»für eine Weile auf das Gebiet der Psychologie«, erwarb am Portland-College einen Master-Titel, war Dozentin für Physiologie und Bakteriologie an ihrem Chiropraktiker-College und Dekan der Schule, als ihre Tochter Sarah noch ein Säugling war. Das Ergebnis, sagt sie, war ein »totales Durchbrennen«, und sie preist sich glücklich, dass sie aufgehört hat, bevor es bei beiden zu viele Narben hinterließ.

Deborah besitzt den Schwarzen Gürtel im Kung Fu und unterstützt aktiv die Ausbildung von Frauen in asiatischen Kampfsportarten. Im Augenblick lehrt sie ehrenamtlich Säuglingsschwimmen im hiesigen YMCA.

MZB

Hebamme

von Deborah Wheeler

Das Nest war leer bis auf ein großes dunkles Ei. Der zweite Glückszufall war, dass der Eingang zur Höhle des Banshees von Schnee und Geröll teilweise blockiert war, was bedeutete, dass es nicht hereinkommen konnte, ohne Gavriela frühzeitig zu warnen.

Andererseits bedeutete es auch, dass sie in einem kleinen, stinkenden Bau gefangen war, bis sie sich mühsam ausgrub.

Gavriela n’ha Alys hockte sich auf die Fersen und bedachte ihre Situation. Sie hatte nicht mehr geweint, seit sie den Eid abgelegt hatte, und sie weinte auch jetzt nicht. Sie hätte in Nevarsin auf ihre Eskorte warten sollen, die durch schlechtes Wetter aufgehalten worden war.

Gavi hatte nur an ihre eigene Unruhe und den stärker werdenden Schneefall gedacht; sie wollte um keinen Preis noch einmal im Winter eingeschneit sein, ganz gleich, wie kostbar die medizinischen Aufzeichnungen waren, die sie kopierte. Ihre Ablösung, eine lächelnde, selbstzufriedene Schwester aus Temora, hatte ihren Platz bereits übernommen.

Es lag nichts zwischen Gavi und dem Weg nach Thendara als die dumme Vorschrift, eine Entsagende dürfe nicht allein reisen, und so hatte sie die Gelegenheit ergriffen. Dann hatte sie gemerkt, dass sie verfolgt wurde, und hatte sich Räuber oder etwas noch Schlimmeres vorgestellt. In ihrer Angst hatte sie sich in den Bergen verlaufen.

Gavi wischte sich die schwitzenden Hände an der mitgenommenen Hose ab. Bestimmt durfte sie es wagen, sich eine Weile auszuruhen, und sich darauf verlassen, dass die Lawine, von der sie an diesen Zufluchtsort getrieben worden war, ihre Verfolger getötet oder zumindest aufgehalten hatte. Sie konnte ihnen weder standhalten noch davonlaufen, auch wenn es ihr gelingen sollte, ihr Packtier wieder zu finden. Als Kämpferin war sie ihnen nicht gewachsen; ihre Eskorte wäre eine fähige Frau mit einer scharfen Klinge und schnellen Fäusten gewesen. Aber sie war allein …

Alle Schmiede in Zandrus Werkstatt können ein zerbrochenes Ei nicht wieder flicken, ermahnte Gavi sich streng. Und da wir gerade von Eiern sprechen …

Sie ging zu dem braunen Oval hinüber und atmete dabei durch den Mund, denn die Lebensgewohnheiten von Banshees erzeugen einen schrecklichen Geruch. Das Ei lag ein kleines Stück abseits von dem im Mittelpunkt angesammelten Haufen aus Knochen und Abfall. Im matten Licht entdeckte sie ein regelmäßiges Muster aus Höckern und Flecken auf der Oberfläche. Das Ei war ebenso hässlich und stinkig wie der Vogel, der es gelegt hatte.

Gavis Blick blieb an einem großen Knochen hängen, der frei von Fetzen fauligen Fleisches zu sein schien. Sie identifizierte ihn als das Schulterblatt eines chervine.

Ermutigt durch seine Glätte und Trockenheit nahm sie das Stück auf und kehrte zu dem mit Schnee und Steinen verstopften Eingang zurück. Der Knochen ersparte es ihr, ihre Fausthandschuhe zu zerfetzen, die sie später noch brauchen würde. Trotzdem war das Graben schwere Arbeit, und Gavi wurde es so warm, dass sie die äußeren Schichten ihrer Kleidung ablegen musste.

Ein- oder zweimal meinte sie, hinter ihrem Rücken ein Geräusch zu hören, und drehte sich voll Angst um, das Banshee sei durch eine andere Öffnung zurückgekehrt. So dunkel es war, sie konnte sehen, dass die Höhle keinen anderen Eingang hatte. Sie hatte eine Stelle freigeräumt, die beinahe groß genug war, dass sie hindurchkriechen konnte, als das Ei heftig zu schaukeln begann. Ein krummer Schnabel reckte sich feucht glitzernd aus einem Schlitz.

Gavis erster Impuls war, durch die enge Öffnung zu hechten, ganz gleich, welchen Schaden Haut und Kleidung nahmen, aber die Vorsicht hielt sie zurück. Wenn nun das Küken dieselben legendären Eigenschaften, was Schnelligkeit und Appetit betraf, wie die erwachsenen Banshees hatte? Dann packte es sie, bevor sie ihr Messer ziehen konnte. Und was war, wenn es sie mitten in dem Tunnel erwischte?

Kr-rack! Schalenstückchen flogen auf den rauen Boden. Dem Schnabel folgte ein knochiger Kopf. Er stupste unsicher an dem Loch herum, das noch zu klein zum Ausschlüpfen war. Das Wesen gab leise, gurgelnde Laute von sich.

Gavi lachte nervös auf. »Du dummer Vogel! Zieh deinen Schnabel wieder zurück, damit du dir den Weg freipicken kannst.«

Wie zur Antwort auf ihre Worte begann das Ei, sich zu drehen, und das Gurgeln steigerte sich zu einem zitterigen Stöhnen. Die Bewegungen wurden so heftig, dass Gavi fürchtete, das Ei könne umkippen und das Banshee-Küken sich den Schädel auf dem Fels einschlagen. Sie hatte nicht mehr an die Geburten denken wollen, denen sie, stumm und elend, in ihrem Heimatdorf beigewohnt hatte.

Die Gildenmütter hätten sie gern zur Hebamme oder Tierheilerin ausbilden lassen, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie hatte erwidert, sie habe genug Unschuldige sterben sehen und genug Windeln gewechselt, dass es für ein Leben reiche, und sie sei ins Gildenhaus von Thendara geflohen, um diesem Zyklus von Schmerz und Unwissenheit zu entgehen. Nicht hinzugefügt hatte sie, dass sie den Ruf jedes sterbenden Geistes gefühlt hatte.

Jetzt hatte sich das kämpfende Banshee-Küken in ihren Geist gedrängt. Sie nahm seine Verzweiflung wahr, als sei es ihre eigene, sie spürte, wie seine Kraft nachließ, während es seinen weichen Kopf gegen die unnachgiebige Schale schmetterte.

»Dummes, nicht so.« Gavi legte das Chervine-Schulterblatt hin und trat vor das Ei. Sie zog ihr kurzes Messer und stieß es in die Schale, benutzte die Klinge als Hebel, um die Öffnung zu erweitern. Das Küken wurde still, sobald sie sein Gefängnis berührte. Es war noch nass vom Fruchtwasser, aber es roch nicht so schlecht, wie sie erwartet hatte.

Kaum hatte sie eine Öffnung für den Kopf geschaffen, da begann das Umsichschlagen von neuem und zwang sie zurückzutreten, damit sie nicht umgehauen wurde. Bald kam der Rest des geschmeidigen Halses aus der zersplitternden Schale, dann ein runder Körper auf zwei dicken Beinen. Abgesehen von der Schuppenhaut an den Füßen war das Küken mit Flaum bedeckt und einem großen, nassen Haushuhn sehr ähnlich. Trotz des schlechten Lichts konnte Gavi sehen, dass es keine Augen hatte. Mit hämmerndem Herzen trat sie zurück. Natürlich, Banshees orientieren sich bei der Jagd nach Geräuschen und Körperwärme. Der Kopf des Kükens schwang vor und zurück, als schnüffele es in der Luft. Jeden Augenblick konnte es sie wahrnehmen und zuschlagen …

Das Banshee-Küken tat einen wackeligen Schritt und gab ein schwankendes Summen von sich. Denk nach, Dummkopf!, rief Gavi sich selbst zu. Was brauchen Neugeborene? Nahrung natürlich! Und wenn du ihm nichts anderes gibst, wird es dich fressen!

Der kleine Rucksack, den sie für gewöhnlich trug, war nicht mit ihrem Tier und dem übrigen Gepäck verloren gegangen. Gavi hob die Klappe und nahm ein Paket Dörrfleisch heraus. Mit aller Kraft ihr Zittern unterdrückend, hielt sie dem Küken einen Streifen hin. Es fuhr mit seinem kläglichen Wimmern fort und schaukelte sich dabei auf seinen klauenbewehrten Füßen vor und zurück. Gavi ging näher heran und ließ ihm das Fleisch vor der Nase baumeln. Plötzlich duckte sich der Vogel, dass der Bauch dicht über dem Boden war, und öffnete den Schnabel.

»Da, Dummes.« Gavi ließ den Fleischstreifen in den klaffenden Schnabel des Kükens fallen. »Da ist es. Wer hätte gedacht, dass du von Hand gefüttert werden musst, so ein großes, hässliches Vieh wie du?« Unter normalen Umständen würde natürlich die Banshee-Mutter das Füttern besorgen.

Das Banshee schlang den Bissen hinunter und nahm von neuem seine Bettelhaltung ein. Kopfschüttelnd gab Gavi ihm noch einen und dann noch einen Streifen. Jetzt zitterte sie nicht mehr, aber sie machte sich Sorgen um ihre Lebensmittelvorräte. Wenn das Küken sich mit allem, was sie hatte, zufrieden gab, griff es sie vielleicht nicht an, aber was sollte sie essen, bevor sie Hilfe erreichte? Und wenn ihre magere Verpflegung nicht genug war, mochte das Küken zu dem Schluss kommen, sie gebe ein feines Dessert ab.

Das Küken verputzte das ganze Fleisch und dazu noch einiges an Trockenobst und Breimehl. Dann schloss es mit widerhallendem Klappen den Schnabel. Den sichtlich angeschwollenen Bauch immer noch dicht am Boden haltend, watschelte es zu Gavi hinüber. Gavi sagte sich, dass das kein Angriff sein konnte, und zwang sich stillzustehen. Das Daunenkleid des Kükens begann zu trocknen und bauschte sich ihm um Kopf und Hals. Es rieb sich an Gavis Stiefeln und Beinen, und sie kam in Versuchung, die weichen Federn zu berühren.

Evanda und Avarra, es hält mich für seine Mutter! So abstoßend es für ihre menschlichen Augen sein mochte, auf einen Erwachsenen seiner eigenen Spezies wirkte es sicher liebenswert.

»Nein! Ich mag dir geholfen haben, aus dieser von Zandru verfluchten Schale herauszukommen, aber ich werde nicht das Kindermädchen oder sonst etwas für dich spielen!«

Aber das nutzte offensichtlich nichts. Sie hatte es gefüttert und mit ihm geredet, und jetzt hatte es sich an ihrer Körperwärme verankert und rieb sich an ihren Beinen. Banshees haben den Ruf, ebenso dumm wie tödlich zu sein, und der reine Instinkt hatte dem Gehirn dieses Kükens das Bild Gavis als der einzigen Quelle von Nahrung und Liebe eingeprägt.

»Ich nehme an, das ist noch ein Glück«, sagte Gavi und ging auf die Öffnung der Höhle zu. »Wenn du glaubst, ich sei deine Mutter, wirst du nicht versuchen, mich zu fressen. Hier muss ich nur noch ein bisschen wegräumen. Nein, stoße mich nicht mit deinem Kopf, du dummer Vogel. Du wirst einen Erdrutsch in Gang bringen, der uns beide begräbt. Geh zurück!« Das Küken drängte sich an ihr vorbei.

Sie fasste es mit beiden Händen um den dicken Hals. Die Daunen sahen flaumig aus, waren aber mit einer klebrigen Schicht bedeckt.

Als sie ihn berührte, beruhigte sich der Vogel sofort und fing wieder mit seinem zärtlichen Summen an.

»Halt den Mund. Komm mir nicht dauernd in den Weg, dann werden wir beide bald frei sein, ich auf dem Weg nach Thendara, wo jede vernünftige Frau im Winter sein möchte, und du irgendwo anders, so hoch oben und so weit entfernt von mir, wie du es schaffen kannst. Verstanden?« Das Banshee-Küken rieb seinen Kopf an ihrer Hüfte und verstärkte sein hingebungsvolles Summen.

Gavi zog sich durch das Loch und stellte mit einiger Verzweiflung fest, dass sie es reichlich groß für das Küken gemacht hatte. Während es sich zappelnd und Flügel schlagend durch die Öffnung wand, stand sie auf und sah sich um. Auf dem Neuschnee war kein Zeichen von ihrem chervine zu sehen, aber sie entdeckte auch keine Spuren ihrer Verfolger. Die rote Sonne hatte sich ein gutes Stück auf den Horizont niedergesenkt.

Gavi zog die Sachen wieder an, die sie beim Graben abgelegt hatte.

Ihr blieb immer noch etwas Zeit bis zum Dunkelwerden, und sie wollte nichts davon verschwenden. Mit dem Abend würden eine tödliche Kälte und jagende Banshees kommen, wenn sie dann nicht schon unterhalb der Baumgrenze war. Sie orientierte sich, so gut es ging, nach dem Stand der Sonne und der Neigung der Bergflanke und begann mit dem Abstieg. Das Küken flatterte mit verzweifelten Jammerlauten hinter ihr her.

»Oh, hör auf. Ich bin nicht deine Mutter. Wirf mir bloß nicht vor, ich sei ein herzloses Ungeheuer, das dich im Stich lässt. Du gehörst hierher, und ich nicht. Geh und jage etwas anderes. Schsch!« Sie machte scheuchende Bewegungen mit den Händen. Das Küken hielt an und schwang verwirrt den Kopf von einer Seite zur anderen. Im Tageslicht war es noch hässlicher, als Gavi gedacht hatte.

»Ich habe dafür keine Zeit, ich muss machen, dass ich wegkomme«, betonte sie. »Nein, fang nicht wieder mit diesem Spektakel an, ich kann dich nicht mitnehmen. Armes Ding, ich weiß, das Licht macht dich schläfrig - dann such dir doch einen Platz, wo du dich zusammenkuscheln kannst, und lass mich gehen.«

Schließlich, als das Küken seine anbetende Haltung mit dem Bauch auf dem Boden einnahm, schrie sie mit solchem Nachdruck: »Hau ab, du Scheusal!«, dass das Kleine sich traurig wimmernd an den Eingang der Höhle zurückzog.

Gavi ließ die Baumgrenze hinter sich, bevor es dunkel wurde. Sie fror, und sie hatte sich beim Ausrutschen auf losem Geröll die Haut abgeschürft. In einem Knöchel pochte es Besorgnis erregend, ihr Ellenbogen war blau und geschwollen, und ihre Fausthandschuhe waren zerrissen. Aber im Ganzen war sie noch mit einem blauen Auge davongekommen. Es gelang ihr, etwas Essen hinunterzuwürgen und unter den Zweigen immergrüner Bäume eine geschützte Stelle zu finden. Dort machte sie sich ein Bett aus den abgefallenen trockenen Nadeln und grub sich der Wärme wegen tief hinein.

Gavriela erwachte, auf einer Seite völlig ausgekühlt. Ein ziemlich großer und weicher Klumpen hatte sich von oben bis unten an ihre Beine gelegt. Sie rümpfte die Nase, als ein unverkennbarer Geruch sie erreichte, und öffnete die Augen.

Das Banshee-Küken, heute merklich größer als gestern, stieß sie mit dem Kopf und zeigte seine Zufriedenheit mit gurgelnden Lauten.

Gavi drehte sich der Magen bei dem Geruch um. Sie zischte: »Du dummer Vogel, was machst du hier? Nein, du darfst mir nicht folgen.

Au! Idiot, geh von meinem Fuß hinunter! Du gehörst da oben hin, oberhalb der Baumgrenze, und angeblich bist du doch ein Nachttier.«

Sie stand auf und betrachtete das sie umschmeichelnde Ungeheuer.

»Du scheinst ohne mich gut zurechtgekommen zu sein. Dieses Blut auf deiner Brust ist doch der Überrest von deinem Abendessen! Deine Tischmanieren sind verbesserungsbedürftig. Nein, ich lasse dich nicht in meine Nähe, ehe ich dich ein bisschen gesäubert habe. Halt still!«

Die Tannennadeln saugten Flüssigkeit auf und würden dem Ding einen besseren Geruch geben.

Gavi warf die letzte Hand voll schmutziger Nadeln fort und schob das Küken weg. »Jetzt geh, hörst du mich? Ich will dich nicht!

Verdufte!« Das Küken wackelte ein paar Schritte weg. Die wärmeempfindlichen Augenflecken an seinem Schädel glänzten in dem schwachen Sonnenlicht. Sein Summen verwandelte sich in ein trauriges Schluchzen.

Gavi konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Du gibst die albernsten Geräusche von dir, aber das nützt dir gar nichts. Fort mit dir.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und stieg weiter den Hang hinab.

Sie wusste, der Vogel folgte ihr, im Schatten der Felsen versteckt.

Banshees werden tagsüber schläfrig, und bei direkter Sonneneinstrahlung fällt ihnen jede Aktivität schwer. Wenn das Ding nur aufgeben und dahin zurückkehren würde, wo es hingehörte!, dachte sie wütend. Hatte sie vielleicht eine pervertierte, tagsüber jagende, den Menschen liebende Monstrosität geschaffen?

Nicht lange, und sie fand einen Wechsel der wilden Berg- Chervines, der sie zu einer Wasserquelle führen würde. Sie sah sich die Spuren genau an und entdeckte Abdrücke von beschlagenen Hufen. Wenn Evandas Glück mit ihr war, hatte ihr Packtier überlebt und sie eine Chance, Nahrungsmittel und Ausrüstungsgegenstände wieder zu finden. Sie beschleunigte den Schritt.

Ahnungslos stolperte Gavi in das Lager. Sie war eben vom Hauptpfad abgebogen, und schon saß sie praktisch einem fremden Mann auf dem Schoß, der hastig von einem Kochfeuer aufstand. Es war zu spät, um ihren Irrtum zu berichtigen. Ihre Gedanken waren so mit der Flucht vor dem Banshee und dem Auffinden ihres verlorenen Packtiers beschäftigt gewesen, dass sie die Männer, die ihr am Tag zuvor gefolgt waren, vergessen hatte. Ihr war klar, dass sie sich gegen mehrere erfahrene Kämpfer nicht hätte verteidigen können. Doch gegen diesen einen … Ihr kleines Messer lag fest und ruhig in ihrer Hand.

Der Mann vor ihr, der sich die Hände am groben Stoff seiner Hose abwischte, war offensichtlich kein Räuber, sondern ein Hirte, und er schien allein zu sein. Gavi senkte die Spitze ihres Messers, verharrte aber in ihrer Kampfhaltung. Ihr Blick fiel auf ihr chervine, das auf der anderen Seite des Feuers an einen Baum gebunden und zum Teil von seinen Lasten befreit worden war. Ihr kostbarer Besitz an warmen Kleidern und Decken lag achtlos im Dreck verstreut.

»Das ist mein Tier und mein Gepäck.«

Das Gesicht des Hirten rötete sich. Ein schiefes Grinsen zeigte sehr schlechte Zähne. »Ho-oh-oh!«, rief er im Dialekt der Gegend. »Der Finder behält alles, das ist das Gesetz der Berge. Du bist eine Fremde; vielleicht kennst du es nicht. Wo ist dein Mann?«

»Ich bin eine freie Frau und erkenne keinen Mann als Herrn an.«

»Na so was! Aber ich habe schon von solchen wie dir gehört. Eine herrenlose Dirne also! Es wird dir eine Lehre sein, erst gevögelt und dann verprügelt zu werden, ho-oh-oh, oder ist dir die umgekehrte Reihenfolge lieber?« Beeindruckt von seinem eigenen Humor, brach er in wieherndes Gelächter aus.

Gavi presste angewidert die Lippen zusammen. Und sie hatte das Banshee-Küken für hässlich gehalten! Es war ein Geschöpf der Natur, das seinen Instinkten folgte, ohne ihr persönlich etwas Böses zu wollen. Dagegen hatte der Mann, der sich ihr jetzt höhnisch lachend näherte, wenigstens äußerlich den Anschein eines vernünftigen Wesens, und doch fehlte es ihm völlig an Anstand und Ehre. Gavi hob ihr Messer.

»Ich warne dich, ich bin bereit, mich zu verteidigen.«

Er blieb stehen, aber sein unangenehmer Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Was, mit dem kleinen Ding?« Er sah auf die Wölbung seines von Fett gepolsterten Bauchs nieder. »Du wirst mir höchstens einen Kratzer damit zufügen. Vielleicht kann ich es hinterher als Zahnstocher benutzen.«

Gavi brauchte ihre ganze Willenskraft, um nicht zu zittern. Sie war sich über die Schwäche ihrer Position im Klaren. Eine innere Stimme redete ihr unaufhörlich zu: Er versucht, dich einzuschüchtern, höre nicht auf ihn! Eine Freie Amazone gibt niemals auf, hast du denn gar nichts gelernt? Was würden deine Gildenschwestern dazu sagen? Ziele auf eine lebensgefährliche Stelle. Das Fett schützt weder seine Kehle noch seine Augen. Du kannst sein Gewicht gegen ihn einsetzen! Aber er hatte ihre psychischen Barrieren durchbrochen, und sie wusste, dass er die Verzweiflung in ihren Augen sehen konnte.

Die gleiche Wut, die sie aus ihres Vaters Haus an das Tor des Gildenhauses in Thendara getrieben hatte, flammte in Gavrielas Herzen auf. Nein!, rief sie sich zu, ich unterwerfe mich nicht wie ein dummes Tier! Ich weiß, ich bin keine gute Kämpferin, aber wenn ich ihn nicht auf andere Weise aufhalten kann, wird er meinen Leichnam schänden müssen. Möge Avarra meiner Seele gnädig sein!

Sie trat einen Schritt zurück, dachte kurz an Flucht und verwarf den Gedanken. Sie war durch die im Freien verbrachte Nacht geschwächt, und wenn er sie von hinten angriff, hatte sie auch den kleinsten Vorteil verschenkt. Sie schloss die Hand fester um das Messer und holte tief Atem. Es bestand immer noch eine geringe Chance, dass sie ihm Schaden genug zufügte, um fliehen zu können.

Der Hirte halbierte die Entfernung zwischen ihnen mit einer raschen Bewegung. Sie machte sich auf seinen Angriff gefasst, als ein grässlicher Schrei die Luft zerriss. Er lähmte sie, ihr Herzschlag stockte, und beinahe hätte sie ihr Messer fallen gelassen. Wieder erklang der Schrei, so nahe, dass es unmöglich war, die Richtung zu bestimmen.

Die Wirkung auf den Mann war gleichermaßen erstaunlich. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, so dass es grauweiß aussah, und er begann heftig zu zittern. »Banshee«, flüsterte er. »Ah, das bedeutet den sicheren Tod, wenn man ein Banshee unter der blutigen Sonne hört.«

»Es ist dein Tod, wenn du mich oder mein Eigentum mit einem Finger berührst!«, rief Gavi. »Hast du geglaubt, ich wolle mich allein mit diesem kleinen Messer verteidigen? Verschwinde, bevor ich dem Dämon befehle, dich zu fressen!«

Einen Augenblick lang fürchtete sie, seine Bauernschläue werde ihn misstrauisch machen, aber sein Verstand hatte ihn verlassen. Er rannte den Pfad hinunter und ließ die Überreste seines eigenen Lagers zurück. Gavi hörte erst auf zu zittern, als er schon längst außer Sicht war.

Das Geheul erklang noch einmal, diesmal leiser und aus einer zu erkennenden Richtung. Jetzt konnte sie das Küken über sich sehen.

Mit unerwarteter Anmut kam es herunter. Das chervine wieherte nervös, rollte die Augen und zerrte an seinem Strick. Gavi klopfte es beruhigend.

»Bleib stehen, du dummer Vogel! Du wirst mein Packtier zu Tode ängstigen, und dann bin ich wieder da, wo ich angefangen habe. Gut, gut, ich komme zu dir hinauf. Bleib nur dort!«

Das Küken schien seit dem Morgen schon wieder gewachsen zu sein, und seine Federn waren glatter und weniger flaumig. Sein Jagdschrei verwandelte sich in ein ekstatisches Summen, als Gavi sich ihm näherte.

Gavi beugte sich zu dem Banshee nieder, und ihre Arme legten sich automatisch um seinen Körper. Die Erleichterung schwemmte das Entsetzen hinweg. Lange Minuten vergingen, bevor sie schluchzen konnte: »Oh, du lächerlicher, widerwärtiger Vogel, du hast mich gerettet! Ich war dumm genug, ohne Eskorte zu reisen, und dann hast du diese Aufgabe übernommen!«

Sie hockte sich auf die Fersen. »Was soll ich nun mit dir anfangen?

Ich kann nicht hier bleiben, selbst wenn ich wollte, denn der Winter kommt. Nein, hör auf, mich mit dem Schnabel zu stoßen, deine Zähne sind scharf! Hör zu, Dummes - oh, wer ist hier dumm? Ich, weil ich eine Vorschrift gebrochen habe, die zu meinem Schutz erlassen worden ist, oder du, weil du mich für deine Mutter hältst?«

Das Banshee, das immer noch entzückt summte, rieb seinen Hals an ihrem Bein. Zögernd streichelte Gavi ihn und fühlte die ölige Glätte der Federn, die über dem Babyflaum lagen. »Du kannst wirklich nicht mit mir kommen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Du dürftest jetzt nicht einmal wach sein, das ist ungesund für dich. Und du musst auf die Höhen zurückkehren, wo du hingehörst, ebenso wie ich nach Thendara zurückkehren muss.« Sie wurde sich bewusst, dass ein Teil ihres Ichs an dem Kleinen hing, so hässlich es sein mochte. Sie hatte ihm auf die Welt geholfen, hatte es gefüttert, für es gesorgt, mit ihm als ihrem Gefährten gesprochen … und jetzt musste sie es gehen lassen. Sie musste es in seine natürliche Umgebung zurückschicken.

Aber wie? Schimpfen hatte bei ihm nicht gewirkt - was ein Glück war, denn diesem Misserfolg verdankte sie ihr Leben.

Gavi nahm den scheußlichen Kopf in die Hände und achtete sorgfältig darauf, die empfindlichen Augenstellen nicht zu berühren.

