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Nun lag er da, stumm und steif, eingerahmt von flackernden Kerzen, und erweckte trotzdem nicht den Eindruck, als wäre er tot. Der Pope Sidor Andrejewitsch Waninow, der ihn gesegnet und das Kreuz über ihn geschlagen hatte, sprach ehrfurchtsvoll, mit dumpfer Baßstimme von der Majestät des Todes, und alle, die im Nebenzimmer versammelt waren, Frau und Kinder und die besten Freunde und Nachbarn, bekreuzigten sich ebenfalls und dachten einmütig: Endlich!

Er war schon ein merkwürdiger Toter, der gute, hochangesehene, reiche Basar-Inhaber Wadim Igorowitsch Babkin. Sein Geschäft, in dem man alles kaufen konnte, was ein Mensch so zum Leben braucht – falls die Ware vorrätig war –, befand sich am Marktplatz von Ulorjansk, also im Mittelpunkt des Städtchens. Babkins Basar war im ganzen Umkreis für reelle Preise bekannt, aber das rührte daher, daß niemand eine Vergleichsmöglichkeit hatte und notfalls hätte reklamieren können.

Wo, zum Beispiel, konnte man erfahren, was garantiert italienische Damenschuhe sonst kosteten, wenn es im Umkreis von zweihundert Werst kein Geschäft gab, das solch eine Seltenheit führte? Daß Babkin die italienischen Schuhe durch allerlei Kreuz- und Querverbindungen vom Schuhkombinat ›Roter Adler‹ aus Perm bekam, wo in einer Seitenhalle diese eleganten Träume aus Leder gefertigt wurden, ahnte niemand. Am allerwenigsten aber wußte man, daß Babkin auch andere ›seltene Angebote‹ mit einem Gewinn von dreihundert Prozent verkaufte.

Sein sichtbarer Wohlstand war verdient, das erkannte jeder in Ulorjansk an. Und wenn einmal – um ehrlich zu sein, geschah das öfter – eine so notwendige Ware wie gefütterte Mützen oder zu Tafeln gepreßter Tee nicht geliefert worden war, schloß sich Babkin seinen wütenden Kunden an, schimpfte kräftig auf den Fünfjahresplan, auf die Dummheit der Funktionäre und vergoß sogar Tränen mit einer Kundin, die seit einem Jahr vergeblich auf einen wollenen Unterrock wartete. Das machte Babkin beliebt, und man grüßte ihn höflich, wo immer er auftauchte.

Der Pope Waninow nannte ihn sogar einen gottgefälligen Menschen, weil Babkin im Winter Papierblumen für den Schmuck der kleinen Kirche stiftete, Waninow öfter zum Abendessen einlud und vor sechs Jahren das große Bronzekreuz neben dem Altar aufstellen ließ, ein wundervolles Schmuckstück vor der Ikonostase.

Ulorjansk, das möchte ich Ihnen raten, Genossen, sollten Sie sich nicht entgehen lassen, wenn Sie einmal in diesen Teil Sibiriens kommen. Das Städtchen liegt am herrlichen Fluß Tobol, an dem vor vielen Jahren der dämonische Rasputin lebte, und es hat nur einen Nachteil: Keine vernünftige Straße führt dorthin.

Im Frühjahr bei der Schneeschmelze und im Herbst, wenn die Regengüsse vom graugrünen Himmel prasseln, ist Ulorjansk vom übrigen Leben abgeschlossen und nur mit Spezialfahrzeugen zu erreichen, etwa mit Panzern. Aber was sollen Panzer in Ulorjansk? Daß es trotzdem in diesen Monaten fast alles in Ulorjansk zu kaufen gab, war das Verdienst von Babkin. Man kann ihn also gar nicht genug loben.

Die Frage ist nun berechtigt, wer den Wahnsinn begangen hat, hier eine Stadt zu gründen. Man muß da weit zurückgreifen, bis zu Iwan dem Schrecklichen und den unermeßlich reichen Kaufleuten Stroganoff, die den Kosaken Jermak mit einer Reiterschar von Abenteurern, Halunken und Weiberschändern losschickten mit dem Auftrag, das sagenhafte Land hinter dem Ural zu erobern und zu erforschen. Allein der gar nicht zu berechnende Reichtum dieses unendlichen Sibiriens an Nerzen, Zobeln, Blau- und Silberfüchsen, Hermelinen und Ottern in den Sümpfen und Wäldern war es wert gewesen, Jermak mit seiner Bande in diese neue Welt reiten zu lassen.

