ZUR VERÖFFENTLICHUNG
DIESER AUSGABE
 
von Berthold Spangenberg

 

Am Ende des Jahres 1974 – der Roman ›Mephisto‹ von Klaus Mann war schon im fünften Jahr verboten – arbeiteten wir an der Sammlung der von Martin Gregor-Dellin herausgegebenen Korrespondenz von Klaus Mann.1 Zu unserer großen Überraschung fand sich ein fast vierzig Jahre alter Brief von Hermann Kesten 2, datiert Amsterdam, 15. November 1935, an den in derselben Stadt lebenden Klaus Mann.

Darin heißt es:

›Nun zum unbescheidenen Teil meines Briefes, für den ich mich gleich im voraus entschuldigen will. Da mir aber Landshoff 3 sagte, Sie suchten nach einem neuen Stoff für Ihren Roman, und da ich selbst für mich, für meinen neuen Roman, hin und her überlege, so überlegte ich mir – für mich – dieses und jenes und kam an eine Sache, von der ich glaube, daß ich sie sehr schlecht und Sie sie sehr gut machen könnten. Um es kurz zu machen, meine ich, Sie sollten den Roman eines homosexuellen Karrieristen im dritten Reich schreiben, und zwar schwebte mir die Figur des von Ihnen künstlerisch (wie man mir sagt) schon bedachten 4 Herrn Staatstheaterintendanten Gründgens vor. (Titel: ›Der Intendant‹) Dabei denke ich nicht daran, daß Sie eine hochpolitische Satire schrieben, sondern – fast – einen unpolitischen Roman, Vorbild der ewige ›Bel-Ami‹ von Maupassant, der schon Ihrem Onkel das köstliche ›Schlaraffenland‹ entdecken half. Also keine Hitler und Göring und Goebbels als Romanfiguren, kein Agitprop, keine kommunistischen ›Wühlmäuse‹, keine Münzenbergiaden 5, aber doch – etwa – auch die Ermordung dieses Berliner Schauspielers, dessen Namen mir jetzt gerade nicht einfällt.6 Das Ganze im ironischen Spiegel einer großen versteckten, freilich spürbaren Leidenschaft. Keine politischen Darstellungen. Gesellschaftssatire. Satire auf gewisse homosexuelle Figuren. Satire auf den Streber, auf – vielleicht – viele Arten Streber. Im Ganzen: der Hauptstadt erzählt, wie man Intendant wird.

Ich glaube, solch ein Stoff könnte Ihnen sehr gelingen und könnte durch die Dritte-Reich-Sphäre auch größere Chancen bieten. Ich sprach mit Landshoff darüber, und er ist gleichfalls meiner Meinung – wird es Ihnen auch wohl schreiben.

Es würde mich sehr freuen, wenn ich Ihnen eine vage Anregung zu einem ,Theater‘-roman damit gegeben hätte.‹

 

Über unseren Fund schrieb ich am 3. Dezember 1974 an Hermann Kesten:

›Übrigens: Ihr Brief vom 15. 11. 1935 enthält ja die ‚Anstiftung‘ zum ,Mephisto‘-Roman. Schade, daß wir den nicht schon zum Prozeß hatten! Zu tief saß bei einigen Richtern, die mit diesem Prozeß befaßt waren … das Vorurteil, hier sei nur eine Verunglimpfung und Herabwürdigung von Gründgens gemeint gewesen. Wenn nun so klar geworden wäre, wie aus Ihrem Brief daß der Anstoß ganz von außen kam und von einem Schriftsteller, der das künstlerische Problem in den Vordergrund stellte, vielleicht wäre der Prozeß doch anders verlaufen. Sie wissen, daß das Bundesverfassungsgericht im Februar 1971 mit einer 3:3-Entscheidung unsere Beschwerde abgelehnt hat und das Werk weiterhin in der BRD verboten ist? In der DDR und in der Schweiz erscheint es mühelos. Merkwürdig ist übrigens, daß Sie sich zu dieser Anregung zu ,Mephisto‘ nicht oder nur sehr spät bekannt haben. Noch im Gedächtnis-Buch 7, das Ihre besonders schöne Charakterisierung von Klaus Mann enthält, schreiben Sie wörtlich ,angeregt wohl von der komödiantischen Natur der nationalsozialistischen Regierung‘. Der Anreger aber waren Sie, das zeigt eben jener Brief.‹

Hermann Kesten antwortete, er hätte in der Tat das alles vergessen gehabt.