Sie suchte in ihrem Herzen nach Worten, die das Scheiden ebenso zu einem Akt der Liebe machen würden, wie es das Zusammenbleiben wäre.

»Du musst deinen eigenen Weg gehen, mein Freund, wie ich den meinen. Nicht, weil du in meinen Augen hässlich bist oder weil es kein Band gibt zwischen uns, sondern weil du dein Leben hoch oben in den Bergen führen musst, wo du gedeihen kannst. Du bist ein Kind der Götter ebenso wie ich, und sie haben uns unterschiedlich gemacht. Kehre mit meinem Segen zu deinem angestammten Ort zurück. Adelandeyo. Gehe in Frieden.«

Das Banshee-Küken lag ruhig und warm an ihrer Seite, und sein Summen war wie ein pulsierender Herzschlag. Gavi konnte nicht die Spur einer Reaktion oder eines Begreifens erkennen. Warum hatte sie erwartet, es werde sie verstehen? Banshees sind so dumm, dass sie praktisch gehirnlos sind, so hatte sie es immer gehört. Nur die Furcht ihrer Opfer ermöglicht es ihnen, zu überleben.

Das Küken senkte seinen Schnabel mit dem gefährlichen Haken und den rasiermesserscharfen Einkerbungen und liebkoste ihr Bein mit der glatten Außenfläche. Es hievte sich auf die Füße und verschwand mit überraschender Geschwindigkeit bergauf. Gavi sah ihm nach, bis es außer Sicht war. Dann rieb sie sich Hände und Kleidung mit stark duftenden Blättern ab, bevor sie sich wieder dem chervine näherte.

Während sie ihre Kleider und ihren Schlafsack ausschüttelte und wieder zusammenpackte, dachte Gavriela: Es kann mich nicht verstanden haben, und doch hat es mich verstanden. Vielleicht habe ich mit ihm auf die gleiche Weise gesprochen, wie es mich aus seiner Schale erreicht hat. Wenn ich im Stande bin, die Hebamme für ein Banshee zu spielen, kann ich lernen, alles zu lieben. Die Gildenmütter hatten Recht, ich sollte meine Gaben nützen, aber nicht, um Babys sterben zu sehen, sondern um zu helfen, dass sie am Leben bleiben. Sie werden mir allerdings nie glauben, bei welcher Geburt ich zu dieser Einsicht gekommen bin!

Das chervine stieß sie mit seiner weichen Nase an, und sie führte es den Berg hinunter. Jetzt ging es nach Thendara und nach Hause.

Über Maureen Shannon und ›Rekruten‹

Die ›Rekruten‹ verdanken ihr Entstehen (laut der Autorin) der Geschichte ›Es gibt immer eine Alternative‹ von Pat Mathews (siehe

›Mädchen bleiben Mädchen‹). Maureen sagt: »Ich dachte über die Frauen nach, die der Schwesternschaft beitreten möchten, und konnte nicht glauben, dass sie alle so verbissen sein müssen. Es werden doch auch Kandidatinnen kommen, die nichts weiter als Außenseiter sind, aus welchem Grund auch immer, und so kam es zu den ›Rekruten‹.«

Dies ist eine lustige Geschichte, eine angenehme Abwechslung von den üblichen Geschichten über Freie Amazonen unter dem Motto:

»Hinter jeder Freien Amazone steht ein Drama, und fast immer ist es eine Tragödie« - was natürlich seine guten Gründe hat. Denn in einer Gesellschaft wie der Darkovers ist es immer eine ernste Sache, wenn eine Frau von der ihr vorgezeichneten Bahn abweicht. Bei voller Anerkennung dieser Tatsache ist es trotzdem schön, sich von all den finsteren Tragödien einmal ausruhen zu können.

Maureen Shannon ist Dozentin am Kankakee Community College, wo sie kreatives Schreiben, Stilübungen für Anfänger und Votech-Kommunikation (was das auch sein mag) unterrichtet. Sie ist Mutter von zwei Töchtern, siebzehn und zwanzig, und Großmutter von zwei Jungen. Sie lebt auf dem Land (in Clifton, Illinois) mit drei Hunden, sechs Katzen und einem Pferd.

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Rekruten

von Maureen Shannon

»Es ist ein herrliches Haus«, schwärmte Esarilda, »und in einer so ausgezeichneten Lage!«

Fast jeder außer mir hätte die untersetzte Frau an meiner Seite angesehen, als habe sie den Verstand verloren. Das Gebäude, das wir betrachteten, hatte vielen Zwecken gedient; es war unter anderem ein Bordell und eine Söldner-Unterkunft gewesen, aber bestimmt niemals

›herrlich‹. Drei Stockwerke hoch und drei Zimmer breit, kehrte es eine schäbige, beinahe fensterlose Schwarzstein-Fassade der schmalen Straße zu, auf der wir standen. Auf einem großen Ruinengrundstück zu unserer Rechten waren die verkohlten Überreste eines Lagerhauses und der hässliche, stinkende Unrat von mehreren dutzend Jahren zu sehen. Links teilte ein billiges Bierhaus die hohe Westwand mit unserem Haus. Auf der anderen Straßenseite war noch ein Lokal, flankiert von ein paar kleinen Läden. Am Ende der Sackgasse war in einem großen, ausgedehnten Gebäude eine Kombination von Penne, Kneipe und Bordell untergebracht.

Aber ich pflichtete Esarilda bei. Es war ein herrliches Haus und eine ausgezeichnete Lage, denn das Haus gehörte uns und stellte die erste Erweiterung der Schwesternschaft vom Schwert dar, die vor wenigen Jahren in Thendara eine Niederlassung gegründet hatte. Und schon war unser Haus dort so überfüllt von frisch vereidigten Schwestern, dass der Platzmangel für uns ein echtes Problem geworden war.

Dann starb ein Mann, dessen Schwester die Prostitution aufgegeben hatte, um eine von uns zu werden, und hinterließ uns diesen Besitz in Caer Donn. Esarilda und ich waren hergekommen, um ihn uns anzusehen, zu entscheiden, was daran getan werden musste, und Vorbereitungen für die Aufnahme aller Rekruten, die kommen mochten, zu treffen. Aber ich konnte nicht aufhören, mir Sorgen zu machen, ob ich fähig sei, ein Schwesternhaus zu leiten, auch wenn ich im Gildenhaus von Thendara gelebt hatte, seit ich fünf war. Würde ich überhaupt Frauen finden, die sich uns anschließen wollten? In Thendara brachte uns nur die Mundpropaganda neue Mitglieder, denn das Gesetz verbot uns, aktiv um sie zu werben. Wie sollte überhaupt jemand erfahren, dass wir hier und bereit waren, Rekruten aufzunehmen? Und wenn wir welche bekamen, würde es mir dann gelingen, ein harmonisches Zusammenleben zu schaffen?

»Lass uns hineingehen«, drängte Esarilda. Sie zitterte im kalten Spätwinterwind. Ich nahm den großen Messingschlüssel von der Kette um meinen Hals und öffnete die massive, kupferbeschlagene Tür. Die Kräfte von uns beiden waren notwendig, um sie so weit aufzuschieben, dass wir hindurchschlüpfen konnten.

Der zentral gelegene Raum war eine kleine Festung und zweifellos so ausgebaut worden, als das Gebäude Söldner beherbergt hatte. Eine einzige Tür unterbrach die Einförmigkeit der festen Holzwände.

Schlitze in der Decke ermöglichten es den Verteidigern, von oben kochendes Wasser auf Angreifer zu gießen. Ich gewann den Eindruck, ein paar tüchtige Schwertfrauen könnten eine Armee von diesem Raum entfernt halten.

Die Tür führte in einen zweiten Flur mit einer Treppe nach oben und Türen in allen Wänden. Wir durchstöberten die einzelnen Räume, und Esarilda stieß bei jeder neuen Entdeckung Rufe des Entzückens aus. Sie fand alles schön, von der riesigen, altmodischen Küche bis zu den zahlreichen kleinen Schlafzimmern im zweiten und dritten Stock. Ich versuchte, ihren Optimismus zu teilen, versuchte, mich auf die Begeisterung einzustimmen, mit der meine Gefährtin, chronologisch zwanzig Jahre älter, aber emotional jünger als ich, die Welt betrachtete.

»Komm und sieh dir das an!«, rief sie. »Sieh nur, was im Hinterhof ist, Maellen!«

Ich folgte ihr durch die Hintertür der Küche in einen engen Gang, der, wie Esarilda bereits ausgekundschaftet hatte, in eine kleine Milchkammer und von da in einen aus Stein gebauten Stall von bemerkenswerter Größe führte. Beide Gebäude waren schmutzig, denn die früheren Bewohner hatten sie verwahrlosen lassen.

Geschirre und Werkzeuge verfaulten in Dunghaufen, während große Krüge, die einmal Milch und Käse enthalten hatten, so umherlagen, dass man unmöglich gleich feststellen konnte, ob auch nur einer von ihnen noch heil war.

»Schnell, Maellen. Hier hinaus! Sieh nur, was wir sonst noch haben!«

Ich verließ den Stall und betrat den langen, schmalen Garten des Hauses. Esarildas neueste Entdeckung waren drei dürftige Bäume, an deren kahlen Zweigen immer noch ein paar verschrumpelte Früchte hingen. Esarilda hopste umher wie ein Buschspringer, und ihr kurzes Haar flog ihr um den Kopf wie der buschige bläuliche Schwanz dieses Tieres. Sie verschwand in einem kleinen Gebäude, das an die Grenzmauer gesetzt war, kam wieder zum Vorschein und wischte sich Spinnweben aus dem lächelnden Gesicht. »Sieh doch, Maellen!«, rief sie von neuem. »Was für ein Fund! Das ist ein Hühnerhaus, und weißt du was? Dort sitzt eine Glucke auf einem Nest voller Eier!« Aus dem Ton ihrer Stimme hätte man schließen können, sie habe einen unvergleichlichen Schatz gefunden. Sie drängte mich, einzutreten und mir die kleine braune Henne mit eigenen Augen anzusehen.

»Nein, nein.« Ich blieb im Eingang stehen und betrachtete Spinnweben, Staub und tote Insekten, die sich in Jahren angehäuft hatten. »Ich sehe von hier aus deutlich genug. Die Glucke scheint mir wirklich ein Schatz zu sein. Aber komm jetzt, Esarilda. Es ist beinahe Mittag, und ich habe Hunger. Vielleicht gibt es in dem Bierhaus nebenan auch Essen.«

Mit dem Eifer eines Kindes lief Esarilda durch den Garten zur Hintertür. Ich hatte etwas Gewissensbisse, dass ich sie mit der Aussicht auf Essen weglockte, dem sie niemals widerstehen konnte.

Aber es gab noch eine Menge zu tun, wenn wir heute Nacht in unserem neuen Schwesternhaus schlafen wollten. So viel für nur zwei Frauen. Wann, fragte ich mich, würden sich uns andere anschließen?

Wir sahen uns das Bierhaus erst eine Weile von außen an. Das viel versprechende Schild wies es als das Brüllende Rabbithorn aus. Ein merkwürdiger Name, in der Tat, aber sobald ich den Wirt kennen lernte, bezauberte mich der Scharfblick, den er durch die Namensgebung bewiesen hatte. Die Gäste schienen zum größten Teil aus dem Personal der verschiedenen kleinen Läden zu bestehen, und es waren auch einige Frauen darunter. So traten meine Gefährtin und ich ein und setzten uns an einen kleinen Tisch an der Wand, wo wir einen guten Blick auf die Eingangstür hatten und, sollten wir angegriffen werden, schnell durch den Korridor verschwinden konnten, der zum Abtritt am Ende des Wirtshausgartens führte. Der Wirt bemühte sich persönlich, unsere Bestellung in Empfang zu nehmen. »Was darf es sein, domnas?«, fragte er. Seine tiefe Baßstimme dröhnte aus einem Körper, der so rund und gemütlich war wie der eines Waldbären. »Die Spezialität ist heute Kutteln, und meine Frau hat einen ausgezeichneten Obstkuchen gebacken. Wäre euch das recht? Ich versichere euch«, fuhr er fort, ohne uns Zeit zum Antworten zu lassen, »es ist das Beste, was heute auf der Speisekarte steht. Nicht etwa das Einzige, o nein. Dafür ist meine Carla eine zu gute Köchin. Aber das Beste ist es. Darf es also Kutteln und Obstkuchen sein?«

Uns kaum Zeit genug lassend, mit dem Kopf zu nicken, war er mit einem Sprung wie ein erschrecktes Rabbithorn davon. Esarilda klatschte fröhlich in die Hände. »Ist das aber ein netter Mann!«, meinte sie.

Meine Mutter hatte einmal zu mir gesagt, jede Frau, die unserer Schwesternschaft beitrete, habe eine Tragödie hinter sich. Ich wusste, dass das auf Esarilda zutraf, obwohl ich die Einzelheiten nicht kannte.

Meine Mutter lehnte Klatsch ab, und mir selbst widerstrebte es, ihr gegenwärtiges vergnügtes Wesen mit Fragen über das Elend der Vergangenheit zu verstören. Natürlich hatten Männer sie misshandelt, wie die meisten von uns, und doch fand sie immer wieder an denen, die sie kennen lernte, versöhnliche Eigenschaften.

Ich hatte jedoch keine Zeit, von neuem über den Charakter meiner Freundin nachzudenken, denn die Frau des Wirts hatte ihren Herrschaftsbereich verlassen, um das Servieren unseres Essens zu überwachen. Sie war so groß, dünn und ruhig, wie er klein, rund und laut war. Als die Schüsseln und Teller vor uns standen, winkte sie ihm, sich zu entfernen, zog eine Bank heran und setzte sich zu uns an den Tisch. Fragend sah sie uns an. »Darf ich euch Gesellschaft leisten?«

»Es ist uns eine Freude«, versicherte Esarilda ihr mit vollem Mund.

»Hmmm, das sind die besten Kutteln, die ich je gegessen habe. Ihr seid eine großartige Köchin.« Sie unterstrich ihre Aufrichtigkeit, indem sie sich noch einen gehäuften Löffel in den Mund schaufelte.

Unsere Wirtin neigte den Kopf so würdevoll wie eine Edelfrau. Sie forderte mich durch eine Geste auf, auch mit dem Essen zu beginnen.

»Ich bin Carla, und ihr seid die neuen Eigentümerinnen des Hauses nebenan«, begann sie. »Ihr seid Mitglieder der Schwesternschaft vom Schwert. Das erkenne ich nicht daran, dass ihr den Ring im Ohr und die rote Jacke tragt, obwohl ich eine Cousine im Gildenhaus von Thendara habe. Nein, es ist die Messingkette um Euren Hals, domna, die ich viele Male gesehen habe, wenn der alte Larren zum Essen herkam. Er erzählte mir im letzten Winter, als es ihm so schlecht ging, was er mit seinem Besitz zu tun beabsichtige - es gibt tatsächlich kaum eine Menschenseele in Caer Donn, der er es nicht erzählte, so stolz war er auf ›meine Schwester, die Schwertfrau‹. Ich habe auf eure Ankunft gewartet.«

Ich legte den Löffel hin. Ihre Stimme und ihr Gesicht waren ruhig, und ich konnte nicht entscheiden, ob sie uns freundlich oder feindlich gesinnt war.

»Habt ihr zufällig beim Eintreten das Schild über der Tür gesehen?«

»Ja und?« Ich verhielt mich höflich, aber reserviert. Nicht so Esarilda. »So hübsch, Carla, ein richtiger Kunstgenuss. Wer hat es gemalt?«

»Meine Tochter Shaya. Und sie ist der Grund, dass ich auf eure Ankunft gewartet habe. Sie ist ein braves Mädchen, meine Shaya, und eine gute Köchin, wenn sie mit den Gedanken bei der Sache ist. Aber das ist das Problem. Es kommt selten vor, dass sie Lust dazu hat. Sie malt Bilder wie das lustige Porträt ihres Vaters auf dem Wirtshausschild und schnitzt Figürchen wie die auf dem Kaminsims.« Sie wies mit der Hand auf mehrere dutzend hölzerne Statuen, die alle so drollig waren wie das Gemälde. »Ich habe gute Heiraten für meine anderen Mädchen abgeschlossen, so dass nur noch die beiden Kleinen und Shaya übrig sind. Aber welcher Mann will eine Frau, die ständig träumt? Shaya ist ein bisschen zart, ich bezweifele, ob ihr eine Schwertfrau aus ihr machen könnt, aber meine Cousine erzählte, dass es in einem Gildenhaus auch viele andere Aufgaben gibt.«

»Aber, Carla«, protestierte ich, »Mitglieder der Schwesternschaft müssen aus eigenem freiem Willen kommen.«

»Oh, es ist ihr Wille, sich euch anzuschließen, ich breche doch nur das Eis für sie. Sie ist ein bisschen schüchtern, meine Shaya. Sie ist oben. Wollt ihr hinaufgehen, wenn ihr gegessen habt?«

Ich nickte, immer noch widerstrebend. Diejenigen, die bei uns den Eid leisten, müssen fest entschlossen sein, weil sie auf starke Ablehnung stoßen werden. Zu viele Männer - und auch Frauen -

halten unsere Schwesternschaft für unnatürlich, unschicklich, eine Gefahr für die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in allen Hundert Königreichen. Diese Frau wirkte so dominierend, dass ich fürchtete, ihre Tochter solle uns aus irgendeinem heimtückischen Grund aufgedrängt werden, vielleicht als Spionin.

Esarilda war als Erste auf der Treppe und sprang die Stufen hoch, als habe sie nicht gerade Nahrung für drei große Männer zu sich genommen. »Hallo, du!«, hörte ich sie. »Deine Mutter sagt, du möchtest der Schwesternschaft beitreten.« Ich war einen Schritt hinter ihr, deshalb war mein erster Eindruck von Shaya ihre melodische Stimme, die Esarilda glockenhell antwortete.

»Ja. Das ist mein größter Wunsch, seit Cousine Callie zu Besuch da war und uns von der Schwesternschaft erzählte. Bitte, sagt, dass ich es versuchen darf.«

Mir wurde schwer ums Herz, als ich sie sah. Ganz bestimmt war sie zart, und außerdem war sie verkrüppelt; als Folge einer Kinderkrankheit war ein Bein kürzer als das andere. Sie war so klein wie Esarilda, aber nur halb so dick. Eine Masse von braunem Haar umgab das zu magere Gesicht mit den großen, verträumten Augen.

Wie könnte sie sich verteidigen? Dieses Mädchen würde nie im Stande sein, ein Schwert zu heben und einem Mann Widerstand zu leisten.

»Aber Maellen, wirklich, das kann ich auch nicht«, warf Esarilda mir vor, und ich schämte mich, als ich erkannte, dass ich laut gesprochen hatte.

Shaya erklärte mit ihrem weichen Stimmchen: »Cousine Callie sagt, dass nicht alle Schwestern zum Kampf hinausziehen. Einige verdingen sich als Bergführerinnen oder rüsten Karawanen aus, und andere besorgen im Gildenhaus das Nähen, Kochen, Putzen und so weiter. Ich bin eine sehr gute Näherin, und meine Mutter hat mich vieles von ihren Kochkünsten gelehrt. Ich werde der Schwesternschaft bestimmt von Nutzen sein, wenn ihr es mich nur versuchen lasst. Ich male auch«, setzte sie bescheiden hinzu, »und viele Leute sagen, meine Bilder seien gut. Ich könnte ein Schild für die Eingangstür malen, damit die Leute wissen, dass dies das Schwesternhaus ist. Und ich singe und spiele, so dass ich die Schwestern des Abends unterhalten könnte.« Ihre Worte überstürzten sich, und als sie fertig war, sah sie mich mit diesen großen traurigen Augen an. Ich war mir nicht sicher, ob Shaya eine Frau von der Art war, wie die Schwesternschaft sie mit Freuden aufnimmt; die meisten Rekruten meiner Mutter in Thendara waren Erwachsene, die ein schweres und hartes Leben geführt hatten. Und doch verpflichtete uns unsere Regel, jede Frau, die zu uns gehören wollte, das Gelübde für ein Jahr ablegen zu lassen. Wenn ihr das Leben bei uns gefiel, konnte sie sich danach für drei Jahre verpflichten und schließlich Mitglied auf Lebenszeit werden, wie Esarilda und ich.

»Nun gut«, entschied ich, »wenn du für ein Probejahr zu uns kommen willst, dann magst du das tun.«

»Darf ich gleich heute kommen?« Shaya mühte sich auf die Füße und stützte sich auf eine wunderschön geschnitzte Krücke. Sie schafft Schönheit aus Notwendigkeit, dachte ich. Sie und Esarilda werden sich gut miteinander vertragen.

»Das Haus ist furchtbar schmutzig«, warnte ich sie. »Es gibt keine saubere Stelle, wo wir heute Nacht schlafen könnten, und ich glaube, in dieser Küche hat seit Jahren niemand mehr gekocht.«

Shaya lachte entzückt auf. »Dann gibt es bereits etwas, das ich tun kann. Ich werde euch helfen zu kochen und zu putzen, damit wir heute Abend essen und schlafen können.«

Sie hielt ihr Wort. Wir drei scheuerten im zweiten Stock für jede von uns ein Zimmer und bezogen die Betten mit sauberen Leintüchern, die wir von Thendara mitgebracht hatten. Wir hatten keine Zeit, noch vor dem Abendessen die Küche in Angriff zu nehmen, aber da klopfte Carla mit einem Tablett voller leckerer Sachen an die Gartentür. Ihr für gewöhnlich ernstes Gesicht verzog sich zum Lächeln, als sie sah, wie Shaya mit einer Begeisterung zulangte, die eher für Esarilda typisch war. »Ihr habt ihr bereits gut getan«, lobte Carla. »So tüchtig gegessen hat sie zu Hause nie.« Sie ging und versprach trotz unseres Protests, am Morgen wiederzukommen und die Küche in Ordnung zu bringen. »Sollen meine anderen Töchter dieses eine Mal dem Vater helfen«, sagte sie. »Das kann ihnen gar nichts schaden.«

Am nächsten Tag war es nach Mittag, als uns vier ein widerhallendes Läuten erschreckte. Wir fuhren zusammen und sahen uns an. Unsere Herzen hämmerten. Dann begann Shaya zu lachen.

»Es ist die Türglocke«, kicherte sie. »Ich erinnere mich, diese Töne gehört zu haben, als die Söldner hier wohnten. Ach du meine Güte, so, wie wir erschrocken sind, könnte man meinen, es sei Zandru, der uns in seine dunkelste Hölle holen wolle!«

Wie es mir als Hausmutter zukam, ging ich zur Tür, aber ich war froh, dass mir die drei anderen folgten. Ich legte die Hand an mein Schwert, in dessen Führung ich mir so etwas wie den Ruf einer Meisterin erworben hatte. Würde ich es jetzt schon brauchen, um unser Haus zu verteidigen?

Carla musste mir helfen, die widersetzliche Tür zu öffnen. Ich sah die sieben Stufen zur Straße hinunter, und da standen eine junge Frau, ein Hund und eine Eselin, auf deren Rücken der hässlichste aller Vögel hockte. Die hinfällig wirkende Eselin hatte ein ungleichmäßiges Fell, eine dürftige Mähne und nur die Andeutung eines Schwanzes. Außerdem war sie trächtig, und ihr Bauch war so geschwollen, dass man meinte, sie könne jeden Augenblick in die Luft steigen. Der Vorstehhund wirkte größer und breiter als der Esel.

Nachdem er sich alles angesehen hatte, gähnte er, wobei er Furcht erregende Fangzähne enthüllte, legte sich auf den Boden und machte sich daran, seine massigen Pfoten zu lecken. Der Vogel krächzte, hob seinen struppigen Federbusch und starrte mich mit glitzernden dunklen Augen an, die tief in seinem nackten, hässlichen Kopf saßen.

»Ich bin gekommen, um mich den Schwertfrauen anzuschließen«, erklärte die Fremde. »Habt ihr einen Stall für meine Freunde?«

Sie war ebenso außergewöhnlich wie ihre Tiere. Ihre Schwangerschaft war nicht zu verkennen; wie die Eselin war sie so dick, dass man erwartete, sie jeden Augenblick in dem frischen Wind davontreiben zu sehen. Vor einiger Zeit hatte sie sich offensichtlich das Haar abgesäbelt, so dass es sich jetzt in einen Zoll langen Ringeln von heller, rötlich gelber Farbe um ihren ganzen Kopf lockte. Ihre Augen waren graugrün und standen schräg zu beiden Seiten einer sommersprossigen Stupsnase.

»Nun? Wollt ihr mich hier draußen in der Kälte und Nässe stehen lassen, oder darf ich eintreten?«

Ein bisschen aus der Fassung geraten, denn diese neue Kandidatin schien mir noch unpassender zu sein als die erste, schickte ich sie an die Hintertür des Gartens, während ich durchs Haus zurückging, um es für sie aufzuschließen. Carla machte sich lachend auf den Weg zum Brüllenden Rabbithorn, und Esarilda und Shaya eilten nach oben, um für unseren neuesten Rekruten ein weiteres Zimmer zu säubern.

Ich führte die junge Frau in den Stall und entschuldigte mich für seinen heruntergekommenen Zustand. »Kein Problem«, meinte sie.

Obwohl sie sich, behindert durch den dicken Bauch, unbeholfen bewegte, merkte man ihr an, dass sie sich auskannte. »Für Cassilda - «

sie streichelte die Eselin und führte sie in den Stall, in den sie etwas altes Stroh getragen hatte » - habe ich noch ein wenig Korn übrig, aber Fang hat das letzte Fleisch, das ich hatte, längst gefressen. Ihr werdet für sein Abendessen etwas besorgen müssen.« Der Vorstehhund schien zu wissen, dass sie von ihm redete, denn er rieb seinen dicken Kopf an ihrer Schulter. Seine Herrin tätschelte ihn schnell und wandte ihre Aufmerksamkeit dann dem Vogel zu.

»Komm, meine Schöne«, summte sie dem Vogel zu, hob ihn auf eine improvisierte Sitzstange und überprüfte die Beinfesseln, ob sie auch nicht scheuerten. »Seefar gehört mir eigentlich nicht«, erklärte sie, »nicht so wie Cassilda und Fang, die schon seit meiner Kinderzeit bei mir sind. Ich habe sie auf dem Weg hierher gefunden. Es hat eine Schlacht stattgefunden, und ich nehme an, sie ist als tot liegen gelassen worden. Da habe ich sie mitgenommen und gepflegt. Ich konnte doch nicht zulassen, dass sie für den falschen Mann spioniert, nicht wahr? Nein, das konnte ich natürlich nicht.«

Ein bisschen benommen regte ich an, wir sollten hineingehen und für ihre eigene Bequemlichkeit sorgen, jetzt, wo ihre Gefährten untergebracht seien. Als der Hund uns folgen wollte, bat ich sie, ihn im Stall zu lassen, aber sie sagte, das könne sie erst dann tun, wenn er sich in seinem neuen Heim eingelebt habe. So kam es, dass ich, während ich Brei für unsere neueste Kandidatin aufwärmte, den Hund mit Überresten vom Mittagessen fütterte. Beide aßen, als hätten sie seit Wochen keine anständige Mahlzeit mehr bekommen. Esarilda und Shaya setzten sich auch zu uns, und Esarilda in ihrer freundlichen Art bekam die Information, nach der zu fragen mir meine Zurückhaltung nicht erlaubt hatte.

