3

Eine Stille gibt es, die Unheil verkündet. Eine gefährliche Stille, wenn man so sagen will, in die dann der gesamte Lärm dieser Welt einbricht, das Trommelfell zerreißend, das Herz lähmend.

Nicht anders war es, als Babkin, das gute, tote Väterchen plötzlich in der Tür zum Sterbezimmer stand und mit einem satten Ton: »Guten Appetit, ihr Wölfe!« sagte.

Wie bei Mischin, der noch immer salzsäulenstarr mit dem Gesicht nach unten auf den Dielen lag und nicht aus seiner Ohnmacht erwachen wollte, breitete sich auch rund um den Tisch eine ruckartige Lähmung aus. Nelli fiel die Gabel auf den Teller, der Pope Waninow bekleckerte sich den Bart mit Zwiebelgemüse, Pyljow, der Lehrer, glotzte wie ein gewürgtes Kalb, Walentina schloß die Augen, Narinskij, der Nachbar Metzger, ließ seinen Mund weit offenstehen, ein wirklich nicht schöner Anblick, und Nina Romanowna, die Witwe ohne toten Ehemann, kippte stumm von ihrem Stuhl auf die Bretter, und niemand half ihr, weil alle versteinert waren.

Aber nur ein paar Sekündlein war es so – dann brach ein Lärm aus, daß sich die Wände des Zimmers hätten biegen müssen. Alles sprang auf, schrie durcheinander, fuchtelte mit den Armen wild durch die Luft – ganz recht, wie losgelassene Irre benahmen sich alle.

»Der Satan hat die Macht ergriffen!« brüllte der Pope mit gewaltigem Baß. Er riß sein Brustkreuz an der breiten silbernen Kette hoch und hielt es Babkin entgegen, als beginne jetzt eine Teufelsaustreibung. Von einem Wunder Gottes sprach Waninow nicht … Wer einen Babkin wieder zum Leben erweckte, das konnte nur der Satan sein!

Narinskij hatte die Lage zuerst erfaßt. Er riß sich die Serviette vom Hals und stürzte hinaus.

»Hiergeblieben, Isaak Guramowitsch!« schrie Babkin. »Lauf nicht weg, du Bock. Wo du dich auch verkriechst, ich hole dich heraus!«

In panischer Angst raste Narinskij aus dem Haus und verschwand im Nachbargarten.

Der Lehrer Pyljow rang nach Atem, sein Kopf war rot wie eine Tomate, vom Tisch war er mit einem medaillenreifen Sprung an die Wand gesprungen und klebte nun dort mit hervorquellenden Augen, immer nur »Unmöglich! Unmöglich! Unmöglich!« murmelnd.

Nelli fiel auf die Knie, hob die gefalteten Hände zu Babkin hoch und schrillte: »Väterchen! Verzeih! Väterchen, töte mich nicht …«

Und was tat Nina? Ja, was tat sie? Sie zog sich an ihrer Stuhllehne hoch, starrte Babkin in hellem Entsetzen an und rief verzweifelt: »Warum tust du mir das an? Warum tust du das?« Nur wer ihre Beichte kannte, konnte den Sinn dieser Worte verstehen.

Als einzige benahm sich Walentina normal. Sie stürzte auf Babkin zu, umarmte ihn, schmiegte sich an ihn, küßte ihm das ganze Gesicht ab und weinte vor Freude.

»Mein Täubchen«, sagte Babkin mit von Rührung erstickter Stimme. »Mein kleines Schwälbchen, nun wird alles gut zwischen uns. Väterchen wird in diesem Leben noch vieles zu tun haben.«

Der Pope hielt noch immer sein Brustkreuz hoch und kam mit gesträubtem Bart auf Babkin zu.

»Fahr zurück zur Hölle, Satanas!« brüllte er wieder. »Hinein in den Sarg! Stör nicht die Lebenden!«

Der Einzige, der ruhig blieb und noch immer hinter seinem Teller mit dem gebratenen Hühnchen saß, war Dr. Poscharskij. Bei Babkins Erscheinen hatte er nur »Ah!« gesagt, Messer und Gabel hingelegt und sich zurückgelehnt.

Was das »Ah!« zu bedeuten hatte, konnte man nur raten; es klang so, als sei der innere Druck durch alle Zweifel an Babkins Tod wie Luft aus einem Kessel entwichen. Womit die ärztliche Unterschrift unter dem Totenschein allerdings nicht ausgelöscht war …

»Wer hier zur Hölle fährt, Sidor Andrejewitsch, wird sich noch zeigen!« schrie Babkin dem Popen ins Gesicht. »Friß dein Kreuz auf, solange du noch Zähne hast!«

Waninow verstand solches sofort. Er ließ das Kreuz auf die breite Brust zurückfallen, raffte sein langes, priesterliches Gewand und tat es wie Narinskij: Er flüchtete aus dem Haus.

Dafür begann jetzt Nina Romanowna zu schreien, raufte sich die Haare, kreischte, sie wolle sich auf der Stelle umbringen, warum ihr denn niemand ein langes Messer bringe, das man ins Herz stoßen könne, und flüchtete in die ›schöne Ecke‹ des Zimmers. Sie kroch unter das Brett mit dem ewigen Licht und dem Bild der lächelnden Madonna, als Babkin einen Schritt auf sie zutrat.

Nelli lag noch immer auf den Knien und betete laut und inbrünstig. Es schien ihr der einzige wirksame Schutz zu sein. Wer betet, dem schlägt man nicht auf den Kopf.

»So ist das nun, meine Lieben«, sagte Babkin laut und deutlich, mit kraftvoller Stimme, als habe er nie in einem Sarg gelegen. »Zurückgekommen bin ich, um alle noch einmal an meine Brust zu drücken: mein Weibchen und mein Töchterchen, meinen Schwiegersohn und die lieben Nachbarn Narinskij, Afanasjew und Sawitzkij. Und Väterchen Waninow, den rüstigen Popen. Euch alle werde ich umarmen und mich bedanken für das, was ihr mir gestern erzählt habt. Welch eine Welt habt ihr mir gezeigt! Alles habe ich gehört …«

»Alles!« stöhnte an der Wand der Lehrer Pyljow.

»Wir werden darüber sprechen, Boris Witalowitsch.« Babkin küßte sein Töchterchen Walentina auf die Stirn … Die einzige war sie, die nicht vor Angst, sondern vor Glück zitterte. »Mit allen werde ich sprechen!«

»Wer tötet mich?« rief Nina Romanowna wieder aus der ›schönen Ecke‹. »Wer kann das noch ertragen!«

Ganz ruhig, wir wissen es, war Dr. Poscharskij geblieben. Nun stand er auf, kam auf Babkin zu und sah ihn mit wissenschaftlichem Blick an.

»Umgeben sind wir von Halbidioten, Genosse! Kommen Sie mit.«

»Wohin, Bairam Julianowitsch?«

»Zurück ins Sterbezimmer.«

»Nie und nimmer! Diesen Raum gibt's für mich nicht mehr. Wenn ich noch einmal sterbe, dann dort auf dem Ofen! Wenn ich vertrocknet wie ein Stockfisch bin, erst dann ist sicher, daß ich tot bin. Vorher braucht das keiner mehr zu glauben, auch Sie nicht, Dr. Poscharskij, Sie Vollidiot von einem Arzt …«

»Eben darüber sollten wir miteinander sprechen, Wadim Igorowitsch. Ich will Sie noch einmal untersuchen.«

»Gesund bin ich. Gesund wie ein Böcklein. Fassen Sie mich nicht an!«

»Nur ein Viertelstündchen, tun Sie mir den Gefallen, Genosse …« Dr. Poscharskij gab seiner Stimme einen beschwörenden Klang. »Der Wissenschaft helfen Sie damit, der Entwicklung der Medizin, der Erforschung eines Phänomens. Bitte!«

Babkin nickte. Noch einen Rundblick warf er auf seine Familie, schob die Unterlippe verachtungsvoll vor und kehrte dann in sein Sterbezimmer zurück.

Dort empfing ihn ein neuer, heller Aufschrei. Mischin war aus seiner Ohnmacht erwacht, just in dem Augenblick, in dem Babkin wieder ins Zimmer zurückkam, und hatte der Schreiner noch Zweifel gehegt, so wurden sie jetzt völlig zerstört:

Babkin lebte! Er lief herum, ballte die Fäuste, und hinter ihm wischte sich Dr. Poscharskij den Schweiß vom Gesicht. Nein, man träumte nicht – Wadim Igorowitsch war von den Toten auferstanden, obwohl es noch nicht der Jüngste Tag war.

Weiß wie seine schreckliche Papierdecke im Sarg lief Mischin hinaus, rannte im Wohnzimmer Pyljow um, stolperte über die noch immer auf den Knien betende Nelli und raste aus dem Haus, vorbei an seinen beiden Gehilfen, die im Vorgärtchen in der Laube saßen, es sich gütlich taten an Hühnerfleisch und Kwass, schön gekühlt und erfrischend, und nun zum drittenmal erlebten, daß jemand mit allen Anzeichen des Entsetzens aus Babkins Haus flüchtete.

Jetzt war's ihr Meister. Er rannte an ihnen vorbei, schrie ihnen zu: »Folgt mir, Genossen, folgt mir! Die Erde bricht auf!« – was sie für völlig idiotisch hielten. – Aber als Mischin weiterrannte, folgten sie ihm gehorsam, die Hühnchenstücke in beiden Händen mitnehmend.

»Sie sehen, Babkin«, sagte derweil Dr. Poscharskij im Sterbezimmer mit akademischem Ernst, »Ihr Weiterleben erzeugt weniger Freude als gründliches Entsetzen. Wie konnten Sie nur wieder auferstehen? Sie haben das Privileg Christi angetastet! Schämen Sie sich nicht?«

»Bairam Julianowitsch, ich habe den Verdacht: Ich war gar nicht tot!« antwortete Babkin betroffen. Mit Christus wollte er sich auf gar keinen Fall anlegen; es gab in der nächsten Umgebung genug zu tun.

»Nicht tot?« Dr. Poscharskij starrte Babkin böse an. »Unmöglich!«

»Ich gehe, höre, rieche, spreche …«

»Wieder! Das ist ja das Phänomen! Keine Atmung, kein Puls mehr, der Mensch ist tot. Das habe ich bescheinigt. Und nun stehen Sie auf, Wadim Igorowitsch, und geben die Medizin der Lächerlichkeit preis! Ist das edel?«

»Nein, Bairam Julianowitsch. Ich schäme mich ja auch – aber wichtiger ist wohl, daß ich lebe!«

»Wichtiger für Sie, Babkin! Aber uns alle stürzen Sie damit ins Unglück.«

»Das will ich meinen.« Babkin zwinkerte mit den Augen. »Nicht ausreichen wird mein weiteres Leben, bei allen ihre Strafe abzukassieren. Auch bei Ihnen, Dr. Poscharskij.«

»Aha! So wollen Sie das drehen! Babkin, Sie Lügner! Nicht ich habe Sie getäuscht – Sie haben mich in hinterhältigster Weise hintergangen! Sie sind tot und leben dennoch. Sagen Sie selbst, ist das nicht eine Gemeinheit? Geht man so mit einem Mediziner um? Was fällt Ihnen überhaupt ein, wieder zu leben? Warum sind Sie nicht dort geblieben, wo Sie waren!«

»Wer kann ruhig liegen, wenn einem Mischins Hammer auf den Kopf fällt? Sehen Sie doch, Doktor – ich kriege eine Beule …«

»Einem Toten macht ein Hammerwurf nichts aus!«

»Das wäre zum Beispiel ein Beweis, daß ich gar nicht tot war.«

»Nichts ist bewiesen! Höchstens könnte man die Angelegenheit damit erklären, daß Sie in einem Schwebezustand verharrt haben, wo die Seele normalerweise den Körper verläßt. Eine durch, ich weiß nicht was, entstandene Verzögerung der Trennung von Körper und Geist hat Sie wieder lebendig werden lassen. Mag sein, daß so etwas öfter vorkommt, als man denkt, aber bisher ist noch niemand aus diesem Zustand zurückgekehrt, um darüber zu berichten. Sie sind der Erste, Babkin. Für die Wissenschaft sind Sie jetzt unersetzlich. Ein Buch werde ich über Sie schreiben. Jawohl, ein dramatisches Buch, das alle bisherigen Forschungen in Frage stellt. Ein entgleitender Hammer holt die Seele in den Körper zurück – was kann diese Ungeheuerlichkeit noch übertreffen! Das Babkinsche Phänomen – unter diesem Namen werden Sie unsterblich werden, Wadim Igorowitsch!«

Dr. Poscharskij legte den Arm um Babkin und führte ihn zum Bett. »Setzen Sie sich, ruhen Sie sich aus, atmen Sie tief durch … So eine Wiedererweckung geht ans Herz. Unterdessen gehe ich hinaus und beruhige Ihre Familie. Keine Aufregung, Wadim Igorowitsch, nicht in den nächsten Tagen, bis ich Ihren Blutdruck unter Kontrolle habe.«

Er drückte Babkin auf die Bettkante, und dann verließ der Arzt schnell das Zimmer. Ein raffinierter Bursche war er, fürwahr … Alle, die Babkin im Leben betrogen und belogen hatten, bekamen nun Zeit, zu verreisen, sich zu verstecken oder zur Verteidigung zu rüsten, auch Poscharskij selbst. Babkin war sein erster Scheintoter und hoffentlich auch der letzte, und daß es gerade ihn, Bairam Julianowitsch, treffen mußte, war ein grauenhaftes Schicksal.

Man mußte einfach dabei bleiben: Babkin war ein Phänomen, unerklärlich wie der Begriff Unendlichkeit. Das Firmament war unendlich, grenzenlos waren die Sterne, ringsum Milliarden Lichtjahre weit entfernt und weiter, immer weiter … Wer kann das begreifen?

Nur so, als eine Art Weltall-Rätsel, kann man Babkin hinstellen, um nicht seine Glaubwürdigkeit als Arzt zu verlieren. Und Waninow, der Pope, muß bestätigen. Irgendwo gibt es bestimmt auch dafür eine Bibelstelle.

Babkins Familie hatte sich etwas beruhigt. Man saß wieder um den Tisch herum, allerdings nicht, um weiterzuessen, sondern um gemeinsam die Angst zu überwinden: Väterchen Babkin ist wieder da! Was wird nun geschehen – in den nächsten Stunden, den nächsten Tagen? O je, o je, was weiß er jetzt alles, was haben wir ihm alles gebeichtet, in gutem Glauben, er sei hinweggerafft aus dieser Welt.

Der Lehrer Pyljow war der erste, der das Wort ergriff. Noch immer war sein Kopf rot, und seine Augen glotzten wie bei einem Kalb. Sein tiefstes Geheimnis hatte er Babkin preisgegeben – ein Leichtes war es nun für das auferstandene Schwiegerväterchen ihn zu vernichten.

»Sie allein, Bairam Julianowitsch, sind der Schuldige«, sagte Pyljow heiser, »wenn in den nächsten Tagen Schädel eingeschlagen werden! Ihre verdammte Fehldiagnose …«

»Nichts war hier falsch diagnostiziert!« entgegnete Dr. Poscharskij stolz und furchtlos. »Wir haben es mit einem einzigartigen Phänomen zu tun …«

»Also doch eine schlimme Krankheit?« stotterte Nelli ergriffen.

»An der er bald richtig sterben wird?« fragte Nina Romanowna hoffnungsvoll.

»Phänomen kommt aus dem Griechischen!« Lehrer Pyljow hatte wieder einmal Gelegenheit, mit seinem Wissen zu protzen. »Phainomenon heißt es … das ›Erscheinende‹ – ein außergewöhnliches Ereignis, das kaum erklärbar ist. Wenn Wadim Igorowitsch ein Phainomenon ist, kann man nichts machen.«

»Ein … ein griechisches Ereignis?« stammelte Nina, die verhinderte Witwe. »Du lieber Himmel, was hat Babkin mit Griechenland zu tun?«

Pyljow winkte ab. Dämlichkeit widerte ihn seit jeher an. »Babkin war also scheintot?« fragte er Dr. Poscharskij. »Und Sie haben das nicht entdeckt? Welch ein Arzt!«

»Boris Witalowitsch!« rief Dr. Poscharskij und hob warnend die Hand. »Werden Sie nicht unverschämt! Beleidigungen beantworte ich mit Ohrfeigen! Fragen Sie Jurij Andrejewitsch, den Sattler aus der Ulanska Bratja Nummer 9! Ruft mich an, der Kerl, nachts um zwei Uhr, ich solle kommen, sofort, es sei sehr schlimm. Ich rase hin, sehe ihn im Sessel sitzen und frage ihn voller Mitleid: ›Na, Genosse, wo fehlt's denn?‹ Und was antwortet er mir, dieser Verbrecher? ›Doktor, gut, daß Sie da sind, ich weiß mir keinen Rat mehr. Den Drang habe ich, zu scheißen, aber es kommt nichts!‹ Ha! Was habe ich getan? Na? Rechts und links habe ich ihn geohrfeigt, gezüchtigt wie einen ungezogenen Hund. Ich wette: Jurij Andrejewitsch ruft mich nachts um zwei Uhr nicht mehr! Und auf Sie, Genosse Pyljow, warten auch Ohrfeigen, wenn Sie mich weiterhin in dieser Form attackieren!«

»Was ist nun mit Väterchen?« fragte Nelly weinerlich, noch immer auf den Knien liegend. »Wo ist er?«

»Sicher ist eines: Er lebt!« Dr. Poscharskij überhörte das vielfache Aufseufzen um sich herum, das schon mehr wie unterdrücktes Schreien klang. »Er sitzt auf der Bettkante und sinnt darüber nach, was er als angeblicher Toter alles gehört hat.«

»Wer tötet mich?« jammerte Nina Romanowna wieder. »Wer? Schnell muß es gehen … Er wird mich langsam zu Tode martern, wenn er tatsächlich weiterlebt.«

»Darüber besteht gar kein Zweifel. Babkin ist wohlauf.« Dr. Poscharskij kratzte sich die Nase und kam sich insgeheim sehr hilflos vor. »Man muß versuchen, ihn versöhnlich zu stimmen.«

»Ihn? Nie! Eher fließt der Ob nach Süden!« Pyljow sah sich mit wildem Blick um. »Meine Lieben, wir sind unter uns – sehen wir von dem Doktor ab. Laßt uns untereinander auch das Problem lösen. Wadim Igorowitsch ist tot, das weiß jeder in der Stadt, der Totenschein liegt vor – was will man mehr. Fragt jetzt noch einer, woran, wie und wann er gestorben ist? Gehen wir hinein und befördern wir ihn dahin, wohin er laut Bescheinigung gehört: in den Sarg!«

»Umbringen willst du ihn?« schrie Nelli auf. »Väterchen töten?«

»Weiß jemand etwas Besseres? Wir wissen nur, daß Babkin jetzt zuviel weiß und uns alle vernichten kann. Und wenn Babkin etwas kann, dann führt er es auch aus!«

»Nein!« Walentina war's, die zur Tür sprang und sich mit ausgebreiteten Armen davorstellte, als wolle sie Babkin verteidigen. »Nein! Vorher tötet auch mich!«

»Man könnte meinen, wir säßen in einem Theater, und man spielte ein miserables Rührstück!« sagte Dr. Poscharskij, angewidert von soviel unterschiedlichem Familiensinn. »Gleich gehe ich wieder hinein, gebe ihm ein Spritzchen, und dann wird er zwei Tage lang schlafen. In zwei Tagen kann man viel überlegen und einiges tun …«

»Welch eine glänzende Idee, Bairam Julianowitsch!« rief der Lehrer Pyljow und wurde sichtlich ruhiger. »Klüger sind Sie, als ich annehmen wollte. Ein Spritzchen … Babkin wird es nicht verweigern, es kommt ja von einem Arzt. Und wenn Sie die fünffache Menge nehmen, Genosse Doktor, dann …«

»Das wäre Mord!« sagte Dr. Poscharskij steif.

»Ein Versehen, Doktor. Ein unangenehmer Rechenfehler. Jedem kann das passieren. Ist der Mensch denn vollkommen? Babkin aber wird selig einschlafen – und alles ist so, wie es auf dem Totenschein steht: Herzversagen. Genial, Genosse Doktor …«

»Mord!« wiederholte Bairam Julianowitseh dumpf. »Mord! Mit mir? Ausgeschlossen! Ich werde Babkin nur beruhigen, ihn einschlafen lassen. Was dann in diesen zwei Tagen geschieht, ist eure Sache. Ich weiß von nichts.«

»Aber der jetzige Totenschein gilt?« rief Pyljow fast jubelnd.

»Tot ist tot.« Eine weise Antwort war das. Für Dr. Poscharskij konnte sich damit die große Sorge verflüchtigen, lächerlich gemacht zu sein, weil er einen Scheintod nicht erkannt hatte.

Tatsächlich, das war ein guter Weg. Babkin wurde begraben, nunmehr wirklich von dieser Erde genommen … Es wurde praktisch nachgeholt, was zwei Tage vorher schon bescheinigt worden war. Und welcher Arzt guckt sich einen Toten noch einmal an, wenn er den Totenschein schon unterzeichnet hat? Nie würde ihn, Poscharskij ein Vorwurf treffen, zumal alle hier das größte Interesse hatten, Babkins Tod als endgültig anzusehen. »Ich gehe jetzt zu ihm, meine Lieben, und werde Babkin beruhigen. Spätestens in einer halben Stunde schläft er.«

Der Arzt schob Walentina zur Seite, die noch immer mit ausgebreiteten Armen die Tür versperrte, und klopfte höflich an. Von drinnen antwortete Babkins Stimme, bei der alle heftig zusammenzuckten, und dann trat Dr. Poscharskij ein und schloß die Tür hinter sich.

Pyljow atmete tief auf. »Wir sind eine Familie«, sagte er und blickte sich zu allen anderen um, »in Freud' und Leid und Verderben verbunden. Jeden von uns trifft Babkins Zorn, das steht außer Zweifel. Tragen wir jetzt gemeinsam die schwere Bürde: Noch heute muß es geschehen! Und morgen wird er begraben! Dann ist Ruhe bis an unser Lebensende …«

Alle nickten stumm, sogar Walentina, Babkins Augenstern.

So ist es im Leben, liebe Genossen: Wer zuviel von anderen weiß, kann frühzeitig sterben …

Babkin saß noch immer auf der Bettkante, die Hände zwischen die Knie geklemmt, und starrte gegen die tapezierten Wände. Schon darin zeigte sich der Luxus, in dem die Babkins lebten – die meisten Zimmer in Ulorjansk waren nur getüncht, zweimal: einmal weiß als Grundfarbe, und dann in einer anderen Farbe mit einer Gummirolle, die ein Muster aufdruckte.

»Nun?« fragte Babkin, als Dr. Poscharskij ins Zimmer kam.