Hier nun – so weiß es die Überlieferung – an einem Teil des Tobol, wo man früher nur mit einem Boot ans Ufer kam, weil sich ringsum nichts als Wälder und Sümpfe ausdehnten, soll Jermak ein Lager aufgeschlagen haben. Aus rohen Holzstämmen baute er eine befestigte Station, die er Kreml nannte, ließ zwölf Mann und drei Weiber darin zurück, zog weiter nach Osten und kam nie wieder.

So, behauptet man, entstand Ulorjansk, benannt nach dem Anführer der ausgesetzten Zwölf, der Ulorjanskij hieß. Man raubte in den folgenden Jahren noch einige Frauen vom Nomadenstamm der Ewenken, und so wurde im Lauf der Jahrhunderte aus dem hölzernen Kreml des Jermak ein freundliches Städtchen.

Genau genommen waren alle Bewohner von Ulorjansk ursprünglich miteinander verwandt, aber wir wollen hier keine Ahnenforschung betreiben, sondern von Wadim Igorowitsch Babkin berichten.

Zudem kam frisches Blut nach Ulorjansk, als in Tobolsk, der stolzen Hauptstadt des Gebiets, einige berüchtigte Straflager gegründet wurden, vor allem für politische Wirrköpfe, wie es hieß, die nach ihrer Begnadigung trotzdem nicht mehr in ihre Heimat zurück durften, sondern ihre Freiheit in Sibirien genießen mußten. Auch nach Ulorjansk kamen solche Begnadigten, nicht nur Männer, sondern ebenfalls Frauen, und sorgten für eine Aufweichung der Inzucht und eine neue Blüte des Ortes.

So entstammte Babkin zum Beispiel der Verbindung zwischen einem Sträfling aus Odessa und einer Frau aus der Gegend von Nowgorod. Sie hatten zehn Kinder miteinander, neun davon wahre Prachtmenschen, anzusehen wie Gemälde, doch nur eines blieb am Leben – ein Außenseiter, an dem die Schönheit vorbeigegangen war: Babkin.

Und nun lag er also da auf seinem Sterbebett, die Hände gefaltet. War einfach umgefallen, so mir nichts, dir nichts, ohne Vorankündigung, ohne jemals krank gewesen zu sein, wenn man gelegentlichen Schnupfen oder kleine rheumatische Beschwerden außer acht läßt.

Dr. Bairam Julianowitsch Poscharskij, der langjährige Arzt der Familie der seine außerhalb von Ulorjansk lebenden Patienten während des Winters mit dem Pferdeschlitten und im Sommer mit einem Jeep betreute, hatte nach kurzer Untersuchung festgestellt: »Meine lieben Trauernden, Wadim Igorowitsch erlag einem apoplektischen Insult …«

Das klang vortrefflich und sehr gelehrt, aber da es niemand verstand, fragte Nina Romanowna, Babkins Witwe, eindringlich: »Er ist tatsächlich tot?«

»So tot wie ein Fisch im vorigen Jahr«, erwiderte Dr. Poscharskij gefühlvoll. »Nehmt es tapfer hin, meine Lieben …«

»Aber sehen Sie nur, Genosse Arzt«, sagte Boris Witalowitsch Pyljow, der Schwiegersohn Babkins und Lehrer an der Schule von Ulorjansk, »was für rote Bäckchen er hat. Richtig rote Bäckchen – wie im Leben …«

»Das kommt vom Saufen« erklärte Dr. Poscharskij, ehrlich wie immer. »Bei einem Säufer wird die rote Haut nicht weiß, auch wenn er tot ist. Sehen Sie, Genosse Lehrer, wie tot Ihr Schwiegerväterchen ist …« Er stieß dem starren Babkin eine lange Spritzennadel in die Bauchdecke, und nichts geschah. Kein Zucken, kein Lebenszeichen; es war, als wenn man in ein Kissen sticht.

Hier kam zum erstenmal der freudige Gedanke auf: Endlich!

