Fahrrad, und ein Bein hatte sich in der Kette verfangen. Rings um ihn schrie eine Gruppe von wütenden Arbeitern Flüche und Drohungen. Sam schüttelte benommen den Kopf und versuchte aufzustehen, aber das Fahrrad drehte sich und rutschte und warf ihn auf den Rücken. Die Arbeiter hörten mit ihren Schimpfreden auf und brüllten vor Lachen.
»Zandrus Höllen!«, rief Elinda auf Darkovanisch. »Ihr lacht, wenn ein Mann verletzt wird?«
»Mir ist nichts passiert«, sagte Sam, der mehr ihren Ton als ihre Worte verstand, mit schwachem Lächeln. Er entwirrte sich aus dem widerspenstigen Fahrrad, kam mit ziemlichen Schmerzen auf die Füße und massierte sich die Schulter.
»Und was ist mit meinen Männern?« Ein bulliger, dunkelhaariger Mann trat vor und stellte sich, Sam verächtlich ignorierend, Elinda gegenüber. »Sollen sie wehrlose Zielscheiben für die Angriffe elender Terranan-Maschinen sein, die sämtliche Straßen unsicher machen?«
»Jeder kann einen Unfall haben, Dom Kennet, auch auf einem Pferd.« Elinda sprach freundlich, sie war entschlossen, Streit zu vermeiden. Ausgerechnet Kennet, so ein Pech! Zu ihrer Bestürzung hatte sie in ihm einen hiesigen Baumeister erkannt, der die lauteste und feindseligste antiterranische Stimme Thendaras war. »Er hat die Xenophobie zu einer Kunstform erhoben«, hatte Cholayna einmal von ihm gesagt.
»Ein Pferd würde nicht rücksichtslos durch die Straßen trampeln und erwarten, dass ihm jedermann aus dem Weg springt, und es würde auch nicht blindlings in eine Gruppe Unschuldiger hineindonnern. Ein Pferd wird niemals zum Verräter an seiner Natur
- «er warf böse Blicke auf die Lederkleidung der Amazone » - und auch nicht an seiner eigenen Art, indem es sich mit ihren Feinden verbündet.« Diesmal richteten sich seine Augen finster auf Sam, der hilflos die Schultern zuckte und eine Verbeugung andeutete.
»Elinda, was, zum Teufel, sagt er?«
»Das wirst du gar nicht wissen wollen«, entgegnete sie bitter auf Terranisch. Dann schaltete sie wieder auf Darkovanisch um. »Ich entschuldige mich bei Euch, Dom Kennet. Mehr kann ich nicht tun.«
»Aber der Rat kann mehr tun.« Diesmal sprach Kennet mit grimmiger Befriedigung. »Nach diesem Vorfall wird er wohl einsehen, dass derartig unanständige, unnatürliche Maschinen aus Thendaras Straßen verbannt werden müssen. Oder wollt Ihr behaupten, Euer obszönes Gerät sei besser als ein Pferd?« Die Männer hinter ihm zollten seinem Sarkasmus mit höhnischem Lachen Beifall.
»Unter bestimmten Bedingungen, ja«, erwiderte Elinda, rot im Gesicht vor Zorn.
»Unter bestimmten Bedingungen …« Kennet sprach langsam, auf Wirkung bedacht, und die Männer wieherten vor Vergnügen.
»Vielleicht seid Ihr geneigt, diese Behauptung auch zu beweisen?« In einer Reflexbewegung flog Elindas Hand an ihr Messer, aber Kennet grinste und schüttelte den Kopf. »Oh, nicht mit Stahl, mestra. Aber …
wie wäre es mit einem Wettrennen? Eure obszöne Maschine gegen mein Pferd?« Sein Grinsen wurde noch breiter.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte Sam nervös.
»Er hat mich gerade zu einem Wettrennen herausgefordert -
Fahrrad gegen Pferd«, teilte Elinda ihm auf Terranisch mit.
»Das musst du mit diesem Fahrrad verlieren. Vergiss es, Mädchen.
Besser, wir entschuldigen uns und sehen zu, dass wir weiterkommen.«
»Das kann ich nicht machen, Sam. Und auf jeden Fall …«
Nachdenklich betrachtete sie die grinsenden Männer, das große Zugpferd, den Lastwagen, der wie betrunken an dem Gebäude lehnte.
»Elinda, mach keine Dummheiten. Dein Fahrrad kann ein Pferd nicht schlagen.«
»Seht sie euch an!«, rief Kennet mit lauter Stimme. »Sie muss sogar für eine Ehrenangelegenheit die Erlaubnis ihres terranischen Herrn einholen.«
»Seine Ehre steht ebenfalls auf dem Spiel«, gab Elinda auf Darkovanisch zurück, und dann sagte sie wieder auf Terranisch:
»Sam, kann ich ein paar schwere Maschinen vom Raumhafen benutzen, um eine Bahn anzulegen?«
»Ja-a, ich glaube schon. Ach, sicher.« Er warf die Hände hoch.
»Aber du setzt dich dabei in die Nesseln, Mädchen.«
»Vielleicht auch nicht.« Und zu Kennet: »Ich sagte, unter bestimmten Bedingungen. Seid Ihr bereit, das Rennen unter bestimmten Bedingungen durchzuführen?«
»Unter allen Bedingungen, die es Euch gefällig ist, zu nennen, mestra.« Seine Augen glitzerten. »Und der Einsatz?«
»Wenn ich gewinne, werdet Ihr und Eure Männer vier mal zehn Tage lang für jede Strecke, die kleiner ist als die halbe Länge der Stadt, Fahrräder statt Pferde benutzen. Und es wird nicht mehr davon gesprochen, dass sie aus der Stadt verbannt werden sollen.«
»Aber setzen wir einmal den Fall, dass Ihr verliert?«
»Dann bekommt Ihr die Fahrräder. Alle. Wir wollen dann nicht mehr in der Stadt damit herumfahren, und Ihr erhaltet ein Vermögen an Metall, das Ihr zu Eurem Gebrauch einschmelzen könnt.«
»Abgemacht! Wo und wann?«
»In fünf Tagen ab heute. Am Rand der Terranischen Zone, hinter dem Raumhafen.«
»Su serva, mestra.« Er verbeugte sich ironisch. »Bitte, sorgt dafür, dass die Maschinen dort sind, damit ich sie gleich zum Einschmelzen mitnehmen kann.«
»Oh, sie werden da sein, vai dom, damit Ihr und Eure Männer darauf wegfahren könnt. Komm, Sam«, fuhr sie auf Terranisch fort.
»Machen wir uns an die Arbeit.«
»Um was hast du gewettet?«, fragte Sam. Sie schoben ihre verbeulten Fahrräder auf den Raumhafen zu. »Elinda, wie willst du das Cholayna beibringen? Du kannst doch nicht einfach terranisches Eigentum weggeben.«
»War das denn nicht unser Ziel? Wir wollten die Darkovaner an Maschinen gewöhnen!«
»Mädchen, Mädchen, du glaubst doch nicht etwa, dass du siegen wirst?«, ächzte Sam. »Was du da hast, ist kein Himalaja-Rennrad; es ist ein ungefüges, langsames Transportmittel.«
»Siegen werde ich trotzdem«, behauptete sie. »Und du wirst mir dabei helfen. Hör zu.« Sie sprach in raschem Tempo auf ihn ein, und nach ein paar Augenblicken veränderte sich Sams Gesichtsausdruck.
Als sie das Tor des Raumhafens passierten, grinste er breit.
Am Tag des Rennens erschien Kennet pünktlich, umgeben von einem prahlerischen Gefolge und nicht auf dem Zugpferd, sondern auf einem edlen Renner. Beim Anblick des schlanken Tieres verpuffte Elindas Selbstvertrauen.
»Oh, Sam! Das ist ein Syrtis-Rennpferd!«
»Ja, und ich möchte behaupten, dass dein Gegner damit einen schweren Fehler macht«, beruhigte Sam sie. »Dieses Tier ist an perfekte Bedingungen gewöhnt - eine schöne glatte Bahn, einen erfahrenen Rennreiter und all das. Es wird vielleicht schon vor deinem Fahrrad scheuen, ganz zu schweigen von der Bahn selbst.«
»Da magst du Recht haben.« Elinda betrachtete das große Oval und versuchte, ihren Optimismus zurückzugewinnen. »Ich wünschte, es wären ein paar von meinen Schwestern hier.«
»Sie hätten sich damit keine Verzierung abgebrochen«, murmelte Sam ärgerlich.
»Sie wollten meine Niederlage nicht mit ansehen, hat Rafaella gesagt.«
»Nun, zumindest eine von ihnen hat ihre Meinung geändert.«
Elinda folgte der Richtung von Sams Blick zu der dunklen Haut und der schwarzen terranischen Uniform von Cholayna Ares. Neben ihr stand eine Frau in der Lederkleidung der Amazonen.
»Mutter Lauria! Die Göttin segne sie, sie muss es für ihre Pflicht halten, anwesend zu sein. Oh, Sam, ich muss siegen.« Sie umarmte die ältere Entsagende. »Danke, dass du gekommen bist. Jetzt kann ich gar nicht mehr verlieren.«
»Ich glaube, du würdest auch ohne mich siegen, chiya, obwohl ich mich freue, dass ich dabei sein kann.« Sie lächelte freundlich. »Was mich betrifft, so habe ich volles Vertrauen zu deinem Verstand.« Ihr Ton verriet, dass es Streit innerhalb der Gilde gegeben hatte, und Elinda bekam Gewissensbisse.
»Mutter, ich möchte nicht der Anlass zu Zwistigkeiten unter meinen Schwestern werden.«
»Das wirst du auch nicht«, erklärte Mutter Lauria fest. »Sie werden einsehen, dass du niemals Schande über die Gilde bringen würdest.«
»Komm, Elinda«, unterbrach Sam. »Es geht los.«
Elinda ging zu der Stelle, wo Flaggen die Startlinie markierten.
Plötzlich wurde ihr bewusst, welche Verantwortung sie so unbekümmert auf sich geladen hatte, und das Rennen hörte auf, ein Spiel zu sein.
Kennet saß auf seinem Pferd und sah hochmütig über ihren Kopf weg. Ein großer Mann mittleren Alters in der rauen Tracht eines cristofero trat vor und hob die Hand.
»Ich bin Vater Domiel, mestra.« Er verbeugte sich vor Elinda. »Man hat mich gebeten, als Zeuge an diesem Rennen teilzunehmen. Habt Ihr etwas dagegen einzuwenden?«
»Durchaus nicht«, antwortete Elinda mit echter Erleichterung. »Ihr wisst doch, dass die Kampfansage ›unter bestimmten Bedingungen‹
lautete?«
»Ja.« Der Mann nickte, und Elinda entdeckte einen Schimmer von Rot in dem ergrauenden Haar. »Ich werde mir jetzt den Austragungsort ansehen, wenn es Euch recht ist.«
»Natürlich.« Elinda ging mit ihm zu der Bahn, und Kennet folgte ihnen zu Pferde, gleichgültige Blicke um sich werfend. Doch als er die Bahn erblickte, riss er an den Zügeln und stellte sich in den Steigbügeln auf.