»Was – nun?«

»Hat sich schon jemand von den Halunken aufgehängt?«

»Wadim Igorowitsch, Sie sehen die Probleme zu scharf …«

»Betrogen haben sie mich alle – jetzt werde ich kassieren!«

»Vergessen Sie nicht, daß Sie mit Nina Romanowna zweiunddreißig Jahre verheiratet sind …«

»Von denen sie mich dreiunddreißig Jahre betrogen hat! Mit Narinskij und Blistschenkow, Sapanow und Afanasjew … O Himmel, das sind nur die Namen, die ich jetzt kenne. Wer ist da noch, von dem ich keine Ahnung habe? Welch ein Weib, Bairam Julianowitseh! Gebiert mir drei Kinder und hintergeht mich Tag für Tag! Was steckt bloß in ihr? Habe ich so versagt, mein Guter?«

»Wer weiß das? Sie fragen mich? Lag ich neben euch im Bett?«

»Ha! Welch ein Gedanke!« Babkin zuckte hoch. »Auch Sie hätten ein Liebhaber von Nina sein können! Waren Sie es? Gestehen Sie es, Poscharskij. Alle haben gebeichtet – tun Sie's auch! Haben Sie auch bei Nina gelegen?«

»Pfui! Schämen Sie sich, Wadim Igorowitsch.« Dr. Poscharskij war beleidigt und stellte sich ans Fenster, mit dem Rücken zu Babkin. »Ich bin Arzt. Meine Therapien auch bei hysterischen Frauen sind wissenschaftlicher Natur. Sie haben meine Seele getroffen, Babkin.«

»Wem kann man noch glauben? Wem?« Babkin schlug die Hände zusammen. »Was ich alles gehört habe, was sie mir alles erzählten – nur, weil ich endlich tot war … Das war die Hölle, Doktor! Nur so kann sie sein!«

»Und Sie?«

»Was heißt das: Und Sie?«

»Wenn alles nach innen blickt und sich Lasten von der Seele redet – wie ist's mit Ihnen, Wadim Igorowitsch? Ist Ihr Gewissen rein wie eine Engelshaut? Haben Sie nichts zu bereuen?«

»Davon ist jetzt nicht die Rede.« Babkin winkte ab. »Aber was man mir angetan hat …«

»Sie haben Nina nie betrogen? Nie?«

»Sprechen wir lieber von der Zukunft, Doktor«, sagte Babkin ausweichend. Keinem war geholfen, wenn man nun anfing, über ihn zu reden. »Wie soll es weitergehen?«

»Wie bisher …«

»Was muten Sie mir zu? Dumm wie bisher soll ich zusehen, wie Nina zu Narinskij schleicht. Wie Waninow, der heuchlerische Pope, mein Täubchen Walentina zerrupft – jedesmal nach dem Gesangsunterricht, nach dem sie die Noten ordnen muß. Die Noten ordnen! Und meine Tochter Nelli … von Sapanow, dem Briefträger, nimmt sie nicht nur die Post an. Von Sapanow, Doktor, dem häßlichsten Mann, den ich kenne und der sogar mit Nina Romanowna … Und weiter, Doktor: Ahnen Sie, was dieser Widerling Afanasjew mir gestanden hat? Wäre ich nicht schon tot gewesen, ich hätte tot umfallen können vor Zorn. Und so soll das weitergehen? Was ist das für ein Rat, den Sie mir da geben, Bairam Julianowitsch?«

»Ein weiser, Wadim Igorowitsch, denn nichts dergleichen wird sich jetzt wiederholen. Ein ruhiges Leben wird es werden …«

»Nie! Neue Schweinereien wird man hinter meinem Rücken ausbrüten. Wer einmal betrogen hat, läßt es nicht sein … Wie ein Bär ist er, der Honig geleckt hat. Nein, die Welt um mich herum ist verdorben und wird es bleiben, auch wenn man mich streicheln wird und kuhäugig ›Väterchen‹ zu mir sagt. Wem kann man noch vertrauen? Wem?«

»Schwer wird's werden, das erkenne ich an. Aber nun leben Sie wieder, Babkin, und müssen diese Welt ertragen. Einfacher wäre es gewesen, Sie hätten meinem Totenschein Folge geleistet.«

»Es lag nicht an mir, Doktor, glauben Sie's mir. Immer wollte ich mich bemerkbar machen, schon, als Sie mich untersuchten und sagten: ›Er ist hinüber. Herzversagen. Ihr könnt euch freuen … ‹ Schon da wollte ich mich rühren, aber mein Körper versagte. Stumm und steif mußte ich daliegen und alles sehen und hören.« Babkin preßte das Kinn gegen den Hals. »Übrigens sagten Sie tatsächlich: ›Ihr könnt euch freuen!‹ Hört sich so das Beileid eines Arztes an? Bairam Julianowitsch, Sie wußten eine ganze Menge, nicht wahr?«

»Ein Arzt hat Schweigepflicht, Babkin.« Dr. Poscharskij kam ans Bett und holte aus seiner Tasche eine flache, polierte Nickeldose. »Legen Sie sich hin, mein Freund.«

»Hinlegen? Warum? Ich habe genug gelegen.« Babkin stemmte die Beine auf den Boden, als wollte er dort Wurzeln treiben. »Herumlaufen werde ich wie ein Stier und ihnen allen, diesen Halunken, die Hörner ins Gedärm stoßen!«

»Eben darum ist es nötig, daß Sie sich hinlegen. Eine Injektion will ich Ihnen geben, Wadim Igorowitsch. Die soll Sie munter und kräftig machen, Ihr Herz anregen, die Muskeln stärken, das Blut fröhlich durch die Adern treiben …«

»Bairam Julianowitsch, Sie sind ein wirklicher Freund.« Babkin legte sich auf das Bett. Von jeher werden die Ahnungslosen betrogen, belogen und ausgenutzt. »Sie unterstützen meine Rache! Brav so!«

»Drehen Sie sich auf den Bauch!« Dr. Poscharskij trat näher und zog die Spritze auf, hielt sie gegen das Licht und drückte die Luft aus dem Glaszylinder. »Und Hose runter! Für einen Arzt ist der Hintern ein unersetzlicher Körperteil. Nichts kann so gut Injektionen aufnehmen wie er. Babkin, jetzt kommt ein Stichchen, und wenn Sie wieder aufstehen, können Sie ganze Wälder ausreißen …«

Die Injektion war kaum zu spüren, aber statt daß Babkin nun mit einem Satz hochspringen und seinen Rachefeldzug beginnen konnte, überfiel ihn jähe Müdigkeit und zog ihm die Lider hinunter, als seien sie mit Blei gefüllt. Ohne ein weiteres Wort schlief er ein … Kein Schlaf war das mehr, schon eher eine Betäubung.

Dr. Poscharskij wartete eine Minute, klopfte ihm dann auf das nackte Gesäß, erlebte keine Reaktion, drehte Babkin daraufhin um und deckte ihn mit der schrecklichen schwarzen Trauerdecke wieder zu.

Sein Werk war getan. Was die liebe Verwandtschaft nun mit Wadim Igorowitsch anstellte, war nicht sein, Poscharskijs, Problem.

Er packte sein Spritzenbesteck wieder ein und trat hinaus in die Wohnstube. Dort saßen erwartungsvoll die Babkins und starrten ihn an. Pyljow, von bewundernswerter Nervenstärke, aß sogar ein Schüsselchen von der Nachspeise.

»Was … was ist?« fragte Nina Romanowna leise.

»Er schläft wie ein Toter.«

»Das ist gut. Wie ein Toter! Das soll er auch bleiben.« Pyljow leckte sich über die weibisch wirkenden Lippen. »Kann man sich wenigstens jetzt auf Sie verlassen, Bairam Julianowitsch?«

»Was ich als Arzt verantworten konnte, habe ich getan.« Poscharskij kam an den Tisch, goß sich in ein stabiles Glas eine gehörige Menge Wodka ein und schüttete sie in einem Zug hinunter. Man sah ihn überhaupt nicht schlucken, ein Beweis, welche Übung er darin besaß. »Wann soll ich wiederkommen?«

»Ist das nötig?« Pyljow grinste breit. Zum Hineinschlagen, dachte Dr. Poscharskij voller Bitterkeit. Wie kann man mit so etwas nur gemeinsame Sache machen? Nur, weil die eigene Blamage so schwer wiegt.

»Der Totenschein ist ausgeschrieben«, fuhr Babkins Schwiegersöhnchen fort. »Wir sehen uns beim Begräbnis wieder.«

»Ja, ja, beim Begräbnis.« Dr. Poscharskij soff noch einmal ein Glas voll Wodka, um den aufflackernden inneren Brand zu löschen und sein Gewissen auszuschwemmen. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber alle Worte, die ihm einfielen, paßten jetzt nicht mehr.

Wie konnte man etwa sagen: Macht's gut, ihr Lieben! Oder: Gott sei mit euch! Hier war jetzt alles falsch – nur Stummheit war angebracht. Und schnelles Weggehen.

Das tat er dann auch, und alle Babkins atmeten auf, als hinter Dr. Poscharskij die Tür zufiel. Die Stille, die er hinterließ, hielt eine Weile an, bis Nina zaghaft fragte:

»Wer tut's denn nun? Und wie?«

Die Frage war berechtigt. Man war sich klar darüber, daß es geschehen mußte, aber über die Ausführung und vor allem, wer die Arbeit übernahm, hatte man doch nicht diskutiert. Und um gleich alle Spekulationen auszuschalten, sagte Nina gleich darauf: »Ich nicht. Schließlich war ich mit ihm zweiunddreißig Jahre verheiratet. Man muß das verstehen. Drei Töchter habe ich ihm geboren – da kann ich ihm doch nicht einfach den Hals durchschneiden.«

»Außerdem wäre dies unästhetisch!« sagte Pyljow angewidert. »Das viele Blut! Es muß lautlos, blutlos, ja, elegant geschehen. Vorvergiftet ist er ja – laß uns jetzt überlegen, was man dranhängen kann …«

»Ich gehe zu ihm.« Walentina, die Zarte, wischte sich über die Augen. »Überlegt, was ihr tun wollt. Vielleicht fällt mir etwas ein, wenn ich ihn ansehe …«

»Ein vortrefflicher Gedanke ist das!« Pyljow nickte zustimmend. »Schließlich sind wir keine Wegelagerer und Straßenmörder … Immer ästhetisch bleiben, meine Lieben. Immer ästhetisch!«

Walentina machte einen Umweg über die Küche, ehe sie das Schlafzimmer betrat. Babkin, das Väterchen, lag wie vordem stumm und bleich und unbeweglich unter seiner schwarzen Trauerdecke und wirkte so, als könne man ihn wieder in den daneben stehenden Sarg umbetten.

Sie war etwas verwüstet, diese letzte Kiste. Die wie Seide wirkende Papierdecke war zerfetzt, das Sägespänekissen aufgerissen, sogar das Kruzifix auf dem Sargdeckel war verbogen, bei dem billigen Blech kein Wunder.

»Mein armes Väterchen«, sagte Walentina traurig. »Die einzige werde ich sein, der du verzeihst. Ich weiß es. Immer habe ich dich geliebt und muß jetzt zusehen, wie die anderen dich doch noch zum Toten machen. Wer kann das aushalten, Väterchen? Ich nicht – auch wenn Mütterchen darunter leiden wird. Ich helfe dir.«

Unter dem weiten Rock holte sie einen Deckeltopf, gefüllt mit guter Milch, hervor, setzte sich zu Babkin ans Bett und drückte mit der linken Hand seinen Mund auf. Mit der rechten schüttete sie ihm die Milch in den Rachen, massierte dabei seinen Hals, wenn die Milch wieder hinauslief, bis sie merkte, daß Väterchen instinktiv schluckte.

Danach ging es besser: Babkin trank, tief schlafend, aber seinen Reflexen gehorchend, die Milch, die Walentina ihm einflößte, stöhnte dann auf, wackelte mit der Nase, schlief aber weiter, und begann zu schnarchen. Das war ein gutes Zeichen. Bei einem schnarchenden Mann kann man darauf vertrauen, daß er kraftvoll wieder aufwacht.

Walentina schob ihren Milchtopf unter das Bett, küßte ihr Väterchen auf Stirn und Nase und kehrte dann in die Wohnstube zurück.

Nina, Nelli und Pyljow saßen um den Tisch und schwiegen, weil in der Zwischenzeit Bobo Alexandrowitsch Panin gekommen war, der Milizionär, um sich von der Wahrheit des Gerüchtes zu überzeugen, daß Babkin plötzlich tot umgefallen sei. Man ließ ihn in diesem Glauben, und Bobo Alexandrowitsch, begeistert ob dieser Tatsache, strahlte seinen heimlichen Geliebten Pyljow an. Immer hatte er Sorge gehabt, Babkin könne sein Verhältnis zu dem Schwiegersohn entdecken. Unausdenkbar wären die Folgen gewesen!

»Nun?« fragte Nelli und deutete mit Blicken an, daß Bobo von Babkins zwischenzeitlicher Auferstehung keine Ahnung hatte. »Hast du bei Väterchen gebetet? Soll ich dich ablösen, Tinaschka?«

»Nein, laß ihn in Frieden ruhen, Schwesterchen«, antwortete Walentina geistesgegenwärtig. »Neue Kerzen habe ich auch angezündet …«

»Kann man ihn sehen?« fragte Bobo eifrig. »Von einem lieben Menschen möchte auch ich Abschied nehmen.«

»Geh hinein.« Nina Romanowna nickte schwer.

Aber Walentina rief schnell: »Nein«, beugte sich über die Mutter und flüsterte ihr zu: »Väterchen schnarcht. Ein Toter schnarcht doch nicht!«

»Laß es lieber sein, Bobo Alexandrowitsch«, erklärte Nina schnell, und Pyljow, etwas ahnend, zog den Milizionär am Uniformrock wieder auf den Stuhl zurück. »Walentina sagt mir eben, er habe sich sehr verändert. Die Hitze, wissen Sie, Bobo! Kein erfreulicher Anblick mehr. Morgen früh, wenn noch der Tau liegt, wollen wir ihn zum Friedhof bringen. Sie sind dazu eingeladen, Genosse Panin.«

»O danke, danke. Weiß die Ehre zu würdigen. Das wird gewiß ein großes Begräbnis werden! Wer kannte Babkin nicht? Ganz Ulorjansk wird auf den Beinen sein. Ein richtiger Festtag.«

Bobo Alexandrowitsch blieb sitzen, trank Wodka, aß eine gefüllte Zwiebel, jetzt zwar kalt, aber dennoch eine delikate Sache, verdrückte vergnügt die frischen Butterbrezeln, die Nelli gerade aus dem Ofen geholt hatte, und blinzelte Pyljow liebevoll an.

Ein dummer Mensch war er, was Pyljow ungemein störte, aber auch ein lieber Mensch, jenseits aller Arglist, was ihn wiederum sympathisch machte. Seinen Beruf als Polizist betrachtete er als eine Ehre. Wenn er seine Uniform trug, fühlte er Moskau in der Brust. Ein guter Beamter war Bodo Alexandrowitsch, immer geradeaus sehend, nie um die Ecken – so wie ein Beamter eben sein soll. Jedermann lobte ihn, und das ist bei einem Polizisten absolut nicht selbstverständlich, gebt es zu, Genossen!

Als Nina einmal in die Küche ging, um neuen Wodka zu holen, folgte ihr Pyljow.

»Warum geht Bobo Alexandrowitsch nicht?« zischte sie ihn an. »Sitzt herum, frißt und säuft und stiehlt uns die Zeit. Die Stunden verrinnen …«

»Keine Aufregung, Nina Romanowna«, sagte Pyljow beschwichtigend. »Sehen wir das Gute daran: In der Dunkelheit ist unser Vorhaben leichter zu bewerkstelligen. Morgen in der Frühe, wenn Väterchen Babkin hinabgelassen wird ins Grab, ist alles vorbei. War eine gute Reaktion eben von dir … die Hitze, kein schöner Anblick mehr … Bobo ist ein Gefühlsmensch …«

Endlich, nach drei Stunden, verließ auch Panin, der Milizionär, wieder das Haus. Hinter den unendlichen Wäldern rund um Ulorjansk versank glutvoll die Sonne, der Boden atmete noch die Hitze des Tages, aus den Gärten zog vielfach gemischter Duft durch die Fenster.

Im Schlafzimmer saß Babkin wieder auf seinem Bett, etwas schwankend noch, benommen und wie vor den Schädel geschlagen, aber von Minute zu Minute munterer werdend. Die Milch hatte die Wirkung der Injektion abgeschwächt, ein schweres Erwachen war's, aber Wadim Igorowitsch rechnete das noch zu den Nachwirkungen. Vom Scheintod zurück ins Leben ist ein gewaltiger Schritt, das muß man einsehen. Man muß es dem Körper Schritt für Schritt klar machen: Du bist wieder da! Hör zu, Lunge, du lebst … Hör zu, rechtes Bein, du lebst … Jawohl, glaub es nur, linker Arm, du lebst – und so weiter, bis der ganze Körper weiß: Du lebst! So einfach ist das also gar nicht, das Auferstehen!

Aber dann, wenn der Körper das begriffen hat, dann – o je! Babkin ballte die Fäuste und freute sich, daß er sie wieder ballen konnte.

Und jetzt, dachte er, lauft weg in alle Himmelsrichtungen, ihr Lügner und Betrüger! Babkin kommt und wird die offenen Rechnungen einkassieren! Sagen wird er euch, was ein betrogenes Leben ist …

Erfahrene Kriegsveteranen können es bestätigen: Äußerst selten kommt es vor, daß eine zweite Granate in einen schon vorhandenen Granattrichter fällt. Bei einem heftigen Granatfeuer ist man deshalb sicherer, wenn man in einen gerade entstandenen Trichter springt und, sich dem Schicksal ergebend, abwartet.

Wie gesagt, selten ist's, wenn doch einmal in das gleiche Loch eine neue Granate fällt. Aber genau das erlebten die Babkins, als sie nach einem üppigen Abendessen mit einer Tschaban – Suppe – das ist ein herrliches Gericht aus Hammelfleisch, Zwiebeln, Kartoffeln, Tomaten und allerlei Gewürzen – zufrieden am Tisch saßen und sich geeinigt hatten, Väterchen Wadim Igorowitsch im Schlaf mit einem dicken Kissen zu ersticken.

Pyljow, das kluge Lehrerchen, hielt für diese Tötungsart überzeugende Argumente bereit: Erstens war es lautlos. Zweitens hinterließ es keine Spuren äußerer Gewaltanwendung. Drittens war es ästhetisch, und viertens führte es garantiert zum Tode und schloß einen zweiten Scheintod völlig aus.

Pyljow, der gute Schwiegersohn, war auch bereit, diese Arbeit zu übernehmen. Der Anblick Bobos hatte sein Herz in Wallungen gebracht und seinen Rest von Gewissen besänftigt. Es mußte sein, ehe sie alle von Babkin vernichtet werden.

Diese harmonische Eintracht, in der scheinbar auch Walentina mitspielte, wurde jäh zerstört durch das Aufstoßen einer Tür. Die zweite Granate landete im Trichter: Babkin kam munter und tatenfreudig aus dem Sterbezimmer in die Wohnstube zurück. Er hob die Nase schnüffelnd in die Luft und sagte dann – wie immer zu seinen Lebzeiten:

»Habt ihr mir etwas Tschaban übriggelassen, ihr Fresser?«

Mit einem tiefen Seufzer fiel Nina Romanowna vom Stuhl. Keiner vermag zu sagen, ob die Ohnmacht echt oder nur gespielt war. Babkins Weibchen lag jedenfalls auf den Dielen und rührte sich nicht.

Nelli faltete wieder die Hände, Walentina senkte den Kopf, und Pyljow, der liebe Schwiegersohn, glotzte Babkin an, als käme ein Riesenkäfer ins Zimmer.

Alles kein schöner Anblick.

»Die Sprache verschlägt's euch, was?« sagte Wadim Igorowitsch mit sichtbarem Genuß. »Das Spritzchen von Dr. Poscharskij hat mir den noch fehlenden Rest des Lebens zurückgegeben! Munter bin ich wie ein Fischlein im frischen Wasser.«

Er setzte sich an den Tisch, auf den Stuhl, von dem Nina gefallen war und neben dem sie nun lag, zog die Schüssel zu sich heran und begann, die noch lauwarme Tschaban-Suppe daraus zu löffeln. Dabei sah er Pyljow an, der eine gelbliche Hautfarbe bekommen hatte.

»Was erschreckt dich so, Boris Witalowitsch? Um mich unter die Erde zu bringen, sind sechs Teufel nötig. Ihr aber seid nur drei.«

Er rechnet mich nicht mit, dachte Walentina glücklich. O Väterchen, wie böse sind sie alle um dich herum! Wenn du wüßtest, was sie beschlossen haben und was jetzt nicht mehr auszuführen ist. Welch göttliches Geschenk ist doch die Milch …

Nachdem Babkin in der schweren Stille eine gehörige Portion Tschaban gegessen hatte, wischte er sich über den Mund, rülpste kräftig, was von den Zwiebeln kam, blickte dann zur Seite und betrachtete ohne großes Mitgefühl die noch immer ohnmächtig neben seinem Stuhl liegende Nina Romanowna, sein Weibchen über zweiunddreißig Jahre hinweg.

»Was hat sie bloß?« Die Frage war an alle Anwesenden gestellt.

»Ist es so einfach, einen Toten wieder leben zu sehen?« fragte Pyljow mit heiserer Stimme zurück. »Da kann man schon umfallen.«

»Vor allem, wenn man mit Sünden überladen ist!« Babkin knurrte wie ein erwartungsvoller Wolf, der ein Zicklein witterte, und erhob sich mit einem Ruck. Pyljow zog unwillkürlich seinen Kopf tief zwischen die Schultern.

»Was … was hast du vor, Väterchen?« stotterte er und wurde noch gelber im Gesicht.

»Ein wenig spazieren gehe ich.« Babkin dehnte seinen Brustkorb mit einem tiefen Atemzug. »Frische Luft, Boris Witalowitsch. Niemand weiß, wie köstlich frische Luft ist, wenn man schon einmal tot war. Bisher hat das keiner erzählen können – ich kann's jetzt. In die Medizingeschichte wird das eingehen, sagt Dr. Poscharskij. Kühlt ein Fläschchen Krimwein für nachher, wenn ich zurückkomme. Anstoßen muß man doch auf das neue Leben.«

Er atmete noch einmal tief ein, verließ dann das Zimmer, und gleich darauf klappte die Haustür zu. Pyljow starrte vor sich hin, als wolle er die ganze Welt anbrennen.

»So ist das nun!« schrie er plötzlich. »Er läuft wieder herum wie ein Stier. Was sollen wir jetzt tun? Unmöglich ist's, ihn weiterleben zu lassen. Morgen früh ist doch das Begräbnis!«

»Begrabt mich für ihn!« sagte Nina, aus ihrer Ohnmacht erwachend, aber auf den Dielen liegen bleibend. »Ob morgen früh oder einen Tag später, was macht das aus? Erwürgen wird er mich sowieso. Ihr kennt ja nicht die Wahrheit, die er jetzt weiß.«

»Mir genügt, was er von mir weiß«, sagte Pyljow dumpf. »Ich bin vernichtet. Habt ihr im Magazin einen dicken Strick?«

»Hunderte …«, schluchzte Nelli, völlig aus der Fassung gebracht.

»Einer genügt für mich.« Pyljow stützte den Kopf in beide Hände. »Daß ich so enden muß! Erster Lehrer sollte ich werden, Leiter der Schule – welche Ehre für mich. Aber nun werde ich unter einem Balken hängen! Ihr Lieben alle, blickt weg, wenn ich jetzt weine.«

»Und was wird aus mir?« rief Nelli verzweifelt. »An mich denkt keiner! Soll ich mich neben Boris an den Balken hängen? Oh, warum haben wir das alles nur getan … oh, warum!«

»Warum! Warum! Warum!« Nina Romanowna zog sich an dem neben ihr stehenden Stuhl hoch und kam auf die Beine.

Einen verwirrten Blick hatte sie, aber den hatten sie alle bis auf Walentina. Die bemühte sich allerdings redlich, auch entsetzt dreinzusehen. Grund dazu hatte sie schon. Nur an den Popen Waninow brauchte sie zu denken, um zu ahnen, was Babkin, ihr Väterchen, mit ihm anstellen würde.

»Getan ist getan«, fuhr Nina fort. »Kann man's noch ändern? Wer hält Wadim Igorowitsch jetzt auf? Was ist ein menschenfressender Tiger gegen ihn?«

»So ist es!« sagte Pyljow mit schwerer Zunge. »Nur ist der Unterschied der: Einen Tiger darf man erschießen …«

»Babkin hat einen alten Militärrevolver versteckt«, rief Nina, plötzlich voller neuer Hoffnung. »Im Kleiderschrank, in einem Doppelboden …«

»Ah! Er hat einen Doppelboden, der Halunke!« schrie Pyljow. »Uns will er jagen, und selbst legt er sich Verstecke an! Sind wohl viele unbekannte schwarze Rubelchen im Doppelboden, was? Schädigt den Staat und läuft mit der Moral herum, als wär's ein Hemd, das ihm aus der Hose hängt! Betrügt die Gemeinschaft des Sowjetvolkes – und will uns strafen, weil wir kleinen menschlichen Schwächen erlegen sind! So einer ist er also! Hinweg mit ihm!«

Aber wie nun?

Bis zum Morgen blieb nicht mehr allzuviel Zeit, vor allem, wenn man Babkin ästhetisch umbringen wollte.