»Kadi«, antwortete die Neue auf Esarildas Frage nach ihrem Namen. »Mein Onkel spielt den König in den Kilghardbergen, und dorthin wurde ich gebracht, als man mich noch auf dem Arm trug. Er wollte mich mit seinem jüngsten Sohn verheiraten, denn meine Mutter war die Nedestro-Tochter eines Serrais-Lords, und er wünschte sich das laran dieses Hauses für seine Enkel. Ich selbst habe nur ein bisschen davon, nicht genug, um mich für einen Turm zu qualifizieren. Allerdings war ich eine Weile im Neskaya-Turm, damit ich lernte, meine Gabe zu kontrollieren.«

Sie sah den überwältigten Gesichtsausdruck Shayas und beeilte sich, ihr zu versichern: »Wirklich, es ist nur ein bisschen. Gerade genug laran, dass ich mit Tieren arbeiten kann, sonst nichts. Wirklich.

Bitte, verabscheue mich deswegen nicht.«

Shayas Lachen klang wie das Läuten von winzigen Glöckchen. »Als ob ich das könnte! Ich finde es wundervoll, ganz gleich, was die Leute in der Stadt über die Hali’imyn munkeln. Aber lass dich das nicht kränken. Mich halten die Menschen für seltsam, nur weil ich Tiere malen kann, als seien sie lebendig. Du kannst sogar heute Nacht mit in meinem Zimmer schlafen, wenn du willst.« Shaya, mit vierzehn Geschwistern aufgewachsen, war bei dem Gedanken an ein eigenes Zimmer in Ekstase geraten, aber sie verzichtete gern auf das Privileg, um es der Neuen gemütlich zu machen.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich es nicht tue«, erwiderte Kadi.

»Mein Kind kann jetzt jederzeit kommen.« Damit erwähnte sie ihre Schwangerschaft zum ersten Mal. Froh, dass das Thema angeschnitten worden war, fasste Esarilda nach ihrer Hand und strahlte über das ganze runde Gesicht.

»Wann ist denn der kleine Liebling fällig?« Ich verzog ein wenig das Gesicht bei ihrem albernen Ton. Esarilda hatte selbst eine Reihe von Kindern geboren, obwohl ich von keinem wusste, das am Leben geblieben war. Man hätte meinen sollen, dass Babys für sie keine Neuheit mehr seien. Ich, die ich die größte Zeit meines Lebens im Gildenhaus gewesen war, hatte jede Zahl von Babys kommen und gehen sehen. Waren es Mädchen, erlaubte man ihnen, zu bleiben und als eine von uns aufzuwachsen. Waren es jedoch Jungen, mussten sie im Alter von fünf weggegeben werden. Das Suchen nach Pflegestellen für sie und das Miterleben von qualvollen Abschiedsszenen zwischen Müttern und Söhnen hatten mich in meinem Entschluss bestärkt, niemals Kinder zu haben. Das war auch höchst unwahrscheinlich, da ich gar nicht die Absicht hatte, mir einen Liebhaber zu nehmen. Ich brach meine Überlegungen ab, als ich Kadis Antwort hörte.

»Jederzeit, wenn ich richtig gerechnet habe. Ich habe zu Avarra gebetet, dass ich es noch hierher schaffe. Empfangen habe ich im letzten Frühling. Da standen vier Monde am Himmel, und ihr wisst, es heißt, was man unter den vier Monden tut, daran braucht man sich nicht zu erinnern, und das braucht man nicht zu bereuen. Nun, ich bereue diese Nacht nicht.« Sie seufzte tief und schloss die Augen, und ihr Gesicht nahm den Ausdruck verträumter Zufriedenheit an. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie unsere bestürzten Gesichter und errötete. Verlegen klopfte sie sich auf den Bauch. »Und das ist etwas, an das man sich erinnern muss.«

»Wer ist der Vater des Kindes?«, erkundigte sich Esarilda und reichte Kadi Brot und Käse. Ich schüttelte bestürzt den Kopf. Nie hätte ich mich getraut, eine so persönliche Frage zu stellen, und wenn doch, wäre meine Gesprächspartnerin bestimmt beleidigt gewesen. Es musste Esarildas echte Teilnahme sein, die die Menschen dazu brachte, ihre direkte Art zu akzeptieren.

»Er war Techniker in Neskaya, einer, der freundlich zu mir war, als ich hinkam. Er ist tot, in der gleichen Schlacht gefallen, in der mein armer Vogel verwundet wurde. So viele sind jetzt tot, auch mein Onkel und der Cousin, den ich heiraten sollte. Mein Onkel gab den Plan auf, weil ich behauptete, mein Kind sei von vielen Vätern gezeugt. Er ahnte nicht, dass der Vater der Sohn eines Ridenow-Lords war, sonst hätte er mich nicht hinausgeworfen, sondern sofort Pläne geschmiedet, wie er durch mein Kind mehr Macht erlangen könne.

Nun, das liegt hinter mir. Es war eine lange Reise bis hierher. Ich war nach Thendara unterwegs, doch dann traf ich Schwertfrauen, die an der Schlacht teilgenommen hatten, und sie rieten mir, dieses Haus aufzusuchen. Das habe ich dann auch getan.« Sie beugte sich vor, legte ihre Beine auf eine Bank und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.

Ihre lächelnde Zufriedenheit wärmte ebenso wie das Feuer im Herd.

»Wie gut es tut, nach Hause zu kommen! Ich wollte der Schwesternschaft beitreten, seit ich während meines Aufenthalts im Neskaya-Turm das erste Mal von ihr hörte. Ein Leben ohne einen Mann, der einen herumkommandiert, der sagt ›tu dies‹ oder ›tu das‹

und Entscheidungen für mich trifft, als sei ich ein schwachsinniges Kind! Wie schön wird das sein.«

Ich wechselte einen Blick mit Esarilda. Hatten wir eine Rebellin aufgenommen? Es gibt zahlreiche Regeln für das Leben im Schwesternhaus. Manchmal fühle ich mich eingeengt von all diesen Vorschriften, die uns eine Existenz ohne tägliche Kämpfe mit den Gardisten und anderen, die uns unsere Freiheit von männlicher Herrschaft übel nehmen, ermöglichen.

Esarilda schüttelte ganz leicht den Kopf, dass ihr krauses Haar sich hob und wieder an seinen Platz senkte. Sie fasste Kadi bei der Hand.

»Komm, Kind, für dich ist es jetzt Zeit, zu Bett zu gehen.«

Sie half unserer neuesten Rekrutin auf die Füße und wollte sie zur Treppe führen, als Kadi sich plötzlich krümmte und mit erschrockenem Gesicht ihren Bauch umklammerte. Sie stieß einen leisen Schrei aus. »Ich glaube, das Kind kommt heute Nacht.«

Später, als wir sie ins Bett gebracht hatten, sah sie mich mit schwachem Lächeln an. »Wenn ich Glück habe, werdet ihr in Kürze eine neue Kandidatin für die Schwesternschaft bekommen.«

Ich wollte sie nicht aufregen, deshalb entschloss ich mich, ihr nicht zu sagen, dass sie einen Sohn werde weggeben müssen. Dazu war später noch Zeit, dachte ich, aber wie gewöhnlich konnte Esarilda nicht schweigen. »Was wirst du tun, wenn es ein Junge wird?«

Kadi konzentrierte sich auf ihre Atmung und antwortete nicht gleich. Als die Wehe vorüber war, keuchte sie: »Ich werde Darrils Vater benachrichtigen. In seinem Haus sind nach den langen Kriegsjahren nur noch so wenige männliche Wesen am Leben, dass er sich über einen Nedestro-Enkel freuen wird.«

»Würde es dir nichts ausmachen, auf dein Baby zu verzichten?«, fragte Shaya neugierig. Sie saß neben Kadis Bett, und der Vorstehhund hatte sich zu ihren Füßen ausgestreckt.

Kadi schüttelte den Kopf, umklammerte Shayas Hand und atmete rasch durch den Mund. Als auch diese Wehe vorbei war, beantwortete sie Shayas Frage. »Nein, weil es nicht mein Entschluss war, jetzt ein Kind zu bekommen. Wenn Darril noch lebte, wäre es vielleicht anders. Aber das glaube ich eigentlich nicht. Er hätte den Turm wohl nicht verlassen wollen, und ich plane schon seit Jahren, eine Schwester vom Schwert zu werden. Ich glaube, aus mir wird eine gute Schwertfrau.«

Dann hatte sie keine Zeit mehr, sich zu unterhalten. Esarilda war längere Zeit Hebamme im Thendara-Haus gewesen, und sie behauptete, niemals eine so schnelle und anscheinend mühelose Geburt miterlebt zu haben. Ihre Ausbildung im Neskaya-Turm half Kadi, den Schmerz unter Kontrolle zu halten, und die wochenlange Reise hatte ihren Körper stark und gesund gemacht. Am späten Nachmittag hatte sie nicht nur einen, sondern gleich zwei rothaarige Söhne geboren. Sie waren klein, aber energisch, und ihr kräftiges Schreien bedeutete für Esarilda ein Entzücken ohne Ende. »Die meisten meiner Kinder haben gar nicht erst geatmet«, sagte sie sehnsüchtig, »aber diese kleinen Herrchen werden die ganze Nacht brüllen, wenn du sie nicht zufrieden stellst.«

Das Läuten der Glocke gab mir einen guten Vorwand, das zu heiße, zu laute, zu emotionale Zimmer zu verlassen. Es machte mir nicht einmal etwas aus, dass Shaya und Esarilda zurückblieben und mit den Zwillingen schäkerten, während die müde, aber triumphierende Mutter zusah.

Zwei Frauen standen oben auf der Treppe; ihre Gesichter waren im flackernden Licht meiner Fackel undeutlich. »Ist dies das Haus der Schwesternschaft vom Schwert? Ja? Dann bitten wir um Asyl.«

So vieles geschah so schnell, dass ich mich bedrängt fühlte. Ich bat die beiden, in die Halle einzutreten. Hier war besseres Licht, und ich konnte sie mir genauer ansehen. Eine von ihnen war eine Frau mit schwerem Knochenbau, stark und gesund und von herrischem Gebaren. Sie warf einen letzten Blick die Straße hinunter und stemmte dann die Schulter gegen die Tür. Diese Tür, mit der ich den ganzen Tag gekämpft hatte, schloss sich widerstandslos. »Nun«, dachte ich mehr oder weniger zusammenhängend, »wenigstens habe ich eine Aufgabe für diese Rekrutin. Sie kann Pförtnerin werden.«

Dann schüttelte ich den Kopf; ich merkte, dass ich dummes Zeug dachte.

»Ich bin Mhari, und das ist Clea, und wir sind gekommen, uns der Schwesternschaft vom Schwert anzugeloben. Dies ist der richtige Ort, nicht wahr?« Ohne auf meine Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Wo ist die Hausmutter?«

»Ich bin die Hausmutter. Und ich will euren Eid entgegennehmen, aber ich warne euch, dass wir von der Schwesternschaft einen solchen Eid ernst nehmen.« Ich richtete mich auf. Wohl mochte ich dazu neigen, mir zu viele Sorgen zu machen, aber als Verteidigerin unserer Prinzipien konnte ich unerbittlich sein. »Wir verlangen von jeder Frau, dass sie weiß, was sie erwartet, wenn sie eine von uns wird.«

Zum ersten Mal sprach die kleinere Frau. »Uns ist klar, dass wir viel zu lernen haben, aber wir wissen einiges von dem, was die Schwesternschaft repräsentiert. Die Ehefrau von einem der Gardisten auf Burg Hawkridge lief davon, um sich den Schwertfrauen anzuschließen. Sie hatte in drei Jahren drei Kinder geboren und sagte, sie habe es satt, eine Zuchtstute zu sein. Alaric verfolgte sie, um, wie er sagte, Vernunft in sie hineinzuprügeln und sie zurückzuholen, aber sie war schon der Schwesternschaft beigetreten und weigerte sich, mit ihm zu gehen. Er hielt sich eine Weile in der Nähe auf. Schließlich gab er auf und ritt nach Hause, aber diesen ganzen Winter konnte er sich über diese Organisation nicht beruhigen. Wir glaubten, was wir hörten.« Ihre Stimme war zum Schluss ein bisschen schrill geworden, als fürchte sie, sie werde mich nicht überzeugen können, und ich würde sie abweisen.

Mhari legte schützend den Arm um Clea und küsste sie auf die Wange. Dann sah sie mich herausfordernd an. »Mein Mann hat Clea zu seiner barragana genommen, aber ich bin es, die sie liebt. Wir haben gehört, dass die Schwestern vom Schwert Frauen lieben dürfen, ohne von ihren Gefährtinnen für schlecht und unnatürlich gehalten zu werden.«

»Nun ja, so ist es. Aber das ist kaum ein triftiger Grund, um der Schwesternschaft beizutreten.«

»Oh, unser einziger Grund ist es nicht«, stellte Mhari fest. »Ich wurde von meinem Vater in die Ehe gegeben, und es war ihm gleichgültig, dass ich ihn anflehte, mir nicht diesen Mann aufzuzwingen. Er war viel älter als ich und hatte bereits zwei Ehefrauen begraben. Aber ich erfüllte meine Pflicht und schenkte ihm vier Söhne. Er war ein solcher Wüstling; mindestens ein Dutzend Bastarde von ihm verteilen sich über das ganze Land. Dann zwang er Cleas Vater, sie ihm zu geben - im Grunde, sie ihm zu verkaufen. Und er beeinflusste meine Söhne gegen mich.«

Nun war Clea an der Reihe, Mhari zu trösten. Sie murmelte beruhigende Worte und streichelte ihr die Hand. Mhari lächelte ihr liebevoll zu und richtete den Blick wieder auf mich. »Mein Mann, der schon immer ein Dummkopf war, schlug sich in der Schlacht auf die Seite des Verlierers. Jetzt sind er und meine Söhne tot, und Burg Hawkridge ist einem der Lords gegeben worden, die dem Hastur-König folgen. Wir wären Teil der Beute gewesen, und er hätte mit uns tun können, was er wollte. Da haben Clea und ich unsere Sachen gepackt, die Reitpferde, die unser Eigentum waren, bestiegen und sind davongeritten.«

»Anfangs«, setzte Clea den Bericht fort, »hatten wir Angst, wir würden nach Thendara und dabei durch das Land ziehen müssen, wo der Krieg tobt. Aber im letzten Winter hörte unser Lord, der Geschäfte hier in Caer Donn hat, von dem Testament des alten Larren. Deshalb sind wir hierher gekommen und haben gewartet, bis Ihr eintraft. Wir haben erst heute Morgen von Eurer Ankunft gehört.

Und da sind wir nun. Bitte, sagt, dass wir bleiben dürfen.« Sie keuchte auf und drückte sich gegen Mhari. Mhari sah über meine Schulter, schob Clea hinter sich, zog ein langes Messer und hielt es niedrig, als wisse sie es zu benutzen. Ich drehte mich rasch um. Kadis Vorstehhund stand im Eingang hinter mir.

»Das ist in Ordnung«, sagte ich erleichtert. »Fang gehört einer von der Schwesternschaft.«

Shaya hinkte in unser Blickfeld. »Oh, Maellen, Kadi macht sich Sorgen. Sie ist durch ihre Verbindung mit ihrer Cassilda aus dem Schlaf erwacht. Die Eselin hat Schwierigkeiten beim Gebären, und Kadi möchte zu ihr gehen und ihr beistehen, aber Esarilda verbietet ihr, das Bett zu verlassen. Ich dachte, vielleicht könnte meine Mutter helfen. Sie hat bei allen meinen Schwestern und Schwägerinnen die Hebamme gespielt. Vielleicht ist es bei einem Esel nicht so viel anders.« Sie war so aufgeregt, dass sie gar nicht auf unsere neuesten Rekruten achtete.

»Das ist eine Aufgabe für mich«, meldete sich Clea. »Mein Vater war Hufschmied und hat auch die Heilkunst und Geburtshilfe bei Pferden praktiziert. Ein Esel unterscheidet sich nicht sehr von einem Pferd. Ich bin sicher, dass ich helfen kann.«

»Geh du wieder zu Kadi und beruhige sie«, sagte ich zu Shaya,

»und ich werde unsere neuen Schwestern in den Stall führen.« Auf dem Weg dorthin erklärte ich ihnen, dass Kadi soeben Zwillinge geboren habe und ihr Bett nicht verlassen könne. »Natürlich ist sie nervös«, setzte ich hinzu. »Sie und ihre Tiere sind durch laran verbunden.«

Der Vorstehhund ging mit uns und legte sich neben den Kopf der Eselin. Ich hatte bisher wenig mit Tieren zu tun gehabt und kam nun aus dem Staunen nicht heraus, welchen Trost die stummen Kreaturen einander spendeten. Clea war eine erfahrene Geburtshelferin, und bald sah ich hingerissen zu, wie sich das Neugeborene auf die wackeligen Beine stellte. So ungeschickt es war, den Weg zu seiner Mutter fand es sofort, und dann führte Clea seinen Kopf zu der Leben spendenden Wärme der Eselsmilch. Als das Füllen genug getrunken hatte, nahm Mhari es auf die Arme und ging zur Tür.

»Wohin willst du?«, fragte ich.

»Ich will diesen Kleinen zu seiner Herrin hinauftragen. Sie wird nicht friedlich schlafen, solange sie nicht gesehen hat, dass er gut angekommen ist.«

Der Vorstehhund sprang ihr voran, und ich folgte kopfschüttelnd.

Ein Hund in einer Wochenstube war schon seltsam genug gewesen, aber ein Esel?

Mhari betrat Kadis Zimmer. Die spindligen Beine des Eselfüllens baumelten herab, und es drehte den lächerlichen Kopf mit den zu langen Ohren. Kadi setzte sich im Bett hoch und streckte die Arme aus. »Oh, wie lieb von dir, dass du es mir bringst!«, rief sie. Sie streichelte den weichen Babypelz des Eselchens und lächelte dabei Mhari zu, die den Arm um Clea gelegt hatte. Beide lächelten zurück, und Mhari fragte für beide: »Nun, wozu sind Schwestern da?«

Esarilda und Shaya, jede mit einem Zwilling auf dem Arm, kamen an das Bett und bewunderten den Esel. Das Zimmer war warm von dem guten Willen, der von allen vieren ausging.

Ich grinste selbst von Ohr zu Ohr. Das war bestimmt der merkwürdigste - aber der bezauberndste - Haufen Rekruten, der einer Hausmutter je in die Quere gekommen ist.

Wir hatten einen guten Anfang gemacht.

Über Mercedes Lackey und ›Eine andere Art von

Mut‹

Einer der immer wieder erhobenen Einwände gegen die Freien Amazonen ist, dass nicht alle Frauen geeignet sind, sich den Lebensunterhalt als Söldnerin oder Bergführerin zu verdienen. Von Anfang an sind dies die populärsten und sichtbarsten Freien Amazonen gewesen, aber es gibt viele andere, und vielleicht schon an zweiter Stelle der Beliebtheit steht die Frau in der traditionellen Rolle der Heilerin.

Mercedes (Misty) Lackey lebt in Oklahoma, und ihre Hauptbeschäftigung ist die Arbeit als Computer-Programmiererin, aber sie führt das Schreiben zusammen mit Nähen und anderen Handarbeiten als Hobby auf. Sie hat mehrere Geschichten in den kleinen halbprofessionellen Fantasy-Zeitschriften veröffentlicht (was heutzutage bei einem schrumpfenden Markt schon etwas bedeutet).

Außerdem ist sie Musikerin, und es sind mehrere Lieder von ihr in kleinen Volkslied-Journalen erschienen. Sie nimmt auch für uns Opernsendungen auf, wenn sie nicht zu uns übertragen werden.

Ihren musikalischen Geschmack nennt sie universell; er reicht vom Volkslied bis zur Oper.

Sie möchte gern als Schriftstellerin so gut werden, dass sie »davon leben kann, ohne eine Zeituhr stechen zu müssen«. Wünschen wir uns das nicht alle?

MZB

Eine andere Art von Mut

von Mercedes Lackey

Rafi saß in der kleinen, verwahrlosten Reiseunterkunft auf ihrem Sattel, rieb immer wieder die Narben an ihrer Hand und hoffte, keine der beiden Gildenschwestern, mit denen sie reiste, werde es bemerken. Caro, groß, mager und hohlwangig, ging an den Wänden entlang und stopfte mit geschickten Bewegungen Moos in die Ritzen, durch die der Wind unablässig pfiff. Lirella, kleiner und viel muskulöser als ihre Freipartnerin, hatte Armladungen voll Feuerholz hereingebracht und kochte eine warme Mahlzeit. Beide hatten es Rafi überdeutlich klargemacht, dass ihre Bemühungen, ihnen zu helfen, sie nur bei der Arbeit behinderten.

Rafis Hände waren kalt, und dann schmerzten die Narben immer.

Sie fürchtete nur, wenn den beiden älteren Frauen ihr verstohlenes Massieren auffiel, würden sie darin ein weiteres Zeichen von Schwäche sehen.

Ihre Ängste bewahrheiteten sich. Caros graue Augen, die jede Bewegung in ihrer Umgebung augenblicklich zu entdecken pflegten, richteten sich auf Rafis Hände. Caros langes Gesicht zeigte keinen Ausdruck, den Rafi deuten konnte, aber sie kannten sich auch erst seit sechs Monaten. Rafi erstarrte. Caros Augen flackerten kurz zu ihrem Gesicht und wandten sich wieder ab. Der Blick war neutral gewesen -

aber Rafi schrumpfte trotzdem zusammen.

Weder Caro noch ihre Freipartnerin Lirella hatten Rafi bei dieser Reise dabeihaben wollen, nur war keine von ihnen gefragt worden.

»Unser Befehl vom Thendara-Haus lautet, wir sollen dieses Paket der Bewahrerin von Caer Donn persönlich zustellen«, hatte Gildenmutter Dorylis gesagt. »Und ja, ja, ich weiß, die Domänen wollen nichts mit Aldaran zu tun haben - offiziell. Ebenso wie wir leisten die Türme der offiziellem Politik oft nur Lippendienste.

Darum verlassen sie sich auf uns, dass wir Aufträge wie diesen für sie ausführen. Die Schwesternschaft weiß nichts davon, was sich in diesem Paket befindet, es interessiert uns auch nicht, und die Bewahrerin zu Elhalyn verlässt sich darauf. Die Überbringung ist mit einiger Gefahr verbunden, und deshalb hat Thendara verlangt, dass ich unsere beiden besten Söldnerinnen dafür auswähle. Aber hier haben wir ein Problem. Keine von euch ist eine Comynara, und ihr seid mit dem Protokoll, das eine Bewahrerin umgibt, nicht vertraut.

Ehrlich gesagt, ich habe meine Zweifel, dass man euch auch nur in ihre Nähe lässt. Rafi dagegen …«

Rafaellas Gesicht wurde so rot wie das ungebärdige Haar auf ihrem Kopf.

»Ich weiß. Sie hat eine Bewahrerinnen-Schulung in Neskaya mitgemacht.« Ungeduldig fuhr sich Caro mit den Fingern durch ihr ergrauendes braunes Haar. »Sie würde ohne Umstände vorgelassen werden.«

Aber Rafi hörte die Worte, die Caro nicht aussprach. Bewahrerinnen-Schulung - bei der sie versagt hat, wie sie bei allem versagt, was sie versucht.

Rafi hatte sich bemüht, nicht zu zeigen, dass sie den Gedanken wahrgenommen hatte.

Das Ergebnis war, dass sie zu dritt mitten im Winter den zweifelhaften Schutz einer verwahrlosten Reiseunterkunft tief in den Hellers teilten. Lirella hatte kein Geheimnis aus ihrer Meinung gemacht, Rafis Anwesenheit verlangsame sie auf Kriechtempo und sei die unmittelbare Ursache dafür, dass sie an diesem Ort übernachten mussten statt im Gildenhaus von Caer Donn, das sie diesen Abend zu erreichen gehofft hatten. Caro hatte sich vorsichtiger ausgedrückt, aber Rafi spürte ihre Missbilligung immer noch.

»Gibt es denn nichts, was ich tun könnte?«, fragte sie mit dünner Stimme.

Lirella schnaubte. Caros blonde Partnerin versuchte nie zu bemänteln, was sie empfand. Rafi war beim Absatteln und Anbinden der chervines überhaupt keine Hilfe gewesen. Sie hatte Angst vor den Tieren und konnte ihr eigenes beim Reiten kaum regieren. Zudem hatte ihre Angst sich auf die Tiere übertragen und sie nervös und scheu gemacht. Als sie ihre Ausrüstung unter Dach brachten, hatte Rafi kaum so viel getragen, wie sie selbst wog. Sicher, es war ihr gelungen, mit Hilfe ihres Sternensteins ein Feuer zu entzünden, während die beiden anderen sich vergeblich bemüht hatten, dem feuchten Zunder ein Flämmchen zu entlocken. Aber beim Kochen oder beim Herrichten des Lagers war sie auch nicht besser als bei der Arbeit mit den chervines.

»Geduld, bredhyina« , sagte Caro mit gedämpfter Stimme. »Sie ist erst vor kurzem aus der Klausur entlassen. Und wo soll sie im Turm oder im Boudoir etwas über das raue Lagerleben gelernt haben?«

»Das ist es gar nicht«, erwiderte die andere Frau leise. »Mich stört, dass sie so ein - so ein nasser Lappen ist!«

Caro verdeckte ihr Lächeln mit dem Handrücken. ›Nasser Lappen‹

war tatsächlich eine gute Beschreibung ihrer neuesten und jüngsten Schwester. Lirella hatte, ohne viel Erfolg, versucht, sie im bewaffneten und im unbewaffneten Kampf zu unterrichten, aber Rafi besaß nicht nur kein Geschick für die wichtigste Dienstleistung, die das kleine Gildenhaus von Helmscrag anzubieten hatte, sie zeigte ein solches Maß an Unfähigkeit, dass Caro sagte, sie würde es nicht glauben, wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Nicht etwa, dass das Mädchen es nicht versucht hätte - sie war dabei buchstäblich über die eigenen Füße gefallen. Nachdem sie sich bei einem einfachen Angriff fast den Knöchel gebrochen hatte, weigerte Lirella sich, sie weiter zu unterrichten. Und wie sie sich in den Schulungssitzungen aufführte …!

Bei der ersten war sie unter hysterischem Schluchzen hinausgerannt. Caro war überzeugt, dass sie immer noch nach jeder Sitzung weinte, doch wenigstens tat sie es jetzt, wenn sie allein war.