»Zandrus Höllen! Was ist das für ein Trick?«
»Trick, Dom Kennet?« Elinda zuckte die Schultern. »Das sind die Bedingungen, die ich setze. Vater Domiel?« Sie blieb stehen, während die Männer sich die Bahn ansahen, die sie und Sam geschaffen hatten.
Sie war eher rund als oval und hatte einen Umfang von beinahe 300
Metern. Die Oberfläche der eigentlichen Reitbahn, sechs Meter im Durchmesser, war ziemlich glatt mit gerade genug Gras, dass Elindas Reifen griffen. Eine breite weiße Linie trennte die Oberfläche in eine innere und eine äußere Spur.
Und die ganze Bahn stand in einem Winkel von 30 Grad schräg.
»Meine Bedingungen«, sagte Elinda. »Dreimal rund um die Bahn, Start und Ziel bei den Flaggen, die Teilnehmer dürfen die Mittellinie nicht überqueren. Vater Domiel stellt den Sieger fest.«
»Das ist absurd!«, polterte Kennet. »Wie kann jemand ein Rennen auf einer Bahn liefern, die schräg ist wie ein … wie ein Erdrutsch?
Das Risiko für das Pferd ist nicht akzeptabel.«
»Erklärt Dom Kennet also, dass es Bedingungen gibt, unter denen ein Fahrrad besser ist als ein Pferd?«, fragte Elinda kühl. »Wenn ja, gibt er sich geschlagen.«
»Nein!«, tobte Kennet. »Meiner Meinung nach könnt Ihr mit Eurem scheußlichen Gerät ebenso wenig auf einer solchen Bahn fahren!«
»Um das herauszufinden, sind wir ja hier. Vater Domiel?«
»Die Bedingungen sind nicht für beide Teilnehmer gleich«, stellte der Mann fest. »Die innere Spur ist kürzer als die äußere.«
»Ich überlasse die innere Dom Kennet«, sagte Elinda sofort. Sie zog die Außenbahn auf jeden Fall vor - wenn das Pferd ausglitt und fiel, wollte sie sich nicht unter ihm befinden.
»Dann gibt es keine Einwände.« Vater Domiel zeigte ein ausdrucksloses Gesicht, aber er sah Elinda mit nachdenklich zusammengekniffenen Augen an, und sie meinte, seine Unterlippe ganz kurz zittern zu sehen. Um keine weitere Diskussion aufkommen zu lassen, begab sich Elinda an die Startlinie.
Ihr Fahrrad zwischen den Beinen, stand sie am höchsten Punkt der Bahn, und die Räder zeigten beinahe senkrecht nach unten. Sie wusste, das war der schwierigste Teil - wenn sie ins Schleudern geriet und fiel oder für einen Augenblick die Kontrolle verlor, würde sie über die Mittellinie nach unten rutschen und hatte dann sofort verloren.
Kennet hielt mit wütendem Gesichtsausdruck die Zügel in beiden Händen. Hinter ihm brüllten seine Männer zotige Aufmunterungen.
»Haltet den Mund, ihr Trottel!«, rief er ihnen zu, als das Pferd auf der Bahn ausglitt und, ebenem Boden zustrebend, zurückweichen wollte. Er zwang sich zur Ruhe, klopfte dem Tier den Hals und lenkte es nach unten auf die innere Spur. Doch als er es seitlich zum Hang drehte, rebellierte es und tänzelte vor Unbehagen.
»Nehmt bitte eure Plätze ein.« Vater Domiel hob die Flagge. Als er sie senkte, verlagerte Elinda ihr ganzes Gewicht nach vorn und schoss den Hang hinunter. Sie drehte die Lenkstange nach oben, fühlte die Räder rutschen, trat auf die Rücktrittbremse, um die Abwärtsfahrt zu verlangsamen, und dann war sie parallel zu dem Hang, die weiße Trennlinie befand sich zu ihrer Rechten, und sie bewegte sich auf der Bahn vorwärts. Sie beugte sich vor, erhöhte die Geschwindigkeit und spürte den Wind an ihren Ohren vorbeipfeifen. In einem unmöglichen Winkel an der schiefen Oberfläche der Bahn klebend, ging sie in die Kurve.
Erst nach der zweiten Kurve, nahe dem Ende ihrer ersten Runde, wagte sie, aufzublicken und Ausschau nach ihrem Konkurrenten zu halten. Sie sah ihn und bekam einen solchen Lachanfall, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
Kennet hatte die erste Kurve noch nicht erreicht. Durch pure Willenskraft hielt er sein Pferd auf der Bahn, aber er konnte nichts tun, dass es diese unnatürliche Oberfläche akzeptierte. Mit protestierend zurückgelegten Ohren bewegte sich das Pferd in kurzen Stakkato-Ausbrüchen, und andauernd stieß es auf der vergeblichen Suche nach der Waagerechten den Kopf nach unten.
Elinda sauste an Pferd und Reiter vorbei in ihre zweite Runde.
Natürlich würde Kennet nicht so leicht aufgeben. Aus der Kurve am anderen Ende sah sie, dass er dem Tier die Sporen unbarmherzig in die Flanken stieß. Es tat einen Satz und stolperte hangaufwärts.
Dadurch ermutigt, benutzte Kennet die Sporen noch einmal. Das war dem Pferd zu viel. Es wieherte laut und versuchte, sich aufzubäumen.
Dann rutschten beide nach unten gerichteten Hufe auf der glatten Oberfläche aus, das Pferd fiel und rollte dem Mittelpunkt der Bahn entgegen. Kennet sprang ihm verzweifelt aus dem Weg.
Elinda ging in ihre dritte und letzte Runde und beobachtete voller Schadenfreude, wie Mann und Pferd auf dem staubigen Boden herumzappelten und beide versuchten, dem anderen auszuweichen.
Zum dritten Mal kam sie unter den triumphierenden Rufen von Sam und Cholayna an Vater Domiels Flagge vorbei. Sogar Mutter Lauria schwang die Arme und lachte laut. Elinda fuhr nach oben und von der Bahn hinunter und kam vor ihren Freunden wackelnd zum Halten. Plötzlich merkte sie, wie furchtbar erschöpft sie war.
»Geht es dir gut, chiya?« Mutter Lauria stützte Elinda, und Sam nahm ihr das Fahrrad ab.
»Ja, danke.« Die Reaktion ließ Elinda kichern.
»Du bist dir doch klar darüber, was du getan hast«, sagte Cholayna streng.
»Was?«, fragte Elinda ängstlich.
»Du hast alle deine Fahrräder verloren«, lachte Cholayna und zeigte auf die wütenden Gesichter von Kennets Männern. »Jetzt müssen wir noch einmal ein Dutzend von den Dingern anfertigen lassen, und wie, zum Teufel, soll ich den Posten des Budgets dem neuen Legaten erklären?«
Über Patricia Shaw-Mathews und ›Mädchen bleiben Mädchen‹
Pat Mathews wurde mit zehn Jahren Science-Fiction- und 1963
Darkover-Fan (sie verrät uns nicht, wie viele Jahre dazwischen liegen). Als Fan aktiv ist sie seit 1975. Sie hat eine Reihe von Darkover-Erzählungen geschrieben. Als Erste wurde die einen Markstein setzende Amazonen-Geschichte ›Es gibt immer eine Alternative‹ in Der Preis des Bewahrers veröffentlicht; weitere Arbeiten von ihr folgten in Schwert des Chaos und der Anthologie Greyhaven.
Ihre ersten Geschichten erschienen unter dem Namen Patricia Mathews; jetzt nennt sie sich Patricia Shaw-Mathews, um Verwechslungen mit der Schriftstellerin Patricia Mathews, der Autorin von Love’s Tender Fury und vielen anderen Romanen dieses Genres, zu vermeiden. Pat hat auch eine intelligente Studie über C. L
Moore in Tom Staicar’s Anthologie The Feminine Eye geschrieben.
Sie ist verheiratet und hat zwei Töchter, zwei Katzen, einen Hund und ein Meerschweinchen. Wenn sie gerade nicht für sie alle sorgt, ist sie Buchhalterin und bildet sich zur Buchprüferin aus. Sie gesteht, dass sie den Witz über das Steuerformular für außerirdische Lebewesen aufgebracht hat. 1040-ET.
MZB
Mädchen bleiben Mädchen
von Patricia Shaw-Mathews
»Eure Kindheit hat euch Ketten angelegt«, sagte Gildenmutter Julienne von Port Chicago zu den frisch gebackenen Amazonen, und Dalise n’ha Dionie stieß ein schnaubendes Lachen aus.
»Mir nicht«, zischte sie in scharfem Flüstern dem Karottenkopf zu ihrer Linken zu.
»Nun, versucht haben sie es«, räumte Catlyn n’ha Dorilys kichernd ein.
Ariane n’ha Linnet lehnte sich mit selbstzufriedenem Grinsen zurück. »Meine Leute kannten mich dafür zu gut«, sagte sie und lehnte sich noch ein bisschen weiter zurück. Ihr Stuhl kippte um und warf sie zweien ihrer neuen Eidesschwestern in den Schoß. Das ganze Zimmer wackelte vor Gelächter. Gildenmutter Julienne versuchte ohne Erfolg, Ariane, Catlyn und Dalise einen kalten Blick aus nur einem Auge zuzuwerfen.
Es war kein viel versprechender Anfang.
Catlyn war klein und schlank mit karottenfarbenem Haar und veilchenblauen Augen. Sie hatte das lose, beutelige Kostüm, das man ihr gegeben hatte, anprobiert, fünf Minuten lang versucht zu glauben, man erwarte tatsächlich von ihr, dass sie das Zeug trage, und sich dann daran gemacht, die offensichtlichen Mängel des Modells zu korrigieren. Wie die Gildenmutter widerstrebend zugeben musste, sah sie beinahe schick aus.
Dalise hatte sich ihre Kleidung bequemer gemacht, indem sie die Hosenbeine hochrollte und die Jackenschöße um ihre eindrucksvolle Taille festband. Sie war eine große, verschlafen wirkende junge Frau mit einer Überfülle an dunklem Haar und farblosen Augen. Ariane, ihre unzertrennliche Gefährtin, hatte sich keine Mühe gegeben, ihre Tracht zu verändern. Sie sah die Gildenmutter mit all der leeren Hübschheit eines terranischen Werbeplakats an, und ihr vorzüglich durchtrainierter Körper war untadelig nach den Vorschriften des Gildenhauses bekleidet. Warum nur kam sich die Gildenmutter wie ein Jäger vor, der ein Banshee am Schwanz gefasst hält?
Mit uncharakteristischer Zurückhaltung wartete Dalise, bis sie durch die Länge des Raumes von der Gildenmutter und der Versammlung getrennt war, bevor sie explodierte: »Sechs Monate hinter Mauern! Ich bin der Gilde beigetreten, um dem zu entrinnen!«
»Von der Falle in den Kochtopf«, stellte Catlyn angewidert fest.