Damit sind wir bereits mitten in der Auseinandersetzung um ›Mephisto – Roman einer Karriere‹, bei dem Fall, der fast acht Jahre lang – zwischen 1964 und 1971 – die Gerichte und die Öffentlichkeit beschäftigt hat.

 

Der Ablauf, kurz erzählt: Der Roman, 1936 geschrieben, erschien erstmals im selben Jahr im Querido Verlag, Amsterdam, und zwar in deutscher Sprache. Später folgten Übersetzungen in mehrere Sprachen, bis heute liegen elf Übersetzungen vor. In Deutschland erschien der Roman erstmals 1956 im Aufbau-Verlag, Ost-Berlin.

Im Spätsommer 1963 kündigte die Nymphenburger Verlagshandlung das Erscheinen einer Werkausgabe von Klaus Mann an. Innerhalb der Ausgabe war auch der Roman ›Mephisto‹ vorgesehen.

Am 31. März 1964 erhob Peter Gorski als Adoptivsohn und Erbe des ein halbes Jahr zuvor verstorbenen Schauspielers Gustaf Gründgens vor dem Landgericht Hamburg Klage gegen den Verlag, um das Erscheinen des ›Mephisto‹-Romans in der Bundesrepublik zu verhindern.

Durch Urteil vom 25. August 1965 wurde die Klage abgewiesen. Daraufhin brachte der Verlag eine Auflage in Höhe von 10000 Exemplaren heraus. Peter Gorski legte Berufung ein und versuchte, durch eine Einstweilige Verfügung die Verbreitung zu unterbinden. Das Oberlandesgericht Hamburg beschied diesen Verfügungsantrag dahin, daß der Roman bis zur Entscheidung des anhängigen Hauptprozesses weiterhin mit folgendem Vorwort erscheinen könne:

 

›An den Leser

Der Verfasser Klaus Mann ist 1933 freiwillig aus Gesinnung emigriert und hat 1936 diesen Roman in Amsterdam geschrieben. Aus seiner damaligen Sicht und seinem Haß gegen die Hitlerdiktatur hat er ein zeitkritisches Bild der Theatergeschichte in Romanform geschaffen. Wenn auch Anlehnungen an Personen der damaligen Zeit nicht zu verkennen sind, so hat er den Romanfiguren doch erst durch seine dichterische Phantasie Gestalt gegeben. Dies gilt insbesondere für die Hauptfigur. Handlungen und Gesinnungen, die dieser Person im Roman zugeschrieben werden, entsprechen jedenfalls weitgehend der Phantasie des Verfassers. Er hat daher seinem Werk die Erklärung beigefügt: ,Alle Personen dieses Buches stellen Typen dar, nicht Porträts‘. Der Verleger‹

 

Als Verleger empfand ich die von einem Richter weitgehend formulierte Erklärung als Eingriff in das Persönlichkeitsrecht von Klaus Mann, ließ aber in die noch vorhandenen Exemplare das Vorwort einfügen. Gleichwohl untersagte dann das gleiche Oberlandesgericht durch Urteil im Hauptprozeß am 9. Juni 1966 die Verbreitung des Romans insgesamt, also auch mit dem Vorwort des Verlags. In der Revision bestätigte der Bundesgerichtshof durch Urteil vom 20. März 1968 das Verbot. Er nahm ein nach dem Tod weiterwirkendes Schutzrecht der (verstorbenen) Persönlichkeit an und erklärte es in diesem Fall als vorrangig vor dem Grundrecht der Freiheit der Kunst, auf das sich der Verlag für Klaus Mann und für mich als Verleger berief.

Mitte 1968 legte im Auftrag des Verlags Rechtsanwalt Gerth Arras Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Der Schriftsatz behandelte nicht nur die juristischen, insbesondere die verfassungsrechtlichen Aspekte, sondern befaßte sich an Hand vieler Beispiele auch mit dem Entstehungsprozeß von Kunst, besonders von Literatur (mit dem Spezialfall des Schlüsselromans), letztlich mit dem Realismus-Problem, also dem Verhältnis von Wirklichkeit und deren künstlerischem Abbild. Die Entscheidung erging am 24. Februar 1971. Sie ist im Anhang abgedruckt.