Arune Jelisaweta stockte der Atem, als Babkin nach kurzem Anklopfen das Haus betrat und ihr plötzlich gegenüberstand. Dann tat sie einen tiefen Seufzer, lehnte sich an die Wand und bekreuzigte sich. Nur so kann man sich vor Geistern schützen.

»Wo ist Isaak Guramowitsch?« fragte Babkin und rollte mit den Augen.

Arune erbleichte, aber im Gegensatz zu Nina Romanowna fiel sie nicht um. Ein Geist, der sprach, ein Toter, den sie vor ein paar Stunden noch am Bett beweint hatte, lief herum … Zu ungeheuerlich war das!

Mit Wohlwollen betrachtete Babkin den prallen Busen der Narinskaja, ihr mädchenhaftes Gesicht und ihre runden Hüften. Nichts Unbekanntes war das alles für ihn, aber für einen Wiedererwachten dennoch ein neues Vergnügen.

»Wo?« fragte er wieder und etwas härter.

»Bei Komolow in der Wirtschaft …«, stammelte das dralle Weibchen und schlug wieder ein Kreuz. Wer hat schon Gelegenheit mit einem Geist zu reden!

»Aha! Bei Komolow.« Babkin legte die rechte Hand auf Arunes Brust und stellte mit großer Zufriedenheit fest, daß ihn solches wieder erregte.

Voll zurück bin ich im Leben, dachte er fröhlich. Dr. Poscharskij ist doch kein Nichtskönner, sein Spritzchen hat Wunder gewirkt. »Ich werde auf ihn warten.«

Ohne Arunes Antwort abzuwarten, ging er ins große Zimmer, setzte sich in einen Korbsessel und streckte die Beine von sich. Arune folgte ihm schwankend, wie hypnotisiert.

Das Haus des Metzgers Narinskij war gut eingerichtet, nicht so wertvoll wie das des reichen Babkin, aber gemütlich und besser als der Durchschnitt der Ulorjansker Häuser. Ein Metzger verdient gut an dem, was er beiseite schaffen kann, trotz aller staatlicher Kontrollen. Mehl und Wasser strecken jede Wurst, und Fett und zu Pulver zermahlene Knochen tragen zum Wohlstand bei, wenn man sie ebenfalls daruntermischt. Man muß sein Handwerk nur verstehen.

Narinskij war ein guter Metzger – das sagt schon alles. Wen wundert's, daß es ihm gut ging? Nur sein Geiz verhinderte ein fröhliches Leben, nach dem sich vor allem Arune sehnte, ein Frauchen, so knackig wie ein reifes Äpfelchen.

»Wo … wo kommst du her?« wagte Arune mit ganz leiser Stimme zu fragen. Ein wenig irre war sie geworden: Von einem Geist, der einem an die Brust faßt, und man merkte es sogar, hatte man bisher noch nichts gehört oder gelesen. Geister sind Luft, entmaterialisiert – aber Babkins bekannte Hand und seinen bekannten Griff hatte sie voll gespürt. Wer ist da nicht verwirrt? »Du … du wirst doch morgen begraben …«

»Geplant war's so. Aber nun bin ich hier und warte auf Isaak Guramowitsch.«

»Du … du bist nicht tot?«

»Komm her und faß mich an, Arunuschka.«

»Ich habe Angst …«

»Komm her!«

Zögernd kam sie näher, streckte die rechte Hand aus und berührte Babkin mit den Fingerspitzen. Kein Zweifel, das war ein Körper, keine Geisterluft. Wadim Igorowitsch war zur Erde zurückgekehrt – wer kann das begreifen?

Plötzlich begann Arune zu weinen, lehnte sich an den Sessel aus geflochtenen Weidenruten und an Babkins Schulter und fühlte das Tätscheln seiner Hand auf ihrem Gesäß. Auch das war ihr bekannt, aber ihr Gefühl dabei war weniger wohlig als unangenehm.

Auch als Babkin ihr über die Schenkel strich, schloß Arune nicht die Augen vor Lüsternheit, sondern vor Erschrecken. Wer ist schon jemals von einem Wiedererwachten gestreichelt worden? Niemand von uns, Genossen!

»Hast … hast du Durst?« fragte sie mit vergehender Stimme.

»Ein Weinchen wäre gut, meine Liebe.« Babkin unterbrach seine noch harmlosen Zärtlichkeiten, sah ihr mit glänzendem Blick nach, wie sie in die Küche lief und dabei ihre Hüften schwenkte, daß es eine wahre Pracht war.

Warum bloß, dachte Babkin, hat Narinskij sie mit Nina betrogen? Ein Rätsel ist das. Aber wer kann schon in das Herz eines anderen blicken oder in seine Gehirnwindungen, um Verworrenheiten zu erklären?

Arune mit Nina zu betrügen, ist fast, wie einen guten Braten gegen ein wässriges Würstchen zu tauschen. Man kann's nicht begreifen.

Arune kam zurück, eine Flasche Wein und ein Glas in der Hand. Sie zitterte beim Gehen, goß das Glas voll, reichte es Babkin und wich dann zur Wand zurück.

»Was willst du von Isaak Guramowitsch?« fragte sie, als Babkin das Glas wieder absetzte.

»Ihm den Schädel einschlagen. Mit Nina betrügt er uns – stell dir das vor! Mit Nina Romanowna! Verrückt muß er sein … Aber trotzdem schlage ich ihm den Schädel ein! Schleicht heimlich zu ihr …«

»Und wir?« Die schöne Arune atmete heftig. »Was war mit uns? Bist du nicht auch, wenn ich ein Handtuch zum Fenster hinaushängte, zu mir …«

»Das ist etwas anderes!« Babkin winkte ab. »Nicht zu vergleichen ist das. Ein Mann in meiner Position muß weltoffen sein …«

»Auch Narinskij ist ein Mann.« Sie weinte wieder, ihr Körper zuckte dabei, und Babkin betrachtete mit Wohlwollen ihren auf und ab wogenden Busen. »Du erschlägst ihn? Wie soll ich als Witwe weiterleben? Zu jung bin ich noch für lange schwarze Kleider.«

»Wir werden sehen.« Babkin goß sich noch ein Gläschen voll. Ein guter Wein aus dem Kaukasus war es. Er kannte ihn, denn Narinskij hatte ihn ja von ihm gekauft. »Zum Beispiel könnten wir heiraten, Arune.«

»Wir?« Sie starrte ihn an, als sei er wirklich ein Geist. »Und Nina Romanowna?«

»Ich werde sie erschlagen wie Narinskij. Jedermann wird das gerecht finden, und alle werden lobend sagen: Sieh an, der Babkin! Der gerächte Witwer heiratet die arme Witwe. Welch eine große Seele! Nun steht die Welt wieder gerade. Was haben die beiden leiden müssen! – Genauso wird man sprechen.«

»Ich soll einen zweifachen Totschläger lieben?«

»Einen vielfachen Totschläger, mein Schwänchen.« Babkin dehnte und streckte sich im Sessel. »Da sind noch mehrere, denen es an den Kragen geht: Waninow, dem Popen, Afanasjew, Sawitzkij, Mischin, Sapanow, Bobo, Pyljow, meinem verdammten Schwiegersöhnchen, Blistschenkow, diesem Floh … Ha, ich rotte sie alle aus!«

»Und wann rottest du mich aus?«

»Ganz sicher, wenn auch du mich betrügst!« Babkin hob den Kopf. Auf den Steinplatten vor dem Haus ertönten Schritte. Arune, die Süße, preßte die Fäuste an den Mund und biß hinein. Ihre Augen, die Babkin einmal – in seinem Alter wie ein Gockel reagierend – vom Himmel gefallene Sterne genannt hatte, weiteten sich in maßlosem Entsetzen. Sie wollte aus dem Zimmer laufen, aber eine Handbewegung Babkins hielt sie zurück.

»Da kommt er ja, der gute Isaak Guramowitsch«, sagte er gemütlich. »Paß auf, wie er gleich wegzulaufen versucht. Die Hosen wird er sich vollmachen, der Ehebrecher.«

»Mein liebliches Täubchen!« rief draußen in der Diele eine fremde Stimme. Babkin erstarrte und schob den Kopf vor. »Wo ist es denn, mein zärtliches Kaninchen? Hast dich schon ausgezogen, was?«

Die Tür sprang auf, und herein kam ein Mensch, den Babkin noch nie gesehen hatte. Ein feines Herrchen, so sah er jedenfalls aus, in der einen Hand einen Strauß mit Blumen, in der anderen eine Flasche Sekt von der Krim. Ein schwarzes Bärtchen klebte ihm unter der Nase, und schwarze Locken hatte er auf dem Kopf. Vor allem aber war er jünger als Narinskij und viel jünger als Babkin, so um die Dreißig herum und damit auch noch jünger als Arune Jelisaweta. Verblüfft blieb er in der Tür stehen und betrachtete Babkin wie einen verirrten Regenwurm.

»Wer sind denn Sie, Genosse?« fragte er etwas hochmütig. »Keine Geschäftszeit mehr. Belästigen Sie nicht die Frau des Hauses. Denken Sie früher an Ihren Bedarf. Scheußlich – immer will sich die Trägheit durchsetzen.«

»Ich bin Babkin, Wadim Igorowitsch … und trete Ihnen gleich in den Bauch!« sagte Babkin und erhob sich aus seinem Korbsessel.

»Und ich bin Gurjuk, Julian Viktorowitsch … und werde Ihnen das Gesicht auf den Rücken drehen …«

»Dann los, Freundchen!« Babkin duckte sich etwas. Zu Arune schielte er hin, die bleich an der Wand lehnte und an ihren Fäusten kaute. »Da kommt noch einer auf die Liste«, sagte er und atmete plötzlich schwer. »Nein, zwei kommen drauf … du zärtliches Kaninchen …«

»Zu Hilfe!« stammelte Arune. Es sollte ein Schrei werden, aber ihre Stimme ertrank in den Tränen, die ihr aus den Augen tropften. »Zu Hilfe! Hör eine Erklärung an, Wadim Igorowitsch.«

Erklärung! Was gab es da noch zu erklären? Der feine Mensch, der sich Gurjuk nannte, warf den Blumenstrauß an die Wand, ließ die Flasche Krimsekt fallen – sie zerplatzte nicht, was für die Güte sowjetischen Glases sprach – und rieb sich die Hände wie einer, der am Reck turnen wollte.

»Mein Alterchen«, sagte er fast gütig. »Ingenieur bin ich, von der neuen Silbermine. Vier Sportdiplome habe ich … Komm nur her. Noch einen Rülpser tust du, dann bringen wir dich ins Krankenhaus. Viel Silberdraht wird man brauchen, um deine Knochen wieder zusammenzuflicken.«

Babkin schnaufte laut. Das Wort ›Alterchen‹ brannte in seinem Herzen wie ein offenes Geschwür. Nun ja, sechzig ist man, das ist nicht zu leugnen, aber ›Alterchen‹, in diesem gehässigen Ton gesagt, war ein Schwertstreich gegen seine Männlichkeit.

Es gibt Sechzigjährige, die reiten einem Dreißigjährigen davon, vor allem in Sibirien … Und da kommt so ein Stadtmensch daher, ein Ingenieur, sicherlich aus Tobolsk, und rollt mit den Muskeln! Paß auf, Rotznäschen, was man gleich mit dir macht …

Was man nun erwartet, Genossen, es fand nicht statt. Die beiden Männer stürzten nicht aufeinander los, o nein. Sie wandten sich plötzlich einträchtig zu Arune um und spuckten vor ihr aus.

»Hürchen!« sagte der feine Gurjuk.

Und Babkin fügte hinzu: »Auch so ein spreizbeiniges Weib … zum Kotzen ist's! Julian Viktorowitsch, sollen wir uns deswegen die Knochen brechen?«

»Welch ein sinnloser Luxus wäre das!« entgegnete Gurjuk vornehm. »Wadim Igorowitsch, Sie haben auch mit ihr …?«

»Und wie oft!«

»Pfui!«

»Ja, pfui über sie!«

»Ein so strammes Weibchen und ein Greis …«

»Wir können uns noch schlagen«, sagte Babkin dumpf, »wenn Sie weiter an meiner inneren Jugendlichkeit zweifeln!«

»Mir genügt, was ich höre und sehe.«

»So ist's recht. Gehen wir.«

»Ja, gehen wir.« Gurjuk nahm seine Sektflasche vom Boden hoch. »Aber wohin?«

»Zu Komolow, in die Wirtschaft.«

»Was soll ich da?«

»Da sitzt Isaak Guramowitsch, ihr Männchen. Julian Viktorowitsch, helfen Sie mir, ihm den Schädel einzuschlagen.«

»So ist's.« Gurjuk spuckte noch einmal vor Arune aus, um seine Empörung zu unterstreichen. »Aber ist Narinskij nicht ein starker Mann, Wadim Igorowitsch?«

»Kein Problem für Sie mit vierfachem Sportlerdiplom.«

»Es war im Hochsprung …«

»Vortrefflich! Dann können Sie mit Stangen umgehen. Brechen wir uns jeder eine aus dem Zaun – und dann hinüber zu Komolow!«

»Welch eine gute Idee! Kommen Sie, Genosse.«

An der heulenden Arune vorbei verließen sie das Zimmer, traten auf die Straße, und Gurjuk ging zu einem verbeulten alten Auto, das vor dem Haus stand.

»Abschließen will ich es noch!« sagte Gurjuk harmlos, setzte sich hinein, ließ den Motor an und schoß davon wie ein Rennfahrer.

Fassungslos starrte ihm Babkin nach, bis er begriff, was man mit ihm gespielt hatte.

»Feigling!« schrie er dem wild über den schlechten Weg hüpfenden Wagen nach. »Oh, ist das eine Welt! Ist das eine Generation, diese Jungen! Nennen uns Alterchen und rennen vor jeder Wespe davon. Wie gut, daß ich noch aus altem hartem Holz bin!«

Er vergrub die Fäuste in den Hosentaschen, reckte das Kinn in die Luft und machte sich auf den Weg zu Komolow. Nur ein paar Schritte waren es; die Wirtschaft lag eine Straße weiter um die Ecke herum.

Jeder in Ulorjansk wußte es: Narinskij war ein starker Mann. Wer einem Hammel mit der bloßen Faust die Stirnknochen zertrümmern kann, ist ein starker Mann. Narinskij hatte es einmal vorgeführt, und alle hatten begeistert geklatscht.

Um so mehr verblüffte es alle Gäste bei Komolow, daß Isaak Guramowitsch aschfahl im Gesicht wurde, als Babkin in den Schankraum trat und laut sagte:

»Narinskij, ich bringe dir die Verdammnis!«

»Mein Gott, er lebt ja!« schrie Komolow auf und umklammerte den Thekenrand. »Wadim Igorowitsch, du hast doch im Sarg gelegen …«

»Davon später!« Babkin winkte ab. Er sah sich um und freute sich, daß alle ihn voller Entsetzen anstarrten. »Wißt ihr, was Narinskij ist? Ha, ihr ratet es nie!«

»Wadim Igorowitsch«, sagte Narinskij mit zugeschnürter Kehle, »laß uns über alles diskutieren. Alles kann man bereden, glaub es mir, und die Dinge bekommen ein anderes Gesicht.«

So hatte man den starken Narinskij noch nie sprechen hören, aber Babkin, mutig wie noch nie in seinem Leben, hieb mit der Faust auf die Theke. Ein Zeichen war das … Alles rückte von ihm und Narinskij ab, bildete einen Kreis um sie und wartete nun gespannt auf die kommenden Dinge.

Mikjew, der im Großen Vaterländischen Krieg Sanitäter gewesen war, zog sogar seine Jacke aus und legte Pflaster vor sich auf den Tisch. Die trug er immer bei sich; wenn man ihn deswegen befragte, sagte er stolz: »Man wird Sanitäter und bleibt es sein ganzes Leben lang. Kein Beruf ist das … eine Berufung ist's!«

»Keiner weiß, was Narinskij ist?« schrie Babkin durch den Raum. »Ich sage es euch: ein Bär mit einem Hirschgeweih! Welch ein komisches Tier, Genossen! Aber nun gibt es dieses Wesen. Und wer hat ihm das Geweih aufgesetzt? Arune Jelisaweta, sein zuckriges Weibchen. Sitzt hier, der Ahnungslose, bei einem Gläschen Wodka, und was unternimmt unterdessen sein Täubchen? Lädt sich Kavaliere ein, die sie ein zärtliches Kaninchen nennen …«

»Lüge!« brüllte Narinskij auf. Er sprang hoch wie ein Gummiball, warf die Arme in die Luft und wirkte wie ein angriffslustiger Gorilla. »Lüge! Niemand ist treuer als Arune! Wer etwas dagegen sagt, bete seinen letzten Psalm …«

»Singe das Hohelied Salomos und frag einmal Gurjuk, Julian Viktorowitsch, Ingenieur der neuen Silbermine … Kommt daher mit Blumensträußen und Krimsekt und pfeift schon an der Tür: ›Ins Bettchen, es kommt der Mann vom Mond!‹ Und flugs deckt Arune die Matratze auf …«

Narinskij starrte wild um sich, machte dann einen Sprung auf Babkin zu, aber der stand wie ein Fels und erwartete ihn.

»Laß uns aufeinander draufschlagen, Wadim Igorowitsch!« schrie der Metzger. »Ein ehrlicher Kampf ist das! Aber diese Lüge …«

»Die Welt ist schlecht.« Babkin griff nach Narinskijs hocherhobenen Fäusten und drückte sie herunter. »Die Hände sollten wir uns geben – als Brüder im Leid, Isaak Guramowitsch. Beide sind wir betrogen worden von unseren Frauen. Das hebt das Problem zwischen uns auf.«

Auch wenn Narinskij mehr von Ochsen, Hammeln und Kälbern verstand als von geistvollen Überlegungen, das kapierte er. Mit rollenden Augen blickte er Babkin an, um sich noch einmal davon zu überzeugen, daß dessen Behauptungen wirklich keine billige Rache waren. Aber als Babkin ihm ganz freundschaftlich zunickte, stieß der Metzger einen dumpfen Seufzer aus, zog die Schultern hoch und stürmte wie ein angestochener Stier aus Komolows Wirtschaft.

»Das wär's, liebe Brüderchen«, sagte Babkin gemütlich und rieb sich die Hände. »Kommt wieder näher. Nicht hier gibt es jetzt blaue Flecken … Isaak Guramowitsch wird sie auf Arunes Haut malen!«

Zufrieden verließ er das Lokal, stellte sich auf die Straße in den leichten, warmen Sommerwind, atmete die köstliche Luft ein, die aus den Wäldern herüberwehte, und hakte auf der Liste in seinem Kopf den Namen Narinskij ab.

Wer nun? dachte er tatendurstig. Ihr verdammten Halunken, wer ist der nächste?

Afanasjew wohnte zu weit weg, am anderen Ende der Stadt – für ihn brauchte man Zeit. Jetzt war es Abend; man mußte sich um die kümmern, die in der Umgebung hausten. Vielleicht Mischin, den Sargmacher?

Morgen, dachte Babkin, er ist von allen der kleinste Lump. Sapanow, Bobo, Sawitzkij? Sie alle waren nicht unbedingt so wichtig, um sie jetzt aufzusuchen, wenn auch Sawitzkijs Betrug mit den kranken Schweinen tief in Babkins Seele brannte.

Am nächsten ist eigentlich Waninow, das Väterchen Pope. Mein heimlicher Schwiegersohn, der Erzeuger meines Enkels. Vor Augen führen muß man sich das mal: Da wird man Alterchen genannt und hat einen Schwiegersohn, der noch älter ist! Würde jemand wagen, zu Waninow Alterchen zu sagen?

In Babkin stieg heiliger Zorn hoch. Mein armes Schwänchen Walentina! Ein Engelsstimmchen hat es, trällert und jubiliert, und singen lernen will es bei dem Popen, doch was kommt dabei heraus? Ein Kind! Zugegeben, ein strammes, liebes Bürschchen mit einem echten Babkin-Gesicht, nicht mit dem Ochsenkopf von Waninow. Ein fröhliches Kind, aber doch ein armes Wesen, das seinen Vater nicht kennt, dessen Name immer ein Geheimnis geblieben wäre, wenn ich nicht tot dagelegen hätte. Ein Vater, der in der Kirche über die Keuschheit predigt …

Das war's, was Babkin vorwärtstrieb. Die Brust dehnte er noch einmal, stopfte sein Hemd korrekt in die Hose und schlug den Weg zur Kirche ein.

Sidor Andrejewitsch, ich komme!

Zu keiner Lösung war man im Hause Babkins gekommen. Wohl fand Nina Romanowna den alten Armeerevolver im Doppelboden des Kleiderschranks, aber der Lauf war verrostet, die Trommel knirschte, und den Patronen, die darin steckten, war auch nicht zu trauen. Etwas verschimmelt wirkten sie, voller Grünspan; sie mußten im Lauf der vielen Jahre einmal naß geworden sein.

»Sie taugen nichts!« sagte Pyljow enttäuscht und legte die Waffe aufs Bett mit den zerwühlten schwarzen Trauerlaken. »Weiß man, ob's nicht einen Rohrkrepierer gibt? Dann ist die Hand weg, Nina Romanowna, und Babkin lacht sich ins Fäustchen. Nein, so geht es nicht. Vielleicht kann man ihn mit einem Strick erdrosseln …«

»Ist das ästhetisch, Boris?« fragte Nelli etwas dümmlich.

»Großzügig betrachtet schon. Kein Blut fließt. Alles Schmutzige ist unästhetisch – ein Strick kann sauber arbeiten.«

»Aber die Würgemale am Hals sieht man …«, warf Walentina tapfer ein. Der Zwang zum Mitspielen lastete schwer auf ihr.

»Man wird Väterchen bis zum Hals zudecken.« Nina Romanowna befreundete sich mit dem Gedanken ans Erwürgen. »Und wer sieht ihn denn noch an? Nur wir aus der Nähe, beim Abschied am Grab. Die anderen stehen weit genug entfernt. Boris Witalowitsch, nehmen wir ein Seil. Aber wer erwürgt ihn?«

»Natürlich Boris!« rief Nelli und strahlte ihren Ehemann an. Ein fleißiges Mädchen war sie, immerzu willig zu allem, was man von ihr verlangte. Und kochen konnte sie, daß die hochnäsigen Köche in den Hotels eigentlich ihre weißen Mützen an die Wand werfen müßten. Doch ihr Gemüt war einfältig und ihr Denken geradeaus. Pyljow widerte so etwas an, aber er ertrug es wegen des nun fälligen Erbes.

»Wir sollten überlegen, wer so etwas machen kann«, sagte er nachdenklich. »Erdrosseln ist eine reine Nervensache … Haben wir diese Nerven noch? Meine Lieben, uns zittern zu sehr die Hände. Ein Gemüt ohne Reue brauchen wir, einen gewissenlosen Menschen!«

»Woher?« fragte Nina klagend. »Haben wir einen? Kennen wir einen? O je, ist es schwer, jemanden umzubringen …«

»Denken wir mal an Mischin …«

»Igor Grigorjewitsch? Ein Feigling ist er!« rief Walentina sofort.

»Wenn man ihm dreihundert Rubel gibt?«

»Dreihundert Rubel? Bist du verrückt, Pyljow?« Nina schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. »Sagt das so daher, dreihundert Rubel! Als wenn das nichts wäre! Wirft mit dem Geld nur so herum, der Genosse Lehrer. Bei allen Propheten, es muß doch einen billigeren Tod für Babkin geben. Kostet sein Begräbnis nicht schon genug? Der Sarg, die Spende für Waninows Kirchenkasse, der Leichenschmaus – noch im Tode macht mich Babkin arm!«

Pyljow schwieg. Ninas Geiz war bekannt; darüber zu streiten, brachte nichts als viele Worte und nutzlosen Ärger. Tausende von Rubeln würde sie erben, nicht eingerechnet das Schwarzgeld, das Babkin angelegt und versteckt hatte – aber um Witwe zu werden und an dieses Geld zu kommen, feilschte sein Weibchen bei dreihundert Rubeln wie ein Armenier im Basar. Kann das jemand verstehen?

Pyljow wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und dachte an seinen geliebten Bobo und ihren gemeinsamen Untergang, wenn Babkin reden würde.

»Fragen wir Waninow«, sagte er, etwas ermüdet von all den Ereignissen der letzten Stunden.