Pyljow nickte anerkennend, legte den Arm um seine Frau Nelli Wadimowna, trat ins Nebenzimmer und verkündete die frohe Botschaft:

»Er ist wirklich tot!«

Danach bekreuzigten sich alle und seufzten tief. Die ganze Familie war versammelt, nachdem Wadim Igorowitsch Babkin plötzlich umgekippt war und mit jungen sechzig Jahren diese Welt verlassen hatte.

Nur Natalja, die zweite Tochter, fehlte. Sie war vor vier Jahren spurlos verschwunden, einfach verschollen, nachdem ein Lastwagenfahrer sie nach Tobolsk mitgenommen hatte.

»Er hat sie umgebracht!« hatte Nina Romanowna tagelang geschrien, die Hände gerungen und Waninow, den Popen, angefleht, vor dem Allerheiligsten für Natalja zu beten. »Umgebracht hat er mein unschuldiges Töchterchen, mein silbernes Vögelchen … geschändet und erwürgt! So nur kann es gewesen sein, nur so! Ach, Natalja, mein Engelchen …«

Den Lastwagenfahrer konnte natürlich niemand aufspüren, und so erklärte man nach zwei Jahren Natalja für tot, senkte einen Gedenkstein in die Erde des Friedhofs und stiftete der Kirche ein Gnadenbild. Jetzt, dachte Nina in diesen Stunden neidisch, hat Babkin als erster die Freude, Natalja im Himmel wiederzusehen. Verdient hat er es nicht, nein, wirklich nicht. Hier muß man Gottes Weisheit kritisieren …

»Ein so guter Mensch war er«, sagte Sidor Andrejewitsch Waninow, der Pope. Er saß am Tisch, aß sauersüß eingelegte Gurken, einen riesigen Blini, den ihm Walentina, die dritte Tochter Babkins, schnell gebacken hatte, und trank verzückt eine Flasche Brombeerwein, bei dessen Zubereitung Nina Romanowna wahre Kunstfertigkeit bewies. Ihre Beerenweine waren eine hochgepriesene Ergänzung zum Wodka. Ausgefuchste Kenner mischten sie sogar mit Wodka, was ein höllisches Gesöff ergab, dem niemand widerstand.

»Ein so treuer Mensch«, fügte Waninow hinzu und sah dabei Walentina an. Er mochte jetzt wohl an den versiegten Spendenfluß denken, denn Babkins Erben würden der Kirche gegenüber niemals so freigiebig sein wie Wadim Igorowitsch. »Aber so ist es, meine Lieben: Wen Gott liebt, den will er an seiner Seite sehen …«

»Da reden Sie offensichtlich Widersprüchliches, Väterchen Sidor«, fing Pyljow, der Lehrer, einen uralten Streit wieder an. »Von den Hundertjährigen heißt es: Gottes Gnade schenkt ihnen ein langes Leben. Aber nach Ihrer jetzigen Behauptung müßte Gott die Hundertjährigen durch ein langes Leben bestrafen …«

»Man soll das ökonomisch sehen, Genosse Pyljow. Ökonomisch!« Väterchen Sidor hob den extrem langen Zeigefinger. Er war wirklich außergewöhnlich groß, was wohl seinen Ursprung darin hatte, daß Waninow jahrzehntelang mit erhobenem Zeigefinger seine Predigten begonnen und ihn dadurch zum ständigen Wachstum angeregt hatte. So wenigstens glaubten es die Bürger von Ulorjansk, versanken im Gebet und wagten nicht den Kopf zu heben, wenn Waninow ihnen mit seiner Baßstimme ihre Sünden vorhielt.

Boris Witalowitsch Pyljow wäre kein Lehrer gewesen, wenn er diese Erklärung des Popen so ohne weiteres hingenommen hätte. »Was heißt ökonomisch?« fragte er.

»Das weiß doch jeder.« Waninow aß mit Genuß den gefüllten Blini und sah Pyljow strafend an. »Du als Lehrer …«

»Soll das bedeuten, daß Wadim Igorowitschs früher Tod für uns alle etwas Gutes bringt?«

»Was sollen diese Fragen?« mischte sich Nina, die Witwe, ein. »Väterchen ist tot, liegt nebenan selig zwischen den Kerzen, und wir wollen ihm danken, daß er ein so gutmütiger Mensch gewesen ist.«

Hier hätte man eigentlich widersprechen müssen, aber – das ist nun mal der Brauch – über einen Toten soll man nichts Schlechtes reden, auf keinen Fall solange nicht, wie er noch in seinem Sarg über der Erde liegt. Der sichtbare Tod veredelt … Hinterher, wenn die Erde auf ihm liegt, kann man den Verstorbenen getrost einen Hurenbock nennen.