Von den sechs Verfassungsrichtern hielten drei die Verfassungsbeschwerde für begründet und drei für unbegründet. Bei Stimmengleichheit gilt die Verfassungsbeschwerde als zurückgewiesen. Aber von den drei Richtern, die in unserem Sinne die Grundrechte durch die vorangegangenen Urteile für verletzt ansahen, machten zwei, nämlich Professor Dr. Erwin Stein und Wiltraut Rupp-von Brünneck, von der ihnen gesetzlich eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, ihre abweichende Meinung schriftlich zu begründen. Sie wurden der Entscheidung des Gerichts beigefügt und beides erst am 13. Juli 1971 zugestellt. Damals schrieb eine Zeitung 8:

›Der Verleger hat, wie er gestern uns gegenüber äußerte, diesen ganzen Prozeß von vornherein politisch betrachtet. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist ihm symptomatisch für die Lage der Bundesrepublik auf dem schmalen Grat zwischen Reaktion und Fortschritt. Insofern stellt die Entscheidung tatsächlich einen negativen Text dar.‹

Der mich befragende Journalist, Erhard Becker 9, sah selbst ›den betrüblichen Zustand im Zeichen des Grundgesetzes, der besten und freiesten Verfassung, die Deutschland je besaß – wegen seiner verzweifelten Ähnlichkeit mit dem Jahr 1936, als der ,Mephisto‘ zu den in Deutschland verbotenen Büchern gehörte und sein Verfasser Klaus Mann ausgebürgert und geächtet war. Heute ist er wieder anerkannt. Sein Buch bleibt aus anderen als politischen Gründen verboten – weil der postmortale Ehrenschutz für den Schauspieler und Intendanten Gustaf Gründgens schwerer wiegt als die Freiheit der Kunst.‹

Jetzt, nach weiteren zehn Jahren, und nachdem eine große Persönlichkeit des gegenwärtigen Theaters, die Regisseurin Ariane Mnouchkine, nach Lektüre der französischen Ausgabe von ›Mephisto‹ den Stoff in Form einer Bühnenfassung nochmals aufgegriffen hat, sehe ich die Ansichten von 1971 nur bestätigt.

Man hat die Auseinandersetzung zwischen den früheren Freunden Klaus Mann und Gustaf Gründgens ein ›Duell der Toten‹ genannt. Tatsächlich hat Gründgens zu seinen Lebzeiten nicht geklagt – und alles spricht dafür, daß er selbst nie geklagt hätte –; aber er hatte seit der Aufbau-Ausgabe 1956 in Westdeutschland einiges unternommen, um drei oder vier Verlage an der Herausgabe des Romans zu hindern. Bei Klageerhebung waren dann beide ›Duellanten‹ tatsächlich tot. Klaus Mann beging 1949 Selbstmord in Cannes, Gustaf Gründgens verstarb 1963 an einer Überdosis Schlafmittel auf einer Weltreise in Manila.

Postmortales Aufsehen erregte der Streit seiner politischen Bedeutung wegen – ein Emigrant gegen einen hohen Würdenträger des Dritten Reichs, der politisch Verfolgten geholfen und durch seine Kollaboration in den Augen vieler Generationsgefährten die Tradition des deutschen Theaters über dieses Dritte Reich hinweg gerettet hatte. Aber es gibt noch den familiären Aspekt. Gustaf Gründgens war in erster Ehe mehrere Jahre mit Erika Mann, der Schwester von Klaus Mann, verheiratet. Die Ehe wurde 1929 geschieden. Und nicht ohne tragische Fügung ist es, daß wohl einer der Gründe zu Klaus Manns Freitod die Ablehnung der schon zugesagten Veröffentlichung des ›Mephisto‹-Romans durch einen Verleger in West-Berlin gewesen ist. Dieser hatte das Werk herausbringen wollen, war jedoch inzwischen wegen der politischen Verhältnisse nach Bayern übersiedelt.

Am 5. Mai 1949 schrieb er an Klaus Mann: ›Von hier aus aber kann man schlecht den ,Mephisto‘ starten, denn Herr Gründgens spielt hier eine bereits sehr bedeutende Rolle … Von Berlin aus hätte man so etwas leichter starten können: im Westen ist diese Aktion aber keinesfalls einfach.‹

Klaus Mann antwortete ihm am 12. Mai 1949, neun Tage vor seinem Tod:

 

Sehr geehrter Herr Jacobi,

Ihr Brief vom 5. Mai ist unbezahlbar! Einen Roman drucken – das heißt bei euch jetzt also ›eine Aktion starten‹. Diese Aktion, so meinen Sie – dürfte im Fall des ›Mephisto‹ ,keinesfalls einfach sein‘ und muß ergo zunächst unterbleiben. Warum? Weil Herr Gründgens … ,hier eine bereits bedeutende Rolle spielt‘.