»Nun, Kinder, wie gefällt euch unsere neue Erzieherin?«
»Ihr habt den Baum vor unserem Zimmer nicht bemerkt«, sagte Ariane zusammenhanglos. »Diese Vorschrift mit den sechs Monaten ist für solche erlassen worden, die sich nicht zu benehmen wissen. Ihr werdet gehört haben, dass sie das gesagt hat. Na, wir wissen uns zu benehmen. Offiziell kann sie das natürlich nicht zugeben, also - was sie nicht weiß, tut keiner von uns weh.«
Dalise kicherte. »Richtig!«
Eine ziemlich lange Zeit arbeiteten Ariane, Catlyn und Dalise abwechselnd in Küche und Stall, lernten zu lesen, zu schreiben und Waffen zu benutzen und befolgten die Hausregeln. Muster-Amazonen konnte man sie nicht nennen. Davon gab es, Avarra sei Dank, nur eine im Gildenhaus von Port Chicago, die den für sie bedauerlich unpassenden Namen Allegra n’ha Felicitas trug und sich die Aufgabe gestellt hatte, Missstände aufzudecken. Die Fronten waren bald abgesteckt.
Gildenmutter Julienne war nichts anderes übrig geblieben, als die drei Neuen von der Anklage freizusprechen, sie hätten ihrer unseligen Schwester den Spitznamen ›Allergica‹ angehängt; nur eine ihrer Frauen, die terranische Medizin studierte, konnte den Ausdruck kennen. Aber als Allergica-Allegra weinend in das Büro der Gildenmutter platzte und einen sehr schlechten Geruch von sich gab, richtete sich der Verdacht, ihr einen Streich gespielt zu haben, sofort auf sie. Unglücklicherweise wusste das Opfer es auch.
»Du musst diese drei Unruhestifterinnen loswerden!«, verlangte Allegra unter Tränen.
Man verlangte nicht, dass die Gildenmutter etwas tue. Mutter Juliennes Gesicht blieb ruhig, wie sie es durch lange Übung gelernt hatte. »Was haben sie angestellt?«, fragte sie und faltete die Hände.
»Sie haben mir Stallmist auf die Matratze gelegt!«, tobte Allegra.
Gildenmutter Julienne hielt die Lippen ganz fest zusammengepresst.
Als sie sich wieder traute zu sprechen, sagte sie: »Wenn ich das beweisen könnte, würde ich ihre Häute an die Wand nageln. Aber sie haben seit mehr als zehn Tagen keinen Stalldienst mehr gehabt, und eine Entsagende würde sich während ihrer hausgebundenen Zeit sehr verdächtig machen, wenn sie einen Eimer Mist durch das Port-Chicago-Haus trüge. Bring mir einen Beweis, mein Kind, und ich will gern etwas unternehmen.«
»Du wirst ihn bekommen«, versprach Allegra und stürmte hinaus.
Kurz danach forderte die Lehrerin im waffenlosen Kampf während des Trainings Allegra auf, ein paar Griffe vorzuführen. Allegras Augen glänzten unter ihrem kurz geschnittenen Haar. »Eine von euch soll heraufkommen, damit ich es euch zeigen kann. Du da!
Prachtstück!«
Ariane fragte nicht erst, wer Prachtstück sei, sondern stand sofort auf und schlenderte in den Ring. Allegra begann mit einem einfachen, aber wirksamen Griff - und fand sich flach auf dem Rücken liegend wieder. Ihr ordentlich gekämmtes Haar war ganz durcheinander.
Ariane lächelte. »Das war’s«, stellte sie knapp fest und kehrte an ihren Platz zurück.
An diesem Abend zog sich Ariane in ihrem gemeinsamen Dachzimmer des dritten Stocks ihr bestes Amazonen-Kostüm an und nahm aus dem Kasten mit ihren privaten Besitztümern einen Beutel Kupfermünzen. »Ich finde, es ist Zeit für eine Feier, meint ihr nicht?«, fragte sie.
Dalise grinste. »Ich habe auch etwas Geld übrig«, erklärte sie triumphierend, »und bin dabei.«
Catlyn, deren bester Anzug jetzt eine hochelegante Angelegenheit war, steckte eine Stoffblume in ihr lockiges rotes Haar. Dalise schmierte großzügig Butter auf den Fensterrahmen. Er öffnete sich ohne ein Quietschen.
Ariane, die Athletin, war als Erste draußen, dann kam Dalise, bei der jeder Schritt auf einem Ast ein nervenzerfetzendes Wagnis war, dann Catlyn. Die beiden kleineren Mädchen halfen Dalise über die Mauer, und sie gingen, um Port Chicago zu erkunden.
Sie wanderten über den Flohmarkt, kauften Essen an Ständen, kicherten, als sie den Bezirk der roten Laternen durchquerten, und gelangten schließlich an die Terranische Enklave, wo sie die seltsamen Lampen und Fahrzeuge betrachteten. Auch ein Raumschiff stand da. Plötzlich sagte eine Stimme auf Darkovanisch, aber mit schlechter Aussprache: »Hallo, möchtet ihr gern das Schiff ansehen?«
Sie drehten sich um. Zwei junge Männer in merkwürdigen Uniformen lächelten sie an. Nur Dalise dachte für einen Augenblick an die ständigen Warnungen der Gildenmutter, sich nicht mit fremden Männern einzulassen und keine Einladungen anzunehmen; Ariane und Catlyn hatten sie vollständig vergessen. Ariane streckte die Hand aus. »Ariane n’ha Linnet«, sagte sie.
»Dave Mittelstadt, Chuck Baker, Linda Sanchez und Bob Johnson.«
Der erste junge Mann dehnte die Vorstellung auf zwei weitere Personen aus, die gerade das Schiff verließen. Alle waren gleich gekleidet.
»Wo ist hier ein nettes Lokal, in dem man ein Glas trinken kann?«, erkundigte sich Chuck Baker.
Dalise, die in jedem Ort, an dem sie weilte, wusste, wo man etwas zu essen und zu trinken bekommt, führte sie in das Weiße Cralmac.
»Wir sind Auszubildende im ersten Jahr beim Vermessungsdienst«, erklärte Linda Sanchez unterwegs.
Drei Biere und eine gehörige Menge von Knabbergebäck später fragte Dalise: »Was macht der Vermessungsdienst?«
»Er erkundet neue Welten«, antwortete Linda Sanchez. »Erforscht neue Zivilisationen. Sucht Planeten auf, die noch kein Mensch betreten hat. Und dabei fällt mir etwas ein. Wo ist eigentlich …?«
»Der Schuppen in der Gasse hinter dem Abfallhaufen«, gab Dalise Auskunft. »Die Arbeit beim Vermessungsdienst muss Spaß machen.
Ich wünschte, ich wäre Terranerin.«
Bob Johnson stieß sie mit dem Ellenbogen an. »Halte darüber den Mund, Schätzchen, aber gerüchtweise verlautet, der Kommandeur denke daran, Eingeborenen den Eintritt in den Dienst zu erlauben.
Das Problem dabei ist, dass die meisten planetengebundenen Völker auch kulturgebunden sind. Was mich daran erinnert …« Er trank sein Glas aus und bestellte noch ein Bier. »Warum kann niemand auf diesen gottverlassenen Grenzwelten eine anständige Pizza machen?«
Linda Sanchez kam von dem Häuschen hinter dem Weißen Cralmac zurück und machte sich daran, einen vollen Krug und einen vollen Teller zu leeren. »Nimm ein bisschen ab, und ich glaube, du könntest es versuchen. Chuck, kannst du dem Skipper nicht von den dreien hier erzählen? Mal sehen, was passiert.«
»Woher sollen wir wissen, ob sie dann auch kommen?«, fragte Chuck Baker.
Catlyn und Ariane sahen sich an. »Wir kommen«, versicherten sie den Terranern.
Alle sieben schwankten Arm in Arm die Straße hinunter und sangen: »Mutter war Bewahrerin in dem Turm von Arilinn …«, als Allegra, die an diesem Morgen mit Melken an der Reihe war, mit zwei vollen Eimern aus dem Stall kam. Die Amazone kannte ihre Pflicht.
»Ariane! Catlyn! Dalise! Meldet euch sofort bei der Gildenmutter und gebt einen vollständigen Bericht über dieses schändliche Benehmen ab! Ihr seid euch wohl überhaupt nicht im Klaren darüber, welche Folgen euer schändliches Benehmen …«
»Das ist das zweite Mal«, stellte Catlyn mit Interesse fest. »Meint ihr nicht, sie sollte sich ein paar neue Wörter einfallen lassen?«
»Bedeutet euch der gute Ruf, den wir mit solcher Mühe in Jahrhunderten aufgebaut haben, denn gar nichts? Skandalös betrunken! Verkehr mit fremden Männern!«
»Zum Verkehr haben wir gar keine Gelegenheit bekommen«, widersprach Ariane ihr in aller Gemütsruhe.
»Mit Terranern! Außenweltlern!«
Die vier jungen Vermessungsleute hätten es mit einem Mann aufgenommen, fanden aber, dass hier die Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit sei. Auf Darkovanisch konnten sie es mit Allegra, die die Nachbarschaft zusammenschrie, doch nicht aufnehmen. »Bis auf bald, Mädchen«, sagte Dave Mittelstadt und entfloh.
Gildenmutter Julienne war nicht erfreut. Hinter geschlossenen Türen sagte sie: »Die Vorschrift einer Hauszeit von sechs Monaten hat ihren Grund. Frauen, die nicht unter dem Schutz ihrer Familien leben, müssen lernen, äußerste Diskretion walten zu lassen und absolut nichts zu tun, was möglicherweise einen Schatten auf den Ruf der Gilde werfen könnte. Andernfalls bekämen die Leute eine falsche Vorstellung von uns, und das bedeutete Ärger für alle Beteiligten.
Wir haben nichts dagegen, wenn ihr gelegentlich zusammen ausgeht
- nachdem ihr gelernt habt, euch schicklich zu benehmen! Entsagende betrinken sich nicht in aller Öffentlichkeit, sie fangen keine Unterhaltung mit fremden Männern an und lassen sich nicht von ihnen einladen, und sie machen unserer Welt keine Schande, indem sie sich vor Terranern wie Straßenmädchen aufführen! Habt ihr mich verstanden?«
Ariane schloss den Mund, der während der ganzen Strafpredigt offen gestanden hatte. »Ja, völlig, Gildenmutter!«
Julienne nickte. »Gut. Ihr habt euch wie Kinder benommen. Ihr werdet wie Kinder behandelt werden. Für die nächsten vierzig Tage bleibt ihr außer für die Unterrichtsstunden, die euch zugewiesene Arbeit und die Mahlzeiten auf eurem Zimmer. Ihr könnt gehen.«
Diesmal warteten sie mit dem Explodieren, bis sie in ihrem Zimmer waren. »Aber wir haben doch gar nichts Böses getan!«, jammerte Dalise.
»Doch.« Catlyn zeichnete mit dem Schreibstift, den sie für schriftliche Hausaufgaben benutzte, eine am Galgen hängende Frau auf die Wand. »Wir haben die Sechs-Monats-Vorschrift gebrochen.
Und wir haben uns erwischen lassen.«
»Allergica ist ein Schmutzfleck auf dem Gesicht der Gilde«, meinte Ariane matt.