Bedrückt und wortkarg saß man also herum, bis abends der Schreiner und Sargmacher Igor Grigorjewitsch Mischin erschien, einen Schreibblock unter dem Arm und einen Zollstock in der Rocktasche. Stumm vor Trauer umarmte er Nina Romanowna, küßte sie, ging dann weiter von Hinterbliebenem zu Hinterbliebenem, wiederholte seine Umarmungen und Küsse und zog sogar Dr. Poscharskij an sich, der sich nicht wehrte. Auch der Arzt brauchte Trost, denn er wußte wirklich nicht, woran Babkin gestorben war. Das kann man natürlich nicht laut sagen, man muß es in sich hineinfressen, und so etwas tut weh. Glaubt mir das, liebe Genossen!

»Wo … liegt er?« fragte Mischin fast flüsternd und ehrfurchtsvoll.

»Natürlich im Schlafzimmer, wo sonst!« Nina, die frischgebackene Witwe, war ärgerlich. Ein Sarg nach Maß war Verschwendung, aber Babkin hatte das als einen seiner letzten Wünsche niedergeschrieben. ›Ich möchte nach meinem Tod in einem maßgefertigten Sarg von Mischin begraben werden … ‹

Das war ein Befehl, dem man sich nicht widersetzen konnte. Nina allerdings hielt diesen Wunsch für eine neue Schikane Babkins, denn so mußte man Wadim Igorowitsch noch mindestens drei oder vier Tage im Hause behalten; schneller war der Sarg auch von einem Künstler wie Mischin nicht herzustellen. Denn – so stand es geschrieben von Babkin – der Sarg sollte auch mit Schnitzereien versehen werden.

»Glaubst du, wir bahren ihn auf der Ladentheke auf?« knurrte Nina böse. »Was kostet so ein maßgearbeiteter Sarg, Igor Grigorjewitsch?«

»Das richtet sich ganz nach dem Geschmack, Genossin Babkina …« Mischin holte seinen Zollstock aus der Jackentasche. »Ja, nach dem Geschmack …«

»Geschmack! Ist das zu glauben! Willst du etwa den Sarg mit Marmelade oder Honig einreiben? Hat Wadim dir gesagt, was er gerne mag? Buttercreme, das war's. Die aß er immer nachmittags zum Tee. Ein Sarg mit Buttercreme … hat man so etwas schon gesehen! Und da nennt ihr Babkin einen gutmütigen Menschen!«

»Wer hilft mir?« fragte Mischin traurig und sah sich im Kreise um. »Wer erklärt es ihr? Genosse Pyljow, Sie als Lehrer, als gebildeter Mensch …«

Pyljow holte tief Atem und versuchte, seine Worte vorsichtig zu wählen.

»Mamuschka«, sagte er, sich herantastend. »Es geht nicht um Buttercreme, sondern um die Schnitzereien am Sarg.«

»Die Schnitzereien – beschmiert mit Buttercreme!«

»Ohne, Mütterchen …«

»Wieso haben sie dann einen Geschmack?«

»Man sagt das so in gewissen Kreisen. Geschmack ist eine Art von Kultur. Er verrät anderen Menschen, was man selbst für schön erachtet …«

»Ja, so war er«, sagte Nina, die Witwe, drückte ihr Taschentuch an die Nase und vergoß ein paar Tränen. »Da seht ihr, wie Wadim Igorowitsch war! Wenn er zärtlich war, nannte er mich ›Mein Döfchen‹ … Zweiunddreißig Jahre lang mußte ich das ertragen …«

Sie sah den betroffenen Mischin an, der mit seinem Zollstock spielte. »Was kannst du schnitzen?«

»Alles, Genossin Babkina.«

»Dann schnitz die Köpfe von mir und seinen Kindern auf den Sarg …«

»Ist das dein Ernst?« Mischin sah sich wieder hilfesuchend um. »Soviel Zeit haben wir nicht …«

»Ich denke, du bist ein Künstler.«

»Unter acht Tagen schaffe ich das nicht. Nina Romanowna, man kann Babkin nicht so lange im Bett liegen lassen. September ist es, noch warm … Babkin würde uns weglaufen …«

»Laufen? Wie kann er laufen, du Idiot! Er ist doch tot!« schrie Nina, die Witwe.