Das heiße ich mir Logik! Und Zivilcourage! Und Vertragstreue! – Ich weiß nicht, was mich mehr frappiert: die Niedrigkeit Ihrer Gesinnung oder die Naivität, mit der Sie diese zugeben. Gründgens hat Erfolg: warum sollten Sie da ein Buch herausbringen, das gegen ihn gerichtet scheinen könnte? Nur nichts riskieren! Immer mit der Macht! Mit dem Strom schwimmen! Man weiß ja, wohin es führt: zu eben jenen Konzentrationslagern, von denen man nachher nichts gewußt haben will …

Ich darf Sie um die Gefälligkeit bitten, mir das Ihnen anvertraute Exemplar des ›Mephisto‹ (eine Seltenheit) umgehend an obige Adresse schicken zu wollen. Bitte schreiben Sie mir nicht mehr.

Hochachtungsvoll Klaus Mann

 

Diesen Brief nimmt übrigens Ariane Mnouchkine zum Ausgangspunkt ihrer dramatischen Bearbeitung des Klaus Mannschen ›Mephisto‹-Stoffes (1979), die im Théâtre du Soleil in Vincennes bei Paris weit über 200 000 Zuschauer anzog und 1980 durch Gastspiele in Berlin und München und durch Fernsehübertragungen einem großen Publikum in der Bundesrepublik bekannt wurde. (Eine Textausgabe liegt in der edition spangenberg vor.)

Der ›Mephisto‹-Prozeß gilt als der bekannteste Literatur-Prozeß der deutschen Nachkriegszeit. Überlegungen, welcher Natur der künstlerische Schöpfungsakt sei, spielen eine entscheidende Rolle.

Seltsamerweise haben Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof gemeint, es wäre dem inzwischen verstorbenen Klaus Mann, hätte er gelebt, zuzumuten gewesen, das Werk nach 1945 so umzugestalten, daß der Leser Gründgens in der Hauptfigur des Romans, Hendrik Höfgen, nicht wiedererkenne. Denn durch die Neuherausgabe in unveränderter Fassung zum damaligen Zeitpunkt (1965) würde die Ehrverletzung und Verunglimpfung von Gründgens fortgesetzt werden, die durch frühere Ausgaben bereits eingetreten seien.

Der Bundesgerichtshof sagte allerdings auch, daß mit der Zeit die Erinnerung an den Schauspieler verblasse und damit sein persönlichkeitsrechtlicher Anspruch erlöschen könnte. Zumindest sei die Befugnis des Klägers Gorski, den gesellschaftlichen Achtungsanspruch des Verstorbenen nach dessen Tod wahrzunehmen, zeitlich begrenzt. Aber auch der Bundesgerichtshof hielt daran fest, daß der Roman zum Zeitpunkt des Urteils für einen nicht unbedeutenden Leserkreis ein negativ verzerrtes Charakter- und Lebensbild von Gründgens vermittle.

Diese Formulierungen, die hier in der Sprache der Gerichte wiedergegeben werden, führen uns zu der Kernfrage des Prozesses: Handelt es sich um einen Schlüsselroman der Karriere von Gustaf Gründgens? Und wenn ja, wieweit liegt eine Lebensbeschreibung von Gründgens vor, eine Dokumentation, die (mit den Worten des Klägers) ›verfälscht‹ ist? Oder ist das Werk doch (wiederum eine Formulierung des Klägers, der sich die Gerichte bedienten) ›eine Schmähschrift in Romanform‹? Das Schwanken zwischen diesen beiden Möglichkeiten, der Kunstform des Romans und der einfachen Dokumentation, die dann in jedem Punkt stimmen muß, führte, wie die Verfassungsrichterin Rupp-von Brünneck gezeigt hat, zu logischen Widersprüchen in den Urteilen der beiden höheren Instanzen. Klaus Mann hat sich in seiner Autobiographie ›Der Wendepunkt‹ geäußert, wieweit sein ehemaliger Schwager als Vorbild diente. Leider erst nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs fand sich eine weit frühere Äußerung des Verfassers dazu, nämlich ein Telegramm, das er im Juni 1936 an die Redaktion des Pariser Tageblatts gesandt hatte:

 

Kein Schlüsselroman.

Eine notwendige Erklärung von Klaus Mann.

 

Sehr geehrte Redaktion –

es bedeutet eine große Freude für mich, daß der erste Roman, welcher im Feuilleton der mit so viel Tapferkeit, Elan und Energie gegründeten neuen Pariser Tageszeitung läuft, mein ›Mephisto‹ ist.