»Du kannst doch keinen Popen fragen, wie man Väterchen schnell, sicher und ästhetisch umbringen kann!« rief Walentina verzweifelt. In ihr stieg berechtigte Angst empor. Wenn jemand ein Interesse daran hatte, Babkin tot zu sehen, dann war es Sidor Andrejewitsch. Ein Pope mit einem heimlichen Kind – da verhängt man den Altar, löscht die Lichter vor der Ikonostase und lauert dem Vernichter seines Rufes auf.

»Einen unverbindlichen Rat soll er geben – rein theoretisch.« Pyljow tat es weh, was er noch hinzufügte, aber er sprach es dennoch aus: »Ist er nicht der klügste Mensch unter uns? Ein wenig klüger nur als ich – doch darauf kommt es an!«

»Hat nicht Dr. Poscharskij schon bei Väterchen versagt? Und ist er nicht noch klüger als Waninow?« warf Nelli ein. Es war einer der seltenen guten Gedanken, die sie manchmal hatte und mit denen sie immer wieder ihre Umwelt verblüffte. Es war dann, als sei in ihrem Hirn ein Lämpchen angeknipst worden, nur war's nicht von langer Dauer.

»Erinnern wir uns an Rasputin«, sagte Pyljow klug. »Das war auch ein Mensch aus dieser Gegend, vom Tobol, ganz in der Nähe. Wie war das damals, als man ihn umbringen wollte? Vergifteten Kuchen hat er gefressen – nichts! Erschossen hat man ihn, mit mehreren Kugeln – er lebte weiter. Erschlagen hat man ihn – der Kerl war nicht tot zu kriegen. In die eisige Newa warf man ihn, und da erst ist er ertrunken, weil er nicht schwimmen konnte. Nachlesen kann man das überall. Und Babkin ist ein Sibirier, der gleiche Schlag wie Rasputin. Steht von den Toten auf, überlebt Dr. Poscharskijs Spritze, hinterläßt uns einen verrosteten Revolver und verschimmelte Patronen … Wer wettet mit mir, daß auch der Strick reißt, wenn man ihn aufhängen will!« Pyljow atmete schwer nach diesem berechtigten Vergleich mit Rasputin. »Man muß voraussichtlich doch unästhetisch werden!«

»Blut?« stammelte Nina Romanowna tonlos. »Mein liebes Schwiegersöhnchen, das muß geschehen, wenn ich nicht dabei bin.«

Zum Verzweifeln war's … man kam und kam nicht weiter mit dem Problem, durch welche Methode man Babkin die ewige Seligkeit verschaffen sollte.

Es war, als habe Sidor Andrejewitsch geahnt, daß er einer der Ersten auf Babkins Liste war. Vorsorglich hatte er die Tür in dem kleinen Anbau verrammelt, durch die man in seine bescheidene Wohnung eintreten konnte. Auch die Verbindungstür zum Kirchenschiff hatte er verriegelt und eine Kommode davorgeschoben. Um seines Schutzes ganz sicher zu sein, lehnte neben Waninows Sessel ein langer, flacher Holzknüppel, mit dem früher die Frauen am Bach die Wäsche über den Steinen geschlagen und den Schmutz hinausgeprügelt hatten.

Aber natürlich war das kein Dauerzustand, das sah auch Waninow ein. Ein Pope gehört zu den Gläubigen, und eine Kirche ist für alle da, die Gottes Atem spüren wollen. Jeder Tag hat seinen Sinn und seine Aufgabe:

Man betet, hält Gottesdienst, singt mit dem Chor, übt mit den verschiedenen Gruppen, hört die Beichte, tröstet die Hilfesuchenden, spendet letzten Trost den Sterbenden, tauft und verheiratet, sammelt Spenden und repräsentiert den Herrn – man denke bloß nicht, einem Popen würde es langweilig zwischen seinen Ikonen und Kreuzen, Kerzenhaltern und Weihrauchgefäßen. Eine ständige, nervenzehrende Arbeit ist das, vor allem in einem so kleinen Ort wie Ulorjansk, wo Kirche und Pope der Mittelpunkt sind – nach dem Parteihaus natürlich. Das Parteihaus ist das höchste.

Waninow, sich seiner Aufgabe voll bewußt, hatte sich zu helfen gewußt. An die Kirchentür hatte er ein Schild geklebt, auf dem man, geschrieben mit einem dicken Rotstift, lesen konnte, daß das Gotteshaus wegen dringender kleiner Reparaturen vorerst geschlossen sei. Der strahlende Sommer erlaube es, Gottesdienste im Freien abzuhalten, hinter der Kirche oder vor dem Friedhof.

Waninow hielt das für einen genialen Gedanken: Geschützt durch die Menge der Gläubigen würde es Babkin unmöglich sein, ihn anzugreifen. Und durch die Türen – ha! – da kam er nicht mehr herein! Da müßte er sie schon mit Dynamit aufsprengen, und das hörte man werstweit.

Mein guter Wadim Igorowitsch, nichts ist es mehr damit, mich am Bart zu reißen!

Immerhin blieb Waninow vorsichtig und trug den Wäscheknüppel ständig mit sich herum. Er wunderte sich, als es dunkelte, daß Babkin noch nicht an seine Haustür gehämmert hatte. Es kann Taktik sein, dachte er. Ganz raffinierte Taktik: Wieg ihn in Sicherheit, um so ärger trifft ihn die Überrumpelung.

Doch wie's auch kommen mochte – in seinen Räumen fühlte sich Waninow unangreifbar und geborgen.

Um so mehr zuckte er zusammen, als es nach Einbruch der völligen Dunkelheit an der Verbindungstür von der Kirche zur Wohnung klopfte. Mit hohlem Blick faltete Waninow die Hände und senkte den Kopf. Herr, wenn ich auch ein Sünder bin – beschütze die Verfolgten.

»Wer da?« fragte er dröhnend. Sein tiefer Baß klang ungebrochen.

»Wadim Igorowitsch!« kam die Antwort aus der Kirche.

»Was willst du?«

»Beichten, Väterchen Pope.«

Welch ein raffinierter Fuchs, dachte Waninow und grinste verächtlich. Beichten – damit öffnet man bei allen Priestern die Türen, aber nicht bei mir. Nicht jetzt und nicht hier bei mir! Such dir etwas anderes aus, Babkin. Übrigens bist du bereits von deinen Sünden auf deinem Totenbett von mir befreit worden – auch wenn's ein Irrtum war. Die Aussegnung gilt, mein Guter. Troll dich nach Hause!

»Steht nicht draußen an der Tafel, daß die Kirche geschlossen ist?« schrie Waninow gegen die verrammelte Tür. »Das gilt auch für dich! Wieso bist du trotzdem eingetreten?«

»Für eine Beichte gehen alle Türen auf, Sidor Andrejewitsch.«

»Du hast nichts zu beichten. Du bist rein wie ein neugeborenes Lämmlein.«

»Auf dem Totenbett war ich's noch, Väterchen Waninow. Aber seitdem hat sich vieles verändert. Lasten von Sünden habe ich in kürzester Zeit auf mich geladen. Narinskij, Arune Jelisaweta, ein gewisser Gurjuk …«

»Was ist mit denen?«

»Nicht sicher ist es, ob sie noch leben …«

»O Herr im Himmel!« Waninow stöhnte laut und blickte heilsuchend zur Decke. Babkins Rachefeldzug hatte begonnen. Drei Opfer lagen schon auf dem Gesicht, und nun war er hier und wollte sein nächstes herauslocken. »Wadim Igorowitsch, du unglücklicher Mensch, was hast du da getan!«

»Nichts, Väterchen. Nur ein paar kleine Worte gesagt. Wie bei einem Schneeball ist's: Oben auf der Höhe läßt man ihn talwärts rollen, und wenn er unten ankommt, ist's ein riesiger Klumpen.« Babkin klopfte wieder gegen die Tür. »Mach auf, Väterchen Pope. Ein paar kleine Wörtchen habe ich auch mit dir zu reden.«

»Morgen, Babkin. Morgen nach dem Gottesdienst auf des Herrn freiem Feld …«, sagte Waninow mit knirschenden Zähnen. »Nach Einbruch der Dunkelheit nehme ich nur Notbeichten an.«

»Ich bin in Not, Sidor Andrejewitsch.«

»Nie und nimmer! Keine Krankheit, keine Sterbestunde, keine innere Verzweiflung … hebe dich hinweg, du Satan!«

»Alle Welt vergißt plötzlich, daß ich schon tot war«, klagte Babkin durch die dicke Tür. »Wenn jemand auf dieser Erde ein Recht hat, mit einem Priester zu sprechen, bin ich es! Aber gut, gut denn Waninow.« Babkin lehnte sich gegen die Tür, trat mit dem Fuß dagegen und gab damit kund, daß Worte bereits zuviel gesprochen waren.

Waninow griff nach seinem Wäscheknüppel, wog ihn in beiden Händen und holte, nur zur Übung, zu einem mörderischen Schlag aus. In der Luft zischte es, soviel Kraft lag in diesem Hieb.

Beruhigt stellte sich Waninow neben die Tür, bereit, sofort zuzuschlagen, wenn Babkins Kopf in den Trümmern erschien. Denn zertrümmern mußte er die Tür erst, bevor er hereinkommen konnte.

Aber wer dachte denn daran, so wertvolle, alte geschnitzte Türen einzuschlagen? Auch war das mit der bloßen Hand nicht möglich, etwas, das Waninow in seiner verständlichen Angst nicht bedachte. O nein, Babkin stellte es anders an, seinen Popen aus der schnell errichteten Festung zu holen.

»Hör zu, Sidor Andrejewitsch«, sagte er mit ruhiger Stimme, was Waninow als besonders gefährlich einstufte und womit er sogar recht hatte. »Einen schönen Tausch schlage ich dir vor: Du kommst heraus – und ich lasse deine Kruzifixe, Weihwassertöpfe, Weihrauchschwenker und Ikonen in Ruhe. Von den Kerzenständern ganz zu schweigen.«

»Nie wagst du das!« brüllte Waninow. Sein Bart sträubte sich vor Entsetzen. »Nie wirst du dich an Gottes Besitz vergreifen! Gesegnet ist alles, was du siehst.«

»Wer kann einem Verzweifelten mit solchen Worten helfen?« Babkin trat wieder gegen die Tür. »Kommst du aus deiner Höhle heraus, Waninow?«

»Nein!«

»Gott erbarme sich meiner Seele«, sagte Babkin dumpf. »Nun beginnt es …«

Er ergriff ein Weihrauchgefäß, schlug es gegen einen mannshohen Kerzenständer aus Messing, vorsichtig, damit nichts zu Bruch ging, aber es klang sehr zerschmetternd und zerstörerisch.

In seiner Wohnung sank Waninow auf den Sessel und drückte den Wäscheknüppel gegen seine Brust.

»Hinüber sind sie!« schrie Babkin durch die Tür. »Zwei silberne Gefäße!«

»Gott sei bei dir!« brüllte Waninow zurück.

»Jetzt kommt ein Leuchter dran!«

»Der nächste Blitz wird dich treffen!«

Es klirrte laut, dann folgte ein schwerer Fall. Waninows Gesicht begann zu zucken.

»Zwei Leuchter vom Altar!« rief Babkin triumphierend. Dabei erzeugte er das Klirren nur mit zwei blechernen Tellern, die er hinter dem Altar gefunden hatte und auf denen durchziehenden Wandersleuten ein mildtätiges Essen gereicht wurde. Und der schwere Fall war auch ein übler Trick: Babkin ließ sich selbst auf den Boden fallen. »Kommst du heraus, Waninow?«

»Nein!«

»Wohlan … dann schlagen wir das Osterkreuz gegen die Wand.«

»Rühr es nicht an!« schrie Waninow in heller Verzweiflung. »Ein Geschenk des Patriarchen von Perm ist es!«

»Was kümmert's einen Verzweifelten, Sidor Andrejewitsch? Her mit dem Osterkreuz!«

Wieder klirrte es schaurig, und Waninow verdrehte die Augen, sank in sich zusammen und bebte.

Die ganze Kirche wird er demolieren – Ständer, Weihgefäße, Möbel, Ikonen. Wie die Tataren wird er hausen, schlimmer noch als die Bolschewisten zur Zeit der ersten Revolutionsjahre; die rote Soldateska war ein gemütlicher Männerverein gegen ihn! Sidor Andrejewitsch, kannst du das mit anhören, wie Babkin Stück um Stück zertrümmert?

»Was ist denn das?« hörte er Babkin durch die Tür rufen. »Eine hölzerne bemalte Figur! Maria mit dem Kindchen im Arm. Welch ein leichtes Holz! Ist es Linde, Väterchen? An der Wand wird's in tausend Teile auseinanderspritzen …«

»Rühr nicht die Heilige Mutter an!« brüllte Waninow. »Abfaulen werden dir die Hände!«

»Kommst du raus zur Beichte, Waninow?«

»Stell die Figur zurück!«

»Eine Idee kommt mir. Man kann mit der Holzfigur die Ikonen zerschlagen. Oder besser noch – ich nehme das Bronzekreuz. Mein Kreuz, das ich gestiftet habe. Ha, wie ein Hammer wird es sein, wie eine Axt … jeder Schlag eine Ikone. Jubeln wird mein armes Herz!«

»Nie wird Gott dir mehr verzeihen, nie!« Waninows dröhnende Stimme war gebrochen. Im Sessel hing er wie eine Masse Fleisch ohne Knochen und stöhnte vor sich hin. Als Babkin wieder gegen die Tür trat, verdrehte der Pope die Augen.

»Machst du die Tür auf, Väterchen?« fragte Babkin in höflichem Ton.

Waninow erhob sich ächzend aus seinem Sessel, kniete vor dem Kruzifix in der Ecke seines Zimmers nieder, betete um Beistand und vor allem Mut und zuckte schmerzvoll zusammen, als aus der Kirche neuer Zerstörungslärm hereindrang.

»Ich komme, Babkin!« brüllte er und sprang auf. »Halt ein mit deinem Frevel! Die ewige Verdammnis ist dir sicher!«

Babkin antwortete nicht. Jetzt stellt er sich auf, dachte Waninow, und es lief ihm eiskalt über den Rücken. Steht da und wartet, bis ich herauskomme. Was wird er in der Hand haben? Auch einen Knüppel? Wagt er es tatsächlich, einen Priester in seiner Kirche zu erschlagen? Vor den Augen Gottes? Vor dem Bild der Heiligen Mutter? Unter dem Blick aller Heiligen von der Ikonostase?

In welch einer Zeit leben wir nur! Nichts ist mehr heilig. Verprügeln darf man einen Mann wie mich, der geweiht ist. Nun gut, ich habe Walentina geschwängert, ein kräftiger Bub ist's geworden, zugeben mußt du das, Babkin, mein lieber Wadim Igorowitsch, auch ein Pope besteht aus Fleisch und Blut. Ein Mensch ist er wie du, und jeder von uns stolpert einmal über einen Stein, ist's nicht so? Wo kämen wir hin, wenn jedem, der einmal Unrecht tut, der Schädel eingeschlagen wird? Ausgerottet wäre die Menschheit im Nu, nichts lebte mehr … Darüber kann man doch mal in Ruhe sprechen, mein lieber Babkin.

Mit zittrigen Händen räumte Waninow die Kommode von der Tür, schloß sie auf, schob die drei Riegel zur Seite, stieß die Pforte auf und betrat wehrlos, die Hände über der Brust gefaltet, die Kirche. Ein Märtyrer, dem Ulorjansk einmal ein Denkmal setzen würde.

»Hier bin ich, Wadim Igorowitsch«, sagte Waninow dumpf. »Bediene dich … Im voraus seien dir alle Sünden an mir vergeben.«

Aber siehe da – kein Schlag erfolgte, niemand stürzte sich auf ihn …

Feierliche Stille lag über dem Kirchenschiff. Die Kerzen brannten, das ewige Licht, und nichts war zerstört: kein Weihrauchbecken, kein Ständer, keine Maria, keine Ikone, kein Kreuz. Es war, als habe hier nie ein Babkin gewütet.

Aber Wunder gibt es nicht … nicht mehr in heutiger Zeit und schon gar nicht in Ulorjansk. Waninow raffte sein Gewand hoch, lief zur Kirchentür auf die Straße.

In der Abenddämmerung sah er Babkin über den Kirchenplatz davongehen, langsam, die Hände in den Hosentaschen, ein wenig nach vorn gebeugt, ein Sieger, der nicht Körper niederzwang, sondern Seelen.

»Gott segne dich!« sagte Waninow ergriffen. »Welch ein Schwein bin ich doch, feige und heuchlerisch! Ich schäme mich – aber niemand hat jetzt etwas davon.«

Er ging in die Kirche zurück, ließ die Tür ins Schloß fallen, setzte sich vor das schwere Bronzekreuz, das Babkin gestiftet hatte, und dachte: Wenn das alles war, Sidor Andrejewitsch, bist du gut weggekommen. Sich schämen ist die billigste Reue. Sie hinterläßt keine Flecken, keine blauen vor allem …

Kaum zehn Minuten später klopfte es wieder an der Innentür. Nun zögerte Waninow nicht mehr, mutig riß er die Tür auf.

Pyljow, der Lehrer, stand davor, machte eine artige Verbeugung und sagte hastig: »Einen Rat brauchen wir, Väterchen Waninow, einen weisen Rat. Wir wissen einfach nicht mehr weiter …«

Der Bürgermeister von Ulorjansk, der Genosse Guri Jakowlewitsch Blistschenkow, ließ sich von seiner Haushälterin Gulmira, einer dicken Kirgisin, die – nur Gott weiß, wieso – in dieses triste Städtchen verschlagen worden war, eine gewaltige Kabyrga servieren; das ist eine Hammel-Roulade mit Pfeffer und Knoblauch gewürzt. Da klingelte es an der Haustür.

»Nanu?« sagte Blistschenkow, blickte auf seine Uhr und schüttelte den Kopf. »Erwarten wir Besuch, Gulmira?«

»Mir ist nichts bekannt, Genosse.«

»Sieh nach, und wenn's ein Unbekannter ist, wirf ihn hinaus.«

Blistschenkow konnte sich auf die Befolgung dieser Anweisung blind verlassen. Niemandem war es bisher gelungen, den Turm Gulmira umzurennen. Gewagt hatte es auch keiner, denn wenn Gulmira in der Tür stand, voller Bosheit in ihrem breiten kirgisischen Gesicht, die Arme in die gewaltigen Hüften gestemmt, und einen anbellte: »He, was willst du hier, du Strolch«, dann fiel jedem alles Wünschen und Hoffen zusammen zu einem Aschenhaufen.

Bei solch einem Weib verstummten auch sofort alle Mutmaßungen, die man sonst anstellt, wenn ein Mann sich eine Haushälterin engagiert und mit ihr Tag und Nacht unter einem Dach lebt. Undenkbar, daß Blistschenkow auch nur einen Handgriff Gulmira gegenüber tat, der nicht korrekt war, sondern irgendwelche Tätigkeit außerhalb ihrer Pflichten einleiten sollte.

Um so verblüffter, ja, geradezu ergriffen war man in Ulorjansk, als man entdeckte, daß Gulmira doch einen Liebhaber besaß, den stillen und frommen Tokombajew. Kirgise war er wie sie, arbeitete als Wickler in einer kleinen Transformatorenfabrik, ein schmächtiges, mickriges Männlein, das – so stellte man sich das vor – bereits zwischen Gulmiras Brüsten völlig verschwinden mußte. Aber ihre Liebe war groß; jeden Sonntag standen sie Hand in Hand in der Kirche, wobei Tokombajew wie ein vergreistes Kind neben einer fleischstrotzenden Mutter wirkte.

Blistschenkow zerteilte seine Kabyrga, wickelte den Faden von der Roulade ab, schöpfte Krautsalat auf den Teller und übergoß alles mit köstlicher brauner Butter. Aber zum Essen kam er nicht: Durch die Tür marschierte Babkin in die Stube.

Blistschenkow fuhr, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, in die Höhe, griff nach dem Besteck und streckte Babkin Messer und Gabel entgegen, während seine Augen förmlich aus dem Kopf quollen.

»Gulmira!« schrie er heiser vor Entsetzen. »Gulmira!«

Ihr breites Gesicht erschien im Türrahmen, die kleinen, schrägstehenden Augen blinzelten Blistschenkow verständnislos an. »Genosse?«

»Habe ich nicht gesagt, kein Unbekannter …«

»Der Genosse Babkin ist kein Unbekannter.«

»Noch mehr ist er … er ist tot!«

»Ein Toter kann nicht klingeln und zu mir sagen: ›Gulmira, du Kirgisenelfe, laß mich schnell zu Guri Jakowlewitsch!‹«

Erschüttert sank Blistschenkow auf seinen Stuhl zurück und behielt Messer und Gabel abwehrbereit in den Händen. Mit irrem Blick starrte er Babkin an, der sich uneingeladen an den Tisch setzte und ihm freundschaftlich zuwinkte.

»Wie … wieso lebst du?« stammelte Blistschenkow. »Morgen ist doch dein Begräbnis …«

»Soll ich noch eine Kabyrga bringen?« unterbrach Gulmira das entsetzte Gestottere. »Noch eine habe ich im Topf …«

»Verzehr sie selbst, mein Rehlein«, sagte Babkin anstelle des völlig gelähmten Blistschenkow. »Auch der Genosse Parteisekretär und Bürgermeister wird seinen Fleischwickel nicht essen mögen. Wichtiges ist zu besprechen, Unaufschiebbares. Guri Jakowlewitsch, ein Küßchen von Nina Romanowna …«

Blistschenkow sank in sich zusammen. Ein Mann mit Geist war er, der sofort verstand, was man ihm da mit aller Fröhlichkeit um die Ohren schlug. Er nickte schwer, machte eine Handbewegung und jagte damit Gulmira aus dem Zimmer.

Sie war ihm bedingunglos ergeben wie ein Hund, der den Stiefel leckte, wenn er nach ihm trat. Kirgisentreue … solche Leute lassen sich zerreißen für den, den sie lieben.

»Halten wir uns nicht damit auf, was Nina mir am Totenbett erzählt hat«, sagte Babkin mit bewundernswerter Ruhe. Innerlich freilich kochte er fast über.

Da saß er also, einer der Liebhaber seiner Frau, in einem weißen Hemd und blauer Hose, das Hemd der Hitze wegen aufgeknöpft bis fast zum Gürtel, so daß man die stark behaarte Brust sah. Babkin hatte nie eine behaarte Brust gehabt; doch ja, seien wir ehrlich, ein paar Härchen, kräuselten sich auch bei ihm zwischen den Brustwarzen, aber sie waren nicht erwähnenswert. Blistschenkow dagegen sah wie ein Affe aus, und Babkin konnte sich gut vorstellen, wie Nina sich in diesen Haarwust hineingekuschelt hatte. Eine Mutter von drei Töchtern!

Halt dich zurück, Babkin! Was bringen sie schon ein, die Faustschläge, die Blistschenkow verdient hat?

»Was … was hat sie erzählt?« stotterte Blistschenkow, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben etwas erstaunlich Dummes sagend.

»Wiederholungen liegen mir nicht, Guri Jakowlewitsch. Du weißt es, ich weiß es – sonst niemand. Wenn Gulmira es wüßte, wärst du schon Schaschlik. Sehen wir zu, daß wir das Beste da-.raus machen, wir gemeinsam.«

»Ich lasse dich verhaften!« sagte Blistschenkow etwas gefaßter. »Ja, verhaften! Bedroht bin ich worden … das reicht aus! Wem glaubt man mehr: dir oder mir?«

»Eine dreckige Wühlmaus warst du schon immer; mich wundert's nicht, und erschrecken kannst du mich damit schon gar nicht.« Babkin beugte sich über den Tisch und lächelte Blistschenkow an.

Dieses Lächeln war es, das Guri Jakowlewitsch seiner Überlegenheit gänzlich beraubte. Was kam da noch nach? Was wußte Babkin alles? Ein betrogener Ehemann, der lächelt, übertrifft ein gefährliches Raubtier.

»Verhandeln sollten wir.«

»Verhandeln? Über was?« fragte Blistschenkow unsicher.