Mischin verdrehte die Augen und sah dann flehend den Popen Waninow an. »Helfen Sie mir jetzt, Väterchen«, stöhnte er. »Ich finde die diskreten Worte nicht.«

Sidor Andrejewitsch erklärte der erstarrten Nina langsam und schonend, wie die Verwesung bei sommerlichen Temperaturen vor sich geht. Schon drei Tage im Bett seien im sibirischen September eine lange Zeit, eine Woche aber – unmöglich.

»Man kann das allerdings aufhalten«, sagte Waninow am Schluß. »Man könnte Babkin in die Kühltruhe legen. Alles Fleisch, alles Eis, alle gefrorenen Lebensmittel raus und Babkin rein. Nur kann man später aus der Truhe nichts mehr verkaufen, der Hygiene wegen, Nina Romanowna …«

»Dann schnitz, was du willst!« schrie Nina den armen Mischin an. »Mehr als dreihundert Rubel darf der Sarg nicht kosten! Dreihundert Rubel für eine Holzkiste! Von dreihundert Rubeln müssen Vater, Mutter und drei Kinder leben und werden noch fett dabei! Und er –«, ihre Finger deuteten zur Schlafzimmertür – »wirft das Geld raus für den Tod! Das empört mich! Das ist eine Ohrfeige für den Sozialismus!«

Die Trauernden schwiegen betreten, weniger aus Höflichkeit als vielmehr vor Staunen, daß Nina Romanowna plötzlich sozial dachte. Man erinnerte sich noch gut an den armen Wanja Lwowitsch Gjunim, einen Kretin – dafür konnte er ja nichts – dem niemand Arbeit geben wollte und der sich mit Betteln durchs Leben schlug.

Als er auch bei Babkin bettelte, belegte Nina ihn sofort mit Beschlag, ließ ihn Säcke und Kisten schleppen, unter deren Last er fast zusammenbrach, gab ihm Tritte in den Hintern, wenn er schwer atmend nach Luft rang und sich ein Sekündchen nur ausruhen wollte, und entlohnte ihn mit einem dünnen Kohlsüppchen, hart gewordenem Brot und zehn Kopeken pro Tag, die er bei Babkin wieder in Tabak umsetzte.

Ich frage: War das sozial, Genossen? Durchaus nicht, und nun dachte Nina Romanowna an eine fünfköpfige Familie, wenn es darum ging, Babkin einen würdigen Sarg zu kaufen. Da darf man wahrlich erstaunt sein, meine Lieben.

Der Schreiner Mischin gab sich einen Ruck, stieß die Tür zum Schlafzimmer auf, bekreuzigte sich auf der Schwelle, betrat den Raum und schloß die Tür wieder hinter sich.

Babkin, das muß man gestehen, war eine imponierende Leiche. Er lag so im Bett, wie er umgefallen war, in einer blauen Hose, einem gestreiften Hemd und einem weißen Kittel darüber, so daß man denken konnte, er sei Arzt oder wenigstens Apotheker gewesen. Nur die Schuhe – italienische natürlich – hatte man ihm geputzt und ein Handtuch darunter geschoben.

Sein rotbäckiges Gesicht verführte Mischin dazu, ihm freundlich zuzunicken und »Welch ein schöner Tag, Wadim Igorowitsch!« zu sagen. Erst danach fiel ihm ein, daß für einen Toten der Sterbetag durchaus kein schöner Tag war, aber man muß Mischin verzeihen: Babkin sah aus, als wenn er nur ein Nickerchen hielte.

»Du erlaubst, daß ich dich ausmesse?« fragte Mischin etwas bedrückt. »Warum muß es eigentlich ein Maßsarg sein, Genosse, warum nicht ein fertiger? Diese Arbeit! Da habe ich neun schöne Särge auf Lager, sogar mit Metallkreuzen und einem geschnitzten Jesus auf dem Deckel, beste Ahornbretter, dreimal gebeizt. Die halten garantiert zwei Jahre, erst dann bricht der Deckel ein … Aber nein, ein Maßsarg muß es sein! Immer großkotzig, Genosse, genau wie im Leben. Der reiche Babkin! Vielleicht steht in deinem Testament auch noch, daß man dir in Ulorjansk ein Denkmal bauen soll, gleich neben Lenin. Zuzutrauen wäre es dir!«

Mischin setzte sich auf die Bettkante zwischen zwei lange Kerzen und entfaltete seinen Zollstock. Er legte ihn an der Leiche an, maß einen Meter und zweiundachtzig in der Länge und neunundsechzig Zentimeter in der Breite – man sieht daran, daß Babkin von imponierender Statur gewesen war – notierte sich die Zahlen in seinem Maßbuch und klappte den Zollstock dann wieder zu.