Ich muß aber Ihnen – und ich muß es vor allem unseren Lesern – gestehen, daß mein Vergnügen eine gewisse Einbuße erlitten hat durch die überraschende und keineswegs sehr glückliche Form, auf die Sie meinen Roman in Ihren Spalten ankündigen. Nicht ohne Schrecken bemerke ich als Überschrift Ihrer Voranzeige die Worte: ›Ein Schlüsselroman‹ – ›Ein Schlüsselroman‹? Wann hätte ein Schriftsteller, der solchen Namen irgend verdient, etwas hervorgebracht, was er mit dieser nicht gerade ehrenvollen Bezeichnung belegt sehen möchte? Ich muß protestieren – um der Würde Ihres Blattes willen, um unserer Leser willen, die zu anspruchsvoll sind, als daß sie mit ›Schlüsselromanen‹ amüsiert sein möchten; schließlich auch um meiner eigenen Würde willen.

Ich bin genötigt, feierlich zu erklären: Mir lag nicht daran, die Geschichte eines bestimmten Menschen zu erzählen, als ich ›Mephisto, Roman einer Karriere‹ schrieb. Mir lag daran, einen Typus darzustellen, und mit ihm die verschiedenen Milieus (mein Roman spielt keineswegs nur im ›braunen‹), die soziologischen und geistigen Voraussetzungen, die solchen Aufstieg erst möglich machten.

In Ihrer Voranzeige steht bedauerlicher Weise, mein Mephisto trage ›die Züge‹ eines bestimmten, heute in Deutschland erfolgreichen Schauspielers; ich will seinen Namen hier nicht wiederholen. Ja, diesen Schauspieler habe ich in der Tat gekannt. Aber was kann er heute für mich bedeuten? Vielleicht eine persönliche Enttäuschung; vielleicht nicht einmal das … Bin ich so tief gesunken, Romane um Privatpersonen zu schreiben? Meine Enttäuschung, mein Zorn, mein Schmerz – sind sie so ziellos, so ›privat‹, daß sie sich mit Individuen beschäftigen, denen ich dieses oder jenes übel nehme und an denen ich mich in Form eines Schlüsselromans räche?

Mein Schmerz, mein Zorn, meine Entrüstung haben größere Gegenstände, als ein bestimmter Schauspieler es sein könnte, und sei er selbst zum Intendanten aufgestiegen. Wenn ich die Erkenntnisse und Gefühle, die drei bittere Jahre für uns mit sich brachten, in einer – übrigens, wie ich hoffe, nicht nur polemisch koncipierten, sondern auch episch geformten – Figur zusammenfasse, sie in einer Figur verdichte – so kann dies nur in einer dichterischen, repräsentativen –: nur in einer erfundenen Figur geschehen.

Nein, mein Mephisto ist nicht dieser oder jener. In ihm fließen vielerlei ›Züge‹ zusammen. Hier handelt es sich um kein ›Porträt‹, sondern um einen symbolischen Typus – der Leser wird beurteilen, ob auch um einen lebensvollen, dichterisch geschauten und gestalteten Menschen.

Der Leser, an den ich diese Zeilen vertrauensvoll richte, würde – so möchte ich annehmen – auch ohne diese meine ›Erklärung‹ festgestellt haben, daß meine erzählerische Arbeit mit der Bezeichnung ›Ein Schlüsselroman‹ unzutreffend charakterisiert ist. Trotzdem mußte ich diese Erklärung machen. Denn wichtiger als alle taktischen Erwägungen, wesentlicher als alle Rücksichten scheint es mir – heute mehr denn je – daß wir – gerade wir in der Emigration – über unserer schriftstellerischen und intellektuellen Ehre wachen und sie vor jeder Ungeschicklichkeit – wie sie ›im Eifer des Gefechtes‹ unter Kameraden wohl passieren kann – leidenschaftlich verteidigen, da wir sie doch vor der Böswilligkeit und Infamie zu Hause schon nicht verteidigen können.

Mit den besten Grüßen und Wünschen für Ihre Arbeit

Ihr ergebener

K.M.