»Kein Schmutzfleck, ein Haufen Scheiße«, fiel Catlyn heftig ein.
»Wisst ihr schon, dass sie mich dauernd meines Haars wegen meldet?«
»Das tut sie nur, weil ihres nicht so schön ist wie deins«, antwortete Dalise. Sie sahen sich alle drei an und grinsten.
Ihre Tür war nicht abgeschlossen, und die Gildenehre verbot einen Wachposten. Catlyn, die Kleinste und Behändeste, öffnete sie mitten in der Nacht und schlich sich auf der Suche nach einem Rasiermesser, mit dem sie ihre Rache ausüben könnten, in die Abstellkammer. »Ich konnte keins finden«, entschuldigte sie sich später. »Aber ich habe etwas mitgebracht, das uns davor bewahren wird, uns zu Tode zu langweilen.«
»Wo willst du denn Papier hernehmen?«, fragte Dalise.
Catlyn zuckte die Schultern. Ariane sah sich im Zimmer um. »Das ist ein sehr trister Raum«, meinte sie. »Die Wände könnten ein bisschen Dekoration vertragen.«
So staunte das ganze Gildenhaus über die Fügsamkeit, mit der die drei Übeltäterinnen die Strafe hinnahmen. Sie waren sehr fleißig beim Unterricht und kamen ihren verschiedenen Pflichten gewissenhaft nach.
Den Plan, Allegra den Kopf zu rasieren, hatten sie für eine Weile zurückgestellt.
Zehn Tage nachdem sie im Morgengrauen erwischt worden waren, rief die Gildenmutter sie zu sich. Sie war so zufrieden mit ihnen, wie sie es aller Wahrscheinlichkeit nach jemals würde sein können. »Der terranische Koordinator in Port Chicago hat mit mir darüber gesprochen, er wolle darkovanische Frauen zum Vermessungsdienst zulassen, falls wir ihm beweisen, dass wir uns zwischen den Welten zu benehmen wissen und befähigt sind, die Arbeit zu lernen.
Anscheinend haben wir euch für die Idee zu danken. So ist doch noch etwas Gutes bei eurer Eskapade herausgekommen.«
Die drei sahen sich voller Freude an. Dann fuhr die Gildenmutter fort: »Das erste versuchsweise Kontingent wird bestehen aus Allegra n’ha Felicitas, Bruna n’ha Callista …«
»Nicht Bücherwurm Bruna!«, schrie Dalise auf.
»Dalise n’ha Dionie!«, fuhr Gildenmutter Julienne sie an. »Wenn du nicht lernst, deine Impulsivität und dein Temperament zu zügeln, wirst du nie auch nur die Chance bekommen, mit dem Kommandeur des Vermessungsdienstes zu reden! Terraner legen großen Wert auf das Lesen und Schreiben. Ich habe die ausgewählt, die darin gut sind und uns bestimmt nicht durch eine unüberlegte Handlung Schande machen werden.«
»Die Terraner, die wir kennen gelernt haben, schienen sich nicht viel Gedanken über Ehre und Schande zu machen«, sagte Ariane und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Sie amüsierten sich, genau wie wir.« Sie lehnte sich zu weit zurück, und ihr Stuhl kippte um.
Treuherzig meinte sie: »Das ist mir kein einziges Mal passiert, während ich mit ihnen zusammen war.«
Gildenmutter Julienne kam zu dem Schluss, es sei hoffnungslos.
»Nun, ich dachte nur, ihr würdet es gern wissen wollen«, sagte sie und entließ sie wieder.
Sie kehrten in ihr Zimmer zurück. Auf der Wand prangte jetzt ein Bild mit einem Paar beim Picknick, hinter ihnen ein wütender Bulle und in einer Ecke ein kleiner Junge, der nackt badete. Allegra war von dem Bullen in eine andere Ecke geschleudert worden und lag dort in sehr unwürdiger Stellung. Gedankenverloren zeichnete Catlyn ein Raumschiff mit einem Hintergrund aus Sternen und Monden.
Das Wandbild wurde fertig, kurz bevor die Zeit ihres Zimmerarrests zu Ende ging. Ariane zählte ihre wenigen noch übrigen Kupfermünzen. »Das muss gefeiert werden«, erklärte sie.
»Und diesmal wird man uns nicht erwischen, da Allergica inzwischen Missstände bei den Terranern aufdeckt.«
Dalise fasste nach ihrem besten gestickten Hemd. »Dann los!«, jauchzte sie.
Wieder kletterten sie den Baum hinunter und über die Mauer. Mit der schwachen Hoffnung, ihre Freunde oder auch andere Terraner zu treffen, machten sie sich zum Raumhafen auf. Sie mussten an dem Haus der roten Laternen vorbei, und ein draußen herumlungernder Zuhälter rief sie an: »Sucht ihr Arbeit, Mädchen? Ich kann euch welche beschaffen.« Dem ließ er unter Gegacker Bemerkungen über ihr Aussehen folgen. Seine Mädchen, die aus den Fenstern hingen, zollten ihm durch ihr Lachen Beifall.
Ariane sah Dalise an. Sie näherte sich ihm von links, Dalise von rechts, und schon lag der Zuhälter am Boden. Er versuchte, ein Messer zu ziehen, und schleuderte ihnen eine Vielzahl phantasievoller Flüche entgegen, beginnend mit Verunglimpfungen ihrer sexuellen Neigungen. Und die Mädchen riefen Schimpfwörter und machten unanständige Geräusche, verließen ihre Fenster aber nicht.
Arianes Faust krachte gegen den Kiefer des Zuhälters, worauf er von neuem zu Boden ging. Inzwischen hatte Catlyn ein Töpfchen mit roter Farbe ergriffen und schmückte die Mauer des Bordells mit einem frechen Slogan: AMAZONEN AN DIE MACHT! Dann liefen sie davon.
Am Raumhafen angekommen, lachten sie immer noch. Als sie um eine dieser rechtwinkligen terranischen Ecken biegen wollten, kam ihnen von der anderen Seite ein Terraner entgegen und stieß mit Dalise zusammen, so dass beide umfielen.
Der Terraner stand auf. »Ich bitte um Verzeihung, mestra«, sagte er steif in formellem Darkovanisch.
Dalise rieb sich den Kopf. »Tut mir Leid. Ich hätte besser aufpassen sollen. He! Wenn Ihr Terraner seid, kennt Ihr dann vielleicht Linda Sanchez, Bob Johnson, Dave Mittelstadt und Chuck Baker?« Sie sprach die fremden Namen sehr sorgfältig aus. »Sie sind bei der Vermessung. Einer von ihnen wollte seinem Kommandeur über uns berichten.«
Der Terraner sah die Mädchen nachdenklich an. Catlyn bemerkte plötzlich, dass ihre Hände ganz voll roter Farbe waren. Sie kicherte.
»Nur ein kleines Kunstwerk.«
Ariane reichte dem Fremden die Hand und sagte in dem reinen, flüssigen, formellen Darkovanisch des Hochadels: »Ihr ehrt unser Haus, Sir …?«
»Randolph Lawrence, mestra. Gibt es noch eine Organisation ähnlich den Entsagenden von Port Chicago, von der ich bisher nicht gewusst habe?«
»Wir sind vom Gildenhaus in Port Chicago«, antwortete Ariane.
»Kennt Ihr unsere Freunde?«
Randolph Lawrence zog ein schwarzes, viereckiges Gerät aus der Tasche und berührte es. Eine Reihe Buchstaben des terranischen Alphabets kroch über den Schirm … Ihnen mit den Augen folgend, fragte er: »Kennt ihr Mestra Allegra n’ha Felicitas und Mestra Bruna n’ha Callista?«
»Den Bücherwurm und Allergica«, nickte Dalise. »Besser, als mir lieb ist.«
»Sie sind unsere Schwestern in der Gilde.«
»Stiefschwestern. Böse.«
Lächelnd bot Randolph Ariane den Arm. »Junge Damen, ich würde sehr gern einmal mit eurer Gildenmutter sprechen. Könntet ihr das arrangieren?«
Ein schriller Schrei zerriss die Nacht. »Da sind sie!«, rief der wütende Zuhälter. Hinter ihm kamen zwei Männer in der schwarz-grünen Uniform der Stadtgarde und, mit grimmigem Gesicht, Gildenmutter Julienne.
»Ich glaube, das ist schon arrangiert«, stellte Catlyn fest.
Gildenmutter Julienne presste die Hände fest zusammen, als wolle sie sie daran hindern, die drei Übeltäterinnen mit Ohrfeigen einzudecken. »Ich fürchte, das bedeutet das Ende eurer Laufbahn in der Gilde«, sagte sie sehr ruhig, »es sei denn, ihr könnt den Wunsch und die Fähigkeit nachweisen, Disziplin zu halten.«
»Verzeiht mir, mestra, wessen haben sie sich schuldig gemacht?«, fragte der Terraner.
Gildenmutter Julienne biss sich auf die Lippe. »Tut mir Leid, das ist eine interne Angelegenheit, Sir. Nicht einmal der terranische Koordinator darf über die Gildendisziplin richten. Beziehungsweise den Mangel an Disziplin.«
»Mein Hurenhaus!«, schrie der Zuhälter. »Sie haben mein ganzes Hurenhaus mit Amazonen-Slogans beschmiert, und ihr Lesben werdet dafür bezahlen!«
Der terranische Koordinator fing an zu lachen. »Ich schlage vor, dass sie es einfach säubern. Unter der Aufsicht ihrer Gildenschwestern natürlich. Ich bin sicher, zwei meiner Schülerinnen können dafür lange genug vom Unterricht beurlaubt werden. Und dann, mestra, würde ich mit Euch gern über die Möglichkeit reden, diese drei jungen Damen für den Vermessungsdienst anzuwerben.
Ihre Fähigkeit, mit terranischem Personal auszukommen, haben sie gewiss unter Beweis gestellt!«
Kurze Zeit später sagte Randolph Lawrence unter dem Schild des Weißen Cralmacs: »Wir waren kurz davor, das Projekt abzublasen, und wollten den Gedanken, darkovanische Frauen für den Vermessungsdienst anzuwerben, fallen lassen, als diese drei auftauchten. Ihr müsst wissen, mestra, dass man im Vermessungsdienst mit allen Rassen und Kulturen arbeiten muss, von denen viele unterschiedliche Sitten und Verhaltensweisen haben.
Dazu gehört die Fähigkeit, mit Leuten, die einem anderen Sittenkodex folgen, zurechtzukommen, und leider muss ich sagen, dass die Kandidatinnen, die Ihr mir schicktet, sich als viel zu kulturgebunden erwiesen.«
Die drei Mädchen hatten den Ausdruck schon einmal gehört; Gildenmutter Julienne musste nach seiner Bedeutung fragen. Der terranische Koordinator antwortete: »Starr, überkontrolliert, unfähig, die leiseste Verletzung dessen zu dulden, was die Heimatwelt unter Anstand versteht. Sie hatten nicht die kleinste Chance, über die Grundausbildung hinauszukommen. Diese drei hingegen …«
»Diese drei sind ganz und gar unfähig, Disziplin zu wahren«, unterbrach die Gildenmutter ein bisschen traurig.