»Für euch alle, ihr Gauner, war ich tot. Was hättest du anschließend gemacht?«

»Eine schöne Grabrede habe ich schon fertig. Eine patriotische Rede. Wadim Igorowitsch, Ulorjansk hätte dich in Erinnerung behalten als einen seiner größten Bürger. Und was tust du? Du stehst wieder auf! Sitzt hier, trittst mir vor den Bauch …«

»Noch nicht!«

»Also gut – Nina …« Blistschenkow fand seine Fassung wieder. Dem ersten Entsetzen folgte nun die Vernunft. Wenn Babkin redete, würden andere, Mißgünstige, die Geschichte weitertragen bis nach Tobolsk, ja, bis nach Swerdlowsk zur Gebiets-Parteizentrale.

Ein Jammer wäre das! Es würde Fragen, Untersuchungen, Kontrollen, Berichte geben – das ruhige Leben in den Wäldern wäre vorbei.

Bisher lag Ulorjansk weit weg von allen Regierungsinteressen; das aber änderte sich, wenn es plötzlich in Swerdlowsk hieß: Seht euch mal Blistschenkow an, Genossen. Da treibt es einer in der Stille.

»Über alles kann man reden, Wadim Igorowitsch«, sagte Blistschenkow. »Sind wir nicht Freunde? Jahrelang? Ich bitte dich, das kann man doch nicht vergessen …«

»Wie wahr! Man kann es nicht vergessen.« Babkin betrachtete die Flasche, die auf Blistschenkows Tisch stand, ein Wein, den er nicht im Bazar führte und der also von der Konkurrenz gekauft war, was Wadim Igorowitsch erneut in Wallung brachte.

Er griff nach der Flasche, roch daran und stellte sie mit einem von Ekel verzerrten Gesicht zurück. »Armselig muß dir's gehen, wenn du diesen Essig säufst«, sagte er angewidert. »Hast ihn bei Maxakow gekauft, was. Maxakow ist ein Verbrecher wie ihr alle, aber das ist gut so: Ein Verbrecher betrügt den anderen. Auf diese Weise bleibt's in der Familie. Nur weil Maxamow manchmal, bei einzelnen Waren, ein paar Kopeken billiger ist, läufst du zu ihm. Und sag nicht, dein Gehalt sei miserabel … Wir alle wissen, bei welchen Gelegenheiten du die Rubelchen wegschaufelst …«

Blistschenkow verstand diese verdeckte Drohung nur zu gut. Nichts lief in Ulorjansk, weder ein Hausbau noch eine Geschäftseröffnung noch ein Grundstückskauf, ohne daß nicht Blistschenkows offene Hand über den Papierchen mit den Stempeln schwebte. Und was – ihr wißt es, Genossen – ist das Leben wert ohne amtliche Stempelchen? Eine Null ist wenigstens noch eine Zahl – aber ohne einen Stempel auf deinen Papieren bist du einfach gar nichts.

Vor allem Afanasjew, der Bodenbetrüger, konnte ein Lied davon singen. Bei ihm stand Blistschenkow unverrückbar an erster Stelle auf der geheimen ›Spendenliste‹. Und jetzt war es ganz sicher, daß Babkin diese Geheimnisse kannte.

»Worum geht es, mein lieber Wadim Igorowitsch?« fragte Blistschenkow liebenswürdig, aber mit Mordgedanken im Hirn.

»Eine verworrene Sache, Genosse, ganz verworren. Kommt da vor einiger Zeit Zapunow zu mir. Du kennst ihn. Dmitri Wladimirowitsch, der Schieler. Steht bei mir im Basar, schielt mich an und sagt doch: ›Wadim Igorowitsch, immer warst du ein guter Mensch, hast ein Herz gehabt für die Armen, hast oft in mein Körbchen ein paar Äpfelchen geworfen oder eine Melone oder Seife zum Rasieren, Gott danke dir dafür. Aber nun ist's an mir, dir zu danken.‹ Ja, so hat er gesprochen.«

Babkin holte tief Atem. Kein Wort davon, daß Zapunow die geschenkten Äpfelchen, Melonen und Rasierseifen mit anderen, verteuerten Artikeln doppelt bezahlt hatte – wer kennt schon die Kalkulation eines ehrlichen Kaufmannes? Den Kunden muß man das Gefühl vermitteln, beschenkt zu werden, dann rechnen sie nicht nach, was sie sonst noch kaufen.

Pyljow, der kluge Lehrer, nannte das Verkaufspsychologie, ein unaussprechliches Wort. Babkin bezeichnete es schlicht als Kundenbetreuung. Und wer von uns will nicht betreut werden?

»Sehr interessant«, sagte Blistschenkow verständnislos. »Aber was soll's?«

»Nun ja, Zapunow kam in das Hinterzimmer, rauchte dort eine von mir gestiftete Zigarre und begann zu schluchzen.«

»Dimitri Wladimirowitsch schluchzte? Warum denn das?«

»Ein tragischer Fall.« Babkin wischte sich über die Augen, als falle auch er in Ergriffenheit. »Was gestand mir Zapunow? ›Krank bin ich, Babkin‹, sagte er. ›Sehr krank. Sterbenskrank, fast schon tot. Daß ich bei dir noch ein Zigärrchen rauche, ist geradezu ein Wunder. Ich komme gerade aus Tobolsk, aus der großen Klinik, weißt du. Da haben sie Apparate, mit denen können sie in deinen Körper sehen. Sehen alles, die tüchtigen Genossen Ärzte, nichts bleibt ihnen verborgen. Und als sie in mich hineingeguckt haben, haben sie die Köpfe hin und her gewiegt und mich scharf angeblickt. Nur zu, habe ich mit all meinem Mut gesagt. Was ist? Wie sieht's in mir aus? – Da kam die Wahrheit heraus. Ein Geschwür am Magen, groß wie eine Kinderfaust. Nun denn, habe ich gesagt, dann holt sie raus. – Und die Ärzte haben gesagt: Zu spät. Da kann man nichts mehr machen, fahr nach Hause, Dmitri Wladimirowitsch, iß ganz vorsichtig, laß dir von deinem Arzt Mittel gegen die Schmerzen verschreiben und bereite dich auf dein Ende vor. – Ja, so ehrlich sind sie in Tobolsk. Mich hat es nicht erschreckt. Dreiundsiebzig bin ich jetzt, hab alle meine Verwandten überlebt und nie an das ewige Leben geglaubt.‹«

»Aber Zapunow lebt doch noch!« warf Blistschenkow ein. »Gestern ging er munter über den Roten Platz …«

Auch das gab's in Ulorjansk: Einen Roten Platz. Das nur zur Information, Genossen.

»Du sagst es: noch! Aber seine Wochen sind gezählt.« Babkin überwand sich, goß sich vom Wein der Konkurrenz ein Gläschen ein und schlürfte ihn mit saurem Gesicht. Dann schüttelte er sich dramatisch und tat so, als habe der Wein ihm die Kehle verengt.

»Auch davon kann man sterben!« wisperte er. »Guri Jakowlewitsch, dieses Gesöff kostet dich ein paar Jahre Leben. Aber weiter: Zapunow schielte mich also an und sagte dann: ›Babkin, du guter Mensch, der besten einer unter Gottes Himmel … ‹«

»Er muß wirklich sehr krank sein«, warf Blistschenkow ein.

»› … unter Gottes Himmel, nun ist's an mir, dir etwas zu schenken. Zunächst – es stimmt nicht ganz, daß ich ein armer Mensch bin. Geizig war ich nur, das ist alles. Eine Henne brütet auf ihren Eiern, ich habe auf meinen Rubeln gebrütet. Mehr wurden sie nicht dadurch, aber es wurden auch nicht weniger. Das ist schon was wert in unserer Zeit, gib es zu. Ja, und draußen am See, bei den Zwölf Aposteln – keiner weiß das – gehört den Zapunows seit über zweihundert Jahren ein großes Stück Wald und Buschgelände … ‹ – Blistschenkow, ich war überwältigt.«

»Mir geht's jetzt nicht anders.«

Blistschenkows Gedanken jagten sich. Wer kennt in Ulorjansk nicht die ›Zwölf Apostel‹? Ein gesegnetes Stückchen Land ist es, mit einem stillen, kristallklaren See in der Mitte, keine zwei Werst von der Stadtgrenze entfernt. Eine Parklandschaft, in die man maßgebliche Genossen aus den Städten gelegentlich zu einem Picknick einlud, zu einer Kahnfahrt, auch schon mal zu einer Nerzjagd – wirklich ein Fleckchen Paradies am Rand der großen Taigawälder. Und ein solches Kleinod gehört dem schielenden Zapunow? Unfaßlich!

»Das muß er beweisen«, sagte Blistschenkow gepreßt. »Sagen kann das jeder. Hat er denn darüber keine Urkunde?«

»Hat er, Guri Jakowlewitsch. Er brachte sie mit. Es handelt sich um ein uraltes Erbe, das in Swerdlowsk neu bestätigt wurde. Daran ist nicht zu zweifeln. Ein Teil der ›Zwölf Apostel‹ gehört Sapunow.«

Ach ja, erklären muß man noch, warum das Land die ›Zwölf Apostel‹ heißt.

Rund um den silbernen See stehen zwölf riesige Bäume, Jahrhunderte alt, gewaltige Eichen, ›Apostel‹ genannt, von denen auch die Überlieferung nicht weiß, wie sie hierher nach Sibirien gekommen sind. Man weiß nur, daß an vier ›Aposteln‹ im Jahre 1734 zehn Wegelagerer und Räuber gehenkt wurden und an den dicken Ästen hängen blieben, bis Krähen, Bussarde, Falken und andere Raubvögel sie abgepickt hatten und die Knochen einzeln zu Boden fielen. Doch das bedarf keiner großen Worte – in Sibirien ist man nicht so zimperlich; der Mensch paßt sich der rauhen Natur an.

Zapunow nun, das kam jetzt heraus, gehörten fünf von den ›Zwölf Aposteln‹. Dazu das Land drumherum und das Stückchen See, das an das Land grenzte – ein wahrhaft kapitalistischer Besitz, geduldet und bekräftigt durch die amtlichen Stempelchen aus Swerdlowsk.

Blistschenkow verschlug es die Sprache.

»Und nun?« fragte er.

»Machen wir es kurz: Zapunow vererbt mir das Land. Als Dank für meine Güte.«

»Das geht nicht!« Blistschenkow zuckte heftig zusammen. »Da habe ich ein Wort mitzureden. Nach Zapunows Tod fällt sein Besitz, da keine leiblichen Erben vorhanden sind, dem sowjetischen Volk zu! Babkin, das weißt du!«

»Ich weiß auch, daß du, Guri Jakowlewitsch, Zapunows ›fünf Apostel‹ öffentlich der Stadt einverleiben und heimlich an Afanasjew verkaufen wirst …«

»Lüge, Wadim Igorowitsch!« empörte sich Blistschenkow. »Verleumdung! Nie hat mir jemand etwas nachweisen können. Alle Kontrollen …«

»Aber mein Lieber!« Babkin winkte großzügig ab. »Kontrollen? Kommen die Genossen aus der Stadt, saufen unseren klaren sibirischen Wodka, bis sie umfallen, und unterschreiben am nächsten Morgen alles, was du ihnen unter die Nase schiebst. Willst du mir erzählen, wie so etwas abläuft? Mir? Eine Liste kann ich aufstellen mit allen Gaunereien zwischen dir und Afanasjew …«

»Niemand kann das! Man müßte Afanasjew schon foltern …«

»Nicht nötig.« Babkin lächelte mild. »Viktor Viktorowitsch ist ein gerissener Halunke, kein Zweifel. Aber mit Nina auf dem Schoß war er auch nur ein Mann …«

»Nina?« Blistschenkow flatterten die Augenlider. »Afanasjew und Nina? Eine neue Lüge!«

»Der Mensch muß sich daran gewöhnen, daß nichts ihm allein gehört. Irgendeiner ist immer dabei … das Kollektiv, die Steuern, die Partei oder ein anderer Mensch. Das aber erfährt man erst, wenn man tot ist. Nun ja, Nina Romanowna war immer ein fröhliches Weibchen, wenn sie nicht ihre Hysterie bekam. Sie war zuvorkommend zu vielen … Da sind Narinskij, der Metzger, Blistschenkow, der Bürgermeister, Afanasjew, der Makler, und gelegentlich Sapanow, der Briefträger. Vielleicht noch mehr – aber diese vier reichen mir.«

»Mir auch, mein armer Babkin.« Blistschenkow stierte, tief ins Herz getroffen, vor sich hin. Seine Zuneigung zu Nina Romanowna konnte man echt nennen – und nun das! Es war ihm, als läge sein Herz in kaltem Wasser. »Wer hätte das gedacht!«

»Mein bescheidener Wunsch wäre nun der«, fuhr Babkin freundlich fort, »daß die Stadt Ulorjansk, vertreten durch den Genossen Blistschenkow, das Erbe anerkennt, wenn Zapunow die ›fünf Apostel‹ mir überläßt. Zwar wird Afanasjew drohen, aber …«

»Nichts mehr wird Afanasjew tun!« sagte Blistschenkow dunkel. »Mich zu hintergehen mit Nina … mich!«

»Du vergißt den rechtmäßigen Ehemann … mich!«

»Natürlich, du auch. Auch du bist der Betrogene! Ein Lump, dieser Afanasjew!«

»Du vergißt wiederum, daß du und Nina – und ich, der Ehemann …«

»Wadim Igorowitsch, wir sind doch Freunde.«

»Schon, schon … aber nicht im Ehebett.«

»Zapunows Land gehört dir als Erbe«, sagte Blistschenkow, um dieses dunkle Kapitel zu begraben. »Versprochen!«

»Ein Vorvertrag wäre mir lieber, Guri Jakowlewitsch.«

»Hier in meiner Wohnung habe ich keine Stempel …«

»Deine Unterschrift genügt mir. Deine handschriftliche Bestätigung: Falls Dmitri Wladimirowitsch Zapunow sein Land bei den ›Zwölf Aposteln‹ nach seinem Tode dem Genossen Wadim Igorowitsch Babkin vererbt, wird die Übertragung ohne Einschränkungen von der Stadt Ulorjansk anerkannt. – Ja, so könnte das Schreiben lauten.«

Beschäftigen wir uns nicht weiter mit diesem Problem; Blistschenkow holte Papier und Schreibzeug, setzte das Schreiben nach Babkins Willen auf, unterschrieb es und war zufrieden, so glimpflich aus der Affäre herausgekommen zu sein.

Etwas anderes war es mit Afanasjew. Wenn er an den dachte, zuckten Blistschenkows Muskeln, juckte die Kopfhaut und wurde das Luftholen schwer.

»Einen guten Abend noch, Guri Jakowlewitsch«, sagte Babkin, steckte das Papier ein und klopfte Blistschenkow auf die Schulter. »Duftet köstlich, deine Kabyrga, auch wenn sie jetzt kalt ist. Wohl bekomm's. Nur trink den Wein nicht mehr von Maxakow … vergifte dich nicht früher, als es notwendig ist.«

Man muß es ihm zugestehen: Babkin war ein höflicher Mensch. Blistschenkow stöhnte auf, als er das Zimmer verlassen hatte, und draußen war Gulmira hoch beglückt, weil Babkin zu ihr sagte: »Kannst kommen, mein Kirgisenpferdchen, und dir einen Korb voll Sachen bei mir holen – was immer du willst. Alles umsonst für dich. Brave Menschen werden stets belohnt; ich hab's gerade erfahren.«

Keine zehn Minuten brauchte Babkin im Schatten des Rathausbogens zu warten, bis er Blistschenkow in seinem Dienstwagen schnell davonfahren sah – in genau die Richtung, die Wadim Igorowitsch erwartet hatte.

Afanasjew kann ich mir sparen, dachte er fröhlich. Wirst ein dickes Köpfchen bekommen, Viktor Viktorowitsch.

Zufrieden mit sich und seiner aufgeschreckten Umwelt spazierte Babkin langsam durch die nachtstillen Straßen der Stadt, ein Mensch, glücklich in dem Bewußtsein, seine Arbeit gut getan zu haben.

Es hat schon seinen Wert, von den Toten wiederauferstanden zu sein.

Einträchtig saßen sie alle auf der Ofenbank, nebeneinander wie die Hühner: Nina, Nelli und Walentina. Ganz still waren sie, als Babkin nun zurückkam, seinen leichten Sommerrock über eine Stuhllehne hängte, sich an den Tisch setzte und das leere Glas vor sich betrachtete.

»Wo ist der Wein?« fragte er sanft.

»In der Küche, Väterchen.«

Das war Walentina. Babkin drehte sich nicht um zu seinen drei Weibern, er sah nur weiter das Glas an.

»Kalt?«

»Wie du es magst, Väterchen.«

Das war Nelli. Fehlt nur noch Nina, dachte Babkin. Ob sie es wagt, ein Wort an mich zu richten?

»Der Durst verbrennt mich.«

»Sofort hole ich die Flasche, Väterchen.«

Das war Nina. Aha, sie redet doch! Die Flasche holt sie! Flink wie ein Wieselchen ist sie zur Küche hinaus. Nennt man das normal? Nach zweiunddreißig Jahren Ehe? Welch ein Weibchen läuft da noch, daß die Dielen zittern?

Babkin wartete, bis Nina eingegossen hatte, steckte den Finger in den Wein, fand ihn gut gekühlt und blickte über den Glasrand hinweg auf seine drei Weiber.

»Alle haben sie nun genug«, sagte er gedehnt. »Waninow, Narinskij, Blistschenkow, Afanasjew … Das war ein guter Abend, das kann man sagen.«

»Du … du hast sie alle erschlagen?« stammelte Nelli. An Pyljows Worte dachte sie: ›Wenn Babkin Rache nimmt, dann gründlich. Reiner Selbstschutz ist's, wenn wir ihn erwürgen.‹ Nun war Pyljow zu Waninow gegangen und stand vermutlich vor dessen entseeltem Leib.

Nelli begann zu weinen, denn das nächste Aufräumen mußte hier im Haus stattfinden. Wo war jemand, der sie schützte?

Babkin betrachtete das Glas Wein. »Erschlagen ist mir zu primitiv …«

»Erstochen?« stammelte Nina. »Alle hast du … o mein Gott!«

»Da man in meiner Lage mit allem rechnen muß – trink du zuerst einen Schluck Wein!« Babkin hielt ihr das Glas hin. »Habe das oft gelesen: Vergiften gehört zu den Freuden der Ehefrauen.«

»Wie werde ich dich vergiften wollen, Wadim Igorowitsch?« rief Nina entsetzt. »Ich, die ich dich liebe.«

»O je!« Babkin rollte mit den Augen. »Trink und rede keine Lügen.«

Gehorsam setzte Nina Romanowna das Glas an die Lippen, nahm einen großen Schluck und reichte den Wein an Babkin zurück. Gespannt wartete Babkin ab. Fiel sie um? Trat Schaum aus ihrem Mund? Verdrehte sie die Augen? Zuckte ihr Körper?

Nichts dergleichen geschah. Zurück zur Ofenbank ging Nina und setzte sich wieder nach Hühnerart in die Reihe neben ihre Töchter.

Babkin trank nun mit Genuß, lobte innerlich seinen Wein gegen das Gesöff von Maxakow und aß auch noch ein Stück von dem Mohnkuchen, der geschnitten in einem Flechtkorb lag.

»Wo ist Pyljow?« fragte er plötzlich. Nelli zuckte zusammen.

»Wer weiß das, Väterchen?«

»Und Sapanow, dieser Schleicher von Briefträger?«

Nelli erbleichte. Ihre Lider zuckten, und die Mundwinkel flatterten.

»Zuhause wird Jakow Petrowitsch sein. Du warst nicht bei ihm?«

»Noch nicht. Gott schuf die Welt in sechs Tagen … gönnt mir wenigstens zwei.« Babkin trank noch einmal, schnippte die Kuchenkrümel vom Tisch und seiner Hose und lehnte sich zurück. »Wann ist meine Beerdigung?«

»Morgen früh um acht, Väterchen …«

»So früh?« Er sah seine drei Frauen böse an. »Habt ihr es eilig, mich in die Erde zu versenken!«

»Nur der Hitze wegen ist's, nur deswegen«, klagte Nina und drückte die Hände auf Herz. »Nicht mehr quälen wollten wir dich, wenn du in der Sonne liegst. Um acht Uhr ist es noch erträglich.«

»Welche Fürsorge. Ich danke euch, meine Lieben.« Babkin erhob sich vom Stuhl. »Geht zu Bett. Ich setze mich in den Sessel ans Fenster.«

»Du schläfst nicht an meiner Seite, Wadim?« flüsterte Nina Romanowna.

»In diesem Bett? Im Sterbezimmer? Neben meinem Sarg? Unter den schwarzen Tüchern? Wer kann so etwas verlangen?«

»Das Schlafzimmer ist hergerichtet wie früher. Nichts erinnert dich mehr daran, daß du schon tot warst.«

»Im Sessel bleibe ich!« sagte Babkin laut. »Keine Widerrede! Den Sonnenaufgang will ich sehen … Keiner kann das begreifen, der nicht schon im Sarg lag …«

Zu Bett ging man also, und Babkin blieb allein zurück. Er schob den Sessel ans offene Fenster und atmete die herrliche, vom Duft aus den Gärten erfüllte Luft ein.

Wie lange werde ich nun wirklich leben, dachte er. Und: Warum bin ich umgefallen und war für alle Welt tot? Sogar für Dr. Poscharskij. Etwas muß doch in mir kaputt sein; kein Mensch fällt ohne Grund einfach um und ist steif und stumm. Welche Krankheit trage ich in mir herum? Warum erkennt sie keiner? Soll man nach Tobolsk fahren wie Zapunow und sich untersuchen lassen von den Klinikärzten? Was ist, wenn sie auch zu mir wie zu Zapunow sagen: »Genosse Babkin, nur noch ein paar Wochen, dann ist's soweit. Schick den Sarg nicht zurück, heb ihn gut auf, in greifbarer Nähe, du wirst ihn bald brauchen.« O je, wie benimmt man sich da? Doch was kann es sein, was mir fehlt? Schmerzen habe ich nicht, kein Geschwür wie Zapunow, keine Beschwerden beim Gehen, beim Wasserlassen oder im Darm, ich huste nicht und sauge kraftvoll Luft in meine Lungen … Was also, so frage ich, habe ich in mir, daß ich einfach umgefallen bin? Was kann man feststellen in Tobolsk, wenn sie mich mit ihren großen Apparaten durchleuchten?

Viele Fragen und keine Antworten. Das bedrückte Babkin, wie es jeden von uns bedrücken würde, wenn er in seiner Lage wäre. Er fühlte sich jetzt müde und erschöpft, machte es sich in dem Sessel bequem und betrachtete den Mond, die Sterne, die wenigen silbern schimmernden Wolken, die vorüberzogen, und hatte plötzlich Angst, wirklich zu sterben.

So schön ist das Leben, auch wenn man laufend betrogen wird … Wenn man hinaufblickt in den Nachthimmel, in diesen Himmel über Sibirien, vergißt man alles.

Babkin, Väterchen, bete, daß du noch lange leben magst …

Um acht Uhr am nächsten Morgen setzte sich Babkin in seinen kleinen Lieferwagen und fuhr zu dem nahen Friedhof, um sein Grab zu besichtigen.

Sobakin, der Totengräber, im Nebenberuf auch noch Ableser der Stromzähler im Bezirk I von Ulorjansk, hatte das Grab, fleißig, wie ein Halbamtlicher nun einmal sein muß, schon am Vortag ausgehoben, aber die Grube nicht mit Tannen- und Birkenreisern ausgelegt, weil Waninow, der Pope, ihm die unerklärliche Anweisung gegeben hatte: »Nicht weiter! Es gibt da eine kleine Schwierigkeit mit Babkin.«

Erstaunlich war auch, daß nicht die Totenglocke läutete, fanden die vielen ehrbaren Bürger von Ulorjansk, die zum Friedhof gekommen waren, um Babkin einen ihm gebührenden Abschied zu bereiten. Wer kannte Babkin nicht? Er gehörte zu Ulorjansk wie der Fluß.

Überhaupt war an diesem Tag vieles anders als gewöhnlich. In der Kirche hielt Waninow keinen Bittgottesdienst für Babkins arme Seele, der Kirchenchor, ein besonderer Stolz der Ulorjansker, stand nicht zu Chorälen bereit, auch Sobakin, der sonst immer am Grab die Blümchen zum Hineinwerfen verteilt, war nirgendwo zu sehen. Keine Delegationen waren aufmarschiert, die Fahne der Partei fehlte – wirklich alles sehr rätselhaft!