 

Offenbar mit Erfolg vor Gericht hatte der Kläger auf die Besprechung des Romans durch den Journalisten Paul Hühnerfeld 10 anläßlich der Aufbau-Ausgabe (1956) hingewiesen. Danach sei der Roman ›ein Dokument der Privatrache eines von Ressentiments geschüttelten blindwütigen Bruders, der die Ehre der Schwester verletzt sieht‹. Dagegen spricht zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur die durch den verloren gewesenen Kesten-Brief geklärte Entstehungsgeschichte des Romans, sondern auch eine eidesstattliche Erklärung von Erika Mann, wonach sie und ihr Bruder bis unmittelbar vor ihrer Auswanderung weiter freundschaftlichen Kontakt mit Gustaf Gründgens hatten.

Diese Umdeutung des Haß-Motivs vom Politischen ins Private kann man mit den Urteilen als ›Resultat eines sublimen Verdrängungsprozesses‹ in Zusammenhang bringen, wie W. F. Schoeller 11 das bezeichnete. Einer der bekanntesten Justizkritiker, der Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsident i.R. Richard Schmid 12; hat das so ausgedrückt:

›Die Entscheidung scheint mir ein Musterfall dessen, was Pascal meint, wenn er sagt Tout notre raisonnement se réduit à céder au sentiment. (Unsere ganzen Überlegungen laufen darauf hinaus, dem Gefühl nachzugeben.) Das Gefühl sprach offenbar für Gründgens und gegen Klaus Mann.‹

 

Und ein nicht minder namhafter kritischer Jurist, der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 13, äußerte sich schon 1966 (zu dem Oberlandesgerichtsurteil):

›Daß Klaus Mann seinen Schwager subjektiv gesehen hat, liegt nahe, das ist Sache des Künstlers, das ist Sache des Historikers, das ist im Grunde genommen unumgänglich. Die Selbstgewißheit des Historikers habe ich nie begriffen; jede Deutung, ob es nun Wallenstein ist oder Johann Wolfgang von Goethe, ist immer subjektiv, die reine Wahrheit wird sich nicht feststellen lassen, die Wahrheit ergibt sich nur aus der Diskussion. Und das Urteil von Hamburg verletzt nun eigentlich das Recht auf Diskussion, auf das Recht der Meinungsbildung über einen Mann wie Gründgens. Ich habe es besonders tief bedauert, und in einem Teil der Presse ist es auch besonders unterstrichen worden, daß hier auch noch politische Akzente hineingetragen worden sind, nämlich Klaus Mann vorgeworfen worden ist, daß er Gründgens aus der Welt des Emigranten sieht, was im Grunde genommen ein irrationales Element darstellt – aber eigentlich schon von vornherein die ganze Fragwürdigkeit dieser Rechtssprechung darstellt. Daß die Emigration die Verhältnisse in Deutschland anders gesehen hat, als derjenige, der nicht emigriert ist, ist ganz selbstverständlich. Das ist historisch, es ist literarisch wichtig: wie sah die Emigration ihr früheres Heimatland? Das ist an sich schon ein Beitrag zur Geschichte und zur Sozialpsychologie unserer Zeit …

Die Antwort kann überhaupt nur lauten, daß die Pressefreiheit nicht ihre Grenze finden kann im Persönlichkeitsrecht an dem Anspruch eines Mannes, ein ganz bestimmtes Bild festgelegt zu sehen. Jeder von uns schwankt also in der Geschichte, oder sein Bild schwankt in der Geschichte, und Verleger, Autoren müssen sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, daß ihnen von vornherein Grenzen gesetzt sind, daß ihnen von vornherein ein bestimmtes Bild von Menschen gegeben wird, und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie ist das Bild Friedrichs des Großen umstritten, wie sieht Friedrich der Große in einer deutsch-nationalen Literatur aus, wie sieht Bismarck aus, oder wie sieht etwa Golo Mann Bismarck? Sollen nun etwa die Erben von Bismarck kommen und sagen, das Bild von Bismarck, wie es Golo Mann gezeichnet habe, sei vollkommen verzeichnet, es sei negativ? Also auch hier gilt grundsätzlich für mich das Recht der freien Meinungsäußerung. Wir haben das Recht auf eigenes Bild dann nicht, wenn es sich um eine Person der Zeitgeschichte handelt; jedermann der Zeitgeschichte, ob heute oder in der vergangenen Zeit, muß es sich gefallen lassen, mit subjektiven Augen gesehen und bewertet zu werden. Ich wollte das eigentlich nur sagen, um das Problem zu umreißen.‹