Während der Sitzung saß sie da, blass wie der Tod, die Hände im Schoß verkrampft, oder sie rieb unaufhörlich die darüber verlaufenden Narben. Sie sprach nur, wenn sie angeredet wurde, und dann mit so leiser Stimme, dass man sie kaum verstehen konnte.

Wirklich, ein nasser Lappen!

Dessen ungeachtet war sie Caros Schwester. »Etwas könntest du schon für uns tun …«, begann sie.

»Ja?« Das Mädchen sprang auf und stolperte.

»Das einzige Holz hier drinnen ist feucht und halb verfault. Wenn wir es heute Nacht ein bisschen warm haben wollen - nun, es muss in der Nähe trockene Äste geben. Wenn du die Axt nehmen und danach suchen willst …«

Rafi nahm die ihr hingehaltene Axt und eilte hinaus in den Schnee -

aber nicht schnell genug, dass ihr Lirellas Frage: »Hast du keine Angst, dass sie sich damit den Fuß abhacken wird?«, entgangen wäre.

Die Tränen brannten ihr in den Augen, und da sie jetzt nicht mehr unter der kritischen Beobachtung der Freipartnerinnen stand, ließ sie ihnen freien Lauf.

Lirella hatte Recht - es war sehr gut möglich, dass sie sich den Fuß abhackte. Mindestens ein dutzend Mal war sie mit dem hölzernen Trainingsmesser nahe daran gewesen. Das Messer, das sie im Augenblick trug, diente nur der Dekoration - sie hatte nicht die Absicht, es jemals zu ziehen. Wenn sie es täte, wäre sie für sich selbst und ihre Schwestern eine größere Gefahr als für einen Angreifer.

Warum hatte sie bloß den Eid abgelegt?

Benimm dich nicht dümmer, als es unbedingt sein muss, ermahnte sie sich traurig. Du weißt, warum du den Eid abgelegt hast.

Dieser schreckliche Tag, als die leroni in Neskaya sie mit der Bemerkung, sie habe nicht die ›Kraft‹, die weitere Ausbildung zur Bewahrerin durchzustehen, und nicht die Nerven für die Arbeit im Turm, zu ihrem Vater zurückgeschickt hatten! Sie hatte es versucht - o gnädige Avarra, wie sie es versucht hatte! -, aber der Schmerz, die Brandwunden, die sie sich jedes Mal zuzog, wenn sie einen Menschen berührte, jedes Mal, wenn ein Mensch sie berührte - die Grenzen dessen, was sie ertragen konnte, waren schnell erreicht worden. Wie hatte sie sich geschämt, dass sie nicht aushielt, was die kleine Keitha, die noch ein Kind war, ohne ein Wimmern über sich ergehen ließ!

Wenn sie doch nur, wie so viele andere, an der Schwellenkrankheit gestorben wäre!

Dann stand sie vor ihrem Vater, und er musterte sie mit harten Augen. Solange sie sich erinnern konnte, hatte er sie ›den unnützen Esser‹ genannt. Sie war nicht hübsch wie ihre Schwestern, für die Ehemänner zu finden leicht gewesen war, sie war nicht fähig gewesen, nach dem Tod ihrer Mutter die Dienerschaft der Burg zu beaufsichtigen. Ihr Vater hatte deutlich seine Erleichterung gezeigt, als Neskaya um die Erlaubnis bat, sie zur Bewahrerin auszubilden.

Und jetzt war sie wieder da, für Neskaya so wenig von Nutzen, wie sie es für ihn gewesen war.

»Zandrus Höllen, du bist ein teiggesichtiges kleines Ding«, stellte er schließlich angewidert fest. »Diese ganze Zeit im Turm, und dein Aussehen hat sich immer noch nicht verbessert. Und ich hätte keine Ahnung, was ich mit dir anfangen sollte, wenn Lord Dougal nicht wäre. Doch die Lady des alten Wüstlings ist zur letzten Ruhe gebettet worden, und er will unbedingt eine Verbindung mit unserem Haus.

Du bist kein Hauptgewinn, aber du bist heiratsfähig, und das ist alles, was er will. Er hat keine Erben, also sieh zu, dass du ihm schnell einen verschaffst. In zehn Tagen kommt er her, und dann werden wir gleich die Trauung di catenas vornehmen.«

Rafi war vor Entsetzen wie gelähmt gewesen. Fast wäre sie auf der Stelle ohnmächtig umgesunken. Vor ihrem geistigen Auge sah sie nichts anderes als ihre Mutter, ausgelaugt von einer Geburt nach der anderen, bis ihr die letzte den Tod brachte. Die Stimme ihres Vaters, scharf vor Ungeduld, brachte sie wieder zu sich. Sie hatte unbeholfen geknickst, irgendeine schickliche Bemerkung hervorgebracht und ihn mit dem unsicheren Schritt eines Menschen, der plötzlich blind geworden ist, verlassen.

Niemand machte sich die Mühe, sie zu bewachen - niemand hätte ihr je zugetraut, dass sie weglaufen würde. Auch wenn sie sich auf keinem anderen Gebiet auszeichnete, war sie immer vollkommen gehorsam gewesen. Deshalb hatte niemand sie aufgehalten oder ihr auch nur eine Frage gestellt, als sie die Burg verließ, ins Dorf hinunterstieg und das kleine Gildenhaus der Entsagenden aufsuchte.

Sie hatte keinen anderen Ort gewusst, an dem sie sicher sein würde, denn sogar sie in ihrem behüteten Leben hatte von Dougal gehört und wie seine Frauen eine nach der anderen bei dem Versuch starben, ihm den heiß ersehnten Erben zu schenken. Eine Heirat mit ihm kam einem Todesurteil gleich.

Rafi hatte nur eine Zuflucht gesucht und nicht darüber hinaus gedacht; bisher hatte sie nie viel mit Freien Amazonen zu tun gehabt.

Natürlich hatte sie Geschichten gehört, einige schmeichelhaft, die Mehrzahl nicht, und hatte dazu geneigt, die meisten davon als Mittsommer-Mondschein zu betrachten. Sie war sich nur einer einzigen Sache sicher gewesen, dass nämlich ein Mädchen oder eine Frau, die den Eid geleistet hatte, nie mehr die Befehlsgewalt eines Mannes zu fürchten brauchte.

Die kleine Welt hinter den Türen des Gildenhauses war für sie eine Überraschung gewesen. Anscheinend stand es den Frauen dort frei, so stark, so klug, so selbstbewusst wie jeder Mann zu sein. Sie konnten ihr Leben einrichten, wie sie es wollten, und hatten sich nur nach den paar Regeln der Gilde zu richten. Rafi war ganz verwirrt -

sie hätte sich nie träumen lassen, dass es so etwas gab. Noch etwas anderes fand sie innerhalb jener Mauern. Die Schwestern der Gilde zeigten Teilnahme füreinander.

So blind vor Tränen, dass sie sich nicht mehr vormachen konnte, sie suche nach Holz, blieb sie stehen und lehnte sich an einen Baum. Sie hatte von ganzem Herzen gehofft, sie werde hier endlich etwas finden, das sie zur Abwechslung richtig machen würde. Sie wünschte sich, irgendwo hinzugehören, sich einen Platz in dieser Kameradschaft zu erobern. Nachdem sie gesehen hatte, welcher Geist unter diesen Frauen herrschte, wusste sie, dass sie sich nichts auf der Welt mehr wünschte. Aber sie hatte in der Gilde versagt, wie sie auch sonst überall versagt hatte.

Natürlich hatte sie nicht ahnen können, dass die Frauen vom Helmscrag-Gildenhaus nur den Broterwerb kannten, sich als Kämpferinnen, Leibwächterinnen und Führerinnen zu verdingen.

Von den elf Frauen hier übernahm nur die Gildenmutter selbst keine solche Arbeit. Rafi hatte das Unglück, dass es ihr an körperlichen Fähigkeiten ebenso fehlte wie an Schönheit. Als Kind war sie bei Mannschaftsspielen immer als Letzte gewählt worden, und beim Tanzen hatte man sie als Letzte aufgefordert. Der Unterricht in Selbstverteidigung stellte sie vor eine nicht zu bewältigende Aufgabe.

Lirella hatte sie anspornen wollen, indem sie härter als üblich mit ihr umging. Das hatte nichts gebracht als blaue Flecken und Ströme von Tränen.

Rafi mochte sich noch so sehr um Abschirmung bemühen, ihr Laran machte ihr die Gedanken der anderen Entsagenden schmerzhaft deutlich. Lirella betrachtete sie als einen wehleidigen Feigling. Caro hielt sie einfach für abgrundtief dumm. Die Gildenmutter war überzeugt, die Wurzel ihrer Schwierigkeiten liege in zu großem Selbstmitleid, und davon müsse sie durch Einschüchterung abgebracht werden. Die Übrigen teilten diese Meinungen mehr oder weniger. Alle stimmten darin überein, Rafi sei durch und durch unzuverlässig und eine bedauerliche Zeitverschwendung. Sogar ihr Aussehen setzte sie in Verlegenheit. Ihre Kleider sahen immer so aus, als habe sie darin geschlafen, und ganz gleich, wie sorgfältig man ihr das Haar schnitt, es glich immer einer unordentlichen Heumiete. Sie rief in nichts den gewünschten Eindruck von der selbst- und verantwortungsbewussten Entsagenden hervor.

Vielleicht hatte ihr Vater Recht gehabt, als er sie mit dem Etikett

›unnütz‹ versah. Ihre Gildenschwestern waren bestimmt dieser Meinung. Und das hatte mehr geschmerzt als alles, was ihr bisher zugestoßen war.

Wieder einmal war sie das fünfte Rad am Wagen, das Handicap für die Mannschaft. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, wurde durch die besondere Beziehung zwischen Caro und Lirella noch vertieft.

Eigentlich war es ein Witz, dass das Einzige, was den Gildenschwestern an Rafi gefallen (und Caro ein bisschen milder gegen sie gestimmt) hatte, ihre Reaktion auf diese Beziehung gewesen war. Rafi hatte sich nicht im Geringsten darüber aufgeregt, und das hatte sie alle überrascht - sie hatten erwartet, sie werde einen hysterischen Anfall bekommen. Aber sie hatte nichts empfunden als sehnsüchtigen Neid.

Es mussten die Gedanken der Freipartnerinnen gewesen sein, die ihr laran alarmierten. Sie wurde mit einem Ruck aus ihrem Tränensumpf gerissen. Etwas Fürchterliches geschah in der Reiseunterkunft!

Rafi umklammerte ihren Sternenstein und erzwang eine Fernsicht.

Dann schrie sie vor Schmerz auf, denn eine Sekunde lang hatte sie durch Caros Augen gesehen und den Schwertstreich gespürt, der Caros Fleisch durchschnitt.

Die Gildenmutter hatte sie vor Gefahren gewarnt - und sie hatte Recht gehabt. Die Gefahr war größer gewesen, als eine von ihnen geahnt hatte.

Rafi quälte sich durch den Schnee zu der Hütte zurück, aber sie hatte sich doch ziemlich weit von ihr entfernt. Bis sie die Reiseunterkunft erreichte, war der Kampf vorüber.

Vier Männer lagen tot unter dem dunkel werdenden Himmel.

Lirella war bewusstlos. Caro beugte sich über sie und versuchte, sie aufzuwecken, und dabei hielt sie die Hand auf eine hässliche Wunde in ihrem eigenen Oberschenkel, um die Blutung zu stillen.

Gerade als Rafi in Sicht kam, brach Caro über dem Körper ihrer Freipartnerin zusammen.

Rafi nahm sich nicht einmal Zeit zum Nachdenken. Vielleicht war es die Abwesenheit von kritischen Augen, aber sie bewegte sich sicher und ohne Zögern. Als Erstes legte sie feste Verbände um die schlimmsten Wunden, dann untersuchte sie die Frauen auf Schäden, die nicht unmittelbar zu sehen waren. Obwohl sie nur wenig darüber gelernt hatte, wie man laran zu Heilzwecken benutzt, war sie als Überwacherin ausgebildet, und von dieser Fähigkeit machte sie jetzt Gebrauch.

Caro war in einem tiefen Schockzustand und litt unter dem starken Blutverlust. Lirella war in schlimmerem Zustand. Sie hatte durch einen Schlag auf den Kopf einen Schädelbruch erlitten. Rafi tat das bisschen, was sie tun konnte, um den Druck zu lindern, den sie entstehen spürte, aber Lirella brauchte bessere und geschicktere Hilfe, und zwar schnell.

Rafi wusste, es war ganz ausgeschlossen, dass sie allein die Frauen in die Unterkunft brachte; jede von ihnen wog mehr als sie, und sie würden totes Gewicht sein. Unschlüssig stand sie da, aber die dringende Notwendigkeit, sie aus dem Schnee und in die Hütte zu befördern, trieb sie an. Sie dachte einen Augenblick angestrengt nach

- dann erinnerte sie sich an die chervines, die immer noch in dem Schuppen hinter der Hütte angebunden waren. Rafi ließ ihre Angst vor den Tieren gar nicht erst an die Oberfläche steigen. Sie führte das eine, das sie als Packtier benutzten, an die Vorderseite und legte ihm das Geschirr an, langsam und sorgfältig, um es nicht zu erschrecken, und auch, um Fehler zu vermeiden, deren Berichtigung sie Zeit kosten würde. Das chervine schnaubte bei dem Geruch von frischem Blut, aber das war zu ihrer Erleichterung alles. Sie band es neben Lirella an, rannte in die Hütte und holte eine der Decken von ihrer Bettrolle. Mit dem Messer machte sie Löcher in die beiden oberen Ecken und befestigte Seile daran. Dann breitete sie sie auf dem Schnee aus, rollte, so vorsichtig es ging, Lirella hinauf, und band die Seile zu beiden Seiten am Geschirr des chervine fest. Sie fasste den Zaum, versuchte, Ruhe zu projizieren, und führte es in die Hütte, so dass Lirella auf der Decke mitgezogen wurde. Als Lirella sicher drinnen und in ihre eigene Bettrolle eingebündelt war, wiederholte Rafi die Prozedur mit Caro.

Längst war es dunkel geworden. Zu ihrer ungeheuren Erleichterung entdeckte Rafi, dass Caro über den Zustand des ‘Holzes gelogen hatte. Schon bald brannte das Feuer hell genug, dass sie sich ihrer Schwestern annehmen konnte, ohne sie noch mehr unter Kälte leiden zu lassen. Sie zog ihnen die blutigen, zerrissenen Sachen aus, schnitt sie weg, wenn es nicht anders ging, und die ganze Zeit arbeitete sie langsam, sich jeden Schritt vorher überlegend. Dann versorgte sie die Wunden neu, diesmal mit richtigem Verbandsmaterial und Medikamenten, und rollte die bewusstlosen Frauen in ihren Doppelschlafsack. Rafi wusste, sie mussten warm gehalten werden, und auf diese Weise konnten sie sich gegenseitig wärmen und durch ihre Anwesenheit trösten.

Aber natürlich brauchten beide mehr an Hilfe, als sie ihnen zu geben vermochte. Sie wagte es nicht, sie allein zu lassen - selbst wenn man davon ausging, dass sie eines der chervines gut genug regieren konnte, um wegzureiten und Hilfe zu holen, hatte sie doch keine Ahnung, in welcher Richtung die nächste Hilfe zu finden war. In qualvoller Unentschlossenheit saß sie da, rieb geistesabwesend die Narben auf ihren Händen und suchte nach einer Lösung. Da brachte die Berührung einer Narbe sie auf eine Idee.

Laran wurde durch die Entfernung nicht behindert, und schon gar nicht in der Überwelt. Und es war ein Turm in der Nähe, und in dem Turm waren ausgebildete Heiler und alle Hilfe, die sie brauchte.

Sie hatte niemanden, der sie überwachen konnte. Also musste sie ohne Überwachung auskommen, obwohl das gefährlich war. Sie hätte es nie gewagt, wenn nur ihr eigenes Leben auf dem Spiel gestanden hätte - aber auch Caros und Lirellas Leben hing davon ab, ob sie bald in fachkundige Hände kamen. Rafi blieb keine andere Wahl. Ganz gleich, welche Gefühle die beiden ihr entgegenbrachten, sie war durch ihren Eid gebunden, und außerdem hatte sie sie gern und bewunderte sie, und deshalb wollte sie alles tun, was in ihrer Macht lag.

Sie wickelte sich in alles an Decken, was sie entbehren konnte, vergewisserte sich, dass das Feuer in ihrer ›Abwesenheit‹ nicht niederbrennen würde, und sah noch einmal nach ihren Patientinnen.

Überzeugt, dass sie alles getan hatte, was sie konnte, machte sie es sich so bequem wie möglich und zwang sich zu beginnen.

Auf diesem Gebiet war sie in der Ausbildung immer gut gewesen.

Sie löschte die äußeren Sinneseindrücke einen nach dem anderen und konzentrierte sich ganz auf den Sternenstein in ihrer Hand. Für einen kurzen Augenblick kehrte ihre Furcht wieder und hielt sie zurück (Ich könnte dort draußen sterben … ), aber sie bezwang sie, obwohl die Furcht im Hintergrund anwesend blieb. Dann ließ sich Rafi in die Tiefen des Steines fallen.

Sie war draußen und sah auf ihren eigenen Körper hinab.

Ich bin ein teiggesichtiges kleines Ding, dachte sie beim Anblick der unordentlichen Kindfrau inmitten der Decken. Das Gesicht war von Tränen verschmiert, das Haar stand in allen Richtungen vom Kopf ab.

Wenigstens war die Gestalt, die sie draußen trug, ordentlicher - nicht attraktiver, sondern mager und geschlechtslos, aber wenigstens nicht so – struppig.

Doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt, über sich selbst nachzudenken. Schnell schwang sie sich in die Überwelt. Das Überlicht nahm die Stelle der festen Welt ein, die sie hinter sich ließ.

Nun stand sie auf einer grauen, endlosen Ebene und hielt Umschau nach dem Turm, der sich hier manifestieren musste …

Und da war er. Von seinem eigenen Licht leuchtend, begrüßte er sie mit dem vertrauten Aussehen des Turmes von Neskaya. Sie eilte auf ihn zu, sie rief mit ihrem Geist und ihrem Herzen und hoffte, jemand im Turm werde sie hören.

Aus einem Flackern zwischen ihr und ihrem Ziel wurde die Gestalt einer Frau, und an der Aura von Macht, die sie umgab, erkannte Rafi, dass dies die Bewahrerin sein musste. Ihr Gesicht veränderte sich dauernd unter ihrem Schleier, aber das Gefühl stetiger und beherrschter Kraft war unmissverständlich.

»Kind …«, sagte die Bewahrerin in ihren Gedanken. »Du störst unsere Arbeit. Welchen möglichen Grund kann es dafür geben?«

Raft hielt sich nicht mit Erklärungen auf. Sie öffnete einfach ihren Geist und ließ die Bewahrerin selbst sehen. Die Telepathin schrie überrascht auf, und Rafi spürte, dass sie ihr von ihrer Kraft abgab, sie stützte und stabilisierte, denn Rafi begann zu verblassen.

»Ich werde Hilfe schicken, kleine Amazone. Sie wird so schnell wie möglich kommen - aber bis dahin musst du deine Schwestern am Leben halten. So musst du es machen und so …« Wie Vögel, die in ihr Nest zurückkehren, ließen sich die Instruktionen in Rafis Gehirn nieder, und Rafi wusste, solange sie körperlich aushielt, würde es ihr keine Schwierigkeiten machen, ihnen zu folgen. Und, so nahm sie sich mit grimmiger Entschlossenheit vor, aushalten würde sie, ganz gleich, wie lange es dauern sollte …

»Kind, du wirst nicht überwacht, und ein längeres Verweilen könnte gefährlich sein. Verliere den Mut nicht; denke daran, dass Hilfe unterwegs ist.« Sie gab Rafi eine Art von mentalem Schub …

Blaue Flammen umzüngelten sie einen Augenblick lang.

Verkrampft und halb erfroren lag sie zusammengekrümmt in ihren Decken am Feuer. Sie war erschöpft, und alles tat ihr weh - ach, wäre es schön, einfach liegen zu bleiben und sich von der Kälte hinwegnehmen zu lassen. Schon wollte sie wieder einschlafen, sie war so schrecklich müde …

Caro stöhnte, und das erinnerte sie an ihre Pflicht, trieb sie an wie ein Stachelstock. Sie wickelte sich aus ihren Decken und ging, um nach ihren Schwestern zu sehen.

Kaum hatte sie Caros Hand berührt, als die Anweisungen der Bewahrerin an die Oberfläche ihres Bewusstseins stiegen. Sie wich ängstlich zurück - denn wenn sie tat, was ihr geheißen worden war, würde sie sich heftigerem Schmerz öffnen, als sie je erfahren hatte -, aber Caro stöhnte von neuem, und obwohl die Furcht blieb, brachte Rafi es doch nicht über sich, ihre Schwestern länger leiden zu lassen.

Sie raffte das bisschen an Mut zusammen, das sie besaß, festigte es mit den Worten des Eides und machte sich an die Arbeit.

Vorsichtig setzte sie sich mit Lirella in Rapport. Die Instruktionen der Bewahrerin waren sehr deutlich gewesen, und wenn sie langsam arbeitete, waren sie auch leicht zu befolgen. Der Druck der Fraktur musste gelindert und der Klumpen, der sich bildete, aufgebrochen werden. Der Rest konnte warten, bis richtige Heiler eintrafen. Als sie für Lirella getan hatte, was sie konnte, kümmerte sie sich um Caro und zwang das Blut, das ihre Verbände tränkte, langsamer zu fließen und stillzustehen.

Die ganze Zeit konnte sie nicht umhin, die innige und lebenswichtige Verbindung zwischen den beiden Frauen wahrzunehmen. Sie war sich dessen länger bewusst, als irgendjemand im Gildenhaus ahnte, und sie hatte nie aufgehört, über das Ausmaß ihrer Zuneigung zu staunen. Das war ihr völlig fremd; niemals hatte ihr Vater für irgendeine Frau eine solche Liebe gezeigt, und den Mädchen, die zur Bewahrerin ausgebildet wurden, waren emotionale Beziehungen verboten. Noch in diesem Augenblick spürte sie Neid. Was hätte sie nicht dafür hingegeben, dass jemand so viel Interesse an ihr nahm wie diese beiden aneinander! Vor allem das Vorhandensein dieser Verbindung spornte sie an. Es war unvorstellbar, dass sie so etwas sterben ließ, wenn es in ihrer Macht lag, es zu retten.

Die Arbeit war schwer und anstrengend. Sie nahm ihr das letzte Fünkchen Kraft - und sie hatte nach diesem unüberwachten Ausflug in die Überwelt schon keine mehr übrig gehabt. Immer wieder trieben ihre Angst und die Qualen, die sie mit ihren Schwestern teilte, sie aus dem Rapport mit ihnen. Dann meinte sie jedes Mal, sie werde sich nicht überwinden können, das zu beenden, was sie angefangen hatte.

Und doch, wenn die Schmerzenstränen aufhörten zu fließen, genügte ein Blick auf Caros verzerrtes oder Lirellas graues Gesicht, um den Rapport wiederherzustellen.

Ihr wurde kälter und kälter, und sie taumelte vor Müdigkeit. Aber immer noch war ihre Arbeit nicht vollendet. Die Bewahrerin hatte ihr eingeschärft, beide Frauen würden Flüssigkeit brauchen, damit der Blutverlust schnell ausgeglichen werde. Zu schwach, um zu gehen, kroch Rafi zum Feuer, ließ Schnee in Töpfen schmelzen und bereitete Tee und Brühe zu, die sie Caro und Lirella einlöffelte. Als der Morgen graute, war die unmittelbare Gefahr für sie gebannt, und Rafi hörte von draußen das Geräusch von Hufschlägen.

Plötzlich war die Hütte zum Platzen voll von Menschen. Rafi kroch ihnen aus dem Weg in eine dunkle Ecke und brach inmitten ihrer Decken zusammen.

»Zandrus Höllen!«, fluchte ein junger Mann, dessen feuerfarbenes Haar ihn unmissverständlich als Comyn auswies. »Wie, im Namen von allem, was heilig ist, hat jemand ohne Ausbildung diese beiden so lange am Leben erhalten?«

Niemand machte sich die Mühe, diese sowieso rein rhetorische Frage zu beantworten. Obwohl ihre Energie den Anschein erweckte, als seien sie viel mehr, waren es tatsächlich nur vier Personen. Zwei waren Heiler, einer von ihnen der junge Mann, dazu eine grauhaarige Frau, heiter und zuversichtlich. Mit ihnen waren zwei Mädchen, ein bisschen älter als Rafi, als Überwachelinnen gekommen. Beide waren zierlich und sehr attraktiv und schienen miteinander verwandt zu sein. Alle vier machten den Eindruck, als arbeiteten sie schon lange als Team zusammen. Rafi erfuhr aus ihrer Unterhaltung, dass sie aufgebrochen waren, gleich nachdem die Bewahrerin sie geweckt hatte. Sie hatten die ganze Nacht gebraucht, um diese Reiseunterkunft zu erreichen. Rafi kamen sie erstaunlich frisch und energiegeladen vor, aber sie waren auch erfahrene Reisende und hatten schon vor langer Zeit die Kunst gelernt, im Sattel zu schlafen.

Rafi beobachtete sie aus ihrer Ecke. Das Bild wurde vor ihren Augen immerzu abwechselnd scharf und unscharf. Jetzt schienen sie normale Sterbliche zu sein, jetzt halb durchsichtig mit funkelnden Energienetzen in ihrem Innern. Rafi hatte ihr Zeitgefühl verloren, und sie meinte, es seien nur Sekunden vergangen, bis die leroni es geschafft hatten, dass Lirella und Caro sich aufsetzten und benommen zu sprechen begannen.

Seltsamerweise war es Lirella, die als Erste an sie dachte.

»Rafi …«, murmelte sie und versuchte, trotz ihrer grauenhaften Kopfschmerzen zu denken. »Wir haben sie hinausgeschickt, um Holz zu holen …«

»Keighvin, die Bewahrerin sagte, es sei noch eine Dritte da, die, die uns gerufen hat. Wohin ist sie gegangen?«, rief das Mädchen aus, das ihn überwacht hatte.

Keighvins Augen wurden unwiderstehlich von einem zusammengekrümmten Bündel in der Ecke angezogen. Er stand auf, machte zwei lange Schritte und sah auf es hinunter. Ein totenbleiches Gesicht hob sich ihm entgegen, das aus wenig mehr als der über den Schädel gespannten Haut zu bestehen schien.

Rafi starrte den jungen Heiler an und versuchte, seine Gedanken zu lesen. Sie interessierte jetzt nichts anderes mehr, als dass Caro und Lirella in guten Händen waren; sie war längst darüber hinaus, an sich selbst zu denken. In einem einzigen Augenblick hatte sie seinen Gedanken entnommen, dass mit ihnen alles zum Besten stand.