Der terranische Koordinator erinnerte sich an eigene Erlebnisse und lächelte. »Militärische Disziplin?«, fragte er liebenswürdig.
Zum ersten Mal, seit Ariane, Catlyn und Dalise zu ihnen gekommen waren, grinste die Gildenmutter breit. »Ich glaube, wenn sie erst einmal ihre Grundausbildung bei uns abgeschlossen haben, wäre es eine ausgezeichnete Idee! Aber nur, wenn ihr mir schwört, dass ihr euch zusammennehmt, bis eure sechs Monate um sind!«
Ganz ernst erklärte Ariane: »Ich schwöre es, Gildenmutter.«
Schließlich waren es ja nur noch ein paar Monate, und der Koordinator hatte keinen solchen Eid von ihr verlangt. Sie fing an, sich zu überlegen, welche Streiche man wohl an Bord eines Raumschiffs veranstalten könne.
Über Susan Shwartz und ›Wachsende Schmerzen‹
Eine Geschichte von Susan Shwartz erschien zum ersten Mal im Preis des Bewahrers, und seitdem war sie mit Arbeiten in dem Science-Fiction-Magazin Analog und vielen Anthologien vertreten, darunter zweien, die sie selbst herausgegeben hat: Hecate’s-Cauldron (DAW
1982) und Habitats (DAW 1984).
Man könnte meinen, ›Wachsende Schmerzen‹ sei als Gegenpol zu einer anderen Geschichte in dieser Anthologie geschrieben worden, nämlich zu Pat Mathews’ ›Mädchen bleiben Mädchen‹. Hier wiederholt sich das Thema aus Gildenhaus Thendara, dass Außenseiter einer bestimmten Gesellschaft, die ins Gildenhaus eintreten, dort ebensolche Anpassungsschwierigkeiten haben können wie da, wo sie hergekommen sind. Die beiden Erzählungen kommen zu einem ähnlichen Schluss, sind aber so verschieden wie ihre Autorinnen.
Susan Shwartz lebt als Single in New York und arbeitet in der Werbung und den Medien.
MZB
Wachsende Schmerzen
von Susan Shwartz
»Sei still, Catriona, oder du musst den Raum verlassen«, befahl Mutter Rayna.
Im Musikzimmer war es kalt, aber Catriona n’ha Mhari zitterte nicht deswegen, sondern vor Zorn. Sie sprang auf die Füße. Die anderen Entsagenden aus ihrer Schulungsgruppe drängten sich zusammen, und bei den meisten flossen bereits Tränen. Die Waffenmeisterin hatte Doria einen Feigling genannt. Die Köchin hatte Pavella der Faulheit beschuldigt. Und sie war eine Wichtigtuerin genannt worden, deren Zunge in der Mitte festhänge und an beiden Seiten plappere, nur weil sie Fragen gestellt hatte.
»Verwöhntes Baby, setz dich hin und halt den Mund, bis wir dir sagen, du sollst aufstehen!«
Catriona hatte es satt, im Haus eingesperrt zu sein, sie ertrug die Schulungssitzungen nicht mehr, und am meisten ging es ihr auf die Nerven, dass sie jederzeit angesprochen werden konnte, wenn sie lernen wollte. Man warf ihr vor, sie höre nicht zu oder denke nicht nach, und das nur, dachte sie grollend, weil sie die Dinge nicht auf ihre Art sah.
Der Zorn ließ das Bild vor ihren Augen verschwimmen, und sie musste schlucken, damit ihre Stimme nicht bebte. »Ich habe genug davon! Und ich habe auch von euch genug! Ich glaube, es macht euch Spaß, uns zu Spielen mit euch zu zwingen, die wir nicht gewinnen können. Wenn Sheera sich die Haare bürstet, ist sie eitel, wenn sie es nicht tut, ist sie schlampig. Wenn ich Fragen stelle, bin ich unverschämt, aber wenn ich gehorche, tue ich es nur, um mich Liebkind zu machen. Glaubt ihr wirklich, wir müssen das erdulden, um frei zu sein? Ich habe schon freundlichere Worte von Trockenstadt-Händlern gehört!«
Die älteren Frauen reagierten mit empörten Ausrufen auf diese letzte Behauptung, von der Catriona selbst sehr wohl wusste, dass es nichts als Bosheit von ihr war. Aber das geschah ihnen recht, dachte sie. Sie hob ihre rau gewordene Hand, warf ihr kragenlanges rotes Haar zurück und schrie ebenso laut: »Genug! Ich gehe weg von hier, und das könnt ihr euch in den Hals stopfen, bis ihr daran erstickt!«
Mutter Lauria, eine der ältesten Frauen im Gildenhaus Thendara, seit langem von ihrem Amt zurückgetreten und sehr geliebt, sah mit alterstrüben Augen auf.
»Wohin willst du gehen, chiya?«, fragte sie. Ihre Stimme war so sanft, dass Catriona fürchtete, sie werde anfangen zu weinen. Dann würde ihre Entschlossenheit dahinschmelzen, sie würde versprechen, es noch einmal zu versuchen, und man würde sie zu einer echten kleinen Amazone ummodeln, genau wie andere darkovanische Mädchen zu Ehefrauen erzogen wurden.
»Zu den Terranan!«, zischte sie. »Und wenn ich euch alle über den Rand einer Klinge wieder sehe, wird es früh genug sein.«
Manche Menschen lernen nur durch ihr Handeln. Aber, Kind, sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst. Du könntest es bekommen.
Laurias Lippen bewegten sich nicht, und niemand sonst schien ihre Worte zu hören. Catriona erkannte, dass der seltsame, unausgebildete Teil ihres Verstandes sie den Gedanken der alten Frau entnommen hatte. Das war wieder laran gewesen. Das laran hatte sie als Kind kränklich gemacht, verwundbar gegen Anschuldigungen, sie spioniere. Als sie älter wurde, merkte sie, dass es nur eine andere Art des Sprechens war - und sie träumte davon, mehr darüber zu lernen, in Neskaya, das den Ruf hatte, auch solche mit laran begabten Personen aufzunehmen, die keine echten Comyn waren. Sie ging hin, und die leroni wollten nicht einmal mit ihr reden. Mit dem Aufstieg und Fall des Verbotenen Turmes hatten sich die Zeiten auf gefährliche Weise verändert.
Was war ihr da noch übrig geblieben? Sie war nicht Comyn; eine Heirat mit einem Mann, der ihre eigentümlichen Gaben teilte, lag außerhalb ihrer Reichweite, selbst wenn sie sich gewünscht hätte zu heiraten. Eine Ehe mit einem der Kopfblinden wäre wie eine Paarung mit einem Cralmac gewesen: unvorstellbar. Catriona hatte überlegt, welche andere Wahl sie hatte, und war ins Gildenhaus gekommen.
Sie hatte gehofft, hier Wissen zu erwerben, das sie unabhängig von den Launen von Vormund, Turm, Hastur oder sonst jemandem machen würde. Entsagende lernten, was sie wollten, gingen, wohin sie wollten - sogar unter die Terraner. Catriona hatte einen Pflegebruder, halb Terraner und ganz im Stich gelassen, bis ihre Familie ihn aufgenommen und ernährt hatte. Glücklicher Ann’dra.
Mit vierzehn war er zum Raumhafen gegangen, hatte seinen abgetragenen Kilt gegen schwarzes Leder und sein Messer gegen einen der verbotenen Laser des Terranischen Imperiums eingetauscht. Jetzt sprach er sowohl mit Darkovanern als auch mit Terranern, vielleicht sogar mit den seltenen, exotischen Nichtmenschen, die durch die schmalen Straßen der Handelsstadt glitten.
Ann’dra hatte versprochen, ihr zu helfen, dass auch sie Arbeit bei den Terranan fand. Als sie das gegenüber den anderen Frauen erwähnte, hatte man ihr den Eid vorgehalten … dass ich keinen Mann um Schutz bitten werde. Das war kein Schutz! Ann’dra wollte nur die Chancen ausgleichen, aber das sahen sie nicht ein.
Sie hatte das Musikzimmer verlassen, und ihre Füße klapperten mit würdeloser Geschwindigkeit auf den breiten Stufen, die zur vorderen Halle führten. Sie rutschte aus und wäre beinahe der Länge nach gegen die schwere, dunkle Holztür gefallen. Das Wissen, wie lächerlich jemand aussieht, der treppauf fällt, gab ihr die Kraft, die Türflügel weit aufzustoßen und einen dramatischen Abgang zu bewerkstelligen. Der Krach, mit dem sie zufielen, ließ bei der Hälfte aller Häuser auf der Straße die Fensterläden klappern.
Leichter Regen fiel vom verhangenen, violetten Abendhimmel und kühlte ihr Gesicht. Kleine Monde leuchteten grün herab. Die durchscheinenden Fensterscheiben des Gildenhauses und die Pfützen auf der Straße warfen das letzte trübe Licht der blutigen Sonne zurück.
Und was jetzt?, dachte Catriona.
Sie trat zurück und suchte nach dem Turm des Terranischen Hauptquartiers. Obwohl die gedrungenen, überhängenden Dächer dieses Viertels von Thendara einen großen Teil des Himmels verdeckten, sah sie ihn schließlich in seiner ganzen arroganten Höhe emporragen. Sie brauchte ihn nur im Auge zu behalten. Hatte sie erst einmal das erreicht, was bei den Terranan als Tor galt, würde sie ihren Namen und den ihres Pflegebruders nennen. Er würde ausgerufen werden (so lautete das Wort), und dann würde er kommen und ihr helfen, eine anständige Arbeit zu finden, bei der sie mit Terranern reden und die großen Schiffe sehen konnte - vielleicht sogar die Welten, von denen sie gekommen waren. Sie hatte sich bereits ein bisschen Terranisch angeeignet, nicht nur die Flüche, über die sie und ihre Freundinnen gekichert hatten, sondern wichtige Ausdrücke wie medizinische Technologie, Computer, Handelsbeschränkungen und Kolonien. Der Göttin sei Dank, dass sie so schnell lernte!
In der Nähe der Terranischen Zone veränderten sich die Straßenlaternen sehr merkwürdig. Zunächst einmal gab es mehr von ihnen, und sie leuchteten in einem bedrückenden Gelb, ganz anders als das gemütliche Dämmerlicht des Gildenhauses. Unter dem scharfen Licht warfen Männer (und ein paar Frauen) in dem glatten schwarzen Leder der Raumpolizei, anstößige Laser an den Hüften, unmöglich lange Schatten und starrten sie unverschämt an, eine Fremde, dünn für ihr Alter und - was uncharakteristisch für sie war -
unsicher.
Die erste Frau, an die sie sich um Auskunft wandte, hatte Mitleid mit ihr. »Falls Ihr zum Checkpoint wollt«, sagte sie in katastrophalem cahuenga, »da geht es entlang.«
Der Wachposten beäugte sie misstrauisch, bis er zu dem Schluss kam, sie sei tatsächlich ein Mädchen. Seine Gefälligkeit verbunden mit seiner Skepsis, was ihre Erklärung betraf, banden ihr die Zunge.