Man munkelte zwar, mit Babkins Leiche gäbe es Schwierigkeiten, medizinisch gesehen, aber öffentlich war nicht bekannt geworden, daß das Begräbnis verschoben worden war. Fragte man die Mitglieder vom Kirchenchor und der Ehrenformationen, so zuckten auch die nur mit den Schultern.

»Nichts genaues weiß man«, erklärten sie, nicht schlauer als andere. »Väterchen Waninow hat uns nur sagen lassen: ›Ihr erhaltet noch Nachricht.‹ Die Nachricht ist aber bis jetzt nicht gekommen. Warten wir also.«

Muß man noch sagen, daß das Warten sich lohnte?

Pünktlich um acht fuhr Babkin mit seinem Lieferwagen vor den Friedhof, bremste quietschend, wartete ein paar Sekunden, bis alle zu ihm hinsahen, und stieg dann aus.

Der Erfolg war sehenswert.

Vierzehn Frauen fielen in Ohnmacht und legten sich neben das Grab, ungefähr dreiundzwanzig Frauen knieten nieder und beteten, neun Männer, sonst starke Burschen vom Holzkombinat ›Lenin‹, denen kein Baum in der Taiga widerstand, schwankten bedenklich, und die Mehrzahl aller trauernden Gäste stimmte in ein lautes, dumpfes Seufzen ein.

»Was ist, meine lieben Freunde?« fragte Babkin und kam näher. Einige Frauen liefen schreiend weg, zwei Holzarbeiter griffen nach den Schaufeln neben dem Grab und schwangen sie durch die Luft wie Dreschflegel, nur Schota Leonidowitsch Baiburt, ein etwas einfältiger Grusinier, schrie mit heller Stimme: »Halleluja! Hosiannah! Der Jüngste Tag bricht an!«

Dann strömte die Menschenmenge wie eine Woge zu Babkin hin. Man drückte und umarmte ihn, küßte sein Gesicht, bis es anschwoll vor soviel Liebe, hob ihn auf die Schultern von Smolnow, einem riesigen Vorarbeiter der Baubrigade, und trug ihn herum, kreuz und quer über den Friedhof, um sein Grab herum und dann hinein in die Kirche.

Dort stand allein mit umwölkter Stirn, übernächtigt und bleich, Waninow neben dem von Babkin gestifteten großen Bronzekreuz und verhinderte nicht, daß die ergriffene Menge Babkin vor den Altar trug und dort niedersetzte. Ein wieder auferstandener Toter gehört dorthin.

»Ostern!« schrie Baiburt, der Beschränkte, ergriff Waninows silberne Handglöckchen und ließ sie klingeln. »Ostern! Auferstehung! Ulorjansk wird ewig leben …«

Und dann sangen sie alle, die gekommen waren, Babkin zu begraben, einen Choral, wie ihn diese Kirche noch nie gehört hatte. Ein gläubiges Jubilieren war's.

»Nimm, o Herr, jetzt uns're Seelen,

wasche sie von Sünden rein,

öffne deines Paradieses Pforten,

daß befreit wir ziehn hinein …«

»Da siehst du, was du angerichtet hast«, sagte Waninow und beugte sich tief zu Babkin hinab. »Elender, wie kannst du das wieder gutmachen?«

»Sollte ich mich etwa begraben lassen?« flüsterte Babkin betroffen.

»Besser für uns alle wäre es gewesen.«

»Lebend?«

»Wer hätte das schon gemerkt?«

»Ich …«

»Steif warst du wie ein Brett.«

»Wende dich an Mischin. Hätte er mir nicht den Hammer auf den Kopf geworfen, läge ich jetzt noch stumm da.«

»Eine Ausrede, ja, eine verdammte Ausrede ist das, Babkin! Welches Spiel hast du mit uns getrieben? Niemand wird dir das verzeihen! Legt sich hin, spielt den Toten, hört sich alles an und steht zu gegebener Zeit wieder auf. Infam, Wadim Igorowitsch! Teuflisch! Welches Unglück bringst du über uns alle …«

Noch während die Ergriffenen sangen, verließ Babkin die Kirche, setzte sich in seinen Lieferwagen und fuhr zu seinem Haus.

Dort lief Pyljow, sein Schwiegersöhnchen, wie in einem Käfig hin und her, beschimpfte Nina und Nelli mit groben Worten und nannte sie schlaffe Weiber, weil sie nicht fähig gewesen waren, Babkin festzuhalten.

Außerdem, hatte Pyljow gebrüllt, sei das Chaos in Ulorjansk ausgebrochen: Narinskijs Gesicht war zerkratzt, als hätte er unter einem Tiger gelegen, Arune Jelisaweta lief herum mit einem blauen Auge und einer Beule auf der Stirn, Blistschenkow lag auf seinem Sofa und kühlte seine geschwollene Nase, und Afanasjew war in der Nacht noch mit drei Rippenbrüchen zu Dr. Poscharskij gebracht worden und behauptete, er sei die Kellertreppe hinuntergefallen. Sawitzkij, der Viehhändler, war ganz in der Frühe nach Tobolsk geflüchtet.

Merkwürdigerweise war nur Waninow ungeschoren davongekommen, aber die Stunden der Angst hatten ihn völlig verändert. Ahnungsvoll wartete er auf Babkins zweiten Besuch. Und Pyljow selbst war sicher, den heutigen Tag als den schwersten seines Lebens durchstehen zu müssen.

»Mein Frühstück!« sagte Babkin mit lauter Forschheit. »Drei Spiegeleier, einen Pfannkuchen mit Brombeeren und Quark mit Honig!« Erst danach bemerkte er Pyljow und zog seinen Kopf zwischen die Schultern. »Sieh an, unser Lehrerchen mit der Bruderliebe. Wo hast du Bobo gelassen?«

»Wem hast du das schon alles erzählt, du Teufel?« knirschte Pyljow und atmete pfeifend aus und ein.

»Noch keinem. Klar kommen müssen erst wir zwei. Wie steht's mit Nelli? Hast du's ihr erklärt?«

»Was soll er mir erklären?« rief Nelli aus der Küche, wo bereits die Eier in der Pfanne brutzelten. Von der Kirche kamen die ersten Trauergäste zurück und riefen: »Lang lebe Wadim Igorowitsch«, als sie an Babkins Haus vorbeizogen.

»Unwichtig, Nelli«, rief Pyljow schnell zurück. »Eine Männersache! Väterchen verwechselt da einiges.« Und leiser zu Babkin sagte er:

»So ist es doch. Sollten wir nicht erst unter vier Augen reden? Dinge gibt es, Väterchen, die man vergessen kann, nicht wahr? Ach nein, was hast du nicht alles schon vergessen in deinem Leben. Denken wir nur an das verschimmelte Brot, das du gemahlen und unter die Dosenwurst gemischt hast. Ein vollkommener Irrtum – es sollte Paniermehl sein. So etwas kann doch vorkommen, nicht wahr? Welcher Mensch trägt denn dauernd Engelsflügel …«

Die Sache mit der Wurst war Babkin peinlich. Zum ersten Mal erfuhr er jetzt, daß Pyljow, ausgerechnet der, von dieser Panscherei wußte. Und wenn Boris Witalowitsch bisher darüber geschwiegen hatte, so gewiß nicht aus Familiensinn, sondern um im richtigen Augenblick ein Druckmittel in der Hand zu haben. Ja, so einer war er!

In Babkin stieg wieder heiliger Zorn empor, nicht wegen der Dosenwurst, sondern wegen Pyljows Hinterhältigkeit.

So ist es richtig, dachte er wütend. Betrügt seine Frau, mein Töchterchen Nelli Wadimowna, mit einem Mann, belügt alle Welt, um Leiter der Schule zu werden, gesteht mir, Nelli nur geheiratet zu haben, weil sie einmal einen Sack voller Rubel erben wird, spielt den großen Klugen und hat sein ganzes Wissen doch nur zusammengelesen. Ein Ekel von Mensch ist er – und steht nun da und will mich erpressen mit meiner überall gelobten Dosenwurst! Welch ein widerlicher Kümmerling!

»Das mit der Wurst kann niemand beweisen«, sagte Babkin abwehrend.

»Beschwören kann ich's. Noch ist ein Eid hoch angesehen bei Gericht.«

»Man kann dagegen schwören!« rief Babkin. Sein Gesicht zuckte. »Hast du noch was im Jackenärmel?«

»Hier im Haus gibt es einen Kleiderschrank, der hat einen doppelten Boden«, sagte Pyljow süffisant. »Wer legt sich, frage ich, doppelte Böden zu? Ein braver Kommunist? Ein ehrlicher Bürger unseres Staates? Ein pflichtbewußter Steuerzahler? Hat so jemand einen doppelten Boden nötig? O nein, sage ich … Mit doppelten Böden arbeitet nur einer, der darin Geheimnisse vergräbt, Betrügereien am Volksvermögen, Heimlichkeiten gegenüber dem Sozialismus. Habe ich recht, Schwiegerväterchen? Kann man's so sehen?«

Wer hätte das gedacht, sagte sich Babkin wehmütig. Er weiß es, frag den Teufel, von wem. So etwas nennt man: jemanden in der Hand haben. Wehrlos macht er mich, der Bobo-Liebhaber. Ausgeliefert bin ich ihm, sein Schweigen muß ich erkaufen. Ach, was wäre mir alles erspart geblieben, wenn ich tot geblieben wäre!

»Wenn man das Leben so betrachtet«, sagte Babkin gedehnt, »ist es wahr, daß man über alles reden kann. Man dreht ein Ding durch die Mühle der Worte, und schon sieht's anders aus. So wie aus einem Sack Korn ein Sack Mehl wird – dieselbe Substanz, aber ein anderes Aussehen.«

»Ich wußte, daß wir uns einig werden«, erwiderte Pyljow mit einem Grinsen, dessen Gemeinheit Eisen schmelzen konnte. »Ah, da kommen deine Spiegeleier, Väterchen. Wohl bekomm's. Und der Pfannkuchen duftet schon in der Pfanne. Ein guter Tag sei damit begonnen.«

Pyljow verabschiedete sich schnell, um das Gespräch nicht unnötig auszudehnen. Einen klugen Kopf muß man haben, lobte er sich selbst, während er zu seiner Wohnung eilte.

Schulfrei war heute, wegen Babkins Begräbnis. Man konnte das nicht mehr rückgängig machen – wer rechnet schon damit, daß ein Toter wieder munter wird. So hatte Pyljow Zeit, sich in den kleinen Stadtpark auf eine Bank zu setzen und weiter nachzudenken.

Seht ihr, das ist ästhetisch. Man brauchte Babkin gar nicht umzubringen – seine Nachgiebigkeit war durch Geisteskraft zu erreichen. Der Dosenwurst wegen würde er schweigen, als sei er tot; welch ein Erfolg der Überlegungen!

Eigentlich hatte ihn, Pyljow, der raffinierte Pope auf diese Idee gebracht. Bei ihrem nächtlichen Gespräch über die Möglichkeit, wie man den gefährlichen Auferstandenen doch noch verstummen lassen konnte, hatte Waninow gefragt: »Weiß denn niemand etwas, was Babkin gern verschwiegen haben möchte?«

Und da hatte sich Pyljow an eine Erzählung Nellis erinnert, daß man heute einen ganzen Sack voll Brotreste zermahlen und in den Wurstbrei gemischt hatte. Nicht nur, daß man auf diese Weise ein Drittel mehr Dosen herstellen konnte, es schmeckte auch noch gut, wenn man mit Thymian nachwürzte.

Außerdem: Wer in Perm oder Kujbyschew, Berjosniki oder Kasan sibirische Dosenwurst ißt, rechnet damit, einem ganz eigenständigen Geschmack zu begegnen. Das ist ja der Reiz der Sache: Wurst aus Sibirien. Da spürt man das Urtümliche auf der Zunge …

Pyljow beglückwünschte sich: Die Sache mit der Wurst war ein Volltreffer, genauso wie der Schrank mit dem doppelten Boden. Nie würde es Babkin jetzt noch einfallen, ein Wort über Bobo zu sagen. Die Freiheit seiner, Pyljows, Neigungen war errungen. Beglückwünsche dich, Boris Witalowitsch – deinetwegen darf Babkin munter weiterleben. Was mit den anderen geschieht … ist's meine Sache?

Unterdessen saß Babkin vor den leeren Tellern am Tisch, hatte seine Eier und den Pfannkuchen gegessen und schlürfte jetzt Tee aus einer hohen Tasse. Tee, gesüßt mit Honig. Zur Stärkung der Nerven, wie er sagte. Er hatte sie nötig; der Tag hatte gerade erst begonnen, von der Uhrzeit her müßte er, Babkin, jetzt in der Erde liegen, und Sobakin, der Totengräber, schaufelte das Grab zu. Nina, die Witwe, aber würde Hunderte von Händen schütteln, keine Träne mehr vergießen, sondern fröhlich plaudern. Und am Abend, wer weiß, kamen Afanasjew oder Sawitzkij, Blistschenkow oder gar Narinskij, um die nun Alleinstehende zu trösten.

Welch eine Bande!

»Was soll ich mit dir tun, Nina Romanowna?« fragte Babkin und sah seine Frau sinnend an. »Meine Vorfahren ertränkten in solchen Fällen ihre Weiber im Fluß. Es gab einen Babkin im Jahre 1698, der pflegte bei Streitigkeiten seine Frau an den Haaren aufzuhängen. Bei kleinen Streitigkeiten! O je, was müßte ich dann mit dir machen! Hast du einen Vorschlag, Nina?«

»Du darfst mich töten …«, stammelte sie, kreideweiß werdend.

»Hüten werde ich mich! Damit es überall bekannt wird: Getötet hat er sie, weil sie ihm Hörner aufsetzte! Wer ist dann gestraft, du oder ich? Über mich wird man lachen und heimlich sagen: Das gönnen wir ihm! Ist einer der reichsten Männer von Ulorjansk, aber sein Weibchen läuft wie eine Katze zu den Katern. Nein, nein, ich muß mir etwas anderes ausdenken …«

Er ließ Nina in verzweifelter Angst zurück und blickte hinüber zu Nelli, die darauf wartete, den Tisch abzuräumen.

»Und du?« fragte Babkin. »Was machst du hier? Warum bist du nicht bei deinem Mann, du Schlampe? Oder im Jugendheim, um von Lenin zu erzählen? Oder bei den Komsomolzen, um über die Gefährdung unserer Welt durch die Amerikaner zu sprechen? Wo nimmst du dummes Luder bloß die Frechheit her, geistvolle Reden zu halten?«

Nelli, seit Babkins Auferstehung am Ende ihrer Nerven, begann sofort zu weinen. »Ein … ein Feiertag ist doch heute. Alle anderen Veranstaltungen sind abgesagt, Väterchen.«

»Ein Feiertag? Welcher denn?«

»Dein Begräbnis …«

»Ein Feiertag!« sagte Babkin dumpf. »Jetzt ist's heraus … Wenn Babkin stirbt, wird gefeiert. Diese elende Welt! Vielleicht sogar noch mit Tanzmusik …«

Genauso war's auch. Sechs Musiker waren schon bestellt gewesen: Waninow, der Retter in jeder Not, hatte noch rechtzeitig verhindern können, daß sie auftauchten.

»Die größten Halunken habe ich erledigt«, sagte Babkin nachdenklich und schlürfte noch einmal Tee aus der hohen Tasse. »Aber was bringt's? Der Betrogene bleibe ich doch. Sogar Natalja, dem fernen Töchterchen, habe ich innerlich ihre Hurerei vergeben … leben tut sie jetzt, sagt ihr, mit einem Parteifunktionär. Damit ist sie gestraft genug. Mein Tisch ist so ziemlich rein – bis auf die Löcher, die hineingebrannt sind.«

»Alles wird nun anders werden, Väterchen«, sagte Walentina tröstend. »Und Löcher kann man stopfen oder mit einer Decke zudecken …«

»Was habe ich eine kluge Familie!« Babkin erhob sich, griff nach einem Gehstock mit silberner Krücke und schwang ihn durch die Luft. Niemand in Ulorjansk hatte solch einen Stock; aus Nowgorod war er auf langen Wegen nach Sibirien gekommen, wo ihn Babkin in Tobolsk bei einem Gebrauchtwarenhändler gekauft hat, und nun beneideten ihn alle darum. »Nutzen wir den Tag.«

»Wohin willst du, Väterchen?« rief Nelli besorgt. Seit seiner Auferstehung war Babkin nicht mehr zu trauen. Die vergangenen Stunden hatten es bewiesen: Er war in der Lage, hinter sich einen Trümmerhaufen zurückzulassen.

»Durch die Stadt gehe ich! Jeder soll sehen, daß ich lebe.«

»Und Dr. Poscharskij?«

»Was ist mit ihm?«

»Lächerlich machst du ihn!« Nina rang die Hände. »Wenn du wenigstens im Bett bleiben würdest, nur zwei Tage. Um neue Kräfte zu sammeln, werden wir sagen. Noch recht schwach ist er … Damit könntest du Dr. Poscharskij retten. Es ist geradezu ungehörig gegenüber einem so guten Arzt, plötzlich von den Toten aufzuerstehen und fidel herumzulaufen, als sei nichts gewesen. Auf Bairam Julianowitschs Ruf solltest du Rücksicht nehmen; dein langsames Erholen rettet ihn. Sei nett zu ihm – er hat dir nichts getan.«

»Wißt ihr das?« rief Babkin empört. »Habt ihr dagelegen und alles angehört, was man einem Lebenden sonst nicht sagt? Bairam Julianowitsch – ich sage euch, was er mir angetan hat: eine falsche Diagnose mit einem unmöglichen lateinischen Namen! Mit einer Spritzennadel hat er mich in den Bauch gestochen, geohrfeigt hat er mich, um Waninow zu zeigen, wie tot ich bin, und was hat er noch gesagt? Ha: Meine rote Gesichtsfarbe käme vom Saufen! Mir das, einem durch und durch mäßigen Menschen! Und was steht auf dem Totenschein? Lest es doch … lest ihn … lauter Lügen! Was er da alles hingeschrieben hat – so krank kann gar kein einzelner Mensch sein. Soll man das alles übersehen?«

Er verließ das Haus, Nelli räumte den Tisch ab, Walentina öffnete den Basar, obzwar draußen ein Schild verkündete: ›Geschlossen. Gott, der Herr, hat W. I. Babkin zu sich genommen.‹ Und Nina Romanowna rief den Sargmacher Mischin an, er solle seine elende Kiste endlich wieder abholen.

»Nie!« schrie Mischin ins Telefon. »Nie betrete ich dieses Haus wieder. Hat sich einer um mich gekümmert, als ich mit stockendem Herzschlag auf dem Boden lag? Wer kann nachempfinden, wie es ist, wenn man einen Toten liebevoll im Sarg zurechtrückt, und plötzlich steht er auf und beleidigt einen auch noch! Nina Romanowna, machen Sie mit dem Sarg, was Sie wollen – abholen werde ich ihn nicht. Aber bezahlen müssen Sie ihn.«

»Keine Kopeke!« schrie Nina zurück. »Einen ungebrauchten Sarg müssen Sie zurücknehmen.«

»Irrtum, meine Liebe, er ist gebraucht. Babkin lag schon drin …«

»Als Lebender! Gewissermaßen eine Liegeprobe …«

»Den Überwurf hat er zerfetzt, das Kissen zerrissen, ein Brett herausgedrückt, und als ich ihn fürsorglich hineinlegte, war er für alle tot. Sehen wir es einmal ganz anders, Nina Romanowna … für mich wäre sogar ein Schmerzensgeld zu erwägen. Dieser Schreck hätte tödlich für mich sein können …«

Man hörte, wie irgendwo im Hintergrund ein paar Schreie ertönten, und dann begann Mischins Stimme heftig zu zittern, als er ins Telefon rief: »Er kommt! Er ist in der Werkstatt! Meine Gehilfen flüchten vor ihm. O weh, o weh, mein Herz …«

Mischin legte auf, und Nina ahnte, daß Babkin jetzt dem Halsabschneider Mischin die richtige Antwort gab. Doch weit gefehlt. Zwar war Babkin in die Schreinerwerkstatt gekommen, zwar waren die Gesellen, diese Feiglinge, nach allen Seiten weggestoben – sie wußten ja noch nichts von Babkins wundersamer Auferstehung – und wenn auch Mischin, gelb wie eine Zitrone, auf seinem Stuhl klebte, Babkin war milde gestimmt. Er stieß lediglich seinen schönen Gehstock dreimal auf die Erde und stützte sich dann darauf.

»Igor Grigorjewitsch«, sagte er freundlich, »ahnst du, warum ich komme?«

»Es war alles ein Versehen, Wadim Igorowitsch. Alles …« stammelte Mischin. Der Angstschweiß lief ihm kalt über die Stirn.

»Was war ein Irrtum?«

»Der zu enge Sarg. Vermessen muß ich mich haben – oder das Maßband war nicht in Ordnung.«

»Es war in Ordnung. Du hast es in meinem Basar gekauft! Was man bei Babkin kauft, ist immer einwandfrei.«

»Dann waren's meine Augen … immer schlechter werden sie«, klagte Mischin. »Einen Kranken kann man nicht bestrafen.«

»Bestrafen! Später, Mischin. Bedanken will ich mich …«

»Bedanken?« Mischin riß die Augen auf.

»Deinen Hammer hast du mir auf den Kopf geworfen, davon wurde ich wach. Das Leben hast du mir gerettet. Ohne dich hätten sie mich lebendig begraben. Stell dir das vor, Igor Grigorjewitsch …«

»Unvorstellbar ist das, Wadim Igorowitsch.«

»Nun sieh, wie könnte ich meinen Lebensretter bestrafen!« Babkin ließ den Stock in seinen Händen pendeln. »Nur ist da einiges, das man klären sollte, nämlich, was geschehen wäre, wenn Babkin wirklich tot da läge. Vierzig Rubel kostet diese Mißgeburt von Sarg, also zweihundertsechzig Rubel weniger, als du der armen Witwe Babkina berechnet hast. Aus Papier war meine Decke, die Unterlage ebenso, das Kissen gefüllt mit Hobelspänen. Das Kreuz ist aus bemaltem Blech, hineingestopft wie einen Sack Kartoffeln habt ihr mich in den Sarg, daß sich die Bretter bogen, und für das alles wolltest du auch noch vierhundert Rubel haben. Macht zusammen siebenhundert Rubel für eine Arbeit, die nur vierzig Rubel wert ist. Hast du mitgerechnet, Igor Grigorjewitsch?«

»Nina Romanowna hat angerufen, ich solle den Sarg abholen!« rief Mischin verzweifelt. »Ich schenke ihn euch … Damit ist alles erledigt.«

»Für wen? Für mich?« Babkin schüttelte den Kopf. »Geliefert war die Kiste, hineingestopft habt ihr mich … Damit war ein Geschäftsvertrag erfüllt, wie wir Kaufleute sagen. Siebenhundert Rubel muß die Witwe Babkina zahlen, aber um sechshundertsechzig Rubel wolltest du sie betrügen. Rechne ich richtig, Mischin?«

»Auf die Seite kommt's an, auf der man steht!« rief Mischin und wurde noch gelber im Gesicht. »Wer im Fluß ertrinkt, wird seine Schönheit nicht besingen …«

»Sei nicht poetisch, Mischin … zahle sechshundertsechzig Rubel …«

»Wadim Igorowitsch, laß uns noch einmal nachdenken!«

»Dazu hatte ich genügend Zeit in deiner mistigen Kiste.« Babkin ließ den Gehstock durch die Luft kreisen. Mit flackernden Augen verfolgte Mischin dieses drohende Spielchen. »Hol die Rubelchen aus der Schublade, Igor Grigorjewitsch.«

»Das Leben habe ich dir gerettet, Babkin!« schrie Mischin. »Du selbst hast es gesagt.«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Einen Toten wolltest du betrügen, da ist es nur recht, wenn der Lebende jetzt kassiert. Jedes Gericht wird das einsehen.«

»Gericht? Anzeigen willst du mich?«

»Weißt du, was der Richter sagt, wenn er deinen Sarg besichtigt?«

»Vierhundert Rubel, Babkin! Vierhundert Rubel biete ich dir.«

»Welch ein Charakter! Will handeln bei so einem ernsten Gegenstand. Hat keine Pietät im Leib, der Kerl, und handelt mit Särgen … Das wird ganz Ulorjansk erschrecken.«

»Immer trifft es die armen Menschen«, sagte Mischin kläglich. »Sechshundertsechzig Rubel – ein schlechter Monat wird das für mich werden.« Eine Schublade schloß er auf, holte ein Bündel Geldscheine heraus und zählte die Rubel ab.