Erleichtert seufzte sie und entspannte sich - und die Hütte und die Menschen darin verblassten.

»Zandrus Höllen!«, rief Keighvin noch einmal. »Einer von euch muss herkommen und mir helfen!«

»Das hat sie alles ganz allein gemacht?«, fragte Caro ungläubig. Die drei Entsagenden saßen in Pelzmäntel gehüllt an dem frisch angefachten Feuer. Die leroni hatten alles mitgebracht, was sie für nützlich gehalten hatten, und das war ein Glück. Die beiden Heiler waren der Meinung, die Verwundeten dürften noch mindestens einen Tag nicht transportiert werden, und was Rafi anging - sie war in keinem besseren Zustand als ihre beiden Schwestern.

»Das alles und noch mehr«, erwiderte die Heilerin Gabriela. »Ich weiß nicht, ob ich daran gedacht hätte, euch von einem chervine in die Unterkunft ziehen zu lassen. Und ganz bestimmt hätte ich nicht den Mut gehabt, in der Überwelt nach Hilfe zu suchen, ohne überwacht zu werden.«

Rafi war es endlich wieder warm, und sie war so schläfrig und benommen, dass es ihr nicht darauf ankam, ob diese Leute über sie redeten, als sei sie gar nicht da. Tatsächlich war die Unterhaltung recht interessant.

»Was Ihr getan hättet, weiß ich nicht, mestra.« Keighvin hielt einen Becher mit Tee in beiden Händen. »Aber um brutal offen zu sein, ich hätte mich nicht so völlig verausgabt, wie sie es für euch getan hat.

Ich muss euch sagen, dass es ein paar Augenblicke lang ganz so aussah, als werde sie uns für immer entgleiten. Sie hat sich durch äußerste Erschöpfung beinahe umgebracht, um euch beide zu retten -

und, verdammt, sie betet euch an, wisst ihr. Nimmt den Eid der Entsagenden wörtlich, das haben wir alle in ihrem Geist gesehen.

Und ich kann mir immer noch nicht erklären, wie es jemand, der nicht als Heilerin ausgebildet ist, geschafft hat, euch so lange am Leben zu halten, bis wir hier waren.«

»Das hört sich gar nicht nach der Rafi an, die ich kenne«, meinte Lirella verwirrt.

Keighvin zog eine Augenbraue hoch. »Ich möchte sagen, ihr kennt sie längst nicht so gut, wie ihr gedacht habt.«

»Bei uns in den Bergen gibt es ein Sprichwort …«, ließ sich die Überwacherin Caitlin schüchtern hören. ›»Ein Kind lebt, was es lernt.‹

Nach allem, was ich sehen konnte, ist Rafi bei jeder Gelegenheit gesagt worden, sie sei unnütz. Wenn man dauernd hört, man sei ein Versager, neigt man dazu, einer zu werden. Und ich meine es nicht böse, mestra, aber für das Leben einer Söldnerin ist sie nicht gerade geeignet. Ohne es zu beabsichtigen, habt ihr sie vor eine weitere Aufgabe gestellt, bei der sie versagen musste.«

»Diese Unbeholfenheit zum Beispiel.« Er nahm nachdenklich einen Schluck Tee. »Dafür kann sie nichts. Es ist etwas zwischen hier - «, er klopfte sich an die Stirn, » - und hier nicht in Ordnung.« Er streckte die Hand aus. »Wenn ihr laran hättet, könnte ich es euch zeigen. Es überrascht mich, dass man es ihr in Neskaya nicht gesagt hat; es hätte ihr eine Menge Kummer erspart.«

»Kann man es heilen?«, wollte Caro wissen.

Keighvin schüttelte bedauernd den Kopf. »Das war vielleicht zur Zeit des Großvaters meines Großvaters möglich, aber heute nicht mehr. Jedes Jahr geht mehr Wissen verloren. Und eine ernstliche Behinderung ist es ja nicht. Sie muss sich nur daran gewöhnen, erst zu denken und sich dann erst zu bewegen.«

»Das kann sich eine Schwertkämpferin nicht leisten«, erinnerte Lirella ihn.

»Wer sagt, dass sie eine Schwertkämpferin werden muss?«, gab er zurück. »Meine Schwester gehört zu der Gilde von Elhalyn, und sie könnte sich nicht einmal den Weg aus einem Hühnerstall freikämpfen. Sie hilft Kranken wie ich und ist dazu Hebamme. Mein Vater weigert sich, ihre Existenz anzuerkennen, aber wir, die wir Jünger der Heilkunst sind, denken pragmatischer. Meiner Meinung nach tut sie da, wo sie ist, mehr Gutes, als wenn sie sich als Zuchtstute verausgaben würde. Ihretwegen habe ich die Gilde hoch achten gelernt. Warum schickt ihr dieses Kind nicht nach Elhalyn?

Rima schreibt mir ständig Briefe, in denen sie klagt, sie brauche verzweifelt einen Lehrling. Aus der Art zu schließen, wie sie euch versorgt hat, besitzt Rafi bestimmt das Talent dazu.«

Zu ihrer eigenen Verwunderung hörte Rafi sich leise sagen: »Bitte -

das täte ich gern.«

Sechs Augenpaare wandten sich ihr zu, fünf erstaunt und eines belustigt.

»So, das Rabbithorn hat eine Stimme gefunden.« Keighvin füllte einen weiteren Becher mit Tee, süßte ihn großzügig mit Honig und brachte ihn ihr. »Es ist kein leichter Beruf, müsst Ihr wissen.« Er hockte sich auf die Fersen neben ihr. »Man arbeitet ständig über seine Kräfte, oft für Leute, die hinterher undankbar sind, und selten kann man eine ganze Nacht durchschlafen. Ihr werdet Dinge erfahren, die Euch das Herz brechen, denn Ihr werdet die misshandelten Kinder, die missbrauchten Frauen sehen und nichts weiter für sie tun können, als dass Ihr ihre Wunden behandelt und hofft, Euer eigenes Beispiel werde ihnen zeigen, dass sie dieses Leben nicht zu führen brauchen, wenn sie nicht wollen. Ihr werdet viel seelische Kraft brauchen so wie Eure beiden Schwestern hier körperliche Kraft.«

»Ja, aber - «, wandte sie zaghaft ein, » - Ihr habt gesagt, ich hätte Talent - und - ich hätte es hier richtig gemacht - das habt Ihr gesagt!«

»Und ob du es richtig gemacht hast!«, fiel Gabriela herzlich ein. »Da habt Ihr Eure Antwort, mestra.« Sie sah Caro voll an. »Noch einmal, es war nicht Eure Schuld, aber diesem Mädchen kann man kein Selbstvertrauen einflößen, indem man sie zwingt zurückzuschlagen, sondern indem man ihr eine Aufgabe stellt, die sie erfolgreich lösen wird. Sie ist kein Feigling, nicht, wenn es darum geht, ihr eigenes Leben zu riskieren, um andere zu retten. Sie hat eben eine andere Art von Mut als die, die ihr für gewöhnlich zu sehen bekommt.«

Rafi betrachtete die Narben auf der Hand, die den Becher hielt.

»Doch, ich bin ein Feigling«, sagte sie. »Ich kann keine Schmerzen aushalten. Darum hat man mich aus Neskaya weggeschickt.«

»Puh.« Das vierte Mitglied der Gruppe ergriff zum ersten Mal das Wort. »Ich ertrage auch nicht viel Schmerzen. Deshalb lässt man mich als Überwacherin arbeiten. Manche von uns haben nun einmal geringere Toleranzen als andere. Das macht dich gewiss nicht zum Feigling. Hast du nicht Mut genug gehabt, deinem Vater wegzulaufen? Ich bin ziemlich sicher, dass ich das nicht gewagt hätte.

Und du hattest heute Nacht Mut genug, das zu tun, was getan werden musste, ganz gleich, wie teuer es dich zu stehen kommen würde. Damit bist du sehr viel tapferer als ich.«

»Das sagt Gwenna, die uns drei einmal mit bloßen Händen ausgegraben hat, als wir im letzten Jahr von einer Lawine halb verschüttet waren«, bemerkte Keighvin mit gedämpfter Stimme zu Rafi.

Rafi starrte die junge Frau mit großen, erstaunten Augen an. Wenn jemand, der das getan hatte, von ihr sagte, sie sei tapfer - dann, nun, vielleicht …

Gabriela ergriff das Wort. »Wie lautet also euer Urteil? Ich weiß, was Rima antworten wird, wenn ihr anfragt, ob ihr diese junge Schwester von euch zu ihr schicken könntet. Ich habe oft mit Entsagenden zusammengearbeitet und immer wieder erfahren, dass die Fähigkeiten der Heilerin ebenso geachtet werden wie die der Schwertkämpferin. Und ich kenne Rima; sie ist eine gute Lehrerin.

Wenn sie mit Rafi fertig ist, werdet ihr sie wahrscheinlich nicht wieder erkennen, und sie wird eine Entsagende sein, auf die jedes Gildenhaus stolz sein kann. Was sagt ihr dazu?«, wandte sie sich an Caro.

»Zuerst einmal müssen wir unseren Auftrag ausführen.« Caro sah Rafi mit ganz neuen Augen an. »Ich kann nicht für die Gildenmutter sprechen, aber …«

»Aber?«

»Ich glaube, sobald sie unseren Bericht gehört hat, wird sie Ja sagen.«

Die leroni blickten selbstzufrieden drein, und Keighvin schenkte Rafi ein breites Grinsen.

Rafi jedoch trank schweigend ihren Tee. Mit leuchtenden Augen dachte sie an eine Zukunft, die plötzlich heller geworden war, als sie es sich in ihren wildesten Träumen ausgemalt hatte - und tief in ihrem Inneren wurde etwas ein bisschen stärker.

Das Selbstvertrauen und eine andere Art von Mut.

Über ›Messer‹

Eins meiner ersten Konzepte der Freien Amazonen war das einer ehrenvollen Alternative für Frauen, die nicht für die in ihrer Gesellschaft üblichen Rollen taugen. Das würde gleichzeitig einen Zufluchtsort für Frauen bedeuten, die versucht haben, sich anzupassen, aber an den Ungerechtigkeiten einer Männergesellschaft gescheitert sind, die misshandelte Ehefrau und ein anderer, viel zu häufiger trauriger Fall, das sexuell missbrauchte oder ausgebeutete Kind. In dieser Geschichte erhebt sich Marna von dem ersten Schritt, mit dem sie einem solchen Leben entflieht, zu einem Niveau des Verstehens und sogar des Verzeihens.

MZB

Messer

von Marion Zimmer Bradley

Marna wartete frierend auf den kalten Stufen. Die Glocke klingelte irgendwo im Innern des Hauses - dieses merkwürdigen Hauses, von dem sie nie gedacht hätte, dass sie sich ihm einmal nähern würde.

Auf dem Schild stand, wie Marna wusste, dass es das Gildenhaus der Com’hi-letzii war, aber sie konnte nur ein paar Buchstaben entziffern.

Ihr Stiefvater hatte zu ihrer Mutter gesagt, es genüge vollkommen, wenn eine Frau so viel gelernt habe, dass sie öffentliche Anschläge lesen oder ihren Namen unter einen Ehevertrag setzen könne. Ihr eigener Vater hatte eine Erzieherin für sie gehalten und darauf bestanden, dass sie die Unterrichtsstunden ihres Bruders teilte. Bei der Erinnerung an ihren Vater schluckte Marna schwer. Der Schmerz war wie ein Messer an ihrer Kehle. Ihr Vater hätte sie beschützt, wenn nicht einmal mehr ihre Mutter sie beschützen wollte. Nein, ermahnte sie sich, sie durfte nicht weinen, und sie würde nicht weinen.

Sie fragte sich, welche von ihnen die Tür öffnen würde. Vielleicht die Große, die sie auf Heathvine gesehen hatte, rittlings auf einem Pferd wie ein Mann, die kleine Tasche mit dem Handwerkszeug einer Hebamme auf dem Sattel hinter sich. Ich hätte sie auf Heathvine ansprechen können, dachte Marna. Aber sie war zu verängstigt, zu eingeschüchtert gewesen. Ihr Stiefvater hätte sie umgebracht, wenn er vermutet hätte … Sie zuckte zusammen, als spüre sie seine harte Hand, und wieder saß ihr das scharfe Messer an der Kehle. Er hatte ihr verboten, mit der Amazonen-Hebamme zu sprechen, und seinen Drohungen Nachdruck verliehen, indem er sie so kniff, dass ihr Oberarm braun und blau war.

Ängstlich sah sie sich um, als könne Ruyvil von Heathvine jeden Augenblick um die Ecke biegen. Oh, warum öffneten sie die Tür nicht? Wenn er sie hier fand, würde er sie diesmal bestimmt töten!

Die Tür ging auf. Die Frau im Eingang sah sie finster an. Sie war groß und trug lose, dunkle Kleidungsstücke, und im ersten Augenblick erkannte Marna die Hebamme nicht, die nach Heathvine gekommen war. Aber die Frau auf der Schwelle erkannte das Mädchen.

»Ist Eure Mutter wieder krank, Domna Marna?«

»Mutter geht es gut.« Das aufsteigende Schluchzen schnürte Marna von neuem die Kehle zu. O ja, es geht ihr gut, so gut, dass sie es nicht riskieren will, den hübschen jungen Fremden, den sie ihren Ehemann nennt, zu verlieren. Lieber nennt sie ihre älteste Tochter eine Lügnerin und eine Dirne. »Und dem Baby auch.«

»Wie kann ich Euch denn dann dienen, Fräulein?«

Marna platzte heraus: »Lasst mich ein. Ich möchte - mich euch anschließen. Als eine von euch hier bleiben.«

Die Frau hob die Augenbrauen. »Ich glaube, dafür bist du noch zu jung.« Dann merkte sie, dass Marna sich umsah, auf die offene Plaza und die Hauptstraße, die darauf zulief, zurückblickte, als habe sie das Messer eines Mörders zu fürchten. Wovor hatte das Mädchen Angst?

»Wir brauchen nicht draußen auf der Vortreppe miteinander zu reden. Komm herein«, sagte sie.

Marna hörte die große bronzene Haspe einrasten, und ein Schauer der Erleichterung lief ihr durch den ganzen Körper. Jetzt fiel ihr der Name der Hebamme wieder ein. »Mestra Reva …«

»Wir nehmen hier keine jungen Mädchen auf. Du musst nach Neskaya oder nach Arilinn gehen.«

Neskaya war ungefähr vier Tagesritte entfernt, Arilinn lag auf der anderen Seite der Kilghardberge. Sie war noch an keinem der beiden Orte gewesen; die Amazone hätte ihr ebenso gut sagen können, sie solle zum Wall um die Welt reisen. Sie schluckte schwer und erklärte hoffnungslos: »Ich weiß den Weg nicht.«

Und sie hatte kein Pferd, und jeder Reisende, den sie bitten würde, sie hinzubringen, würde ebenso schlimm wie Dom Ruyvil sein, oder schlimmer …

»Wie alt bist du?«, fragte die Frau.

»Ich werde zu Mittwinter vierzehn.«

Reva n’ha Melora seufzte. Sie betrachtete die zuckenden Hände des Mädchens, feine Hände, auf denen keine Arbeit Spuren hinterlassen hatte, und das gute Material von Kleid, Umschlagtuch und Schuhen.

»Es ist uns nicht erlaubt, einem Mädchen den Eid abzunehmen, das noch nicht fünfzehn Jahre zählt. Du musst nach Hause gehen, meine Liebe, und wieder kommen, wenn du erwachsen bist. Das ist hier kein leichtes Leben, glaub mir. Du wirst viel schwerer arbeiten müssen als in deiner Mutter Küche oder Webraum, und offensichtlich bist du in Luxus aufgewachsen, den es bei uns nicht gibt. Nein, Liebes, du gehst am besten nach Hause, auch wenn deine Mutter nicht freundlich zu dir ist.«

Marna blieben die Worte fast in der Kehle stecken. Sie flüsterte: »Ich

- ich kann nicht nach Hause gehen. Bitte, bitte, zwingt mich nicht dazu.«

»Wir verstecken keine Ausreißer.« Revas Augen schossen blaue Blitze. »Warum kannst du nicht nach Hause gehen? Nein, sieh mich an, Kind. Wovor fürchtest du dich? Warum bist du hergekommen?«

Marna war klar, sie musste es erzählen, auch wenn diese harte alte Frau ihr nicht glaubte. Nun, schlimmer konnte es nicht mehr werden, denn ihre Mutter hatte ihr auch nicht geglaubt. »Mein Stiefvater - er

…« Sie konnte sich nicht überwinden, es auszusprechen. »Meine Mutter glaubte mir nicht. Sie sagte, ich wolle ihre Ehe zerstören …«

Wieder schluckte sie. Nein, vor dieser Frau würde sie nicht weinen!

»So«, sagte Reva endlich und betrachtete das Mädchen von neuem mit Stirnrunzeln. Ja, sie hatte auf Heathvine beobachtet, wie vernarrt Dorilys von Heathvine in ihren hübschen jungen Ehemann war. Dom Ruyvil hatte sein Nest gut gepolstert, als er die reiche Witwe von Heathvine heiratete. Aber Reva hatte auch gesehen, dass der prahlerische junge Mann wenig für seine Frau übrig hatte.

In dem Versuch, die Tränen zurückzuhalten, blinzelte Marna heftig.

»Es fing an, als meine Mutter mit der kleinen Rafi schwanger war -

Mutter wollte es mir nicht glauben, als ich es ihr erzählte! Ich wollte doch nicht«, stieß sie unter Schluchzen hervor. »Ich hatte solche Angst - er - er bedrohte mich mit einem Messer, dann sagte er, er werde Mutter berichten, ich hätte versucht, ihn zu verführen -, aber ich habe nie die Hure gespielt, nie …« Sie sah auf den gefliesten Fußboden nieder und kämpfte gegen ihr Weinen an. Da meinte sie, eine sanfte Hand auf ihrem Haar zu spüren, aber als sie den Blick hob, lief Mestra Reva zornig im Raum umher.

»Wenn das, was du mir erzählst, wahr ist, Marna …«

»Ich schwöre es bei der gesegneten Cassilda!«

»Hör mir zu, Marna«, sagte die Frau. »Dies ist der einzige Fall, in dem wir ein Mädchen, das noch keine fünfzehn Jahre alt ist, aufnehmen dürfen: Wenn einer ihrer leiblichen Eltern oder ihr Vormund ihr Vertrauen missbraucht hat. Aber wir müssen uns unserer Sache ganz sicher sein, denn das Gesetz verbietet uns, gewöhnliche Ausreißer zu beherbergen. Hat er dich geschwängert?«

Scharlachröte ergoss sich über Marnas Gesicht; so geschämt hatte sie sich noch nie in ihrem Leben. »Er sagte - er sagte, nein, er habe etwas getan, um es - zu verhindern, aber ich weiß nicht - ich wüsste auch nicht, wie ich es sagen sollte …«

Mestra Reva entfuhr eine obszöne Bemerkung, und dazu stampfte sie mit dem Fuß auf. Marna zuckte zusammen.

»Ich meine nicht dich, Kind. Ich verfluche die Gesetze, nach denen ein Mann so unumschränkt Herr in seinem Haus ist, dass die Frauen darin nicht mehr Schutz genießen als seine Pferde und Hunde. Einem solchen Mann sollte man die cuyones in den Hals stopfen und ihn an einem Kreuzweg aufhängen! Nun, dann bleibe«, erklärte sie seufzend. »Es mag Ärger geben, aber deswegen sind wir ja hier. Bist du den ganzen Weg von Heathvine zu Fuß gegangen?«

»N-nein«, stammelte Marna. »Er ist zum Markt gefahren - er trinkt in der Wirtschaft, und ich sagte ihm, ich wolle mir Bänder kaufen - er gab mir sogar ein paar Kupfermünzen -, und da bin ich weggerannt.

Mutter hatte mir befohlen, ihn zu begleiten, ich sollte Spitzen für sie aussuchen, und als ich sie anflehte, mich nicht mit Ruyvil zu schicken, ohrfeigte sie mich und sagte, meine Lügen machten sie krank …« Wieder sah Marna auf den Fußboden nieder. Ruyvil hatte auf dem Herweg laut verkündet, sie würden auf dem Rückweg in einer Reiseunterkunft Rast machen, und diesmal, behauptete er, werde sie Gefallen daran finden, so dass er sie nicht mehr mit einem Messer zu bedrohen brauche … Aus diesem Grund hatte sie den verzweifelten Schritt getan. Sie konnte es nicht ertragen, nicht noch einmal.

Reva sah ihre zitternden Hände, die Qual in ihrem Gesicht und stellte keine weiteren Fragen mehr. Es war offensichtlich, dass das Mädchen die Wahrheit sprach und sich fürchtete. »Dann kannst du auch gleich mit uns zu Abend essen. Häng deinen Mantel im Flur auf.« Sie führte Marna in eine große Küche mit Steinfußboden, wo vier Frauen um einen Holztisch saßen.

»Setz dich neben Gwennis, Marna.« Reva zeigte ihr den Platz. »Sie ist die Jüngste von uns hier, Ysabets Tochter.« Gwennis war ein Mädchen von zwölf oder dreizehn, Ysabet eine untersetzte, muskulös wirkende Frau in den Vierzigern. Neben ihr saß eine große, magere Frau, die Narben trug wie ein Soldat; sie wurde als Camilla n’ha Mhari vorgestellt. Die Letzte war eine kleine, grauhaarige Frau, die sie Mutter Dio nannten.

»Das ist Marna n’ha Dorilys«, sagte Reva. »Sie ist zu jung für den Eid, aber sie wird hier als Pflegetochter leben, da die für sie verantwortlichen Erwachsenen ihr Vertrauen missbraucht haben. Sie kann ihr Haar abschneiden lassen und versprechen, nach unsern Regeln zu leben, und wenn sie fünfzehn ist, kann sie den Eid leisten.«

Sie schöpfte für Marna Suppe aus dem Topf über dem Feuer. Mutter Dio, die am Kopf des Tisches saß, versorgte sie dazu mit einer Scheibe des groben Brotes und fragte, ob sie Butter oder Honig haben wolle.

Die Suppe war gut, aber Marna war zu müde zum Essen und zu schüchtern, um eine der Fragen zu beantworten, die das Mädchen Gwennis ihr stellte. Nach dem Essen wurde sie an das Kopfende des Tisches gerufen, und die alte Frau schnitt ihr das Haar bis zum Genick ab.

»Marna n’ha Dorilys«, sagte sie, »du bist eine von uns, wenn auch noch nicht durch einen Eid gebunden. Von diesem Tag an verbieten unsere Gesetze dir, dich um Wohnung oder Erbe an einen Mann zu wenden, und du musst lernen, niemanden um Schutz zu bitten und dich selbst zu verteidigen. Du musst arbeiten, wie wir es tun, du kannst deiner edlen Geburt wegen keine Privilegien mehr beanspruchen. Du musst versprechen, jeder anderen Entsagenden eine Schwester zu sein, von welchem Gildenhaus sie auch kommen möge, und für sie in guten und bösen Zeiten sorgen. Versprichst du, nach unsern Gesetzen zu leben, Marna?«

»Das verspreche ich.«

»Willst du lernen, dich selbst zu verteidigen, und niemand anders um Schutz anrufen?«

»Das will ich.«

Mutter Dio küsste sie auf die Wange. »Dann heiße ich dich bei uns willkommen, und wenn du alt genug bist, kannst du den Eid der Entsagenden ablegen.«

Marnas Nacken fühlte sich kalt an, und sie kam sich unschicklich entblößt vor; sie sah ihr langes, rostbraunes Haar auf dem Fußboden liegen und hätte weinen mögen. Ruyvil hatte mit ihrem Haar gespielt und ihren Hals gestreichelt, aber jetzt würde kein Mann mehr sagen, sie habe ihn mit ihrer Schönheit verführt! Sie betrachtete die groben, männlichen Kleidungsstücke der Amazonen, die langen Messer, die sie am Gürtel trugen, und erschauerte. Sie sahen alle so stark aus. Wie konnte sie je lernen, sich mit einem solchen Messer zu verteidigen?

»Komm, Marna.« Gwennis nahm ihre Hand. »Ich bin so froh, dass du da bist, denn bisher hatte ich niemanden, mit dem ich reden konnte - und jetzt habe ich eine Schwester in meinem Alter! Die Mädchen im Dorf dürfen nicht mit mir sprechen, weil die Leute sagen, meine Hosen und mein kurzes Haar seien unanständig. Sie nennen mich ein Mannweib, als könnten die Mädchen etwas Böses von mir lernen - du wirst meine Freundin sein, nicht wahr? Ich meine, du musst meine Schwester sein, weil es das Gesetz des Gildenhauses ist, aber willst du auch meine Freundin sein?«

Marna lächelte verkrampft. Gwennis war ganz anders als die Mädchen, die sie bisher kennen gelernt hatte, und Marnas Mutter wäre auch nicht mit ihr einverstanden gewesen. Aber Marna hatte ihrer Mutter immer gehorcht, und was hatte ihr das eingetragen? »Ja, ich will deine Freundin sein.«

»Bring sie nach oben, Gwennis, und zeige ihr das Haus«, sagte Reva. »Morgen werden wir etwas zum Anziehen für sie zusammensuchen - deine alten Jacken und Hosen werden ihr passen, Ysabet. Und du, Camilla, kannst ihr ein bisschen über den Messerkampf und die Selbstverteidigung beibringen, bevor du nach Thendara zurückreitest.«

»Du musst zum Magistrat gehen und Meldung machen, Reva«, sagte Camilla, »denn du bist auf Heathvine gewesen und kennst ihre Familie. Du kannst bestätigen, dass es glaubwürdig ist, wenn dieses Mädchen sagt, Ruyvil habe sie missbraucht. Ich bin diesem Ruyvil einmal begegnet, als er noch ein heimatloser Niemand war, und kann mir gut vorstellen, dass er sich an seiner eigenen Stieftochter vergreift.«

Später an diesem Abend, bevor sie in Gwennis’ Zimmer in ein Rollbett gesteckt wurde, kam Reva herein und stellte Marna eine Reihe von Fragen. Als Reva sie aufforderte, ihr Hemd auszuziehen, fielen Marna all die scheußlichen Dinge ein, die sie über das Gildenhaus gehört hatte. Aber die Frau untersuchte sie nur kurz und meinte: »Ich glaube, du hast Glück gehabt; wahrscheinlich bist du nicht schwanger. Dio wird dir morgen eine Medizin zusammenbrauen, und wenn deine Tage nur durch Schock und Furcht ausgeblieben sind, werden wir es bald wissen. Ich kann jedoch bezeugen, dass du misshandelt worden bist; ein Mann, der ein williges Mädchen nimmt, hinterlässt keine solchen Male. Deshalb kann ich vor dem Magistrat beschwören, du seist vergewaltigt worden und habest nicht, wie deine Mutter behauptet, die Hure gespielt. Dann dürfen wir dich von Rechts wegen aufnehmen. Geh schlafen, Kind, und mach dir keine Sorgen.« Und Marna schlief wie ein Baby.