Seine Augen musterten ihren dünnen Körper von oben bis unten, und sie versteifte sich vor Entrüstung. Glaubte er wirklich, sie sei schwanger und versuche Ann’dra hereinzulegen, dass er das Kind anerkenne? Sie blinzelte die Zornestränen weg und hielt sich vor, dass sie, mit seinen Augen betrachtet, in Wahrheit Ketten trug.
Geduldig wiederholte sie ihre Geschichte, bis sie den Mann schließlich so weit hatte, dass er Ann’dra ausrufen ließ.
Und war es nicht Zandrus Pech, dass er dienstlich unterwegs war?
Catriona entzog dem Wachposten ihre Hand, die er nicht gerade väterlich streichelte, und ging wieder. Andrew (wie man ihn hier nannte), wurde innerhalb von zehn Tagen zurückerwartet. Das hatte gerade noch gefehlt.
Was im Namen der Sieben Höllen sollte sie bis dahin anfangen?
Kein Wunder, dass die Entsagenden sie einen Hitzkopf genannt hatten. Sie war aus dem Gildenhaus fortgelaufen, ohne Mittel, ohne rechten Plan … oh, was hatte sie eine Menge zu lernen! Vielleicht hatten die Frauen im Musikzimmer versucht, sie vor den Folgen ihrer Unbesonnenheit zu schützen. Vielleicht hatten sie Recht, wenn sie sagten, unter diesem roten Haar stecke kein Gehirn, sondern nur Feuer und Rauch. Sie hätte ihre Flucht besser vorbereiten sollen. Jetzt würde sie Pläne machen müssen.
Catriona holte tief Atem und bereute es sofort. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie das Abendessen ausgelassen hatte, um sich an dem Apfelwein und den Kuchen, die üblicherweise nach den Schulungssitzungen verteilt wurden, gütlich zu tun. Ohne rechte Hoffnung steckte sie die Hand in die Tasche. Sie hatte sehr wenig Geld, und das, was sie hatte, musste sie für eine Unterkunft aufbewahren, bis sie Arbeit fand. Welche Fähigkeiten konnte sie anbieten? Körperliche Kraft, Begabung zum Erlernen von Sprachen, Erfahrung mit dem Messer, mit Pferden und chervines - wenn es zum Schlimmsten kam, konnte sie Geschirr spülen. Das Gildenhaus hatte sie in all dem ausgebildet, und damit rührte sich zum ersten Mal ihr Gewissen, das sie ihr Leben lang quälen sollte, wegen des gebrochenen Eides.
Nachdenklich rieb sie sich das Ohr, und dann lächelte sie. Ihr Ohrring, wie ihn jede Entsagende trug, war das Geschenk einer Eidesschwester. Er war aus Kupfer und würde ein hübsches Sümmchen bringen, wenn sie ihn versetzte. Der Gedanke tat weh, ebenso ihre Überzeugung, dieser Schmuck stehe ihr nicht mehr zu.
Sie gelobte sich, ihn wieder auszulösen, sobald sie eine legale Beschäftigung gefunden hatte, auch wenn sie den Ohrring wahrscheinlich nie wieder tragen würde.
In den Straßen um die Terranische Zone fand sie einen Händler, der zu arm, um wählerisch, aber den terranischen Sicherheitskräften zu nahe war, um ein Dieb zu sein. Er hatte ein kluges Gesicht und kastanienbraunes Haar, im Terranan-Stil kurz geschnitten, und er sprach Darkovanisch mit einem Akzent, der in Catriona den Verdacht hervorrief, es sei nicht seine Muttersprache. Er feilschte auch nicht, wie es ein normal betrügerischer Kaufmann tun würde. Wenn du schon Pferde stiehlst, dann stehle reinrassige, dachte Catriona und steckte nach einem Handel von fünf Minuten vergnügt die Münzen ein. Dann fiel ihr auf, wie er ihr Haar betrachtete, wie sein Blick von da auf ihren Hals niederglitt. Sie musste sich beherrschen, dass sie nicht die Hand hob und die dünne Kupferkette berührte, die sie seit ihrer vergeblichen Reise nach Neskaya immer getragen hatte. So viel können wir dir nicht verweigern, hatte die leronis gesagt. An der Kette hing ein Lederbeutelchen, und darin lag, obwohl sie sie nicht benutzen konnte …
Einmal hatte sie mitgehört, wie Domna Keitha und eine andere von der Schwesternschaft über die ungesunde Neugier der Terranan in allem, was laran betraf, sprachen. Sie war errötet, weil sie einen der Matrix-Kristalle trug: ein Spielzeug vielleicht, nutzlos, da sie nicht darin ausgebildet war, es zu benutzen, nicht einmal das Halbwissen besaß, das einem der Klatsch manchmal zuträgt. Die Unterhaltung brach in dem Augenblick ab, als Catriona in Hörweite kam. Sie spürte, dass viele Leute ungern über laran oder die Comyn sprachen, vor allem nicht vor ihr, die sie rothaarig und verkrampft und voller wunderlicher Vorstellungen war. Früher hatte sie nach einem wilden Traum oder bevor sie blutete Schwindelanfälle und Ohnmachten gehabt, doch das war, Evanda und Avarra seien gepriesen, vorbei.
Dieser Händler zeigte zu viel Neugier wegen der Kette. Er hob eine dünne Augenbraue, streckte den Zeigefinger aus und berührte mit ihm beinahe den in ihrer Jacke verborgenen Beutel.
Das Licht in dem schäbigen Laden wurde rot, Catriona fühlte Schweiß an ihren Rippen hinunterlaufen, hörte das Knistern von Flammen, und dann … Der eine Mann war groß, und sein Haar war hell wie das eines Trockenstädters, wo es nicht schon grau war. Der andere Mann war schmächtiger, sein Haar zeigte das Rot der Comyn, obwohl es stark mit Weiß durchsetzt war. Sie standen neben Zwillingsschwestern, und Flammen umloderten sie und kamen näher und näher. Anfangs suchten die vier Menschen nach einem Fluchtweg, dann rückten sie eng zusammen und blickten in einen großen blauen Kristall, in dem das Gesicht einer dunkleren Frau erschien, warnend … und dann hüllten die Flammen sie ein. Sie waren verschwunden …
Überwältigt von der Warnung, dem Bedauern und, ja, einem seltsamen Triumphgefühl schwankte Catriona und führte die Hand an die Stirn.
»So?«, murmelte der Pfandleiher. »Noch eine vom Verbotenen Turm?«
Er hatte seine Hände unter der Ladentheke, und der Blick in seinen Augen gefiel Catriona gar nicht Sie schüttelte den Kopf und ging schnell davon.
Gleich darauf verdammte sie ihre Schwäche. Offenkundig war sie in etwas hineingeplatzt, das sehr gefährlich aussah. Mal sehen, ob ich verschwinden kann, dachte sie. Dreimal bog sie unvermittelt ab und gab sich Mühe, dass es wie unabsichtlich aussah. Sie warf einen Blick zurück. Niemand schien ihr zu folgen. Sie ging an Verkaufsständen und schmalen Ladenfronten vorbei. Als sie der Feuchtigkeit wegen den Kragen hochschlug, hörte sie das alte Gemurmel hinter sich:
»Tallo«, dazu bösere Wörter, gezischte Bemerkungen über Feuer, verbotene Kräfte, einen niedergebrannten Turm … Sie musste unbedingt ihr Haar bedecken.
Vor einem Kleiderladen blieb sie stehen und suchte in den Körben, die praktisch mitten auf der Straße auslagen, bis sie eine gebrauchte Mütze fand. Sie fragte nach dem Preis.
Zu ihrer Verwunderung sagte man ihr, man würde sich nicht im Traum einfallen lassen, Geld von ihr zu nehmen oder ihr eine so unwürdige Mütze zu geben … süße Avarra, man wollte ihr tatsächlich die Marlpelzmütze schenken, die an der Wand ausgestellt war! Eine so vornehme Mütze würde sie verdächtig machen.
Schließlich kam es zu einem Kompromiss. Catriona nahm eine dicke, warme Wollmütze an, die mit weniger prächtigem Rabbithorn-Fell besetzt war. Nachdem sie ihr rotes Haar bedeckt hatte, machte sie sich auf die Suche nach einer Imbissstube.
Die Vorsicht verlangte, dass sie nachdachte, bevor sie einfach in die erste hineinspazierte. Die hier sah zu teuer aus. Wenn Ann’dra zehn Tage lang fortblieb, musste sie auf ihr Geld aufpassen. Außerdem, dachte sie mit Galgenhumor, wenn sie ihr Haar bedeckte, musste sie für Essen und Unterkunft bezahlen. Eine zweite Garküche wirkte schmutzig, und sie hatte keine Lust, von verdorbenem Essen krank zu werden. Die nächste war nur zur Hälfte besetzt und recht sauber, wenn auch schäbig. So ging sie hinein. Die Würste, die im Hintergrund kochten, dufteten wundervoll, aber sie bestellte Brei, heiße Milch und Honig zum Hineinrühren, lauter Dinge, die nahrhaft und billig waren.
Als sie den zweiten Becher der gesüßten Milch in Angriff nahm, hatten sich Hunger und Aufregung so weit gelegt, dass sie an andere Dinge denken konnte. Zum Beispiel an ihren gebrochenen Eid. An ihren Jähzorn, der sie hässliche Worte zu ihren Schwestern sagen ließ.
Wenigstens war ihre Eidesmutter nicht dabei gewesen. Wie enttäuscht würde Devra sein, wenn man es ihr berichtete!
Catriona schniefte in ihren Becher. Dann wischte sie sich trotzig die Nase. Fang jetzt bloß nicht mit Heimweh an, ermahnte sie sich.
Zurückkehren kannst du nicht mehr. Wie alle Predigten taugte auch diese wenig dazu, ihr neuen Mut zu machen. Göttin, wie würde sie die Zukunft vermissen, die sie weggeworfen hatte! Ja, Mädchen, nun wirst du dir selbst Eidesmutter und Schwestern sein müssen!
Sie gelobte sich, Freunde unter den Terranan zu finden. Auch das gab ihr nicht viel Auftrieb. Jemand hatte Wasser auf dem Tisch verschüttet und es nicht weggewischt. Die Pfütze spiegelte die Lichter wider und ihr angestrengtes, blasses Gesicht. Das Wasser kräuselte sich, und sie stellte mit Entsetzen fest, dass sie schon wieder weinte.
Denk an etwas anderes als an dein klägliches Ich, Catri! Sie sah sich um.
An dem Tisch hinter der Familie mit den beiden kleinen Jungen saß ein großer Mann, der sich vorbeugte und mit einer Frau sprach, dessen konservative Kleidung ihren eindrucksvollen Zügen eigentlich nicht gerecht wurde. Sie kam Catriona bekannt vor, obwohl da ein Ausdruck von einem kürzlich erfahrenen, fast unerträglichen Leid war, den zu sehen wehtat. Die Frau rückte ihren Becher mit Apfelwein zur Seite und sah ihrem Gefährten in die Augen. »Ich habe dir gesagt, du sollst cahuenga sprechen.« Sowohl der Blick als auch die Worte erregten Catrionas Aufmerksamkeit.