Im Gegensatz zu Bauer meine ich allerdings, daß das Politische nicht in den Prozeß hineingetragen wurde, sondern von Anfang an darin war. Es handelte sich um einen politischen Prozeß – weil eben der Roman selber politisch durch und durch ist. Im Vorwort zur dramatischen Bearbeitung des Stoffes durch Ariane Mnouchkine wies ich auf die Bewußtmachung des Politischen mit den Mitteln des Theaters hin, auf die ›Trauerarbeit‹ einer nichtdeutschen Regisseurin, bei der ein Lehrstück für uns und für die Richter zustande kam. Nur die Richter der 1. Instanz (am Landgericht Hamburg) hatten die Chance, jung genug zu sein, um nicht im Schatten der Vergangenheit zu stehen. In den weiteren Gerichtsinstanzen mußte die Freiheit der Kunst hinter dem Schutz einer (verstorbenen) Persönlichkeit und der Menschenwürde zurücktreten. Schließlich scheiterte unsere Verfassungsbeschwerde an einem im wahren Wortsinn ›phanta-sie-losen‹ Kunstverständnis, das zuließ, daß ein Kunstwerk wie ›Mephisto‹ von Richtern mit der Elle der Realität gemessen wird. Damit wird der Kunst die Freiheit genommen, die ihr als ›höherer‹ Wirklichkeit zusteht. Dadurch klammerten sich die Richter, die das so sahen, am Besonderen, dem persönlichen Hintergrund, fest, um das Allgemeine und damit das Politische des Stoffes um so leichter zu verdrängen. Ging es im Roman selber um den Pakt der Kunst mit der Macht, war es in der Auseinandersetzung um den Roman die Macht (der Gerichte), die der Kunst ihren Freiraum als Gegenwirklichkeit versagte.

Wie gezeigt, hatten sowohl der Bundesgerichtshof wie das Bundesverfassungsgericht von sich aus schon die Frage der zeitlichen Begrenzung des Verbots erwogen und befunden, ›daß das Rechtsschutzbedürfnis des verstorbenen Gründgens in dem Maß schwindet, in dem die Erinnerung an den Verstorbenen verblaßt‹.

Ist sie verblaßt? Vor über vier Jahren, im November 1976, veranstaltete der Sender Freies Berlin auf dem Hermann-Platz in Berlin-Neukölln eine Umfrage unter Passanten mit der Frage ›Wissen Sie, wer Gustaf Gründgens war?‹. Das Ergebnis zeigt, daß damals bereits die Erinnerung an den einst so berühmten Schauspieler tatsächlich geschwunden war. (Umfrage von Peter Sandmeyer 14):

 

Sandmeyer: Wissen Sie, wer Gustaf Gründgens war?

Passant 1: Nä! Keine Ahnung.

Sandmeyer: Wissen Sie, wer Gustaf Gründgens war?

Passant 2: Na, 'n Theaterregisseur, warum?

Sandmeyer: Können Sie sich noch an den erinnern?

Passant 2: Naja, na der is ja nu schon – wie lange is det her? – jute zehn Jahre tot, wa?

Sandmeyer: Wissen Sie, wer Gustaf Gründgens war?

Passant 3: Nee.

Sandmeyer: Noch nie gehört den Namen?

Passant 3: Nee.

Sandmeyer: Sie sind Schüler, beide, darf ich Sie mal fragen, wissen Sie, wer Gustaf Gründgens war?

Passant 4: Ein Schauspieler war das ja.

Passant 5: Ich wüßte't nich.

Sandmeyer: Sie wissen's nicht. Schauspieler stimmt. Können Sie sich an den erinnern, haben Sie ihn mal gesehen?

Passant 4: Nein, das seh ich nur vom Namen her.

Passant 6: Gründgens? Ja, ist mir bekannt vom Namen her, aber, was er besonderes getan hat, weiß ich leider nicht.

Sandmeyer: Wissen Sie denn noch was über Gründgens' Verhalten im Dritten Reich?

Passant 7: Also er war so 'n bißchen Linkshänder, nich wahr? Verstehste – anders veranlagt. Im Dritten Reich, ja was hat er da gemacht? Ick gloobe, det war 'n bißchen Nazi. Gott, wer war das nich, ich war's nich.

Passant 8: Gustaf, wie heißt der?

Sandmeyer: Gründgens.

Passant 8: Nä, kenn ick nich.

Sandmeyer: Wissen Sie, wer Gustaf Gründgens war?

Passant 9: Ja, Schauspieler.

Sandmeyer: Wissen Sie zufälligerweise was über sein Verhalten im Dritten Reich?

Passant 10: Also Nationalsozialist war er nich, also war er gegen die Nationalsozialisten.

