Aus Kindlers Literatur Lexikon:

Heinrich Heine, ›Deutschland. Ein Wintermärchen‹

»Versifizirte Reisebilder« nennt Heine selbst die 1844 erschienene Schilderung der Reise seines Ich-Erzählers durch das unter dem Eis von politischer und geistiger Unterdrückung erstarrte Deutschland. Die geschilderte Route entspricht in etwa jenem Reiseweg, den Heine selbst für seine Rückfahrt von Hamburg nach Paris im Winter 1843 wählte, nachdem er zum ersten Mal nach zwölf Jahren wieder Deutschland besucht hatte. Nur ordnet der Text die Stationen in umgekehrter Reihenfolge an, also nicht als Reise von Hamburg nach Aachen, wie Heine sie tatsächlich gemacht hat, sondern von Aachen nach Hamburg. Der Text war 1844 zuerst Teil der Neuen Gedichte. Im selben Jahr kam ein Separatdruck heraus, und Karl Marx druckte den Text im Pariser Vorwärts! ab.

Den 27 Capita ist ein Vorwort vorangestellt, das dem deutschen Leser zu erklären versucht, wie Patriotismus und Kosmopolitismus aus derselben Quelle gespeist werden und – wohlverstanden – zusammenfallen. Damit ist zugleich vorweg klargestellt, worum es in diesem Text geht: um eine Kritik des deutschen Obrigkeitsstaates sowohl hinsichtlich seiner ideologischen und historischen Wurzeln als auch seines Erscheinungsbildes. Dabei nimmt Caput 1 die Hochgestimmtheit des Vorworts noch mit hinüber in die Verserzählung und entwirft die Utopie einer befreiten Menschheit, die sich aus der Bevormundung durch die alten Mächte gelöst hat. »Zuckererbsen für jedermann« lautet die Verheißung und zugleich der Maßstab von Heines Kritik an den deutschen Zuständen. Das Ergebnis dieser Kritik ist vernichtend: Angeleitet von Hamburgs Stadtgöttin Hammonia sieht der Ich-Erzähler am Ende in Caput 26 im Nachtstuhl Karls des Großen eine in jeder Hinsicht abscheuliche Zukunft auf Deutschland zukommen. Diese Schlussvision dementiert nun aber keineswegs die Paradieseshoffnung des Eingangs, sondern zieht lediglich die Linie des historischen Ist-Zustandes weiter.

Zwischen beiden Visionen spannt er den Faden der Reise, der sich an drei Punkten verdickt: Dem Aufenthalt in Köln (Cap. 4–7), dem Besuch bei Barbarossa im Kyffhäuser (14–17) und dem Aufenthalt in Hamburg (20–26) widmet Heine jeweils mehrere Capita. Im Köln-Abschnitt geht es um radikale Religionskritik, darum, wie die Konsequenz der deutschen idealistischen Philosophie zu ziehen ist. Der Besucher im Kyffhäuser enttarnt den verheißenen Befreier als abgelebtes Gespenst alten Standesdenkens und dementiert damit zugleich die vom Preußen-König Friedrich Wilhelm IV. so sehr betonte mittelalterliche Legitimation politischer Herrschaft. Schließlich erfolgt die düstere Vision von Deutschlands Zukunft nicht umsonst im Nachtstuhl Karls des Großen, dem die Rolle eines Begründers der deutschen Nation zugeschrieben wurde. Die Zukunft des Vaterlandes aus einem eng-nationalistischen Ansatz muss, so ist Heines Resümee, in die Katastrophe führen. Neben diesen auf die ideologischen und historischen Wurzeln zielenden Angriffen nimmt er all die üblen Erscheinungen des deutschen Obrigkeitsstaates aufs Korn, aber auch die hohle Rhetorik der national-liberalen Opposition, das Kleinlich-Harmlose von Kunst und Theater. All das wird aber nicht nur in Form von direkten Angriffen bloßgestellt, es ist die Machart des Textes, sein Witz, seine Lebendigkeit, die phantastischen Reime, die dem Leser das Verdrehte und Verkehrte der Verhältnisse offenbaren.

Das Wintermärchen [in Kindlers Literatur Lexikon geführt als: Wintermährchen] sollte populäre und klassische Dichtung zugleich sein. Es fand schon 1844 begeisterte Leser ebenso wie engagierte Gegner. Die preußische Polizei verbot seinetwegen die Gesamtproduktion des Verlages Hoffmann und Campe. Heute gehört es zu den bekanntesten Heine-Texten.

Bernd Kortländer

Aus: Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold (ISBN 978-3-476-04000-8). – © der deutschsprachigen Originalausgabe 2009 J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart (in Lizenz der Kindler Verlag GmbH).