»Ich finde immer noch, es ist dumm, wenn wir uns in aller Öffentlichkeit treffen.«
»Dummköpfe überleben bei dem Spiel nicht lange«, fuhr die Frau ihn an. »Wo versteckt man eine Nadel am besten? Zwischen anderen Nadeln. Wo versteckst du einen Darkovaner? Zwischen anderen Darkovanern. In der Terranischen Zone wäre ich eine Kuriosität, die Spionin, die über die Mauer gestiegen und« - sie grinste zynisch -
»aus der Kälte gekommen ist. Oder, was auch vorkommen mag, vor dem Feuer davongelaufen ist.«
»Quäle dich nicht selbst, Mags«, bat ihr Gefährte und legte die Hand über die ihre. Sie zog sie automatisch zurück. »Nun gut, du sagst, du habest gewusst, ihnen werde ein Unglück zustoßen. Nicht etwa, dass ich das glaube, aber gehen wir einmal von dieser Hypothese aus. Wenn du sie aufgesucht hättest, wärest du nur mit den anderen verbrannt …«
Die Hand der Frau ballte sich zur Faust, und ihre Lippen pressten sich zusammen. Halt … die Erscheinung in dem Kristall, der große Mann und der Lord sahen in den Kristall, und darin tauchte das Gesicht der Frau auf, die Mags genannt wurde … Das war kein richtiger Name.
Catriona machte sich auf ihrem Stuhl ganz klein. Ihr seht mich nicht, dachte sie in den Raum hinein. Für einen Augenblick blitzten Lichter auf, und ihr Gleichgewichtssinn versagte. Jetzt wusste sie, dass man sie nicht mehr sah.
»Was hast du vor?«, fragte der Mann. »Dieser neue Legat ist, was die Rückgratlosigkeit angeht, schlimmer als Montray. Der Mann würde sich auch dann nicht einmischen, wenn keine Comyn in die Sache verwickelt wären. Kann deine Gilde dich verstecken?«
»Du wirst meine Schwestern nicht hineinziehen!« Die Frau sprach leise. Ihre dunklen Augen blitzten. »Ich kann mich ihnen jetzt nicht aufdrängen. Wie die politische Situation zurzeit ist, muss man damit rechnen, dass Fanatiker jeden Außenseiter angreifen.«
»Dann ist dir vermutlich klar, Magda, was dir allein noch übrig bleibt.«
Die Frau ließ den Kopf sinken, als habe sie alle Energie, allen Kampfgeist verloren. »Ich weiß. Ich muss Darkover verlassen, nach Alpha gehen und vielleicht die nächste Generation von Nachrichtendienstleuten unterrichten … Und weißt du auch, was ich ihnen als Erstes beibringen werde? Ich werde sie lehren, niemals die Menschen zu lieben, mit denen sie arbeiten.«
Exil … ein lebender Tod, fern von meiner Welt, meinen Erinnerungen, meinen geliebten Menschen … nein, ihrer Asche. Die Qual der Frau fachte Catrionas wildes Talent an und ließ sie zusammenzucken.
»Wahrscheinlich werde ich es überleben«, sagte die Frau.
»Ich verlange dein Wort, dass du an Bord des nächsten von hier startenden Schiffes sein wirst.«
Der Mann stand auf. Sie blickte zu ihm hoch. »Verlangst du auch einen Eid? Den des Dienstes oder den der Gilde?«
Er machte eine halbe Verbeugung. »Dein Wort genügt mir, Margali
- wie immer.« Damit entfernte er sich schnell. Catriona wusste, dass er mit der Menschenmenge draußen verschmelzen würde. Verstecke eine Nadel zwischen anderen Nadeln, wie die Frau Margali gesagt hatte. Dann fügte sich alles andere, was sie gesagt hatte, zusammen.
Catriona erkannte, dass sie die legendäre Margali n’ha Ysabet belauscht hatte, über die ältere Entsagende viele Geschichten zu erzählen wussten - sie sei Mitglied des Verbotenen Turmes oder Comyn oder Terranan oder tot oder alles auf einmal. Catriona war es nicht gelungen, die Geschichten auf einen Nenner zu bringen.
»Komm heraus, kleine Spionin.« Margalis Stimme traf Catrionas Ohren wie ein kalter Windstoß aus den Hellers. Es war unmöglich, ihr nicht zu gehorchen. Deshalb ging Catriona zu dem Tisch der anderen Frau hinüber.
»Du hast unser Gespräch mit angehört, und ich meine nicht, mit deinen Ohren«, sagte sie. »Nein, du Dumme, nimm deine Mütze nicht ab. Ich weiß, welche Farbe dein Haar hat.« Sie musterte Catriona.
»Hat das Gildenhaus dich auf die Suche nach mir geschickt? Göttin, was für junge Dinger setzt man heutzutage dafür ein! Du siehst nicht alt genug aus, um den Eid vor mehr als drei Monaten abgelegt zu haben.«
Catriona errötete und ärgerte sich über sich selbst.
»Wenn das wahr ist, was, bei allen kalten Höllen Zandrus, machst du dann außerhalb des Gildenhauses?«
»Ich bin weggelaufen«, gestand Catriona. Margali sah sie an wie eine der Hausmütter und wartete auf den Rest der Geschichte. »Sie haben mich ständig kritisiert, ich würde lauschen, wenn es mein laran war. Sie sagten, ich solle Fragen stellen, und wenn ich es einmal tat, sagten sie, ich solle den Mund halten. Was lernt man dabei anderes, als ihren Vorschriften zu gehorchen, und wie unterscheidet sich das davon, einem Mann zu gehorchen? Deshalb bin ich aus einer Schulungssitzung hinausgestürmt. Und jetzt bin ich meineidig geworden …« Sie endete mit einem jämmerlichen kleinen Schniefen.
Erstaunlicherweise lächelte Margali fast. »Da sitzt du tatsächlich schön in der Patsche. Es ist, als seiest du einer Lawine entronnen, nur um in ein Banshee-Nest zu stolpern. Was du gehört hast, könnte dich teuer …« Sie brach ab und legte der Jüngeren die Hand auf den Arm.
»Ich hätte mich abschirmen sollen. Aber mach dir keine Sorgen, wenigstens nicht über die Gilde. Während meiner Hauszeit kam ein Mann - ich glaube, sein Name war Shann Mac-Sowieso, aber danach müsstest du Keitha fragen - und versuchte, seine Frau zurückzuholen.
Er hatte Schwertkämpfer angeheuert und griff das Haus an. Der eine ergab sich, aber ich war so blind vor Zorn, dass ich ihn trotzdem tötete. Es war verdammt nahe daran, dass ich dafür hinausgeworfen wurde. Sag mir, chiya, hast du deinen Wutanfall jetzt überwunden?
Könntest du zurückgehen und aus ehrlichem Herzen um Verzeihung bitten?«
Wenn das Mädchen nicht mehr gesehen wird, vergessen sie sie, und dann ist eine Unschuldige weniger in Gefahr. Es überraschte Catriona schon nicht mehr, dass sie Margalis Gedanken so deutlich las.
»Sie würden mich nicht wieder aufnehmen«, sagte Catriona. »Aber mein Pflegebruder arbeitet bei den Terranan, und ich hatte die Absicht, zu ihm zu gehen. Nicht, um mir von ihm helfen zu lassen«, erklärte sie voller Verachtung für diese Vorstellung, »er sagte jedoch, ich könne lernen, die gleiche Arbeit wie er zu tun.«
Margalis Geist berührte den ihren, griff nach einer Visualisierung von Ann’dra und zog sich zurück. »Ich kenne ihn. Er wird tun, was er dir versprochen hat. Aber möchtest du nicht lieber in den Zivildienst eintreten, ohne ein solches Chaos hinter dir zurückzulassen?«
Catriona konnte nicht anders als nicken. Der Segen der Gilde bedeutete ihr sehr viel. Margali zögerte, als wäge sie die Risiken gegeneinander ab. Offenbar kam sie dann zu einer Entscheidung.
»Komm mit. Ich werde dich zurückbringen. Abgesehen von der Peinlichkeit wird es nicht allzu schlimm werden. Und um dir die Wahrheit zu sagen, Kind, ich finde, dass du die Peinlichkeit verdient hast.«
Catriona folgte Margali zur Tür hinaus. Sie hätte sich schämen müssen, dass sie die Frau erst belauscht und sie dann mit ihren kindischen Problemen belästigt hatte, während Margali selbst sich in Lebensgefahr befand! Aber ein tieferes Gefühl sagte ihr, auch Margali wünsche sich, ins Gildenhaus zurückzukehren … Ich möchte Keitha und Lauria und all die anderen, die sich an meine Shaya erinnern, wieder sehen, bevor ich ins Exil gehe, vielleicht für immer.
Sie hatten die Hälfte des Weges durch die nassen, engen Straßen zurückgelegt, die sich jetzt mit einer Art glitzerndem Nebel füllten, als Margali stehen blieb. »Hörst du das?«
Catriona brachte es fertig, nicht zu fragen: »Nein, was denn?«, und Margali belohnte sie mit einem kleinen, anerkennenden Nicken. Sie stand ganz still, versuchte, mit all ihren Sinnen wahrzunehmen, was Margali alarmiert hatte, ein Rascheln von Kleidungsstücken oder Schritte weicher Sohlen oder Veränderungen in den Nebelschwaden.
»Dieses eine Mal wäre ich froh, die Stadtgarde zu sehen«, flüsterte Margali. »Ja, ich weiß, dass ich keinen Mann um Schutz bitten werde … , aber es ist ihre Aufgabe. Ich habe keine Lust, mich hier von einer Bande Fanatiker aufspießen zu lassen, die entschlossen sind, die Letzte des Verbotenen Turmes auszulöschen. Und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass du mit mir getötet wirst. Ich glaube, es ist besser, wir ändern unsern Plan, Kind. Wenn sie uns angreifen und ich rufe, dann läufst du weg!«
Wollte sie ihr eigenes Leben wegwerfen?, dachte Catriona. Margali versuchte, ihr zu helfen; sie musste ihr beistehen. »Ich werde nicht gehen!«, sprudelte sie trotz Margalis Stirnrunzeln hervor. »Ich bin kein Kind! Ich bin Catriona n’ha Mhari, und auch wenn ich in meiner Wut meinen Schwestern im Gildenhaus davongelaufen bin, dich werde ich nicht im Stich lassen.«
Margali schüttelte den Kopf. »Also erziehen sie die Mädchen immer noch richtig«, bemerkte sie. »Doch wie ich sehe, bist du unbewaffnet davongelaufen. Sehen wir einmal, wie gut du damit bist.« Sie zog ein Messer aus ihrem Stiefel und reichte es dem Mädchen. »Wir gehen weiter, aber beim kleinsten Zeichen deckst du meinen Rücken, und ich decke deinen.«
Catriona zwang sich, gemessenen Schrittes die Straße hinunterzuwandern, näher und näher an das Gildenhaus heran. Die Stelle zwischen ihren Schulterblättern, wo ein geworfenes Messer sie treffen würde, zitterte. Jetzt sah sie die geschnitzte Tür, die sie erst vor ein paar Stunden zugeschmettert hatte. Plötzlich überfiel Catriona eine Ahnung. Sie stieß Margali zur Seite. Dann hörte sie ein Messer dicht neben ihr an eine Mauer klirren.