Wortlos steckte Babkin das Geld ein, klopfte dann auf seine gefüllte Tasche und lächelte Mischin an.

»Noch etwas?« stöhnte Mischin ahnungsvoll.

»Es wäre möglich, daß ich wirklich einmal sterbe, Igor Grigorjewitsch«, sagte Babkin.

»Sicherlich.«

»Dann werde ich im besten Sarg liegen, den du machen kannst. Das härteste Holz, hörst du. Mindestens fünfzig Winter muß es überstanden haben! Dazu eine Seidendecke, Gänsedaunen in den Kissen, ein massives Kruzifix auf dem Deckel, mit weißem Brokat alles innen ausgeschlagen … für vierzig Rubel!«

»Wadim Igorowitsch, du ruinierst mich«, stammelte Mischin verzweifelt.

»Alles wird niedergeschrieben in einem Brief, den man bei meinem Ende öffnen wird. Sind wir uns einig, Mischin?«

»Mögest du noch lange leben, Babkin.«

»Ich danke dir. Es ist immer gut zu wissen, daß man echte Freunde hat.«

Babkin grüßte den gebrochenen Mischin, indem er die Silberkrücke an die Stirn hob, und verließ mit tiefer Zufriedenheit die Schreinerei. Es störte ihn nicht, daß Mischin hinter ihm fürchterlich zu fluchen begann, ihm die Hölle an den Hals wünschte und irgend etwas, was er gerade greifen konnte, an der Wand zerschlug.

»Und nun zu Dr. Poscharskij, Wadim Igorowitsch«, sagte Babkin zu sich und federte in den Kniegelenken. »Wenn man's genau betrachtet, ist er an allem schuld.«

Niemand in Ulorjansk, auch der Gehässigste nicht, hätte behaupten können, Dr. Poscharskij sei ein Säufer. Aber nein! Immerzu hielt er seinen Patienten die Gefährlichkeit des Trinkens vor, nannte den Wodka ein Elixier des Satans – was vor allem Manykin, den Betriebsleiter der Wodkabrennerei ›Fortschritt‹ in Ulorjansk ständig ärgerte – zeigte in besonders markanten Fällen von Trunksucht Fotos, auf denen verblödete Alkoholiker in die Kamera grinsten, aber das half wenig bei einer Bevölkerung, die im Winter vierzig Grad Frost erdulden muß und der die Ofenwärme allein nicht genügt. Man halte also fest: Dr. Poscharskij betrachtete Alkohol, medizinisch gesehen, als Gift.

Um so mehr war es verwunderlich, daß sich Bairam Julianowitsch in der vergangenen tragischen Nacht derart besoffen hatte, daß er am Morgen vor seinem Bett, auf den Dielen liegend, aufgewacht war und nun mit einem Schädel, der sich quadratisch anfühlte, ein spätes Frühstück in sich hineinquälte.

Babkins Scheintod hatte ihn schwer mitgenommen, ärger, als es der Doktor zeigte. Die stille Klage, warum gerade ihm etwas medizinisch so Seltenes begegnen mußte, wurde noch übertroffen von der Angst, alle Welt könne ihn dafür verantwortlich machen und ihn der Lächerlichkeit preisgeben.

Das wäre das Ende, denn wer – seien wir ehrlich, Genossen – geht noch zu einem Arzt, über den man lacht, weil ihm Tote auferstehen? So etwas bedeutete, die schöne Praxis in Ulorjansk aufzugeben, irgendwo anders hinzuziehen und von neuem anzufangen – und das im Alter von Sechsundsechzig Jahren. Welch ein Ende für einen Mediziner!

Rätselhaft war auch, wieso Babkin nach einer Spritze, wie er sie bekommen hatte, so schnell wieder aufwachen konnte.

Am Mittel muß das liegen, hatte Dr. Poscharskij wütend gedacht. Nur daran! Wasserhell ist es, und weiß man, ob man in der pharmazeutischen Fabrik nicht wirklich Wasser dazu gemengt hat, um das Soll zu übertreffen und eine Prämie zu kassieren? Möglich ist alles in diesem Land.

Bairam Julianowitsch hatte daraufhin seiner Frau Iwetta, zwanzig Jahre jünger als er und von der umwerfenden Schönheit einer Grusinierin, eine Injektion angeblich gegen den Heuschnupfen gegeben, unter dem sie leider litt. In Wirklichkeit war es das Schlafmittel gewesen, das er auch Babkin gespritzt hatte.

Die schöne Iwetta sank darauf innerhalb von zehn Minuten in einen Schlaf, der einer Narkose glich. Bewiesen war damit, daß die pharmazeutische Fabrik ein reines, ungepanschtes Mittel geliefert hatte. Verzeiht, Genossen vom Kombinat ›Lob der Wissenschaft‹ in Kasan!

An Babkin allein lag es … Eine Natur mußte er haben, die über das allgemein Menschliche hinausging. Ein Urtyp, anthropologisch ausgedrückt. Ein Phänomen, wie schon gesagt.

Dr. Poscharskij öffnete selbst die Tür, als es klingelte, denn Iwetta lag ja noch regungslos im Bett und pfiff leise beim Atmen vor sich hin. Ihr Blutdruck war normal, die Herztätigkeit auch … Poscharskij hatte alles gemessen und war zufrieden.

»Sie?« sagte er gedehnt, als er Babkin vor der Tür stehen sah. »Haben Sie mir nicht versprochen, kein Aufsehen zu erregen? Warum bleiben Sie nicht zu Hause?«

»Sie müssen mir etwas verschreiben, Genosse Doktor.« Babkin kam in die Wohnung und blickte sich suchend um. »Ein Kräftigungspräparat. Ist Iwetta Borissowna ausgegangen?«

»Sie schläft …«

»Jetzt noch? Ha, Bairam Julianowitsch, Sie stinken nach Schnaps! Und wie Sie stinken! Ein kleines Fest gestern! Was ist denn gefeiert worden? Darf man zu irgend etwas gratulieren? Und Iwetta hat's gepackt, sie schläft noch; ist ja so zart – und dann der harte Wodka.«

»Babkin, was wollen Sie wirklich bei mir?« fragte Dr. Poscharskij. Er schloß die Tür und spürte so etwas wie einen kalten Griff an seinem Herzen. »Sie sollten sich schonen. So etwas wie ein Wunder sind Sie.«

Er ging voraus in das ziemlich große Wohnzimmer, blieb dort stehen, bot Babkin keinen Stuhl an, sondern legte eine Hand vor den Mund und hauchte hinein. Dann schnüffelte er daran und sah Babkin streng an.

»Rieche ich wirklich so nach Wodka?«

»Bestialisch, Bairam Julianowitsch.«

»Ich rieche nichts.«

»Wer im Schnaps schwimmt, dem riecht alles gleich.«

»Es ist alles nur Ihretwegen, Wadim Igorowitsch«, sagte Dr. Poscharskij und gab sich keine Mühe mehr, sein Elend zu verbergen. »Ihr medizinisches Rätsel lastet auf meiner Seele …«

»Sie haben sich an meiner Leiche benommen wie ein kleiner Junge, der Doktor spielt. Lustig und erstaunlich war's, das anzusehen.«

»Vermeiden Sie bitte, Wadim Igorowitsch, von Ihrer Leiche zu sprechen. Welch dunkles Kapitel ist das in meinem Leben!«

»Wir könnten es aufhellen, Bairam Julianowitsch«, gab Babkin zu bedenken. »Ich schweige über Ihre Untersuchungsmethoden, und Sie helfen mir. Ein glattes Gegengeschäft.«

Dr. Poscharskij blickte Babkin etwas neugierig, aber mit größter Vorsicht an. Mißtrauen war Wadim Igorowitsch gegenüber immer angebracht, zu lange kannte man sich schon.

»Babkin …«, sagte er vorsichtig und gedehnt, »Teuflisches haben Sie im Sinn. Nur in Ihre Augen braucht man zu sehen …«

»Sie wissen, daß Nina mich jahrelang betrogen hat.«

»Nein …«

»Warum lügen Sie, Dr. Poscharskij? Natürlich wissen Sie es. Und geschwiegen haben Sie vor mir …«

»Ein Arzt sieht viel und redet wenig. Die Schweigepflicht, Babkin …«

»Das ist es, was ich von Ihnen erbitte, Bairam Julianowitsch. Handeln und schweigen … Wie schnell wir uns näherkommen!«

»Ich verstehe Sie nicht, Babkin.«

»Nina Romanowna, mein fleißiges Weibchen, weiß weder aus noch ein. Als Toter war ich ihr mehr willkommen denn als Lebender. Wie schön wäre das alles geworden – eine fröhliche Witwe mit fünfzig Jahren, immer noch knackig und dazu reich. Ha, welch ein Leben stand ihr bevor!«

Babkin blickte Dr. Poscharskij offen an, ein Biedermannsblick war es, der gar nicht zu dem paßte, was er jetzt aussprach. »Man sollte ihr ein besonderes Leben gönnen. Bairam Julianowitsch, Sie werden Nina ein Spritzchen geben …«

»Hinaus!« schrie Dr. Poscharskij empört. »Babkin, hinaus! Ja, was ist das denn? Trägt mir einen Mord an …«

»Das Gegenteil, mein Lieber, das Gegenteil. Sie geben Nina ein Spritzchen, das sie überschäumen läßt; wir bringen die Arme nach Tobolsk in eine geschlossene Anstalt, und bis man dort merkt, wie es wirklich um sie steht, können Jahre vergehen. Ist das eine Idee?«

»Eine gute Idee, eine wunderbare Idee!« schnaubte Dr. Poscharskij erschüttert. »Die Idee eines Teufels! Hinaus, Babkin, sage ich, hinaus!«

»Wie kommt's, daß ein Mensch mit Ihrer Intelligenz, Bairam Julianowitsch, so schwer die realen Dinge des Lebens begreift?« sagte Babkin fast wehmütig. »Kein Hund wird vor Ihnen mehr mit dem Schwanz wedeln, wenn alle Welt erfährt, daß meine Auferstehung kein Wunder, sondern lediglich die Folge einer Fehldiagnose von Dr. Poscharskij war.«

»Wadim Igorowitsch, ich flehe Sie an«, stammelte Dr. Poscharskij und begann heftig zu schwitzen. »Irren gehört zur menschlichen Substanz …«

»Aber ein Irrtum, durch den ein Mensch lebendig begraben werden kann – na, na …«

»Ich bin vernichtet, Babkin. Haben Sie doch Mitleid …«

»Mehr als das – ich schweige!«

»Mein Freund! Mein geliebtes Brüderchen …« Dr. Poscharskij wollte Babkin umarmen und an seine Brust drücken, aber der wehrte mit einer Handbewegung ab und trat einen Schritt zurück, um nicht doch noch ein Opfer von Poscharskijs Aufwallung zu werden.

»Ein Kaufmann bin ich, Bairam Julianowitsch«, sagte er fest. »Und bei einem Kaufmann gilt: Ware gegen Geld. Kein Geld – keine Ware.«

»Wieviel?« stöhnte Dr. Poscharskij.

»Ha! Sie wagen es, mir Geld anzubieten?« schrie Babkin empört. »Begreifen Sie nicht, daß dies nur ein Gleichnis war. Ich habe bildlich gesprochen, wie man so sagt. Meine Ware Schweigen bezahlen sie mit Ihrem Geld – einem Spritzchen für meine liebe Nina Romanowna.«

»Ich sterbe«, stöhnte Dr. Poscharskij noch einmal laut auf, sank in einen Sessel und verdrehte schaurig die Augen. »Sie töten mich, Babkin. Mein Herz … oh! Hören Sie: Es schlägt nicht mehr. Es zittert nur noch. Es flimmert, wie wir Mediziner sagen … der Beginn des Todes.«

»Bitte, Bairam Julianowitsch, bezeichnen Sie sich nicht als Mediziner! Wer Lebende begraben läßt …«

»Töten Sie mich, Babkin. Sofort, töten Sie mich!« wimmerte Dr. Poscharskij. »Welche Qualen …«

»Merkwürdig ist das.« Babkin wischte sich über das Gesicht. »Alle, mit denen ich vernünftig sprechen will, wollen plötzlich sterben oder umgebracht werden. Warum bloß? Was ist denn passiert? Ein Arzt hat sich geirrt, und alle, die den angeblich Toten im Leben belogen und betrogen haben und das nun beichteten, geraten in Panik. Über alles kann man reden, auch über das! Bin ich unbescheiden, wenn ich als Entschädigung ein Spritzchen verlange?«

»Keine solche Spritze, Babkin!«

»Seien wir großzügig.« Babkin winkte lässig ab. »Entsprechende Tabletten oder Kapseln tun es auch. Oder Tropfen … Was gibt es da Gutes, Bairam Julianowitsch?«

»Medikamente, die euphorisch machen.«

»Was ist das?«

»Man wird fröhlich, überdreht fröhlich … verrückt fröhlich.«

»Nichts für Nina Romanowna. O Gott, bloß das nicht. Das Gegenteil, Dr. Poscharskij muß es sein. Wie hirnlos muß sie dasitzen – nur so bekomme ich sie in die Anstalt von Tobolsk.«

»Meine Ehre verlangt Opfer … recht haben Sie wie immer«, sagte Bairam Julianowitsch und stemmte sich aus dem Sessel hoch. Noch einmal schluchzte er in sich hinein, was sehr dramatisch aussah, aber Babkin in keiner Weise beeindruckte, dann ging er zu einem Schrank, schloß ihn mit einem Schlüssel auf, den er wohl verwahrt in der linken Hosentasche trug, und öffnete ihn.

Ein paar Fächer voller Medikamentenpackungen wurden sichtbar – der Giftschrank, wie man so sagt. Babkin starrte die Packungen an und benetzte sich dann mit der Zunge die Lippen.

»Alles gefährliche Medikamente?«

»Was hier liegt, reicht aus, um ganz Ulorjansk zu vergiften. Das heißt, zu betäuben.«

»Ungeheuer, Bairam Julianowitsch. Und was werden Sie mir für meine Nina Romanowna geben? Sie soll nicht betäubt werden, sondern für eine gewisse Zeit verblöden.«

»Ich gebe Ihnen ein Sedativum mit …«

»Genosse, sprechen Sie russisch! Mir genügt mein kluger Schwiegersohn mit seinem lateinischen Gerede.«

»Nach diesen Tropfen wird Nina Romanowna ganz ruhig werden …«

»Wie schön!«

»Willenlos wird sie werden; das Mittel dämpft die sensorischen, vegetativen und besonders die motorischen Zentren im Gehirn.«

»Lassen Sie mich die Packung küssen, Bairam Julianowitsch. Genau das ist's, was ich brauche. Nina Romanowna wird ganz still sein?«

»Es kommt auf die Dosierung an.«

»Die doppelte Menge werde ich ihr geben … nein, die dreifache!«

Mit zitternder Hand reichte Dr. Poscharskij das Medikament zu Babkin hinüber, der es schnell in seine Tasche steckte. Dann schloß Bairam Julianowitsch den Schrank wieder ab, sank in den Sessel zurück und faltete die Hände.

»Gott, verzeih mir«, stammelte er. »Sieh es an: Ich wurde gezwungen. Babkin, gehen Sie jetzt, gehen Sie ganz schnell. Wenn ich Sie noch länger ansehen muß, versagt wirklich mein Herz.«

Babkin hielt es für klug, nichts mehr zu erwidern, und verließ das Haus in großer Zufriedenheit, ja, Fröhlichkeit. Auf der stillen Straße blieb er stehen, blickte an den Häuserwänden empor und erkannte ein paar Gesichter, die ihn hinter verhängten Fenstern anstarrten. Die ein wenig zur Seite gerafften Vorhänge verrieten die Gaffer.

Babkin schwang seinen Gehstock mit der schweren silbernen Krücke ein paarmal durch die Luft und machte sich dann auf den Weg, um weiter mit seiner Vergangenheit aufzuräumen.

Wer jetzt, dachte er. Wer fehlt noch? Bobo Alexandrowitsch Panin, der schwule Milizionär? Babkin, was soll's? Das ist Pyljows Problem, und seine Angst, daß alles bekannt wird, ist seine größte Strafe.

Jakow Petrowitsch Sapanow, der Briefträger mit dem Froschgesicht? Nun ja, er bringt nicht nur Briefe ins Haus, er öffnet auch seine Hose bei Nelli, meinem Töchterchen, und gelegentlich bei Nina, meinem Weibchen. Ohrfeigen könnte man ihn dafür, aber andererseits ist er bei Nina nicht der Einzige und Nelli ein strammes Weibchen mit einem Mann – na, wir wissen ja, was mit Pyljow los ist. Kann man's Nelli verübeln? Aber warum gerade Sapanow, der häßlichste Mann von Ulorjansk? Einige Fragen werden immer offen bleiben …

Gehen wir noch einmal zu Waninow, dem Popen, beschloß Babkin. Der heimliche Vater meines Enkels – warum gibt es keinen Blitz, der ihn spaltet? Verführt meine zarte Walentinaschka am Flußufer und predigt am Sonntag wider die Sünde. Ihn kann man nicht heftig genug am Bart zerren …

Langsam wanderte Babkin durch die Stadt, blieb vor der Kirche stehen und stützte sich auf seinen wertvollen Stock.

Waninow, der Wadim Igorowitsch hatte kommen sehen, klebte förmlich hinter der Gardine am Fenster seiner Wohnung und beäugte ihn mißtrauisch.

Er hat etwas vor, dachte der Pope, sonst wäre er nicht wiedergekommen. Was will er noch? War's ihm nicht genug, einen vor Angst greinenden Popen zu sehen? War's nicht genug Triumph? Geh weiter, Wadim Igorowitsch!

Aber Babkin ging nicht weiter. Als er sich wieder in Bewegung setzte, führte sein Weg genau auf die Kirche zu.

Waninow seufzte, schlug das Kreuz und sagte erschüttert:

»Wen Gott straft, den straft er gründlich.«

Man soll nicht glauben, daß nur Babkin an diesem Vormittag damit beschäftigt war, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. O nein, da verkennt man die Mitglieder der Familie Babkin, die sich schon als fröhliche Hinterbliebene gesehen hatten und nun durch die Widerauferstehung von Väterchen bitter enttäuscht wurden.

Und nicht nur das! Nach der allgemeinen Beichte am Totenbett war nichts mehr so wie vordem. Jeder hatte Schmutzflecken angesetzt, die man nicht so einfach wegreiben konnte, hatte Löcher in der Seele, die keiner mehr stopfen konnte.

Vor allem aber war man sich klar darüber, daß das weitere Leben nie mehr so sein würde wie das vergangene: Babkin hatte sie nun alle in der Hand, und wenn er wollte, konnte er jeden auswringen wie einen Scheuerlappen.

Gebt es zu, Genossen: So geht's nun wirklich nicht! Welch ein Dasein würde das werden!

Pyljow, das kluge Bürschchen von Lehrer, den die Babkins noch einmal zu Rate zogen, hatte da wieder die beste Idee, das gefährlich gewordene Väterchen zu liquidieren.

»Meine Lieben«, sagte er zu Nina Romanowna, der verhinderten Witwe, Nelli, seiner Frau, und Walentina, seiner Schwägerin. »Bisher hat alles versagt: Er wachte nach der Spritze auf, erhängen konnten wir ihn nicht, ihn erdolchen ist ein blutiger, unästhetischer Akt, selbst ihn zu erschießen war unmöglich. Und auch vergiften kann man ihn nicht, weil er jeden Teller bei Tisch austauscht und uns zuschiebt, und keiner weiß vorher, wer Babkins Teller bekommt … Fürchterlich ist es, mit solch einem Menschen leben zu müssen!«

Pyljow holte tief Atem. »Kann Väterchen eigentlich schwimmen?«

Die drei Frauen schwiegen verblüfft. Kann Wadim Igorowitsch schwimmen? Mit dieser Frage hatte sich noch keiner beschäftigt; man hatte Babkin auch noch nie in schwimmender Position gesehen.

Nur Nina Romanowna erinnerte sich undeutlich an einen Sommerabend vor langer Zeit, an dem Babkin mit ihr, einem bildschönen Mädchen von siebzehn Jahren mit langen blonden Zöpfen und runden Augen, am Ufer des nahen Propjet-Sees gelegen hatte und auch in dessen Wasser gestiegen war. Nackt sogar, was damals eine ungeheuerliche Schamlosigkeit bedeutete, aber es hatte Nina gefallen.

Ob Babkin nun in dem See geschwommen oder nur im seichten Wasser herumgeplanscht hatte, daran konnte Nina Romanowna sich nicht mehr erinnern. Sie war damals mit der Betrachtung von Babkins sportlichem Körper vollauf beschäftigt gewesen. Später dann ging Babkin immer allein zum Angeln; ob er dabei auch geschwommen hatte, wer weiß das?

»Wenn Väterchen nicht schwimmen kann«, sagte Pyljow nachdenklich, »dann könnte man ihn diskret ertränken. Das macht keinen Lärm, kein Blut fließt, es sieht aus wie ein Unfall, und es ist eine sichere Sache. Also rundherum ästhetisch. Wir laden Wadim Igorowitsch zu einem Badeausflug ein – heiß genug ist es ja – fahren an den Propjet- See, gehen gemeinsam ins Wasser und drücken ihn dort, wir alle zusammen, unter Wasser. Dann wird Nina schreiend Alarm schlagen, man wird Babkin bergen. Dr. Poscharskij wird den Tod durch Ertrinken feststellen, und wir können Väterchen endlich begraben. Ist das eine Idee, meine Lieben?«

Man muß zugeben: Die Idee war überzeugend. Nur einen Fehler hatte sie: Wie bekam man Väterchen an den See und vor allem in den See? Daß jemand an Land, auf einer Uferwiese, ertrank, hatte es noch nicht gegeben.

»Walentina muß ihn zu diesem Ausflug überreden«, sagte Nina Romanowna und schaute dabei ihre jüngste Tochter liebevoll an. »Sie ist Väterchens Liebling.«

»Versuchen werde ich's, Mütterchen.« Walentina erwiderte ihren Blick mit einer Unbefangenheit, die keinerlei Zweifel aufkommen ließ. Dabei dachte sie: Das muß man Väterchen sofort sagen; später am See kann es zu spät sein. »Wann wollen wir schwimmen gehen?«

»So schnell wie möglich!« rief Pyljow, der liebe Schwiegersohn. »Jeder Tag kann unser Verderben nur vergrößern. Weiß man, was Babkin noch alles im Schilde führt? Hilflos sind wir ihm ausgeliefert.«

Während die Familie sich wohlgestimmt einig wurde, Babkin im See zu ertränken, betrat Wadim Igorowitsch feierlich, wie sich's geziemt, die Kirche. Er bekreuzigte sich, verharrte in einem kurzen, stummen Gebet vor der Ikonostase und begrüßte Christus am Kreuz mit einer tiefen Verbeugung. Waninow, der ihn hinter einer gedrechselten und bemalten Holzsäule beobachtete, mahlte mit den Zähnen wie ein Wiederkäuer.

Nicht zum Beten ist er hergekommen, nie und nimmer, dachte der Pope und spürte wieder die Angst in sich hochsteigen. Was soll man nun tun? Auf ihn zutreten und ihn als Seelenhirte ansprechen, oder soll man sich wieder in seinem Zimmer einschließen und abwarten, was er jetzt anstellt? Darf man Vorsicht so einfach Feigheit nennen? Im übrigen: Auch wenn Gott hinter einem steht – nicht jeder Priester ist ein Held.