 

Demnach besteht wohl kein Zweifel, daß ein ›nicht unbedeutender Leserkreis‹, der 1963 ›nicht unschwer den Schauspieler Gustaf Gründgens in Höfgen wiedererkannt hatte‹, heute stark abgenommen hat. (Die Zitate hier wie in dem folgenden Absatz sind dem Wortlaut der Urteile entnommen.)

Entsprechend dürfte auch das ›allgemeine Interesse‹ an dem vor siebzehn Jahren verstorbenen Gustaf Gründgens ›geschwunden‹ sein. Außerdem können die an Gründgens noch heute besonders Interessierten durch Publikationen, die seit seinem Tod erschienen sind, sich ›ein genaues Bild über die Persönlichkeit‹ des ehemaligen Schauspielers und Generalintendanten der Preußischen Staatstheater machen. Es sei auch auf die seit Anfang des Jahres 1980 in Düsseldorf gezeigte Gründgens-Ausstellung verwiesen, die noch durch einige andere Städte der Bundesrepublik gehen wird. Sie erhebt den Anspruch, eine historisch getreue Dokumentation zu vermitteln, besonders in bezug auf Gründgens' politisches Verhalten und sein Eintreten für politisch Verfolgte im Dritten Reich. Gerd Vielhaber verweist in einer Besprechung 15 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung besonders auf eines der Stichworte der Ausstellung, nämlich ›Mephisto und die Nazi-Zeit‹. Dort sei mit Hilfe der Dokumente die Fehleinschätzung des angeblichen politischen Opportunisten und Karrieristen Gründgens in seiner prekären Position als Görings Staatstheater-Intendant korrigiert:

›Die Fakten sprechen für sich. Bewußt zeigt die Ausstellung auch das mit dem Hakenkreuz versehene Plakat von Ariane Mnouchkines Pariser ,Mephisto‘-Inszenierung nach dem (hierzulande immer noch nicht freigegebenen) Roman von Klaus Mann. Ihre dramaturgischen Sendboten, beauftragt ,Negativmaterial‘ im Düsseldorfer Archiv auszuhandeln, waren vergeblich gekommen. Nicht etwa, weil man es ihnen vorenthielt, sondern weil es nichts gab, was für eine Identifikation von Klaus Manns Romanfigur Hendrik Höfgen mit Gustaf Gründgens brauchbar gewesen wäre.‹

Der Initiator der Ausstellung, der Direktor des Theaterarchivs der Stadt Düsseldorf, Heinrich Riemenschneider, äußerte mir gegenüber, daß er das Wiedererscheinen von Klaus Manns Roman ›Mephisto‹ in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur begrüßen, sondern auch unterstützen würde 16:

›Vor allem deshalb, weil ich das Verbot grundsätzlich verneine und weil ich darin eine Behinderung der wirklich vorurteilsfreien Bewertung der Haltung Gustaf Gründgens' in der Nazi-Zeit sehe.‹

Wilfried F. Schoeller hat in seinem Plädoyer für die Freigabe des Romans in der Süddeutschen Zeitung 17 erklärt, daß die Öffentlichkeit an dem Roman heute als ›unmittelbare historische Quelle‹ und als ›aufregendes Zeit-Bild‹ verstärkt interessiert sei.

Freilich hatte schon vor mehr als zehn Jahren das Bundesjustizministerium in seiner Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht den Roman als ›Anschauungsmaterial über die damaligen innerdeutschen Verhältnisse‹ bezeichnet, in wahrscheinlich bewußt-deutlicher Ablehnung des charakteristischen Satzes im Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg: ›Die deutsche Öffentlichkeit hat kein Interesse, ein falsches Bild über die Theaterverhältnisse nach 1933 aus der Sicht eines Emigranten zu erhalten.‹

Einen neuen juristischen Akzent erhält der ›Fall Mephisto‹ dadurch, daß seit dem Frühjahr 1980 in der Bundesrepublik ein angeblich in Frankreich hergestellter Raubdruck des ›Mephisto‹-Romans auch über den Ladentisch von Buchhändlern geht. Die Staatsanwaltschaft sah sich bisher nicht in der Lage, auf Grund unseres Strafantrags gegen die unbekannten Drucker und Verbreiter einzuschreiten. Sie hat das Verfahren eingestellt, obwohl sie eigentlich mit doppelter Kraft hätte tätig werden müssen, einmal wegen des Verbots, zum anderen wegen des Nachdrucks. So bleibt der Raubdruck eines gerichtlich verbotenen Buchs ein weiteres Kuriosum in dem an Seltsamkeit nicht armen Fall.