»Zeigt euch, ihr Schufte!«, rief Margali. Es klang beinahe, als sei sie erleichtert, dass das Schleichen und Horchen jetzt ein Ende hatte.
Aber es waren sechs, und sie blickten entschlossen drein.
»Lauf zur Tür und läute die Glocke«, befahl Margali und zog ihr langes Messer. Während die Agentin sich den Männern stellte, stürzte Catriona vorwärts und läutete die Glocke, die von Zuflucht suchenden Frauen benutzt wurde. Dann rannte sie zurück, um Margali zu helfen. Drinnen erklangen Schritte, sie hörte die Waffenmeisterin nach Schwertern rufen und erinnerte sich an ihren Schwur: »Wenn ich euch über den Rand einer Klinge wieder sehe, wird es früh genug sein.«
Früh genug: Genau das war es. Catriona war nie glücklicher gewesen, die grimmigen Gesichter der Waffenmeisterin und ihrer Schwestern zu sehen. Margali hakte den Fuß hinter das Knie eines Mannes und schickte ihn zu Boden. Dann beugte sie sich über ihn, um ihm den Todesstoß zu versetzen.
Rache. Catriona fing Margalis Gedanken auf. Die Rache ist mein, aber wenn ich sie hier nehme, gefährde ich alle meine Schwestern.
»Heb dein dreckiges kleines Schwert auf«, zischte sie. »Es ist genug Blut vergossen worden.« Sie spuckte auf den Boden und sah zu der Stelle hinüber, wo die anderen Entsagenden die übrigen Männer niederwarfen. Mit einer verächtlichen Geste rief sie: »Und jetzt verschwindet hier!«
Frauen umringten Margali und Catriona, drängten sie die Treppe hinauf und in die Eingangshalle. Margali erklärte, und Catriona hörte zu. Plötzlich kam Lauria, von Keitha geführt, in die Halle, und Margali schluchzte in ihren Armen. Sie klammerte sich an die kleinere, schwächere Frau wie ein Mädchen, das gerade eben den Eid abgelegt hat. Nach langer Zeit hob sie den Kopf.
»Ich konnte Jaelle nicht retten, aber wenigstens - diese junge Schwester. Erinnert ihr euch an sie?«
Catriona nahm ihre Mütze ab. Ohne den Ohrring fühlte sich ihr Ohr im Licht nackt an. »Ich habe ihn versetzt«, gestand sie. »Ich wollte mit dem Geld Essen und Unterkunft bezahlen, bis ich Arbeit bei den Terranan fand … Ich wollte nur mit ihnen reden, von ihnen lernen, was ich kann, und … oh, das ist alles ganz gleichgültig, es tut mir Leid. Und dann traf ich Margali, und …«
Wortlos umarmte die alte Frau Catriona. Ihre Wangen waren nass.
»Catriona hat die Angreifer gehört, bevor ich etwas merkte. Und nur ihretwegen ist es mir jetzt nicht mehr gleichgültig, ob ich lebe oder tot bin«, erklärte Margali. »Sag mir, Keitha, erinnert sie dich an jemanden, den du einmal gekannt hast?«
»Ihr Temperament ist ebenso ungestüm wie deins«, bemerkte Keitha. »Oder Jaelles.«
»Das finde ich auch. Und ich finde, dieser ganze Planet ist soeben zu heiß für sie geworden. Wenn ich heute Abend ein Schiff besteige, sollte sie besser mit mir kommen. Ich werde ihre Schulung beenden, und ihr wird ihr Wunsch erfüllt. Vielleicht wird sie es sogar müde, mit Leuten zu reden - und fängt an, stattdessen zuzuhören. Sollte das geschehen, werden wir eine gute Arbeiterin gewinnen - und eine Schwester, auf die wir stolz sein können.« (Und anfangen, mein Mädchen, kannst du damit, dass du lernst, dein laran ein wenig zu kontrollieren - und dein Temperament auch!)
Eine Reihe bewaffneter, wohlhabend wirkender Entsagender begleitete ihre Schwestern zum Checkpoint und ließ sie dort in der Sicherheit der Terranan- Wachposten und der gelben Lichter zurück.
Margali und Catriona schlugen die Richtung zum Startplatz ein.
Catriona keuchte auf, als der Gleitweg unter ihren Füßen anruckte, und klammerte sich ans Geländer, als er sie in steilem Winkel zur Eingangsschleuse des Schiffes brachte.
Im Innern des Schiffes zuckte sie nicht mit der Wimper angesichts des Sperrfeuers von Fragen und Untersuchungen. Ein Arzt impfte sie mit einer Schachtel voller Nadeln, die summten und stachen. Danach war ihr Arm heiß und geschwollen, und im Kopf fühlte sie einen dumpfen Schmerz.
»Du brauchst die Medikamente, um den Sprung durchzustehen«, erklärte Margali, Catriona war zu benebelt, als dass sie gefragt hätte, was ›Sprung‹ zu bedeuten habe.
»Möchtest du dich hinlegen?«, fragte Margali.
Es würde interessant sein, ihre Kabine zu erkunden, und der Gedanke an ein weiches, ruhiges Bett war ungeheuer verlockend.
Trotzdem schüttelte Catriona den Kopf, bereute, das getan zu haben, und ging an ein Bullauge. Sie war kein Baby, und ihr würde nicht übel werden.
Aber als das Schiff in den violetten Himmel stieg und sie von Darkover wegtrug, füllten sich Catrionas Augen mit Tränen. Ganz plötzlich hatte sie schreckliche Angst. Was habe ich getan?, fragte sie sich.
Ihr fiel ein, was die alte Lauria gesagt hatte: »Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst; du könntest es bekommen.«
Dann sah sie aus dem Bullauge auf die unzähligen flammenden Sterne - und erkannte, dass sie es bekommen hatte.
Über Jaida n’ha Sandra und
›Der Eid der Freien Amazonen: Terra, technische Periode‹
Jaida, deren ursprünglicher Name Kim lautet, ist seit ihrem siebzehnten Jahr Mitglied meines Haushalts und meine Pflegetochter.
Sie hat ihren Namen als Erste amtlich auf die Amazonen-Version abgeändert, wahrscheinlich wegen eines Familienstreits, ob sie im College den Namen ihres biologischen Vaters, ihres Stiefvaters oder den Mädchennamen ihrer Mutter tragen solle. Vernünftigerweise schickte sie sie alle zum Teufel und wurde einfach Jaida. Tochter Sandras.
Bei einem Amazonen-Workshop, der vor ein paar Jahren hier in Berkeley stattfand, präsentierte Jaida eine ›moderne‹ oder
›terranische‹ Version des Eides, der in meinen Gedanken die Grundlage für die Brückengesellschaft und als Hintergrund für den jüngsten Darkover-Roman Die Schwarze Schwesternschaft benutzt wurde.
Jaida sieht mit ihrem roten Haar und ihren grünen Augen ganz wie eine Darkovanerin aus. Man könnte sie für die Romilly aus Herrin der Falken halten. Sie ist Absolventin von UC Berkeley und für die höheren Fachsemester in Linguistik nach Australien gegangen.
MZB
Der Eid der Freien Amazonen:
Terra, technische Periode
von Jaida n’ha Sandra
Von diesem Tag an verzichte ich auf das Recht zu heiraten, außer als Freipartnerin. Kein Mann soll mich besitzen, und ich will in keines Mannes Haus als seine Mätresse wohnen. Auch werde ich keinen Mann gegen seinen Willen an mich binden oder festhalten.
Ich schwöre, dass ich bereit bin, mich zu verteidigen, wenn man mich mit Gewalt angreift, und dass ich mich an keinen Mann um Schutz wenden werde.
Ich schwöre, dass ich von diesem Tage an nie wieder unter dem Namen eines Mannes bekannt sein werde, sei er Vater, Vormund, Liebhaber oder Gatte, sondern einzig und allein als Tochter meiner Mutter.
Ich schwöre, dass ich mich von diesem Tag an keinem Mann hingeben werde, wenn es nicht mein freier Wille, mein eigenes Begehren und der von mir gewählte Zeitpunkt sind. Ich werde niemals mein Brot als Objekt der Lust eines Mannes verdienen, und ebenso wenig werde ich meine Sexualität dazu benutzen, ein menschliches Wiesen zu manipulieren oder in eine Falle zu locken.
Ich schwöre, dass ich von diesem Tag an einem Mann ein Kind nur dann gebären will, wenn es zu meiner eigenen Freude, zu dem von mir gewählten Zeitpunkt und aus freier Wahl geschieht. Ich werde niemals ein Kind aus Gründen gebären, die Erbe und Erbfolge, Haus und Clan, Stolz und Nachruhm betreffen. Ich schwöre, dass ich allein darüber bestimmen werde, wie und wo ein Kind von mir aufgezogen werden soll, und das ohne Rücksicht auf die Stellung oder den Stolz eines Mannes, aber unter Berücksichtigung des Bedürfnisses, Vaterliebe zu beweisen, das ein Mann haben mag.
Von diesem Tag an enden für mich alle Verpflichtungen, die ich gegenüber einer Familie, einem Haushalt, einer Gesellschaft oder einer Kirche hatte, sofern diese unbedingten Gehorsam von ihren Mitgliedern verlangen, und beschwöre, dass ich da, wo es mir mein Gewissen gebietet, kämpfen werde, um jene Gesetze zu ändern, die einer zu großen Anzahl lebender Wesen Schaden zufügen.
Ich werde an keinen Mann Rechtsansprüche stellen, dass er mich beschütze, mich ernähre oder mir helfe. Eine Treuepflicht habe ich nur gegenüber meiner Eidesmutter, meinen bewährten Freundinnen und meinem Arbeitgeber, solange ich bei ihm beschäftigt bin.
Jede einzelne Freie Amazone soll für mich wie meine Mutter, meine Schwester oder meine Tochter sein, geboren aus einem Blut mit mir, und keine Frau, die ernsthaft meine Hilfe sucht, soll sich vergebens an mich wenden.
Ich schwöre, dass ich von diesem Augenblick an nur den Gesetzen meines Gewissens und des göttlichen Geistes, den rechtmäßigen Befehlen meiner Eidesmutter, meiner wahren Lehrerinnen und meiner gewählten Anführerin gehorchen werde. Ich werde keinem Mann erlauben, über mich zu richten oder den Weg zu bestimmen, den mein Leben nehmen soll. Und wie ich immer wachsam sein will, damit ich alle Versuche, mich zu beherrschen oder Macht über mich zu gewinnen, vereitele, werde ich mich ebenso bemühen, immer ehrlich und ehrenhaft in meinem Umgang mit allen anderen Wesen zu sein. Wenn ich meinen Eid nicht halte, dann werde ich mich der Strafe unterwerfen, die meine Lehrerinnen über mich verhängen, und sollte ich das nicht tun, dann mag sich die Hand jeder Frau gegen mich erheben, und möge ich tapfer im letzten Gericht und in der Gnade der Göttin sein.