Das Gildenhaus von Aderes war nicht groß; nur vier Frauen lebten hier ständig, obwohl manchmal reisende Amazonen wie Camilla für ein paar Tage oder ein Jahr blieben. Reva, die Hebamme, verdiente das meiste von dem benötigten Bargeld. Ansonsten verkauften sie Tücher, die sie aus der Wolle ihrer Tiere woben. Marna, die man feine Stickereien gelehrt hatte, regte an, die Tücher mit hübschen Mustern zu verzieren. Sie hatten auch einen Kräutergarten und verkauften Medizinen, und wenn ihre Kühe gekalbt hatten, brachten sie Butter auf den Markt. Es war ein hartes Leben, wie Reva gesagt hatte. Den größten Teil des Tages verbrachten sie mit Weben oder Gartenarbeit.

Tagelang zitterte Marna bei jedem Klopfen an der Tür vor Angst, Dom Ruyvil sei gekommen, um sie wegzuschleppen, aber bald wurde sie ruhig. Sie genoss ihr neues Dasein. Vieles machte ihr große Freude: Sie lernte lesen, und bald hatte sie sich eine schöne Handschrift erworben. Das Kochen und das Scheuern der Fußböden gefiel ihr nicht, aber alle Frauen im Haus wechselten sich bei den schweren Arbeiten ebenso ab wie beim Scheren, Spinnen und Weben der Wolle. Camilla, die alte emmasca, die Söldnerin gewesen war und im Gildenhaus von Thendara lebte, gab Marna ein paar Stunden im Messerkampf und im unbewaffneten Kampf, aber dabei stellte Marna sich nicht sehr geschickt an. Sie war zaghaft und unbeholfen, und je mehr Camilla mit ihr herumbrüllte, desto hilfloser kam sie sich vor.

Wenn sie erst älter sei, sagte man ihr, werde man sie zu dem vorgeschriebenen halben Jahr der Umschulung ins Thendara-Gildenhaus schicken. Inzwischen müsse sie die Sitten der Entsagenden lernen. Meistens beschäftigte man sie im Haus und im Garten, aber eines Tages war Gwennis krank, und da wurde Marna mit Butter zum Markt geschickt. Sie war mehrmals mit Mutter Dio oder Ysabet dort gewesen und kannte die Grundregeln für das Benehmen einer Amazone in der Öffentlichkeit: Sie durfte mit einem Mann nur reden, wenn es um geschäftliche Dinge ging, und mit den Dorfmädchen überhaupt nicht, denn die könnten dafür bestraft werden. Marna hielt das für töricht. Die Mädchen mussten erfahren, dass es ein besseres Leben gab als das ihre, in dem sie Sklavenarbeit für ihre Eltern verrichteten, bis irgendein Mann sie kaufte wie ein Tier. Aber Gesetz war Gesetz, und um überhaupt existieren zu können, waren die Amazonen gezwungen, Kompromisse zu schließen. Dazu gehörte auch, dass sie keine Frau aufnehmen durften, die nicht aus eigenem Entschluss zu ihnen kam. Marna hatte den Verdacht, dass trotzdem ganz diskret angeworben wurde, aber solange sie noch zu jung für den Eid war, musste sie die Vorschriften buchstabengetreu befolgen.

So ging sie zum Markt und konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe. Sie suchte die Milchfrau an ihrem Stand auf und gab ihr ihre Butter. Mutter Dio hatte gesagt, sie brauchten Honig; Marna hatte Päckchen mit Pflanzenfarben in der Tasche und sollte versuchen, sie gegen Honig einzutauschen. Sie verbrachte eine angenehme Stunde auf dem Markt und machte sich schließlich wieder auf den Weg zum Gildenhaus, den Honigkrug in einen Jutesack eingewickelt; sie hatte ihn für eine Portion Krapprot bekommen.

Es fing an, dunkel zu werden. Als sie an der Wirtschaft vorbeiging, löste ein junger Mann sein Pferd vom Geländer. Er war so betrunken, dass Marna schon aus der Ferne den schalen Weingeruch wahrnahm.

»Was ist, Mädchen«, rief er ihr zu, »willst du die Nacht mit mir verbringen? He - sei nicht so verdammt unfreundlich!« Er drehte sich um und taumelte auf sie zu. »Aaah - eine von denen, die ein Schwert tragen wollen wie ein Mann!« Er packte sie grob am Arm. »Warum verbringst du dein Leben mit diesen Weibern? Willst du nicht eine richtige Frau sein, hä?« Er betastete sie.

Marna riss sich zitternd los und entfloh, den Honigkrug fest umklammernd. Der Betrunkene schrie ihr nach: »Hau doch ab, wer will denn schon eine solche Schlampe!«

Ihr Herz klopfte wie rasend, ihr Mund war trocken. Marna versuchte, sich zu beruhigen. War etwas an ihr, dass sie wie ein solches Mädchen aussah? Dom Ruyvil hatte sie auch beschuldigt, sie habe ihn gereizt, obwohl sie weinte und ihn abzuwehren versuchte.

Was machte sie falsch, dass die Männer sich so gegen sie benahmen?

Sie legte die Hand auf den Messergriff. Wenn der Mann sie nicht losgelassen hätte, wäre sie dann fähig gewesen, das Messer zu ziehen und ihn damit zu verjagen? Hätte sie den Mut gefunden, es zu benutzen?

Halb blind vor Tränen sah sie nicht, wohin sie den Fuß setzte, bis sie auf dem Kopfsteinpflaster der Straße mit einem großen, schweren Mann zusammenstieß. Sie murmelte eine wohlerzogene Entschuldigung. Doch ihr Arm wurde mit festem Griff gefasst, und sie hörte eine verhasste Stimme.

»Sieh an, die kleine Marna! Du verlogenes Ding, du hast ein schönes Durcheinander aus meinem Leben gemacht! Dori hätte mich beinahe fortgeschickt! Da läufst du zu diesen schmutzigen Weibern und heulst ihnen etwas vor, und jetzt bist du eine von ihnen!«

Marna versuchte, sich von ihm zu befreien.

»Du! Ruyvil!«

»Du wirst mich mit Stiefvater oder Dom anreden«, schimpfte er.

»Das werde ich nicht!«, rief Marna. »Du bist nicht mein Vater, und ich schulde dir nichts - keinen Respekt, keinen Gehorsam, nichts!«

Er schlug ihr heftig ins Gesicht. »Schluss damit! Du kommst nach Hause, wo du hingehörst. Sieh dich an - schamloser geht es wohl nicht mehr, in Stiefeln und Hosen, und das Haar abgeschnitten, da sieht man deinen …« Er benutzte ein obszönes Wort. »Vorwärts - ich habe ein Pferd, und ich werde dich nach Hause zu deiner Mutter bringen, und bei Zandrus Zehennägeln, wenn du ihr noch einmal Märchen erzählst, breche ich dir jeden einzelnen Knochen im Leib!«

Sie sah ihn zitternd an, aber der Gedanke an das, was die Frauen ihr gesagt hatten, stärkte sie: Sie musste lernen, sich selbst zu verteidigen, und durfte niemanden bitten, sie zu beschützen. »Alles, was ich zu Mutter und dem Magistrat gesagt habe, ist wahr …«

»Ah, du hast es doch gewollt, du dreckige kleine Hure, du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht jedem Stallburschen und Wachposten schöne Augen gemacht hast …«

»Du kannst meine Mutter so viel belügen, wie du willst, aber du weißt doch ganz genau, was die Wahrheit ist«, gab sie zurück.

»So lasse ich nicht mit mir reden!« Seine schwere Hand schlug sie zu Boden, dort lag sie voller Angst und sah, wie er das Messer aus der Scheide zog … Mit letzter Kraft stellte sie sich wieder auf die Füße, ergriff den wie durch ein Wunder unversehrten Honigkrug, rannte wie ein chervine davon und verschwand in einer Seitenstraße.

Diesmal konnten keine Röcke sie behindern! In Panik klopfte sie an die Tür des Gildenhauses, aber bis Gwennis öffnete, ging ihr Atem wieder ruhig. Nein, sie durfte es niemandem erzählen. Sie hatten es ihr so deutlich auseinander gesetzt, dass sie lernen müsse, sich selbst zu verteidigen.

Und ich habe es nicht fertig gebracht, dachte sie verzweifelt. Ich habe nicht einmal mein Messer ziehen können. Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich hätte Ruyvil töten, ihm das Messer in den Bauch stoßen sollen! Aber ich hatte Angst …

Glaubt er wirklich, ich hätte ihn provoziert? Ist etwas an mir, das die Männer auf diesen Gedanken bringt? Der andere Mann, der Betrunkene vor der Wirtschaft, hat es auch gemeint …

»Du bist außer Atem«, bemerkte Gwennis. »Was ist los, Marna, bist du gelaufen?«

»Ja - es war spät und dunkel und kalt. Ich bin gerannt, um warm zu werden.« Marna zürnte sich wegen der Lüge. Aber Gwennis war darin ausgebildet, sich selbst zu verteidigen. Wie würde sie Marna verachten, wenn sie wüsste, was für ein Schwächling sie war!

Danach blieb Marna so viel im Haus, wie sie konnte, und jedes Mal, wenn sie es verließ, bildete sie sich ein, Dom Ruyvil lauere hinter jeder Ecke. Aber die Zeit verging, ihre Angst ließ nach, und schließlich war sie bereit, wieder auf den Markt zu gehen. In drei Monaten wurde sie fünfzehn und hatte das gesetzliche Recht, den Eid abzulegen, und dann war sie sicher. In diesem Jahr war die Kräuterernte gut, und die Frauen des Gildenhauses teilten sich einen Stand mit der Milchfrau, die manchmal ihre Butter verkaufte. Marna legte die Kräuterpäckchen sorgfältig aus. Sie war stolz auf die zierliche Beschriftung auf der Vorderseite eines jeden - sie schrieb jetzt die deutlichste Hand im Haus und entwarf alle ihre Stickereien.

Als sie fertig war und den Kopf hob, hörte sie eine vertraute Stimme.

»Sind Eure Goldblumen gut getrocknet? Wenn ja, nehme ich zwei Päckchen - Marna!«, keuchte die Frau, und Marna sah in das Gesicht ihrer Mutter.

»Marna! Dahin bist du also gegangen! Oh, Marna, wie konntest du das tun? Oh, mein kleines Mädchen - wo ist dein schönes Haar? Was haben sie dir angetan, diese schrecklichen Frauen! Marna, willst du deiner Mutter nicht wenigstens zur Begrüßung einen Kuss geben?«

Marna war zum Weinen zu Mute. Am liebsten hätte sie losgebrüllt: Ja, Dom Ruyvil hat mich geschändet, aber du warst es, die es zugelassen hat, die ihrer eigenen Tochter nicht glauben wollte … Trotzdem brachte sie es nicht fertig, ihre weinende Mutter zurückzustoßen. Sie umarmte sie und dachte: Jetzt bin ich größer und stärker als sie - sie würde es nie lernen, sich zu verteidigen.

»Oh, du siehst so erwachsen aus - und so ernst und schrecklich!«, sagte Dorilys von Heathvine. »Haben sie dich gezwungen, dich allen möglichen bösen Dingen zu verschwören, mein armes Baby? O

gesegnete Cassilda, ich werde mir nie verzeihen …«

Marna ließ ihre Stimme hart klingen. »Also glaubst du mir endlich?«

»Oh, Marna …« Ihre Mutter breitete die Hände aus. »Was konnte ich tun? Er sagte, er werde seinen Sohn nehmen und mich verlassen -

und ich stehe allein in der Welt, dein Bruder ist jetzt als Kadett in Thendara, ich bin allein mit den Kleinen - und wenn Ruyvil böse mit mir ist, was soll ich dann tun? Eine Frau hat keine andere Wahl, als mit ihrem Mann zu leben - und wenn ich mich beim Magistrat beschwert hätte, dann hätte er mich geschlagen oder mir Schlimmeres angetan …«

»Ist ja gut, Mutter, ich verstehe schon«, sagte Marna mit einem würgenden Schmerz in der Kehle. Sie verstand es nicht. Sie würde es nie verstehen. Wenn sie eine Tochter hätte, wenn ein Mann diese Tochter so behandelt hätte, würde sie den Mann bestimmt nicht weiterhin geliebt und sein Bett geteilt haben! Sie hätte die Magistratsbeamten gerufen, hätte Ruyvil auf die Straße hinausgeworfen! Ihre Mutter jedoch hatte nicht einmal so viel Kraft oder gesunden Menschenverstand gehabt, um wegzulaufen.

»Marna - oh, mein kleines Mädchen, willst du nicht nach Hause kommen? Ich verspreche dir - du kannst eins der Hausmädchen in deinem Zimmer schlafen lassen -, er wird dich nie wieder belästigen, ich verspreche es dir! Du fehlst mir so, niemand ist da, mit dem ich reden kann, niemand, den ich lieb habe …«

»Nein, Mutter«, antwortete Marna sanft, aber ohne Mitleid. »Ich werde nie wieder unter deinem Dach leben. Ich will dich besuchen kommen, wenn du mir Nachricht gibst, dass Dom Ruyvil verreist ist, oder du kannst mich im Gildenhaus besuchen.«

»Im Gildenhaus? Wie könnte ich - Ruyvil wäre sehr zornig auf mich, wenn ich mit solchen Frauen verkehrte!«

»Oh, Mutter«, sagte Marna ungeduldig, »sie sind Frauen wie du, nur dass sie sich nicht von Männern schlagen und missbrauchen lassen! Sie sind anständige Frauen, die sich durch Weben und den Verkauf von Kräutern ernähren!«

»Pff! Welche bösen Dinge haben sie dich gelehrt? Welcher Mann wird dich jetzt noch heiraten?«

»Keiner, hoffe ich«, gab Marna ärgerlich zurück. »Glaube, was du willst, Mutter, ich möchte mein Leben nicht gegen deins eintauschen.

Und wenn du meinst, ich führte im Gildenhaus ein schlechtes Leben, dann zeige doch so viel Mut wie eine Gans und besuche uns und sieh selbst, womit ich meine Zeit verbringe!«

Ihre Mutter ging weinend weg, doch Marna lief ihr nach - sie hatte die Päckchen mit Goldblumen vergessen. Ja, sie müsse sie nehmen, sie sehe so blass aus. Nein, das Geld solle sie vergessen. Marna habe sie selbst gepflückt und getrocknet, es sei ein Geschenk … Als sie bei Sonnenuntergang den Stand aufzuräumen begann, fühlte sie sich besser. Trotz ihres Zorns liebte sie ihre Mutter und freute sich, dass sie lebte und gesund war.

Bis dieser Schurke Ruyvil sie irgendwann tötet, indem er sie schlägt oder sie so oft schwängert, dass sie daran stirbt!, dachte Marna verbittert.

Nun, es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. »Wo bleibt nur Ysabet mit dem Packtier, Gwennis?«, fragte sie. »Wir müssen es beladen, damit wir vor dem Dunkelwerden zu Hause sind. Viel Arbeit macht das nicht; wir haben alle Stickereien verkauft, und von den Tüchern sind nur noch drei übrig.«

»Die gestickten verkaufen sich besser«, meinte Gwennis. »Damit hattest du Recht, Marna: Wer war die Frau, mit der du geredet hast?«

»Meine Mutter.« Mehr sagte Marna nicht.

Gwennis, die tausend Fragen hätte stellen mögen, schwieg, als sie Marnas Gesichtsausdruck bemerkte. Sie sagte nur: »Hier, hilf mir, das Seil für das Packtier loszubinden - wir wollen alles für Ysabet fertig haben, wenn sie kommt - Zandru speie Feuer!«, fluchte sie. Das Seil hatte sich an der Kante des Standes verfangen; die Kräuterpäckchen und die Tücher segelten mitsamt den Butterkrügen zu Boden. Die Mädchen beeilten sich, alles wieder aufzuheben, aber ein Butterkrug war zerschellt, und sein Inhalt beschmierte die Tücher und die Pflastersteine vor dem Stand.

»Dann werde ich mal gehen und mir einen Mopp ausleihen, damit ich hier sauber machen kann«, stöhnte Gwennis und sah sich auf dem schon fast verlassenen Markt um. Die meisten Stände waren jetzt leer, und die Schatten fielen rot und dick über den Platz. »Rinda in der Wirtschaft wird mir einen geben, ich habe ihren Knöchel bandagiert, als sie ihn sich verstaucht hatte.«

»Lass mich nicht allein«, flehte Marna, »es ist so dunkel! Warte, bis Ysabet mit dem Pferd kommt!«

»Aber jemand könnte ausrutschen und fallen und sich den Hals brechen!«, wandte Gwennis entsetzt ein. »Sei kein Feigling, Marna!

Du musst lernen, allein zu sein.«

Gwennis ging, und Marna packte zitternd die Kräuter zusammen.

Da fasste sie eine grobe Hand, und eine Stimme, die sie fürchtete und hasste, grollte: »Hier hast du dich also versteckt, he? Dreckige Schlampe, ich werde dich lehren, so zu deiner Mutter zu reden! Sie hat mir gesagt, dass sie dich gesehen hat. Du kommst jetzt mit mir nach Hause, keine Widerworte! Spürst du das?« Marna fühlte die Schneide eines Messers an ihrer Kehle. Ruyvil drückte zu, es durchschnitt die Haut, und Blut begann zu fließen.

»Wirst du dich benehmen?«

In Todesangst nickte Marna, und das Messer entfernte sich von ihrer Kehle. Ruyvils Hände hielten sie fest. Er sagte: »Los, komm mit, und lass das Theater. Du willst mich zum Gespött machen, was?

Erzählst Märchen, so dass deine Mutter kein anständiges Mädchen mehr zum Bleiben bewegen kann, und machst mich beim Magistrat schlecht! Ich sage dir, Marna, ich werde dir eine Lektion erteilen, und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Lebe tue! Du kommst nach Hause, wo du hingehörst, damit die Leute sehen, dass ich fähig bin, meine Familie und mein Weibervolk zu regieren, und mir von keinem verdammten Magistrat etwas befehlen lasse! Das wäre ja noch schöner, wenn ein Mann seine eigenen Angelegenheiten nicht mehr regeln könnte, ohne dass die Regierung sich einmischt! Es ist ja nicht so, als seist du blutsverwandt mit mir und als hätte ich dir Schaden zugefügt!« Er verdrehte heftig ihr Handgelenk. »Gib mir deine Hände!« Sie sah, dass er einen Strick hielt, er würde sie fesseln, nach Hause zerren …

Schreiend riss sie sich los. Er griff von neuem nach ihr, warf sie zu Boden. »Marna, dafür bringe ich dich um!«, knirschte er. Sie tastete nach ihrem Messer, unbeholfen, in Todesangst. Oh, er würde sie töten, mit seinem Messer töten - aber besser das, als nach Hause gezerrt zu werden, wo er mit ihr machen konnte, was er wollte …

Plötzlich hatte er ihr Messer auch, und sie verfluchte ihre Schwerfälligkeit.

»Du lässt sie in Frieden!«, erklang ein Schrei hinter ihnen, und Gwennis schwang den schweren Moppstiel. Blut schoss aus Ruyvils Mund. Fluchend griff er Gwennis mit seinem Schwert an. Marna, kaum wissend, was sie tat, hob ihr Messer auf und warf sich zwischen sie. Ihr Amazonen-Messer, das nicht ganz ein Schwert war, richtete sich auf Ruyvils Bauch.

»Nur eine Bewegung«, sagte sie und wunderte sich, wie laut und fest ihre Stimme über den verlassenen Markt schallte, »und ich stoße dir das Messer in den Leib, Stiefvater

Er heulte vor Wut. »Nimm das Ding weg! Was, in Zandrus Höl en …«

Gwennis kam und nahm ihm sein Schwert ab. »Ich sollte ihm den Hals damit abschneiden«, sagte sie. »Aber wir haben hier schon genug Probleme. Binden wir ihm die Hände, und irgendwann wird er sich schon befreien - wer weiß, ob der Magistrat uns glauben würde?

Hier, Marna, fessele du ihn, du kannst besser Knoten machen als ich.

Die bekommt er bestimmt nicht auf, bevor wir sicher im Gildenhaus sind. Und wenn er erzählen will, wie zwei Mädchen unter fünfzehn ihn besiegt haben, soll er es ruhig tun und sich zum Gespött machen!«

Ysabet kam mit dem Packtier und betrachtete den wütenden, fluchenden Ruyvil mit seinen auf den Rücken gebundenen Händen.

Sie sagte: »Hört mir zu, Dom Ruyvil, Eure Stieftochter, die Ihr missbraucht habt, wird ins Gildenhaus von Thendara geschickt werden. Möchtet Ihr eine Untersuchung durch einen leronis, damit alle Welt erfährt, dass Marna die Wahrheit gesagt hat?«

Er hatte sich inzwischen beruhigt und antwortete einfältig: »Nein.

Ich werde schwören …«

»Euer Eid ist keinen Pferdeapfel wert«, stellte Ysabet fest, »aber wenn Ihr uns in Zukunft nicht mehr belästigt, werden wir Euch in Ruhe lassen, obwohl ich Euch mit Freuden die Fähigkeit nehmen möchte, noch einmal eine Frau zu schänden.« Sie machte eine Geste mit ihrem Messer, und Ruyvil wand sich, heulte, bat, flehte, weinte.

Marna fragte sich, warum sie jemals Angst vor ihm gehabt habe.

Sie gingen im Dunkeln heim. Ysabet, die das Pferd führte, war den beiden Mädchen ein Stück voraus. Da fragte Gwennis: »Wenn dein Stiefvater dich verfolgte und dir auflauerte, warum hast du uns das nicht erzählt?«

»Ich schämte mich«, murmelte Marna. »Es ist so viel darüber gesprochen worden, ich müsse lernen, mich selbst zu verteidigen, und dürfe niemanden um Schutz bitten …«

»Aber du musst deine Schwestern beschützen, und sie müssen dich beschützen«, schalt Gwennis sanft, einen Arm um Marnas Taille gelegt. »Darum geht es doch in dem Eid! Wir schwören, einander zu helfen - hättest du deine Mutter nicht beschützt? Du fandest den Mut, dein Messer zu ziehen, als er mich bedrohte …«

Marna begann zu weinen. Sie konnte ihre Mutter nicht vor Ruyvil beschützen; ihre Mutter wollte keinen Schutz, wollte sich nicht einmal an ihre Schwestern wenden. Schlimmer noch, ihre Mutter hielt so große Stücke auf Ruyvil, dass sie nicht einmal ihre eigene Tochter beschützen würde. Zum ersten Mal, seit sie ins Amazonenhaus gekommen war, weinte Marna und konnte nicht aufhören. Sie schluchzte immer noch, als sie schon im Gildenhaus waren. Gwennis machte sich Sorgen um sie und rief Reva, die ihr Wein zu trinken gab und sie schließlich ohrfeigte.

»Ich kann damit leben, was Ruyvil mir angetan hat.« Marna hatte den Schluckauf, und die Tränen strömten ihr immer noch aus den Augen. »Ich kann mich jetzt auch gegen jeden Mann verteidigen.

Aber was ich nicht ertrage, ist, dass meine Mutter mich nicht beschützen wollte, dass es ihr lieber war, wenn ihre Tochter geschändet wurde, als wenn sie den Mann verloren hätte, den sie liebt … , dass sie mich nicht genug liebte, um mit ihm zu streiten …«

Sie weinte und weinte und klammerte sich an Reva. Die ältere Frau, jetzt freundlicher, hielt sie fest und tröstete sie.

»Darum geht es doch in dem Eid«, wiederholte Gwennis. »Jede von uns wird dich beschützen, wie deine Mutter es hätte tun sollen - wie Frauen sich immer gegenseitig beschützen müssen. Deine Mutter hat dich im Stich gelassen, aber was geschehen ist, lässt sich nicht mehr ändern. Du hast jetzt eine Eidesmutter und viele Schwestern. Und du warst stark genug, mich zu verteidigen, auch wenn du dich selbst nicht verteidigt hast.«

»Du hattest es nicht verdient«, schniefte Marna. »Ich meine, du hattest doch nichts getan. Ich konnte nicht zulassen, dass er dich verletzte.«

Gwennis nahm sie in den Arm. »Du hattest auch nichts getan, und du hattest es auch nicht verdient«, erklärte sie heftig, »und wenn dieser alte, böse Mann dir eingeredet hat, du seist schuld, dann ist das noch schlimmer als das andere!« Sie küsste Marna auf die Wange.

»Du wirst mir fehlen, Schwester, wenn du zur Schulung nach Thendara geschickt wirst. Aber du kommst ja wieder, wenn du gelernt hast, dich selbst zu verteidigen und mit dem zu leben, was dir Kummer macht, breda. « Scheu zog sie ihr Messer aus der Scheide.

»Du hast mich verteidigt, als du dich selbst hättest verteidigen sollen.

Willst du das Messer mit mir tauschen, Marna?«

Marnas Augen wurden ganz groß. Dann zog sie ihr eigenes Messer.

Feierlich steckten sie jede ihr Messer in die Scheide am Gürtel der anderen und umarmten sich. Marna hätte fast wieder angefangen zu weinen. »Ich will nicht weg!«, sagte sie. »Ich liebe euch alle, und ihr seid so gut zu mir gewesen …«

»Aber du hast überall Schwestern«, fiel Reva freundlich ein. »Bald wirst du den Eid ablegen, und dann bist du eins mit uns.«

Marna legte die Hand auf Gwennis’ Messer an ihrem Gürtel. Ja, das Messer ihrer Schwester war zu ihrer Verteidigung gezogen worden; jetzt war sie fähig, es zu ihrer eigenen Verteidigung zu ziehen. Eine Frau hatte sie verraten, aber von ihren Schwestern, die sie umgaben, wusste sie, dass keine sie je verraten würde. Dom Ruyvil, stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, hatte sie nicht vernichtet; er hatte sie in ein neues Leben, ein wirkliches Leben getrieben. Was damals in ihren Augen das Ende der Welt gewesen war, hatte sie hierhergeführt.

Er hatte sie in die Freiheit entlassen.

Über Jane Bigelow und ›Taktik‹

Jane Bigelow wohnt mit ihrem Mann und ihrem Kater ›Alphonse, der Streuner‹ in Denver. Man fragt sich, warum so viele Science-Fiction-Leute Katzen haben, denen nur wenige Hunde und - zum Beispiel -

Hamster gegenüberstehen. Sie hat für verschiedene Lokalzeitungen in Boulder und dem Gebiet von Denver geschrieben, »gab die journalistische Tätigkeit aber nach einer Reihe von geplatzten Honorarschecks und Konkursen auf«. Gedichte von ihr sind schon in FineArts Discovery und in anderen Publikationen veröffentlicht worden. Gegenwärtig arbeitet sie an einem Katalog für die Jefferson County Public Libraries. In dieser Stellung hat sie ungehinderten Zugang zu neuen Büchern und eine Vier-Tage-Woche. Mit ›Taktik‹

hat sie zum ersten Mal eine Erzählung verkauft.