Waninow wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Babkins Stimme laut und voll in der leeren Kirche dröhnte:

»Komm hervor, Sidor Andrejewitsch!« rief er. »Ich weiß: Irgendwo hast du dich versteckt und lauerst hier herum. Vater meines Enkels, elender Halunke, komm hervor, ich habe noch einmal mit dir zu reden. Hier vor den Heiligen, vor der Mutter Gottes, vor dem Kruzifix …«

Waninow kroch in sich zusammen und rührte sich nicht hinter seiner Säule hervor. Die Anrede ›Vater meines Enkels‹ ließ ihn nichts Gutes ahnen. Wer sich so ausdrückte, war zu keiner emotionslosen Auseinandersetzung fähig. Warten wir also weiter ab, Väterchen!

Babkin spazierte in der Kirche umher wie einer, der die hier angesammelten bäuerlichen Kunstschätze bewunderte. In Wahrheit aber suchte er Waninow, von dem er wußte, daß er sich hier verborgen hielt. Was er eigentlich von dem Popen wollte, wußte Babkin selbst nicht präzise zu sagen. Ihm erst einmal gegenüber stehen – das weitere ergab sich dann fast von allein.

»Waninow«, sagte Babkin nach einiger Zeit, »was soll's? Ob jetzt oder morgen oder übermorgen – weglaufen kannst du nicht. Und wenn ich dich bei der Sonntagsmesse erwische … ich bekomme dich.«

So ist's, gab Waninow ihm recht. Auch die Märtyrer liefen nicht weg, ein Kapitän geht mit seinem Schiff unter, solange noch andere an Bord sind, also stellen wir uns der Notwendigkeit, mutig zu sein.

Er kam hinter seiner gedrechselten Säule hervor, strich über seinen majestätischen weißen Bart, zupfte sein Priestergewand gerade und starrte Babkin mit rollenden Augen an. Wer Waninow so sah, konnte sich gut Moses vorstellen, wie er vom Berg Sinai stieg und seine Sippe um das Goldene Kalb tanzen sah.

»In einer Kirche schreit man nicht!« sagte Waninow würdevoll. »Vor Gott herrscht Demut.«

»So ist's, Sidor Andrejewitsch«, erwiderte Babkin. »Laß uns deshalb in deine Wohnung gehen.«

»Nein!« Waninow verspürte plötzlich die Segnungen des Glaubens. Hier, vor der Ikonostase, war er sicher. Selbst ein Babkin scheute davor zurück, vor allen Heiligen zu fluchen, unflätige Worte zu gebrauchen oder gar um sich zu schlagen. »Gott kann alles hören – ob hier oder in meiner Kammer. Was hast du zu sagen, Wadim Igorowitsch?«

»Etwas mitnehmen möchte ich, Waninow.«

»Von hier? Aus der Kirche?«

»So ist's.« Babkin zeigte zu einem Seitenaltar, vor dem, wie überall, ein ewiges Licht flackerte. »Habe ich nicht vor Jahren dieses Kruzifix da gestiftet?«

»Eine wundervolle Bronzearbeit.« Waninow drückte das Kinn an. »Ein Schmuckstück.«

»Ich will es zurückhaben.«

»Das Kreuz?« Waninows mächtige Baßstimme erhob sich drohend. »Elender! Schenkt der Kirche ein Kreuz, geweiht wird es, heilig ist es – und kommt nun daher und will es zurückhaben. Wadim Igorowitsch, wo ist deine Seele geblieben?«

»Wenn man das wüßte, Waninow. Ich suche sie selbst, glaub es mir. Sie ist weg, sage ich seit meiner Auferstehung immer wieder zu mir. Muß einfach dageblieben sein im Jenseits, aus dem ich zurückgerissen worden bin. Ist das möglich? Du als Pope mußt es doch erklären können. Gibt es das: Die Seele ist schon im Himmel, aber der Mensch lebt noch auf der Erde?«

»Bisher ist so ein Phänomen noch nicht aufgetaucht«, sagte Waninow dumpf. »Wieso spürst du, daß du keine Seele mehr hast?«

»Ich könnte dich umbringen und dabei Choräle singen …« Babkin rieb sich die Hände. »Wie nennt man so etwas?«

Waninow wich erschrocken und wieder von Angst durchrieselt bis zum Seitenaltar zurück, schlüpfte hinter den eisernen Ständer, auf dem Babkins gestiftetes Kruzifix stand, und verkrallte die Hände in seinem Bart.

»Wenn Gott nach einer Beichte die Sünden vergibt, sollte auch der Mensch nach einem Geständnis Milde walten lassen!« erklärte Waninow mit Überzeugung. »Du willst das Kreuz zurückhaben. Warum?«

»Wegtragen aus dieser Kirche will ich es und stiften dem heiligen Demetrius von Kasan. Verwundert dich das, Sidor Andrejewitsch? Geh weg von meinem Kreuz! Es soll nicht nach dir stinken!«

»Geschenkt bleibt geschenkt!« brüllte Waninow. »Was soll man den Gläubigen von Ulorjansk erzählen, wenn ihr geliebtes Kruzifix weg ist? Babkin hat es zurückgeholt – soll ich das sagen? Warum hat er es zurückgeholt?«

»Um es vor dir zu retten! Gestiftet war es zum Lob Gottes – aber was für ein Diener Gottes treibt hier sein Unwesen? Na? Ein Heuchler, ein Jungfrauenschänder, ein Bastardvater, ein Lügner … Aus dem Weg, Sidor Andrejewitsch! Das Kreuz kommt zu mir zurück!«

Fast gleichzeitig stürzten sie zu dem Kruzifix hin, gleichzeitig umklammerten sie das Kreuz – Babkin am unteren Querbalken, der Fußstütze Christi, Waninow am geheiligten Korpus selbst – und gleichzeitig zerrten sie daran, Babkin nach vorn, Waninow nach hinten.

Welch ein Anblick! Da kämpften sie um Zentimeterchen, mal nach vorn, mal zurück. Stark und kräftig waren sie beide, und das schwere bronzene Kreuz hatte ebenfalls sein Gewicht, was schon dadurch bewiesen war, daß seinerzeit zwei Mann Babkins Geschenk in die Kirche schleppen mußten und gewaltig dabei schwitzten.

»Laß es los!« keuchte Waninow und blies seinen Atem Babkin ins Gesicht. Die Adern schwollen an seinen Schläfen und seinem Hals, so sperrte er sich gegen Babkin, der ihm gegenüber nicht minder kräftig in seine Richtung zog. »Du beschädigst die Füße des Herrn …«

»Und deine Fettfinger liegen an seinem Bauch!« röchelte Babkin und rang nach Luft. »Übergeben wird er sich gleich … Herr im Himmel, ich leide mit dir.«

Und so ging es weiter, ruck hin, ruck her, begleitet von Ächzen und Stöhnen, Seufzern und Husten aus gepeinigten Lungen, vom Geknirsche der Zähne und dem Scharren der nach einem festen Stand suchenden Stiefel.

Schweiß troff von den Gesichtern, als sei jede Pore eine kleine Quelle, und rot waren ihre Köpfe, als hätten sie in glühender Sonne gelegen. Aber keiner von ihnen gab auch nur einen Zentimeter nach, und verlor man bei einem Ruck ein bißchen an Boden, stellte der Gegenruck das Gleichgewicht wieder her.

Babkin begannen nach ein paar Minuten die Beine zu zittern und das Herz zu schmerzen. Starr sah er Waninow an, der mit weit offenem Mund und prustend wie eine alte Dampflok in keiner besseren Verfassung war als er. Aber seine Kraft ließ nicht nach, und so war Babkin gezwungen, noch mehr aus seinen Muskeln herauszuholen, obwohl er sich sagte: Es geht nicht mehr.

Ruck hin … ruck her … Der Schweiß verschleierte den Blick, brannte in den Augen, lief in den offenen Mund, rann über den Hals. In den Adern am Kopf und in der Brust hämmerte schmerzhaft das Blut, und ab und zu, als sei man sich wortlos einig, unterbrachen die beiden Kämpfer das Gezerre.

Dann drückten sie die Stirnen an das Kruzifix und erfrischten sich an dem kühlen Metall, hauchten sich gegenseitig mit ihrem heißen, röchelnden Atem an. Aber danach strafften sie sich wieder, sahen sich mit funkelnden Augen an und griffen von neuem zum Kreuz.

Ruck hin … ruck her …

»Nur über meine Leiche bekommst du es …«, keuchte Waninow und schielte dabei fürchterlich vor Entkräftung. »Nur, wenn du auch mein Herz mit herauszerrst …«

»Dann mach deinen Kittel auf!« schrie Babkin mit dampfendem Atem. »Laß sehen, ob da überhaupt ein Herz ist … Gib es auf, Sidor Andrejewitsch, ich bin der Stärkere!«

Es waren, wie man so sagt, die letzten Worte von Babkin, wenn man davon absieht, sein röchelndes »O Gott!« noch hinzuzurechnen.

Um ihn herum veränderte sich plötzlich die Welt. Alles wurde wundervoll glänzend, Waninows schweißtriefender Schädel vergoldete sich, das Kruzifix war plötzlich so leicht, als sei es aus Watte – überhaupt: Es gab keine Schwere mehr, seine schmerzenden Beine schwebten, die Ikonostase schien zu blühen wie ein Zaubergarten, und selbst noch, als Babkin zu Boden sank, war es ihm, als falle er in eine duftende Wiese, die noch kühl vom Morgentau war.

Auch den Krach hörte er nicht. Als Babkin das Kruzifix plötzlich losließ, wurde – dem physikalischen Gesetz gehorchend – Waninow das Opfer seiner eigenen Zugkraft. Mit dem Kruzifix in beiden Händen schoß er rückwärts in den Altar, brach mit ihm zusammen, ging zwischen den Trümmern unter, stieß sich mehrmals das zersplitternde Holz in den Körper und lag dann unbeweglich in einem Haufen von Holz, gestickten Decken und Kerzenhaltern, niedergedrückt von dem auf seiner Brust liegenden bronzenen Kreuz, das – man weiß es jetzt – zwei Männer hatten tragen müssen.

Waninow brauchte einige Minuten, um sich in den Trümmern so weit zu erholen, daß er sich unter dem Kreuz wegwälzen und aus den Trümmern des Altars steigen konnte. Gesiegt, rief es in ihm. Gesiegt! Ich habe Babkin besiegt! Das Kreuz bleibt bei mir! Sollte man jetzt nicht die Glocken läuten?

Schwankend zog er sich an einer Säule hoch, holte noch ein paarmal tief Atem und sah sich dann nach Babkin um.

Wadim Igorowitsch lag auf dem Rücken, die Arme weggespreizt, als sonne er sich, aber sein Blick war leer und starrte in die Kirchenkuppel. Auch sein Atem war weg, was Waninow sofort auffiel. Nach einem solchen Kampf japst der Unterlegene nach Luft, aber er liegt nicht da, als sei er aus Holz geschnitzt.

»O nein!« sagte Waninow erschüttert und zweifelnd zugleich. »Wadim Igorowitsch, Brüderchen, tu uns das nicht an … nicht noch einmal! Heb den Kopf und sage: Ich lebe. Babkin, mein Lieber, rühr dich …«

Er tastete über Babkins Gesicht: Der Schweiß war kalt, über die Lippen kam kein Hauch mehr, die gebrochenen Augen waren wie mattes Glas, und die Hand, die Waninow zögernd ergriff, fühlte sich plötzlich fremd an, schlaff und wie vom Körper losgelöst.

Wenn er jetzt wirklich tot ist, dachte Waninow, muß ich für seine Seele beten … Ist er es wieder nicht, so schadet's auch nicht – also beten wir.

Er neigte das Haupt, faltete, neben Babkin knieend, die Hände und sprach die Bitte um Erlösung von allen Sünden und um die Aufnahme in das göttliche Reich. Dann sang er noch eine Strophe des Totenchorals ganz leise in seinen vom Schweiß nassen Bart hinein, segnete Babkin und erhob sich dann, um Dr. Poscharskij zu holen.

Im Garten arbeitete gerade Sobakin, der Totengräber und Zählerableser, grub ein Beet um und schwang sich sofort auf sein Fahrrad, als Waninow ihn anschrie: »Hol den Genossen Arzt! Schnell! Schnell! Babkin scheint einen schlechten Tag zu haben.«

Danach lief Waninow in die Kirche zurück, verschloß zum erstenmal, seit er Priester war, die Pforte und hockte sich neben Babkin auf die Erde. Er lag noch immer so da wie vor einigen Minuten, und jeder, der ihn angesehen hätte, würde gesagt haben: Was wollt ihr? Der Mann ist tot.

Nur bei Babkin war man sich da nicht so sicher, das verstehen wir alle, Genossen.

Fast eine Stunde dauerte es, bis Dr. Poscharskij von rückwärts durch die Privatwohnung Waninows die Kirche betrat. Ein einziger Blick zeigte ihm, warum man ihn gerufen hatte. Poscharskij ließ seine Arzttasche fallen, suchte Halt auf einem Chorstuhl und warf den Kopf in den Nacken.

»Nein!« sagte er dumpf. »Nein! Nicht schon wieder! Das übersteigt meine Kräfte.«

»Wadim Igorowitsch ist tot.« Mit feierlicher Stimme gab Waninow seine Überzeugung kund. »Wirklich tot …«

»Wer sagt das, Sidor Andrejewitsch?« keuchte Poscharskij.

»Ich war Zeuge, als er starb.«

»Was besagt das? Es gab auch Zeugen, als Babkin vor dem Regal mit Wasch-, Putz- und Scheuermitteln in seinem Basar umfiel und tot war. Und was war er? Scheintot! Was soll ich hier?«

»Babkins Tod feststellen, Bairam Julianowitsch …«

»Nie! Nie und nimmermehr! Bei Babkin stelle ich nichts mehr fest. Vor knapp zwei Stunden war er noch bei mir, giftig wie eine Schlange – und jetzt soll er wieder tot sein? Wer glaubt ihm das, he?« Dr. Poscharskij zeigte auf den zertrümmerten Altar. »War er das?«

»Nein – nur die Auswirkung eines physikalischen Gesetzes. Eine Art Fliehkraft …« Waninow umschritt den toten Babkin ein paarmal, als umwandle er einen heiligen Schrein. »Ich sage dir: Jetzt ist er tot! Keine Atmung.«

»Hatte er beim erstenmal auch nicht …«

»Keine Reflexe …«

»Besagt gar nichts!«

»Der leere, gebrochene Blick …«

»Kann eine Eigenart des Krampfes sein …« Dr. Poscharskij beugte sich aus seinem Chorstuhl etwas nach vorn und betrachtete Babkin mit flackernden Augen.

Zugegeben: Wenn man Babkin so liegen sah, gab es keinen Zweifel mehr an seiner Entseelung. Aber genauso hatte er auch neulich auf dem Totenbett gelegen und hatte doch alles gehört und gesehen. Soviel Glück, daß Babkin nun wirklich tot war, zweifelte Poscharskij an.

»Du solltest ihn untersuchen, Bairam Julianowitsch«, sagte Waninow der Pope.

»Nein! Diesen Menschen fasse ich nicht wieder an.«

»Ich habe für ihn gebetet und gesungen – ich habe meine Pflicht getan.«

»Wie ergreifend!« rief Dr. Poscharskij höhnisch. »Welch ein risikoloser Beruf! Wacht Babkin wieder auf, hat's ihm nicht weh getan und auch nichts genützt. Ein Gebetchen und ein gesungenes Verschen … Aber was verlangt man von mir? Ich soll einen für tot erklären, der uns schon einmal aus dem Sarg gesprungen ist. Ich allein muß die Verantwortung tragen!«

»Dafür bist du ein Arzt, Bairam Julianowitsch. Wir kümmern uns um die Seele, du um den Körper. Wir können Babkin doch nicht einfach in der Kirche liegen lassen.«

»Warum nicht?«

»Und wenn er zu stinken beginnt …«

»Das ist eine Idee!« Dr. Poscharskijs Miene hellte sich auf. »Das wäre ein Beweis, daß er wirklich tot ist. Dann stelle ich einen Totenschein aus, ohne mich zu blamieren. Laß ihn hier liegen, Sidor Andrejewitsch.«

»Vor dem zertrümmerten Altar?«

»Natürlich nicht. Hinten in der Gerümpelkammer! Gibt's dort einen Tisch? Ja? Vortrefflich! Wir legen ihn auf den Tisch und warten ab … Nicht übelnehmen kann er uns das, wenn er wieder aufwacht.«

Sie hoben Babkin vom Boden auf und trugen ihn ächzend nach hinten in die Gerümpelkammer der Kirche. Tatsächlich, es gab dort einen Tisch. Waninow blies den Staub von der Platte, sie legten Babkin drauf und waren so gütig, ihm die schlaffen Hände zu falten. Sie fühlten sich eisig an, die Finger, aber auf einen fragenden Blick von Waninow schüttelte Dr. Poscharskij wieder den Kopf.

»Das ist kein Argument. Kennen wir alles. Wadim Igorowitsch scheint prädestiniert zu sein, in einen Scheintod zu verfallen. Ein medizinisches Phänomen, sage ich, noch kaum in der ärztlichen Literatur erwähnt. Ich werde darüber schreiben und alles für die Nachwelt festhalten. Ich werde es das ›Ulorjansker Asphyxie-Phänomen‹ nennen.«

»Aber die Augen sollten wir ihm trotzdem zudrücken, Bairam Julianowitsch.«

»Du sagst es. Was mich jetzt an Babkin stört, ist sein Blick.« Dr. Poscharskij drückte also Babkin die Lider herunter und kam sich danach weniger beobachtet vor.

Die beiden Männer verließen die Kammer, kehrten in Waninows Wohnung zurück, und Sidor Andrejewitsch berichtete, wie es dazu gekommen war, daß Babkin wieder umfiel.

»Die Überanstrengung … sag ich's doch, sag ich's doch! Das ist bei Babkin wie bei einem elektrischen Schutzschalter. Gibt es irgendwo eine Überhitzung – knack, schaltet bei ihm alles aus.« Dr. Poscharskij sah Waninow stolz an. »Ist das nicht eine fabelhafte Erklärung des Phänomens? Leicht verständlich, volkstümlich – jedermann begreift's. Sein Bronzekreuz wollte er wiederhaben? Gekämpft habt ihr darum? Wer kann Babkin noch verstehen? Du hast ihm doch nichts getan, Waninow …«

»So ist's.« Der Pope senkte den Kopf, um Poscharskij nicht ansehen zu müssen. »Wer sagt es aber jetzt der armen Nina Romanowna?«

»Was?«

»Daß Wadim Igorowitsch wirklich tot ist.«

»Ist er das? Ich wehre mich, daran zu glauben. Auch seine Familie wird's nicht glauben. Keiner kann es glauben, der das alles erlebt hat mit ihm.«

»Trotzdem muß man die Familie unterrichten, sonst melden sie Babkins Verschwinden, und die Miliz beginnt, ihn zu suchen.« Waninow lehnte sich zurück und starrte gegen die Holzdecke des Zimmers. »Eine Todesnachricht sollte der Arzt überbringen …«

»Ich lehne bei Babkin das Wort ›tot‹ vorläufig kategorisch ab!« rief Poscharskij empört. »Heikle seelische Dinge zu übernehmen, ist Pflicht eines Priesters.«

So saß man eine Stunde herum, traktierte sich mit langen Reden über des anderen Pflichten und wurde sich doch nicht einig. Schließlich war es Waninow, der sich seufzend erhob.

»Also gut«, sagte er, »gehen wir gemeinsam. Das verteilt die Last.«

Ein salomonisches Wort, dem sich Dr. Poscharskij nicht entziehen konnte.

Das war es, was er immer an den Priestern so bewunderte: Für alle Fälle im Leben hatten sie einen klugen Satz zur Hand, dem kaum widersprochen werden konnte.

Wer nun erwartet, daß bei den Babkins überschäumende Freude ausbrach, daß man sich umarmte und küßte, Nina Romanowna den besten Krimwein holte und kräftig auf Babkins endlichen Tod angestoßen wurde, der täuscht sich gründlich.

Genau das Gegenteil war der Fall: Lähmendes Entsetzen breitete sich aus, als Waninow und Poscharskij im Haus erschienen und erklärten, Babkin läge wahrscheinlich tot in der Gerümpelkammer der Kirche.

Wahrscheinlich - das war das Wort, das jedem in den Magen fuhr. ›Wahrscheinlich‹ ist das Unsicherste von der Welt. ›Wahrscheinlich‹ kann man drehen und wenden, wie man will, und hat doch nie Gewißheit. Wahrscheinlich ist dehnbarer als Gummi.

»Daß er uns das antut!« jammerte Nina Romanowna und legte schützend die Arme um ihre beiden neben ihr sitzenden Töchter. »Schon wieder! So kurz nacheinander! Besitzt er denn gar kein Schamgefühl? Was soll man von uns denken? Was wollen wir tun? Wieder bei Mischin einen Sarg bestellen? Uns wieder vor aller Welt blamieren? Ah, welche Gemeinheit von Wadim Igorowitsch, uns wieder in diese Situation zu bringen!«

»Noch lebt er ja vielleicht«, versuchte Dr. Poscharskij sie zu beschwichtigen und dankte Walentina mit einem freudigen Blick, als sie eine Flasche Wodka und einige Gläser brachte.

Sein Weibchen Iwetta schlief noch immer nach dieser verdammten Injektion, deren Wirkung Babkin so rätselvoll schnell abgeschüttelt hatte. Und so kommt es, dachte Poscharskij, daß man sich ans Saufen gewöhnen kann. »Noch ist er jedenfalls nicht amtlich tot! Das ist er erst, wenn ich den Totenschein ausschreibe. Und ich werde mich hüten, das jetzt schon zu tun.«

»Angenommen, er ist wirklich tot –«, fragte Waninow, nahm Walentina die Flasche aus der Hand und setzte sie an seine dicken Lippen. Zufrieden rülpste er und gab die Flasche dann an Dr. Poscharskij weiter. »Was dann?«

»Ein Fest, wo sich die Tische biegen, werde ich geben!« rief Nina Romanowna unter Tränen. »Wie bei den Ewenken werde ich ein Riesenfeuer anzünden. Getanzt werden soll bis zum Umfallen!« Sie holte tief Luft. »Aber hofft nicht darauf. Wie ich Babkin, unser Väterchen, kenne, steht er morgen zum zweitenmal auf.«

Man hing noch diesem trüben Gedanken nach, als Pyljow ins Haus stürzte, mit verzerrtem Gesicht und aufgerissenem Kragen. Er war auf dem Weg zur Schule gewesen und japste nun nach Luft, so schnell war er zurückgelaufen.

»Was höre ich da?« schrie er hysterisch. »Wadim Igorowitsch ist wieder umgefallen? Er liegt wieder tot auf dem Rücken?«

»Wer sagt das?« schrie Dr. Poscharskij zurück.

»Sobakin habe ich getroffen. Seinen Koffer will er packen und wegziehen aus Ulorjansk. Wer kann's ihm verübeln? Kommt in die Kirche, will in der Gerätekammer eine Schaufel holen, und wer liegt da auf einem Tisch, stumm und steif? Unser Babkin! Sobakin bekam solch einen Schock, daß er mit der Stirn gegen die Wand rannte und sich einen Riß zuzog. Ist es denn wirklich wahr, meine Lieben?«

»Wahr ist es, daß er auf einem Tisch in der Gerümpelkammer liegt«, sagte Waninow und nahm Dr. Poscharskij die Wodkaflasche ab. »Unsicher ist, ob er nun wirklich tot ist. Bairam Julianowitsch wagt keine Diagnose mehr. Er verläßt sich darauf, daß Babkin morgen riechen muß, wenn er uns nicht wieder getäuscht hat. Unsere einzige Hoffnung ist ein sichtbarer natürlicher Verfall.«

»Und … und wenn er nicht eintritt?« Nina Romanowna hatte diesen schrecklichen Gedanken.

»Dann weiß ich, was ich tue«, knirschte Pyljow, zu allem entschlossen. »Dann nutze ich die Stunde. Dieses Mal enttäuscht uns Babkin nicht mehr …«

Immerhin unterrichtete man alle Betroffenen, von Narinskij, dem nachbarlichen Metzger, bis hin zu Blistschenkow, dem Genossen Bürgermeister. Aber keiner rührte sich von der Stelle. Gemeinsam hatten sie nur den gleichen Gedanken: Der Himmel strafe Babkin, der so grausam mit dem Sterben spielt.