»Glaub ja nicht, Wadim Igorowitsch, daß ich dir jetzt einen besonderen Sarg anfertige«, sagte Mischin und blickte Babkin dabei in das rosige Gesicht. »Ich werde einen vorhandenen lediglich nach deinen Maßen umbauen. Wer merkt das schon? Und fertige Schnitzereien klebe ich dir rundherum, daß es aussieht, als habe ein Holzbildhauer an den Brettern gearbeitet. Glaubst du, man betrachtet den Sarg mit der Lupe? Nicht einmal der Pope wird es merken und Nina Romanowna schon gar nicht … Die wird froh sein, wenn so schnell wie möglich Erde über dich geschaufelt wird. Das ist nun einmal so, mein lieber Babkin: Im Leben hast du die Leute betrogen und dich darüber gefreut. Nun, als Toter, betrügen sie dich und freuen sich noch mehr. Ich, zum Beispiel, bekomme von Nina dreihundert Rubel, wo dein Sarg nur vierzig Rubel wert ist. Gott hab' dich selig, mein guter Wadim Igorowitsch …«

Zufrieden kam Mischin zurück in die große Stube und nickte allen Hinterbliebenen mit leidvollem Gesicht zu. »Als wenn er schliefe …« sagte er und gab seiner Stimme einen zitternden Klang. Ein guter Sarghändler muß mit den Trauernden erschüttert sein. »Ich habe noch nie einen so schönen Toten gesehen.«

Dann schluchzte er auf, gab Nina wieder einen Kuß und war froh, als er endlich auf dem Marktplatz stand. Die Idee mit dem umgearbeiteten Vierzig-Rubel-Sarg beschwingte ihn.

Während er zu seiner Werkstatt zurückkehrte, dachte Mischin an verschiedene Begräbnisse, die unter seiner fachkundigen Leitung stattgefunden hatten. Am erinnerungswürdigsten waren, in seinen Augen betrachtet, die Feuerbestattungen. Natürlich gab es in Ulorjansk kein Krematorium, das lag in Tobolsk, aber wer es wollte, wurde verbrannt. Mischin sorgte für den Transport in die Hauptstadt, überwachte die Einäscherung, kam mit der Urne zurück und überreichte sie mit Tränen in den Augen den Erben.

Man hätte Mischin weniger gelobt und ihm gar nichts bezahlt, wenn man gewußt hätte, daß er den Sarg, in dem der liebe Tote gelegen hatte und der eigentlich mit verbrannt werden mußte, unversehrt zurückbrachte und wieder in sein Lager stellte. Und die Rubel für die Blumen versoff er in Tobolsk, aber er brachte Fotos von dem mit Blumen übersäten Sarg mit – nur stammten die von anderen Beerdigungen. Wer kann so etwas wissen, ja, wer ahnt auch nur solch eine Halunkerei? Jetzt war ein gutes Geschäft mit Babkin zu machen … ein kunstvoll geschnitzter Sarg, maßgefertigt, die Arbeit eines Holzbildhauers …

Man sieht, auch in Ulorjansk ist nicht alles so glänzend wie die grün oder blau gestrichenen Fensterläden …

Als Wadim Igorowitsch Babkin wie vom Blitz getroffen umfiel und sich auf der Erde wiederfand, genau vor dem Regal mit den Wasch-, Putz- und Scheuermitteln, kam ihm das äußerst merkwürdig vor. Bemerkenswerter war noch, daß er sich weder rühren noch rufen konnte. Er sah alles, hörte alles, roch sogar alles, aber ansonsten lag er da auf dem Boden wie ein trockenes Stück Holz.