Die Personen in ›Taktik‹ sind zwar im strengen Sinn keine Freien Amazonen, wohl aber unabhängige Frauen im Geist der Entsagenden.

MZB

Taktik

von Jane M. H. Bigelow

Mit einem leisen Seufzer sah Bronwyn zu ihrem Mann auf der anderen Seite der Halle hinüber. Sicher, ein Mann hat für die Verteidigung seiner Familie zu sorgen, jeder Mann, und erst recht, wenn er ein Lord ist. Das stimmt schon. Aber muss er stundenlang über Schwert- und Schild-Techniken, Schlachtpläne und Strategien reden, wenn er gerade erst nach Hause gekommen ist?

Ich werde meine Aufgabe als die Herrin deiner Halle erfüllen, Donal, dachte sie. Aber dieser Abend ist ein weiterer Stein in der Wand, die wir zwischen uns errichten.

Daraufhin blickte er auf. Offenbar gelangten manche Gedanken durch die Barriere, die zu errichten sie gelernt hatten. Er machte lachend eine Bemerkung zu den Männern, die unter seinem Befehl standen, und kam zu ihr herüber.

»Meine Gemahlin, ich bin mir bewusst, dass Euch all das zu Tränen langweilen muss, aber wenn Ihr ein Dach über Eurem Kopf haben wollt, werdet Ihr mich an seiner Verteidigung arbeiten lassen, ohne meine Gedanken ständig zu unterbrechen.« Er sprach mit leiser Stimme, aber in der ganzen Halle entstand Unruhe, eine Art von mentalem Geplapper, als die telepathisch begabteren Anwesenden ihre Gedanken energisch in eine andere Richtung lenkten.

»Es war nicht meine Absicht«, murmelte sie, während ihr Zorn wuchs.

»Immer noch keine bessere Abschirmung als eine Zwölfjährige?

Bronwyn, du bist die Mutter von drei Kindern …«

»Und bald von vieren«, unterbrach sie ihn. Sie hob ein wenig die Stimme. »Mein Lord, ich bin müde.« Sie wandte sich den in der Halle Versammelten zu. »Meine Lords, meine Ladies, leider muss ich mich früh zurückziehen. Das braucht niemandem anders den Abend zu verkürzen. Isolde wird in meiner Abwesenheit für euch sorgen.« Eine hoch gewachsene Frau mit kastanienbraunem Haar stand an ihrem Platz neben einem Kerzenleuchter auf und verbeugte sich leicht.

In ihrem Zimmer gestattete sich Bronwyn den Luxus, Feuer mit einem schnellen Aufflammen ihres Zorns zu entzünden, statt sich der mühsamen Methode von Stahl und Feuerstein zu bedienen, die, wie ihre Lehrer gesagt hatten, besser war, solange nicht ein zwingender Grund bestand, laran zu benutzen …

Hinter ihr erklang ein leichter Schritt, und eine parodistisch tremolierende Stimme rief: »Kind, Kind, was soll denn das? War das notwendig? Er ist verkehrt, einen Drachen anzuketten, nur um Essen zu kochen!«

Bronwyn drehte sich langsam um - im achten Monat tut man das nicht mehr schnell -, und dann lachte sie halb gegen ihren Willen. Ihre jüngere Cousine Danilys stand dort, gebückt, auf einen imaginären Stock gestützt. Eine Sekunde lang lastete hohes Alter auf ihr; dann lachte auch sie. Den ›Glanz‹ abschüttelnd, kam sie ans Feuer und sah auf Bronwyn hinunter. »Wie schön wäre es, wenn ich das tun könnte, wann immer ich Lust dazu habe! Hat Donal dich wieder mit seinen militärischen Ausführungen gelangweilt, Bron?«

»Gesegnete Cassilda, ja! Er fand kein Ende. Oh, Danilys, warum bin ich immer noch so töricht, dass ich mir wünsche, er würde dann und wann mit mir reden? Früher hat er das getan, weißt du. Damals pflegten wir unsere Gedanken voreinander zu öffnen. Dann gingen die Kämpfe wieder los, und er war nicht einmal zu Liriels Geburt hier. Als er dann schließlich nach Hause kam, war es, als sei sein Geist ebenso erschöpft wie sein Körper, und ich war in nicht viel besserem Zustand. Nicht etwa, dass ich besondere körperliche Beschwerden gehabt hätte«, setzte sie hinzu. »Ich bin recht gut im Kinderkriegen. Nur haben die Kinder unglücklicherweise das falsche Geschlecht.«

»Dieses auch?«, fragte Danilys mitfühlend.

»Diesmal habe ich mich geweigert, mich überwachen zu lassen.

Blicke nicht so entsetzt drein! Wenn ich erführe, dass auch dieses Kind wieder ein Mädchen ist, würde ich wohl wütend werden, ob ich wollte oder nicht. Das wäre zu gefährlich für das Ungeborene - ich habe eine Menge laran, aber du weißt ja, Vater holte mich aus dem Neskaya-Turm zurück und verheiratete mich, bevor ich richtig gelernt hatte, es zu kontrollieren.«

»Ja, ich weiß.« Danilys war für einen Augenblick niedergeschlagen.

Dann … »Nun, breda, wir werden Liriel ein kleines Schwert statt einer Puppe machen und sie Taktik statt Handarbeit lehren müssen. Nein, vielleicht ist es besser, sie lernt beides. Dann kann sie die Leute wieder zusammennähen, nachdem sie sie besiegt hat, und sich das phantastischste Schwertgehenk aller Zeiten machen.«

»O ja!«, lachte Bronwyn. »Ganz mit rosa Blümchen bestickt, damit niemand behauptet, sie sei keine Dame.«

Danilys raffte ihre Röcke und vollführte eine wilde Pantomime von Angriff und Abwehr. Sie schoss im Zimmer umher und stellte beide Gegner dar, und dabei wurde ihr schlaksiger, magerer Körper plötzlich anmutig. Gerade sprang sie geschickt über einen kleinen Schemel, als Donal den Raum betrat.

Sofort wurde es still. Er verbeugte sich steif vor beiden Frauen und wandte sich dann Bronwyn zu. »Meine Liebe, wenn du die Halle unter dem Vorwand verlässt, du seist müde, wäre es ratsam, keinen solchen Lärm zu veranstalten, dass ich persönlich heraufkommen und nachsehen muss, ob wir von Räubern angegriffen werden.«

»Im Turm, hundert Fuß hoch?«, fragte Danilys. »Jedenfalls mache ich den Lärm. Schreie mit mir herum.«

»Ich schreie nicht.« Doch er war dicht davor, dachte Bronwyn.

Diese Unbeherrschtheit sah ihm nicht ähnlich. Verwirrt und ein bisschen besorgt wollte sie Kontakt mit seinem Geist herstellen und war schockiert, dass er sich vollständig abschirmte. Niemals, nicht einmal bei diesem schlimmen Streit nach der Geburt des dritten Mädchens hatte er sich vor ihr so verschlossen, als seien sie nicht einmal miteinander verwandt. Er sah sie finster an - sehen seine Feinde diesen Blick in der Schlacht?, fragte sie sich -, stürmte hinaus und knallte auch die Tür des Zimmers zu.

Bronwyn stand wie erstarrt da. Danilys kam zu ihr und legte den Arm um sie. »Hilfst du mir, mich für die Nacht fertig zu machen?«, bat Bronwyn. »Ich glaube, ich bin wirklich müde.«

Auch Danilys hatte mitbekommen, dass etwas Entscheidendes passiert war. Das ging deutlich aus ihrem sorgfältig abgewandten Blick hervor, als sie Bronwyn bei der jetzt umständlichen Prozedur half, ihr Nachtgewand anzulegen. Sie schnürte ihr die niedrigen Filzstiefel auf, und Bronwyn brachte in dem Versuch, die im Raum herrschende Spannung zu mildern, ein Lachen hervor. »Oh, wie glücklich werde ich sein, wenn ich das wieder selbst tun kann!«

»Das wird auch mich freuen.« War das Kälte in Danilys’ Stimme?

War an diesem Abend überhaupt etwas normal?

»Danilys?«, fragte Bronwyn.

»Ich bin nicht böse auf dich, Bronwyn. Aber ich würde deinem feinen Donal gern sagen, was ich von ihm halte! Er hat doch eben Streit gesucht. Warum steckst du es übrigens ein? Brülle zurück. Das macht Spaß.«

»Mir nicht, breda. Ich verabscheue es, mich zu streiten.«

Die Behaglichkeit des breiten, mit Pelzen bedeckten Bettes machte es leicht, alle Sorgen zu vergessen. Bronwyn seufzte genüsslich, legte sich zurecht und war bald eingeschlafen.

Danilys betrachtete sie eine Weile, bis sie sicher war, dass ihre Cousine fest schlief. Dann ging sie im matten Licht des Nachtlichts zur Tür. Auf dem Rückweg zu ihrem eigenen Zimmer reagierte sie etwas von der aufgestauten Energie durch Schattenfechten mit ihrem Spiegelbild auf dem polierten Stein des Flures ab. Doch ihre Röcke behinderten sie, und sie wagte es nicht, sie hier im öffentlicheren Teil der Burg hochzuschürzen.

In ihrem Zimmer wartete sie halb träumend darauf, dass sich die Badewanne aus der durch den Fußboden führenden Warmwasserleitung füllte. Vielleicht konnte sie sich den Entsagenden anschließen … Stimmte es wirklich, dass man dazu alle Familienbande zerschneiden musste? Die Freien Amazonen, die sie in der Nähe von Cuillincrest auf der Straße gesehen hatte, schienen sehr gut im Stande zu sein, für sich selbst zu sorgen, aber waren sie nicht recht einsam? Andererseits - was könnte sie dann alles lernen! Und es stände ihr frei, zu reisen. Sie wusste, dass Amazonen als Reiseführerinnen für Damen arbeiteten, und abgesehen von der Gefahr, eine Zeit lang eine verzärtelte Lady auf dem Hals zu haben, musste es ein ideales Leben sein. Dann bliebe es ihr erspart, mit irgendeinem dummen Kerl verheiratet zu werden. Es mangelte ihr fast völlig sowohl an nützlichem laran als auch an einer Mitgift. Da würde es wahrscheinlich ein Witwer sein, und die zweite Frau sollte dann sein Haus und seine Kinder versorgen, deren Geburten der ersten das Leben gekostet hatten.

Das führte sie wie immer, wenn sie über die Entsagenden nachdachte, zu Bronwyn. Wie konnte sie ihre Cousine verlassen, die vermutlich noch lange Zeit alle drei Jahre zwei Babys bekommen würde? Danilys war der Ansicht, für Bronwyn sei es besser, wenn sie ihre Ehe endlich als das politische Arrangement, das sie war, akzeptierte und aufhörte, sich zu grämen. Donal hatte aufgehört, sich verliebt zu gebärden, na und? Nach allem, was sie gesehen hatte, taten das fast alle Männer früher oder später. Sie hatte nie Gelegenheit gehabt, herauszufinden, ob die seltenen Freipartnerschaften zwischen Frauen besser funktionierten. Bronwyn war jedenfalls immer sehr romantisch gewesen, und sie besaß weit mehr laran als die meisten Frauen außerhalb eines Turmes. Das wäre der richtige Ort für sie gewesen. Doch das einzige Kind des Lords einer Domäne durfte nicht an einen Turm verschwendet werden.

Danilys riss sich aus ihren Gedanken los und fand sich vor einer Wanne mit eiskaltem Wasser wieder. Sie wusch sich hastig damit, sprang ins Bett und rollte sich fest zusammen.

Ihr Schlaf war leicht, vielleicht, weil ihr kalt war. Kurz vor dem Morgengrauen wachte sie plötzlich mit dem überwältigenden Gefühl auf, es sei etwas nicht in Ordnung. Sie konnte nichts Ungewöhnliches hören, aber das Gefühl war zu stark, als dass es sich hätte ignorieren lassen. Wenn der Grund nichts weiter war als ein Alptraum, der ihrem Gedächtnis entfallen war, würde sie sich eben höchst demütig entschuldigen müssen.

Schnell stand sie auf und wickelte sich in ihren alten wollenen Morgenrock. Es dauerte entsetzlich lange, bis sie ihre Pantoffeln gefunden hatte. Dann lief sie die Korridore entlang zu Donals Zimmer.

Es war Pech, dass er nicht allein und deshalb noch weniger als sonst geneigt war, der sich als Mannweib gebärdenden Cousine seiner Frau Beachtung zu schenken. Danilys war noch dabei, neue Drohungen zu erfinden, was sie alles tun wolle, wenn er die Schildwache nicht benachrichtigen lasse, als am Westtor ein Aufschrei ertönte und die Alarmglocke wie wild geläutet wurde.

»Und die Hälfte der Männer ist auf Urlaub zu Hause!«, stöhnte Donal. Er sprang aus dem Bett und rannte zur Treppe. Im Laufen zog er sich an. Kurz darauf hörte man ihn Befehle brüllen.

Danilys wandte sich dem hübschen Mädchen zu, das diese Nacht sein Bett geteilt hatte. Sie schien immer noch halb im Schlaf zu sein.

»Weißt du, wo Isolde schläft?«, fragte Danilys. Das Mädchen nickte.

»Gut. Geh bitte zu ihr und sage ihr, sie soll warmes Essen für die Männer kochen und einige der Frauen zusammenrufen, die sich um die Verwundeten kümmern können. Ich komme gleich nach, ich muss nur zuerst nach Lady Bronwyn sehen.«

Bronwyn war bereits wach. »Wir werden angegriffen?«, fragte sie.

»Ich fürchte, ja. Donal ist bereits draußen auf den Mauern. Wie fühlst du dich?«

»Oh, es geht schon. Hilf mir beim Anziehen, dann gehe ich in die Halle hinunter. Dort kann ich mich nützlich machen.« Sie ließ Danilys, die protestieren wollte, nicht zu Wort kommen. »Chiya, ich weiß, dir liegt mein Wohlergehen am Herzen, aber wenn ich hier oben sitze und nichts tue, werde ich wahnsinnig.«

»Also gut, ich helfe dir!« Danilys brachte Bronwyn in ihre Kleider, eilte in ihr Zimmer zurück und zog sich selbst ebenfalls an.

Die Dienerschaft zu organisieren machte wenig Mühe; die meisten Leute hatten eine Menge Erfahrung in der Verteilung von Essen und medizinischer Betreuung. Trotzdem traf der erste Verwundete ein, ehe die ganzen Vorbereitungen beendet waren.

Anfangs waren es wenige, und es handelte sich größtenteils um geringfügige Verletzungen. Da konnte ein Mann noch lachen und durch das Scherzwort eines Mädchens und einen Becher Wein von seinen Schmerzen abgelenkt werden.

Dann kamen mehr Männer mit schwereren Wunden, und die Heilerin, die sich bereits in der Burg befand, um Bronwyn bei der Entbindung beizustehen, hatte stattdessen alle Hände voll zu tun, um innere Blutungen zu stillen oder den Herzschlag eines Mannes zu stabilisieren. Danilys wusste nicht, wie lange Bronwyn schon dagestanden hatte, die Hand an die Seite gedrückt, als sie sie endlich entdeckte.

»Bronwyn?« Keine Antwort. »Bron, bitte, breda, ist es das Baby?«

»Was? Nein - Donal ist verwundet worden. Er will die Mauer nicht verlassen! Aber das wird er müssen, und wenn ich hinausgehen und ihn wegzerren muss.« Ihr Blick richtete sich wieder ins Leere, und Danilys erriet, dass sie sich mit Donal herumstritt.

Eine Bestätigung dafür erhielt sie, als er ein paar Augenblicke später mit finsterem Gesicht in die Halle hinkte. »Verdammt noch mal, Bron, was meinst du wohl, warum ich gelernt habe, dich abzublocken?

Willst du uns alle töten, das Ungeborene eingeschlossen? Wie kann ich gleichzeitig kämpfen und mit dir streiten! Wenn ich nicht so verdammt müde wäre, hättest du es nicht fertig gebracht!« Danilys schob ihm einen Stuhl in die Kniekehlen, und er ließ sich schwer darauf niedersinken.

»Du auch?«, stöhnte er.

»So, wie du stehst, ist das eine schwere Wunde, Donal. Lass sie dir von jemandem verbinden - ja, ich weiß, das kostet Zeit. Aus diesem Grund wirst du mir deine Rüstung und dein Schwert geben, und ich werde hinausgehen und die Männer überzeugen, dass du, der zähe Brocken, immer noch da bist und das Kommando führst.« Sie nahm ihm den Helm ab, während er sie noch mit offenem Mund ansah, aber mit dem Kettenhemd war es eine andere Sache. Donal hielt die Arme fest an die Seiten gepresst und wurde von der Anstrengung immer bleicher.

»Donal! Bitte, was soll es nützen, wenn du hinaustaumelst und das Bewusstsein verlierst? Ohne dich, der Befehle geben kann, oder jemanden, den sie für dich halten, wird alles auseinander fallen. Lass deine Wunden versorgen, iss etwas. Ich weiß, du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen. Erlaube mir, nur diese kurze Zeit für dich einzuspringen. Das ist eine Belagerung, keine offene Feldschlacht. Ich werde in nicht viel größerer Gefahr sein als hier drinnen, wo mich irgendein Diener mit einem Suppenkessel umrennen kann.«

»Danilys, hast du den Verstand verloren? Hier wird nicht von Kindern um Schneeburgen gekämpft! Meinst du, weil du nie gelernt hast, eine Dame zu sein, kannst du stattdessen den Anführer im Krieg spielen?«, brüllte Donal.

Die Heilerin legte sich ins Mittel. »Sir, lasst mich doch Eure Wunden verbinden. Das muss auf jeden Fall sein. Ich brauche Euch nicht einmal zu überwachen, um das zu erkennen.«

Einen Augenblick lang machte es den Eindruck, als höre Donal sie nicht einmal. Bronwyn sah, dass er im Geist anderswo war, wahrscheinlich draußen im Kampf, obwohl seine alte Gewohnheit, seine Gedanken ständig abzuschirmen, sie daran hinderte, Sicherheit zu erlangen.

Schließlich seufzte er und kehrte in die Realität zurück. »Ich wünschte, du hättest laran, Danilys. Dann könnte ich dich von hier aus führen. Aber so, wie es ist, kann ich mir nicht vorstellen …«

»Donal, du kannst mir sagen, was jetzt zu tun ist. Du hast selbst einmal gesagt, diese Burg sei der Traum eines Verteidigers. Was Kinderspiele angeht, nun, ich war gut beim Kampf um Schneeburgen.

Außerdem konnte ich die anderen dazu bringen, mir zu gehorchen!«

So war es, erinnerte Bronwyn sich. Sie sah Danilys in ihrem ausgewachsenen Kleid mit dem abgetretenen Saum noch vor sich, wie sie eine Horde leicht verwirrter Kinder, Bronwyn auch darunter, zum Sieg führte, indem sie einen Rabbithorn-Pfad hochkletterte und so auf die Rückseite einer Schneeburg gelangte. Und ich verabscheute das Kriegspielen!, dachte sie.

»Ich hoffe, du hast Recht, Bron«, sagte Donal müde. »Meine Glieder sind zu steif geworden, während ich hier herumgesessen habe.

Wenigstens wird ihr die Rüstung passen. Hör gut zu und lerne schnell, Danilys. Wir waren auf dem Weg zum Sieg, als ich gehen musste, aber diese Idioten verschenken ihn, indem sie sich darum streiten, wer zu befehlen hat. Versuche bloß nicht, deine eigenen glänzenden Einfälle zu verwirklichen! Und bleibe außer Pfeilschussweite.«

Danilys nickte. Ihre Augen glühten. »Ja, das verspreche ich. Komm, ich helfe dir, das Kettenhemd auszuziehen.«

Es bestürzte sie, wie viel Hilfe er brauchte, um die Rüstung abzulegen. Sie winkte Margolys, der Heilerin, schnell zurückzukommen. Während Margolys sich um ihn bemühte, hörte Danilys zu und konzentrierte sich, wie sie es seit damals, als sie auf irgendwelche Spuren von ausbildungsfähigem laran getestet worden war, nicht mehr getan hatte. Dann nahm sie die Rüstung und das Schwert ihres Cousins und ging durch eine kleine Seitentür hinaus.

In Donals Zimmer nahm sie sich eine Hose von ihm. Sie wand sich in das Kettenhemd, und ihre Hand zitterte ein bisschen. Bitte, Evanda und Avarra! Lasst mich dies durchführen. Lasst mich den Glanz nur einmal dazu benutzen, um eine Illusion nach meinem Willen zu erzeugen! Mit allem Übrigen werde ich dann schon fertig. Ich habe Donal im Lauf der Jahre oft genug zugehört, um seine Taktik zu kennen. Aber ich brauche einen Glanz!

Mit freudigem Staunen fühlte sie ihn kommen. Die Welt wirkte jetzt in die Ferne gerückt, und alles Geschehen schien sich ein bisschen verlangsamt zu haben.

Sie eilte wieder nach unten und hinaus in den Kampf. Es stimmte, jeder Häuptling von jedem kleinen Clan, der Donal dienstpflichtig war, hatte seine eigene Vorstellung, wie die Schlacht zu schlagen war.

Danilys schritt vor und brüllte so laut, dass sie durch den Kampfeslärm und den auffrischenden Wind zu verstehen war.

Bronwyn hatte gesehen, wie die Tür sich hinter Danilys schloss.

Donal lehnte den Kopf an ihre Schulter. Wenigstens kennt Danilys sich da draußen aus, dachte sie. Als wir beiden nach Cuillincrest kamen, habe ich immer auf sie eingeredet, es schicke sich absolut nicht für meine Cousine, auf die Zinnen zu klettern und mit Wachposten zu plaudern.

Die Heilerin bat besorgt: »Wollt Ihr mir erlauben, Euch zu überwachen, vai dom? In Euch ist mehr an Schmerz und Schwäche, als sich durch diese Schwertwunde erklären lässt.«

Er runzelte die Stirn, verlagerte leicht das Gewicht und versuchte, einen bestimmten Schmerz unter all den Prellungen und gezerrten Muskeln herauszufühlen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er eine Wunde empfangen und nichts davon gewusst hätte, bis ihn jemand anders darauf aufmerksam machte. Seine Barriere sei zu gut, hatte ihm einmal eine Heilerin gesagt. Er änderte noch einmal seine Lage, entspannte sich bewusst, damit die Heilerin ihn gründlicher überwachen konnte.

Plötzlich fasste Margolys nach weiterem Verbandsmaterial.

»Schnell, helft mir, ihn flach auf den Rücken zu legen!«, befahl sie Bronwyn. Bronwyn warf ihren Mantel auf den Boden, und gemeinsam legten sie Donal darauf. Eine Wunde hoch oben an seinem rechten Bein war wieder aufgerissen, und Bronwyn war mit ihm von würgender, kalter Übelkeit gepackt worden.

»Versucht nicht, in Rapport zu bleiben, vai domna«, warnte die Helferin. »Ihr und Euer Kind könnt die Kraft nicht entbehren.«

Zweifellos hatte Margolys Recht. Gnädige Avarra, wie tat ihr der Rücken weh! Und doch, dachte sie, was ich am meisten satt habe, sind das Warten und die Angst und meine Unfähigkeit, irgendetwas für irgendjemanden zu tun, nicht einmal für meine Töchter. Es scheinen weniger Verwundete hereinzukommen, aber ist das gut oder schlecht?

Donal hat bestimmt nicht gewollt, dass Danilys so lange draußen bleibt.

Mit dem Wunsch, sich nützlich zu machen, sah sie sich um. Nicht weit von ihr lag weiteres Verbandszeug, und es würde gebraucht werden. Sie stemmte sich hoch und holte es.

Als sie zurückkehrte, stellte sie voller Entsetzen fest, dass Donals Wunde noch stärker blutete und Margolys von der Anstrengung, ihn am Leben zu halten, bläulich weiß war.

Ganz gleich, was es mich kosten wird, entschloss sich Bronwyn, ich werde nicht einfach herumstehen und zusehen, wie er stirbt!

Sie warf sich in den Rapport und wich dabei Margolys’ zelltiefen Bemühungen, die Blutung zu stillen, aus. Trotz ihrer Verzweiflung wusste sie, dass sie dort nicht von Nutzen sein konnte; dazu brauchte man eine jahrelange Ausbildung. Aber ich kann ihm helfen, gegen den Tod anzukämpfen, dachte sie. Sein Wille, immer so stark, darf ihn jetzt nicht im Stich lassen.

Es war, als trete sie auf eine weite Ebene, wo alle Farben auf merkwürdige Weise verkehrt waren. In weiter Ferne sah sie ihn ganz deutlich. »Donal!«, rief sie. »Donal, warte!«

Nichts war zu spüren als ein wortloses Gefühl des Ärgers und des Bedauerns, weil so viel ungetan geblieben war, und eine schreckliche Einsamkeit. Dann erkannte er sie, und seine Gedanken rissen sie in eine leidenschaftliche Umarmung. Noch nicht!, riefen beide aus.

Bronwyn kämpfte, um sie beide bei Bewusstsein zu halten und seine Schwäche zu besiegen. Ein helles Licht blitzte auf, und da saß sie und sah die Heilerin verwirrt an.

Margolys blickte ihr ins Gesicht. »Verzeiht mir, domna. Ihr konntet ihn nicht retten, und Ihr hättet Euch selbst verlieren können. Das habe ich schon miterlebt.« Sie wartete, bis sie das Begreifen in Bronwyns Augen aufdämmern sah, und fuhr dann schnell fort: »Domna, Ihr dürft nicht um ihn weinen! Denkt daran, alle glauben, er leite den Kampf!«

Bronwyn nickte, wickelte sich in ihr Umschlagtuch und versuchte zu überlegen, was sie als Nächstes tun solle. Dann wurde ihr klar, dass sich jemand anders mit dem Problem befassen musste. Sie selbst würde vollauf beschäftigt sein … »Kommt zu mir, sobald Ihr die Verwundeten allein lassen könnt, Margolys«, sagte Bronwyn.

Draußen brach der Sturm los, und Danilys fluchte. Dicke nasse Tropfen fielen nieder und gefroren beim Aufprall. Auf ihren Befehl hin entspannten die Schützen in aller Eile ihre Bogen, um die kostbaren Sehnen zu schützen. In diesem kreiselnden Wind konnte sowieso niemand zielen.

Der Angriff schien an Schwung zu verlieren. War es möglich, dass ihnen das Wetter zu Hilfe kam? Danilys spähte vergebens in das Unwetter hinaus, fluchte von neuem und ging zur Nordmauer. Dort würden die Angreifer den Wind im Rücken haben.

Auf halbem Weg begegnete ihr ein Bote. »Sie schleppen Sturmleitern heran!«, keuchte er.

»Woher haben sie die, in Zandrus Namen? Nein, lass nur, ich weiß, das kannst du nicht wissen. Sag Dhuglar, er soll seine Pikenträger hinüberschicken, vielleicht können sie die Leitern wegstoßen, falls die Räuber so weit kommen. Verdammt sei dieses Wetter!« In ihrer Hast, selbst an die bedrohte Stelle zu kommen, rutschte sie auf einer vereisten Stelle aus und wäre beinahe gefallen.

Dann grinste sie. Sie war nicht die Einzige, die ausrutschen und fallen konnte! »Bringe Dom Cerdic zu mir, schnell!«, befahl sie dem Boten, der ihr gefolgt war.

Ihr Glück hielt an; der Bote fand ihn in der Nähe. Der Anführer von Donals Leibgarde, dachte Danilys, würde noch am ehesten den merkwürdigsten Befehlen gehorchen.

»Cerdic, habt Ihr zehn Männer übrig, die unsere größten Wasserkessel an die Nordmauer tragen können?«

»Wasser, vai dom?«

»Ja, Wasser. Gießt es auf die Mauern, den Boden - bei diesem Sturm wird es so glatt werden, dass die Angreifer sich selbst nicht werden aufrecht halten können, von einer Sturmleiter ganz zu schweigen.«

Cerdic sah sie groß an, dann lachte er. »Richtig!«, schrie er und war, immer noch lachend, verschwunden.

Nach dem frischen wurde bald Schmutzwasser von der Nordmauer gegossen. »Langsam - lass es frieren!«, rief Danilys. Aber das Wasser, das nicht fror, floss nach unten und verwandelte den vorher schon nassen Boden in einen Sumpf. Von Eis und Schlamm behindert, unfähig, sich gegen die von oben geschleuderten Speere zu schützen, entflohen die Räuber.

Margolys hatte die Verwundeten ihren Helferinnen unter dem Burgvolk übergeben. Sie traf im Zimmer von Bronwyn ein, als diese sich gerade tränenblind abquälte, ihr Übergewand auszuziehen.

Dankbar überließ sie sich den Händen der Heilerin.

Diese Geburt war schwerer als die früheren. Der Lärm draußen hinderte Bronwyn daran, mit Margolys zusammenzuarbeiten, um ihre Atmung und ihre Anstrengungen abzustimmen. Ihr eigener Kampf und der Kampf der Männer schienen zu verschmelzen, und -

gnädige Avarra! - sie war so müde. »Nur noch ein bisschen mehr, domna, nur noch ein bisschen. Jetzt, Herzchen, jetzt! Er ist beinahe da.« Margolys log niemals. Also noch einmal.

Das Schreien von Bronwyns erstem Sohn ging beinahe unter im Siegesgebrüll von den Zinnen der Burg.

Unten kamen die Männer in die Halle zurückgetrampelt. Ausrufe des Triumphes und das Rasseln von Rüstungen mischten sich mit Forderungen nach Essen und dem Geklapper von Töpfen.

Danilys blieb ein Stück zurück und sammelte Kraft dafür, den Helm und damit ihre Verkleidung abzunehmen. Sie hatte gefühlt, wie der Glanz sie verließ, als die Räuber entflohen, und jetzt wurde ihr ihre Müdigkeit bewusst.

Zum ersten Mal seit mehreren Stunden fragte sie sich, wo Donal sei.

Anfangs hatte sie gefürchtet, sein Bote werde erscheinen, wenn es unmöglich war, dass sie den Platz wieder mit ihm tauschte, und dann hatte der Kampf ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht.

Jetzt machte sie sich echte Sorgen, vor allem, als es in der Halle ruhig wurde. War Donal tot? Sie wagte sich aus einem Alkoven heraus und sah Margolys auf der Estrade stehen. Sie hob triumphierend ein Bündel in die Höhe, und das Bündel gab einen kräftigen Schrei von sich. »Wir haben unsere Schlacht auch gewonnen!«, rief die Heilerin. »Seht hier Lord Donals Sohn!«

Von neuem brauste Jubelgeschrei durch die Halle. Danilys taumelte, als einer ihrer Nachbarn ihr herzhaft auf den Rücken schlug und etwas murmelte, das selbst Donal für ein wenig obszön gehalten hätte.

Sie erstickte fast unter dem Helm, aber sie behielt ihn auf. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Die Menge schob sie auf die Estrade zu. Im Namen aller Götter und Göttinnen, was sollte sie sagen, wenn sie dort angekommen war?

Margolys kam ihr auf der obersten Stufe entgegen. Danilys beugte sich vor, um ihr das Baby abzunehmen, und flüsterte dabei: »Donal?«

Ebenso leise antwortete Margolys: »Tot, vai domna.«

Die Trauer um ihn muss warten, dachte Danilys und zwang sich, die Estrade zu betreten. Wenn die Männer erfuhren, was sie getan hatte, würde sich ein Lärm erheben, neben dem das Schlachtgetöse leise war.

Nun, bisher hatte die Frechheit gesiegt, warum nicht auch jetzt!

Danilys gab Margolys ihren kleinen Cousin zurück und nahm den Helm ab. »Hier ist die schlechte Nachricht nach der guten!«, rief sie.

»Lord Donal ist tot!«

In der Halle wurde es für einen Augenblick vollständig ruhig. Dann füllte sie sich mit dem Gebrüll zorniger Männerstimmen, noch heiser vom Kampf, die einander fragten, was in den neun Höllen dieses Mädchen sich eigentlich denke, warum sie sie betrogen habe und was sie dagegen unternehmen sollten.

Es schien unmöglich zu sein, sie wieder zu beruhigen. Danilys’

ersten beiden Versuche hatten keinen Erfolg. Sie fühlte sich einer Panik nahe. Irgendwie musste sie die Kontrolle zurückgewinnen.

»Das ist mir egal!«, überbrüllte ein Mann die anderen. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber es riecht verdammt komisch, und ich reite nach Hause! Wir wissen nicht, wie und wann Lord Donal gestorben ist!«

»Sei kein Idiot«, entgegnete ein anderer. »Willst du im Sturm umkommen oder den Räubern in die Hände laufen? Möchtest du sie darauf bringen, dass sie nachsehen kommen, was an Verteidigern noch hier ist? Ich habe genug von deinen blöden Einfällen!«

»Ja! Denkt nach! Ihr alle!«, rief Danilys in die nun folgende relative Stille hinein. »Ihr alle wisst, dass es im Kampf einen Anführer geben muss. Eine einzige Stimme muss befehlen, oder die Heerschar löst sich auf, und die Feinde töten die Männer einen nach dem anderen.

Ich gedachte, die Führerschaft nur für kurze Zeit zu übernehmen, damit Lord Donal sich seine Wunden verbinden lassen könne. In allem, was ich getan habe, bin ich seinen Anweisungen gefolgt. Als keine Boten mehr von ihm kamen, musste ich weitermachen. Und wir haben gesiegt!

Mein Cousin ist tot, ja. Aber wollt ihr seine Familie mit ihm umbringen? Seine Frau, seinen Erben, den eben geborenen Sohn?

Verlasst uns jetzt nicht! Gebt uns ein paar Tage, dass wir entscheiden können, wie es jetzt weitergehen soll. Dann hört uns an und entscheidet euch, ob ihr den alten Treueeid erneuern oder neue Verbindungen eingehen wollt.« Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen, und beobachtete die Männer.

Sie waren weit davon entfernt, überzeugt zu sein, aber sie waren müde und bereit, die Sache eine Weile ruhen zu lassen. Der Mann von vorhin schüttelte jedoch den Kopf und empörte sich: »Geführt von wem? Von dir? Eine Frau kann keine Burg verteidigen.«

»Diese Frau hat es soeben getan, Freund!«, schoss sie zurück. »Und du warst unter den Ersten, die gesprungen sind, um mir zu gehorchen! Doch nun - um der Liebe aller Götter und Göttinnen willen, wir wollen alle essen und uns säubern und uns versorgen lassen.« Sie winkte Isolde, und die Haushälterin schickte ihre Mädchen mit Schüsseln voll gutem, dickem Eintopf, Nussbrot und Krügen mit Heidebier zwischen die Männer. Bald waren sie bereit, alle Probleme auf morgen zu verschieben.

Danilys zog Cerdic und die Häuptlinge der beiden größten Clans auf die Seite und erklärte ihnen, sie müsse erst mit Bronwyn sprechen, bevor sie eine feste Entscheidung über das, was zu tun ist, fällen könne. Sie sollten sie jedoch sofort benachrichtigen, wenn es ernsthafte Unruhe unter den Männern gebe, und sich keine Gedanken machen, ob sie sie störten.

Cerdic sah sie ernst an. »Ihr braucht Euch nicht zu sorgen, vai domna«, sagte er. »Sie wären Narren, wenn sie jemanden verlassen würden, der beim ersten Versuch einen Kampf so gut leiten kann -

und das werde ich ihnen auch sagen!«

Danilys murmelte eine Antwort, die auf schickliche Art bescheiden, aber nicht schüchtern war, und ging nach oben zu Bronwyn. Die Burgherrin lag auf der Seite und lächelte im Schlaf. Danilys zögerte, sie zu wecken. Vielleicht hatte es Zeit …

Aber Bronwyn war eine zu starke Telepathin, um lange weiterzuschlafen, wenn jemand im Zimmer so intensiv dachte. Sie starrte Danilys einen Augenblick verwirrt an, und dann lächelte sie.

»Du hast es geschafft! Ich wusste, wir hatten gesiegt, aber ich schlief ein, bevor ich herausgefunden hatte, was mit dir war. Oh, Dani, ich hätte es nicht ertragen, auch dich zu verlieren!«

Danilys trat schnell an ihr Bett und beugte sich über sie. »Dani, deine Rüstung!«, protestierte Bronwyn.

»Entschuldige, daran habe ich nicht gedacht.« Danilys wand sich aus Donals Kettenhemd, und dann umarmte sie ihre Cousine. »Wie geht es dir, breda? Fühlst du dich gut genug, um dich zu unterhalten?«

»O ja, ich habe mich vollständig ausgeruht, mir ist nur ein bisschen

… schwindelig.«

»Nun, ich bleibe nicht lange, oder Margolys wird mich hinausjagen.

Ich muss aber wissen, ob ich deine Zustimmung habe, wenn ich weiterhin den Befehl über die Männer führe falls sie mich lassen -, zumindest so lange, bis wir über die Zukunft eine Entscheidung getroffen haben.«

»Ja, natürlich, ich werde es unseren eigenen Hauptleuten morgen sagen.« Keine von beiden war in diesem Augenblick geneigt, sehr weit in die Zukunft zu blicken. Schweigend saßen sie beieinander, bis Margolys kam und Danilys in ihr eigenes Zimmer und zu der gewaltigen Mahlzeit scheuchte, die Isolde hinaufgeschickt hatte.

Danilys blieb gerade noch lange genug wach, um das Essen hinunterzuschlingen.

Ob durch die Gnade eines Gottes oder weil der Winter in der Tat schnell näher rückte, die nächsten paar Tage waren ruhig. Donal, Lord Rockraven, wurde beerdigt. Seine Lady weinte ein bisschen heftiger, als der Brauch es erforderte, zeigte aber mehr Vernunft, als einige, die sie kannten, erwartet hatten.

Drei Tage nach der Beerdigung traf ein Bote ein, was alle überraschte. Der Winter mochte in diesem Jahr bisher mild gewesen sein, aber kein Winter ist eine gute Zeit zum Reisen.

Der Mann bekam zu essen, und dann empfing Lady Bronwyn ihn in der kleineren Halle der Burg. Wie sie zu Danilys sagte, weigerte sie sich, in der großen Halle für irgendwen, der nicht der König selbst war, zu frieren.

So erwartete den Boten eine müde wirkende Frau in einem Raum, dessen verblichene Wandbehänge es kaum schafften, den kalten Zugwind fern zu halten. Damit schien jedes Haus, in dem er auf seiner Reise gewohnt hatte, geplagt zu sein. Nur zwei Gardisten waren anwesend, und eine weitere Frau stand an der Stelle des Friedensmanns hinter der Lady.

Danilys sah den Boten mit grimmigem Stirnrunzeln an. Was hatte der Kerl zu grinsen. Bronwyn blickte ebenfalls finster. Sie wusste, der Bote war überzeugt, sie würden sich freuen, das huldvolle Angebot seines Herrn zu vernehmen. Da irrte er sich.

Immer noch lächelnd, überreichte der Mann ein in Wachspapier eingeschlagenes Päckchen. »Lord Serrais lässt durch mich zu Eurem Verlust kondolieren, vai domna, und bittet darum, Euch in Eurer schwierigen Situation beistehen zu dürfen.«

Lady Bronwyn schlitzte das Päckchen mit dem kleinen Essmesser auf, das ihr vom Gürtel hing, und nahm sich Zeit beim Lesen. Einen Augenblick lang saß sie ganz still. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln.

»Sagt Lord Serrais, sosehr ich die Ehre der Botschaft zu würdigen weiß, ist es doch für mich zu früh, Derartiges in Erwägung zu ziehen.

Aber Ihr müsst müde sein. Dhuglas …«, winkte sie einem der Gardisten. »Zeigt unserem Gast sein Quartier und sorgt dafür, dass er alles bekommt, was er braucht.«

Danilys erkannte auch ohne telepathische Fähigkeiten, dass Bronwyn die Botschaft nicht in der Halle, wo alle Anwesenden zuhören konnten, diskutieren wollte. Eine erstaunliche Zahl von Leuten schien plötzlich Rat über normale Winterprobleme zu brauchen, und es dauerte ein paar Stunden, bevor die beiden Cousinen in Bronwyns Gemächer entfliehen konnten.

Dort hockte sich Danilys auf das breite südliche Fenstersims und sah Bronwyn fragend an. Bronwyn verzog angewidert das Gesicht.

»Ein Heiratsantrag! Er muss ihn abgeschickt haben, sobald die Neuigkeit Serrais erreichte, und außerdem muss der Bote Pferde zu Schanden geritten haben, um so schnell hier zu sein. Dani, was soll ich tun? Ich will nicht wieder heiraten, und selbst wenn ich wollte, wie könnte ich?«

»Wir müssen uns etwas ausdenken, wie wir sie alle abweisen können, Bron«, erwiderte Danilys. »Von Serrais ist es unglaublich taktlos, dass er dir so früh geschrieben hat, aber andere werden ihm nach höflicherem Abwarten folgen.«

»Nun gut, dann suchen wir eine Lösung! Soll ich zum Studium nach Neskaya gehen und meine vier Kinder mitnehmen? ›Verzeihung, ich möchte mich um Aufnahme bewerben, um mein laran auszubilden -

ja, ich weiß, ich bin rund fünfzehn Jahre zu alt. Ja, ich habe ein paar Behinderungen; das ist Liriel, das ist Linnell, der Rotkopf ist Annilys, und hier ist Donal-Rafael, der Erbe von Cuillincrest. Die Ländereien von Cuillincrest? Oh, ich konnte mich nicht recht entscheiden, was ich damit anfangen sollte.‹ Oder vielleicht könnten wir das Gerücht ausstreuen, ich sei durch ein Fieber schrecklich entstellt worden -

doch ich glaube nicht, dass das viele abschrecken würde! Was sie wollen, ist das Land!« Bronwyn drehte sich um und sah ins Feuer.

Ihre Schultern bebten.

Danilys sprang vom Fenstersims und lief zu ihr. »Bronwyn, nicht!

Es tut mir Leid, wenn ich dummes Zeug geredet habe. Ich habe nur einen Weg gesucht, dir einen Gedanken näher zu bringen, der mir vorhin in der Halle gekommen ist, als mir klar wurde, was in dem Brief stand. Breda?« Sie berührte zögernd Bronwyns Schulter.

Bronwyn sah sie an. »Mir tut es auch Leid, Dani. Das hattest du nicht verdient. Was hast du denn für eine Idee?«

Sie hat nicht viel Hoffnung, dachte Danilys. Immerhin, ich habe in letzter Zeit Übung darin bekommen, Skeptiker zu überzeugen …

»Bronwyn, die einzige Möglichkeit, diese lästigen Freier loszuwerden, ist, dass du bereits verheiratet bist. Nein, lass mich ausreden! Es kommt heute nicht mehr oft vor, aber du weißt, dass Frauen sich immer noch in einer Freipartnerschaft zur Ehe nehmen können. Das geschieht, um eine Frau vor genau diesen unerwünschten Aufmerksamkeiten zu schützen. Ich - ich würde dich nicht wirklich binden, weißt du. Sobald Donal-Rafael alt genug ist, um allein zurechtzukommen, oder wenn du deine Meinung über eine Wiederverheiratung änderst, könnten wir die Freipartnerschaft leicht auflösen.« Sie hielt inne und wünschte sich leidenschaftlich, die Gedanken hinter Bronwyns ausdruckslosem Gesicht lesen zu können.

Dann lächelte Bronwyn, und es war das erste richtige Lächeln seit Wochen. »Mich binden? Oh, Dani, du wirst der Verlierer dabei sein!

Ich sollte es dir ausreden, aber das bringe ich nicht über mich!«

Lachend und weinend umarmten sie sich.

»Es wird Klatsch geben, das weißt du«, gab Bronwyn zu bedenken, als sie die Beherrschung zurückgewonnen hatten.

»Ja, sicher. Wir kennen die Wahrheit; manche werden glauben, wir tun es, um Donal-Rafaels Erbe zu schützen, und was die Übrigen angeht, halte ich mich an das Sprichwort: ›Sie reden. Was reden sie?

Lass sie reden!‹« Danilys grinste und strich sich die Haare aus den Augen.

Bronwyn schlenderte zu ihrem Nähkasten hinüber. »Dani, ich muss dir jetzt wohl doch ein Schwertgehenk sticken. Es kann ja ein Hochzeitsgeschenk sein.«

»O ja, bitte«, lachte Danilys. »Nur nicht mit rosa Blümchen. Ich hasse Rosa!«

Über Joan Marie Verba und ›Dieses eine Mal‹

Hier ist eine weitere Geschichte, in der es nicht um die ›Amazonen‹

als solche geht. Vielmehr ist es eine Heldensage, die auf der ›Legende von Lady Bruna‹ aufbaut - sie schildert die Kindheit der berühmten darkovanischen Heroine. Denen, die kleine Widersprüche zwischen Joans Bruna und meiner stören, schlage ich vor, das Schauspiel ›El Cid‹ von Racine und den Sophia-Loren-Film unter dem gleichen Titel mit dem spanischen Original ›Cantar del Mio Cid‹ zu vergleichen.

Legenden wachsen und werden erweitert - deshalb sind sie ja Legenden.

Joan Marie Verba ist eine bezaubernde junge Frau, die ich bei einem Con in Minneapolis, Minnesota, kennen lernte, wo das Klima fast wie auf Darkover ist. Sie hat bei allen drei Starstone-Kurzgeschichten-Wettbewerben mitgemacht, und es sind Storys von ihr in Starstone erschienen, aber dies ist ihre erste professionelle Veröffentlichung. Sie hat einen Science-Fiction-Roman geschrieben und arbeitet an einem zweiten - genau das empfehle ich allen jungen Schriftstellern für die Zeit, in der sie Ablehnungen des ersten einsammeln.

MZB

Dieses eine Mal

von Joan Marie Verba

Allira Elhalyn-Alton stand in der Eingangstür ihres Hauses und sah die Männer durch das Tor hinausreiten. Es war erst ein paar Stunden her, dass die Nachricht eingetroffen war. Dominic-Lewis, ihr Mann, hatte darauf gewartet. Baldric Kadarins Überfälle forderten einen hohen Zoll - die Menschen, die nicht auf der Stelle starben, verhungerten langsam, denn Baldric nahm Lebensmittel ebenso wie Leben. Die Ernte des vorigen Jahres war schlecht gewesen, und in diesem Jahr sah es nicht besser aus. Lord Alton hatte auf Armida Gardisten unter seinem Befehl vereinigt und ließ von Pfadfindern auskundschaften, ob Baldric wieder über die Kilghardberge komme.

Endlich war es so weit. Nur ein paar jüngere Männer zurücklassend, ritt Domenic jetzt hinaus, entschlossen, dass dieser Überfall Baldrics letzter sein solle.

Alliras Älteste stand neben ihr. »Warum müssen wir immer zu Hause bleiben?«, bemerkte sie. Statt einer Antwort zuckte Allira resigniert die Schultern und wandte sich dem Innern des Hauses zu.

Sie dachte oft, sie hätte diese Tochter Echo und nicht Bruna nennen sollen. Noch bevor Bruna laran entwickelte, war sie fähig gewesen, Alliras Gedanken auszusprechen, ehe Allira selbst sie hatte laut werden lassen.

»Lady Alton?«, fragte eine Stimme, als sie über die Schwelle trat.

»Ja?« Sie drehte sich um.

Cathal di Asturien stand vor ihr, eine Stufe tiefer, so dass sie ihm auf gleicher Höhe ins Gesicht sah. »Lord Alton hat Befehl gegeben, das Tor verschlossen zu halten und ständig einen Mann Wache stehen zu lassen«, sagte er. »Bis zu seiner Rückkehr werde ich nicht ausreiten.«

Allira nickte. »Allerdings glaube ich kaum, dass Ihr Euch mit irgendetwas anderem als der Langeweile werdet herumschlagen müssen. Baldric ist zu weit weg, um uns Schaden zufügen zu können.«

»Baldric ist nicht der einzige Räuber in den Bergen, Lady«, erwiderte Cathal.

»Wir sind lange nicht von Räubern belästigt worden.«

»Trotzdem, Lady …«

Allira winkte ab. »Ich weiß, Ihr habt Eure Befehle.«

»Ja, Lady.« Cathal verbeugte sich und stieg die Treppe hinunter.

»Ich hätte mir die Haare abschneiden und Kennards oder Gwynns Sachen anziehen sollen«, murmelte Bruna hinter Allira, sobald Cathal außer Hörweite war.

»Dein Vater hat uns gestattet, zu lernen, wie man mit einem Schwert umgeht, damit wir uns notfalls verteidigen können. Ich bezweifle, ob er dabei im Sinn hatte, wir sollten ihm in den Kampf folgen«, antwortete Allira mit ironischem Unterton.

Bruna kreuzte die Arme und wies mit dem Kopf auf die entschwindende Reihe der Reiter. »Wenn ich ein Mann wäre, dann wäre ich Erbe von Alton und würde mit ihnen reiten.«

»Und wenn ich ein Mann wäre, säße ich auf dem Thron in Thendara!«, gab Allira heftiger zurück, als es in ihrer Absicht gelegen hatte. Sie seufzte, legte den Arm um Bruna und zog sie an sich.

Bruna, kleines Echo, warum musst du mich immer an meine eigenen unerfüllbaren Sehnsüchte erinnern? Sie küsste ihre Tochter und gab sie frei. Bruna sagte nichts, sie drehte sich nur um und ging ins Haus.

Allira saß, in eine Decke gewickelt, auf der Couch vor dem Kamin und starrte ins Feuer. Als Jungvermählte hatte sie des Abends hier gesessen, um allein zu sein, und im Lauf der Jahre hatte sie sich daran gewöhnt, dieses Fleckchen als ihr eigenes Sanktuarium zu betrachten, wo sie ungestört nachdenken konnte, wenn die Familie und die Dienstboten schliefen.

Was sollte aus Bruna werden? Auch Allira litt unter den engen Grenzen, die den Frauen gezogen waren, aber sie liebte ihre Familie, und vor ihrer Heirat hatte ihr die Arbeit im Turm Freude gemacht.

Bruna zeigte weder für die Häuslichkeit noch für das laran besonderes Interesse. Aber eine andere Wahl hatte sie nicht. Es war unwahrscheinlich, dass Domenic noch sehr viel länger eine unverheiratete erwachsene Tochter im Haus duldete. Bruna würde sich für den Turm entscheiden müssen, wie es Allira in ihrem Alter getan hatte. Was gab es denn sonst …?

Eine Tür knallte zu und riss Allira aus ihren Gedanken. Sie warf die Decke beiseite, glättete ihr zerknittertes Kleid und ging aus der Halle in den Eingangsflur, um nachzusehen.

»… alle Männer, die du erreichen kannst! Beeile dich!« Damit schlug Cathal dem anderen Gardisten auf die Schulter. Der Mann, der mit dem Rücken zu Allira stand, nickte und eilte davon.

»Was ist los?«, fragte Allira ruhig.

»Männer kommen von den Höhen herunter, Lady Alton.« Cathal sprach rasch. »Ich habe Lorenze gesagt, er solle die Dienerschaft wecken und die Männer zusammenholen. Die Frauen und Kinder müssen an einen sicheren Ort gebracht werden.«

»Räuber?«

»Ich weiß es nicht, Lady, aber Vorsicht ist immer gut. Sie ziehen nicht die Straße entlang, und sie geben sich Mühe, nicht gesehen zu werden, wenn sie sich dabei auch ungeschickt anstellen.«

»Wir haben einen Keller mit einem starken Schloss auf der Innenseite«, schlug Allira vor. »Es geht neben der Küche hinunter. Ich hole die Kinder.«

Ohne auf eine Zustimmung zu warten, lief Allira nach oben, riss die erste Tür auf, trat ans Bett der Kinderfrau und rüttelte sie wach.

»Charlena, wecke alle Kinder und bringe sie nach unten in den Kräuterraum - auf der Stelle. Männer kommen in diese Richtung. Ich hole das Baby.«

Charlena sah sie mit großen Augen an, dann nickte sie, stieg aus dem Bett und zog sich einen Morgenrock über.

Die Tür zu ihrem eigenen Zimmer flog gegen die Wand und weckte Linnea auf. Sie war da, wo Allira sie zurückgelassen hatte, in dem Bettchen neben ihrem Bett. Von dem Lärm erschreckt, brüllte Linnea, bis Allira sie hochnahm. Wie üblich am Morgen war sie nass. Allira schlang ein Öltuch um sie und setzte sie auf das Bett. Sie griff nach ihrer Jacke und ihrer Hose aus festem Leder. Die Hose zog sie unter den Röcken an und band sie zu, die Jacke kam über das Kleid. Dann nahm sie ihr Schwert aus dem Schrank und gürtete sich damit. Linnea sah ihr versonnen zu und lutschte dabei am Daumen. Nur gut, dass sie entwöhnt ist, dachte Allira. Sie nahm Linnea mitsamt dem Öltuch auf den Arm, raffte eine Hand voll Windeln an sich und lief auf den Flur.

»Hier, Charlena, nimm das Baby.« Sie übergab ihr Linnea und die Windeln und stieg als Erste in den Keller hinunter, gefolgt von einer Schar verschlafenen Jungvolks.

»Mami, wohin gehen wir?«

»Warum trägst du dein Schwert, Mutter?«