Noch erstaunter war er, als sich Nina, sein Frauchen, mit einem schrillen Aufschrei neben ihm auf die Dielen warf, ihn umarmte, seine Augen küßte – was er noch nie gemocht hatte, weil die Feuchtigkeit ihrer Lippen seine Lider verklebte – und dann jammernd rief: »Oh Wadim … Wadimoschka … Wajenka … steh auf, sieh mich an, sag einen Ton! Warum liegst du denn da? Was ist passiert?«

Babkin fand diese Fragen blöd. Wenn er sie hätte beantworten können, wäre er grob geworden. Er wollten den Kopf heben, die Beine anziehen und Ninas schmatzenden Küssen entgehen, aber nichts rührte sich. Erst als Nina zu begreifen schien und losheulte: »Tot ist er! Eine Witwe bin ich! Ich arme Frau, mein Wadim ist von mir gegangen!« verspürte Babkin ein inneres Frieren in seinem bewegungslosen Körper.

Tot! Ich bin tot! Na, so was! Das soll ein Mensch begreifen, der noch alles sieht, hört und riecht! Alles ist wie vorher im Leben, nur bewegen kann ich mich nicht mehr. Ist das der Tod? Das sollte man den Lebenden mal erzählen, aber genau dies ist noch keinem Toten gelungen. Das ist das Fatale an der ganzen Sache: Man erlebt alles mit und gehört doch nicht mehr dazu.

Mit stummem Protest sah und hörte Babkin, wie Nina Romanowna alle, die im Basar einkauften, und das waren um diese Tageszeit meistens Frauen, aus dem Laden jagte und dann die große Tür zum Marktplatz abschloß. Verblüfft sah er auch, wie sein Frauchen zu einer Flasche Himbeerlikör griff und zwei kräftige Schlucke daraus trank. Nach dieser Stärkung verließ sie den Laden.

Babkin hörte die Hintertür zufallen, und dann lag er allein vor dem Regal mit den Wasch-, Putz- und Scheuermitteln und ärgerte sich maßlos, daß das Scheuermittel ›Blitz aus Kasan‹ falsch ausgezeichnet war – um drei Kopeken zu niedrig.

Wenn man nicht alles selber tut, dachte er. Von vorn bis hinten wird man betrogen!

Da lag er nun, der gute Babkin, und fragte sich, wie es weitergehen sollte.

Er hatte schon vor vielen Toten gestanden und viele Särge zum Friedhof begleitet, aber es ist ein großer Unterschied, ob man selbst in solch einem Kasten liegt oder nur hinter ihm hergeht. Vor allem aber ist es bei der Erkenntnis, daß man als Toter alles sehen, hören und riechen kann, äußerst peinlich, sich an gewisse Dinge zu erinnern, zu denen nur Lebende fähig sind.

Da war damals zum Beispiel Oleg gestorben. Oleg Ardamatskij, der Erste Sekretär in der Stadtverwaltung. Babkin hatte an seinem Sarg gestanden, hatte Abschied genommen und leise zu dem Toten gesagt: »Das hast du nun von deiner ewigen Hurerei … Herzschlag! Hab ich dich nicht immer gewarnt, du Bock?«

Peinlich ist das, sag ich euch, Genossen. Wirklich peinlich. Ardamatskij hat's ja gehört …

Oder Xenia Romasowna, das ärgste Klatschweib von Ulorjansk. »Endlich ist dein Schandmaul stumm …« hatte Babkin an ihrem Sarg gemurmelt. »Wenn ich Gott wär', würde ich dir oben im Himmel die Lippen zusammennähen …«

Peinlich, peinlich …

Nun bin ich aber gespannt, was sie an meinem Sarg sagen werden, dachte Babkin. Und man muß daliegen und alles anhören, ohne ihnen ins Gesicht spucken zu können. Das wird die erste Qual der Hölle sein, verlaß dich darauf, Wadim Igorowitsch …

Er dachte noch an hundert andere Dinge, als Nina wieder in den Laden stürzte, gefolgt von Väterchen Sidor, dem Popen.

»Da liegt er«, jammerte sie und zerriß ein Taschentuch zwischen ihren Händen. »Fällt einfach um und ist tot! Kann man das begreifen? O Väterchen, was soll ich tun?«

»Beten und den Arzt bestellen.« Waninows schwarzer Baß, der bei den liturgischen Gesängen in der Kirche alle anderen übertönte, strotzte vor Kraft. Er kniete sich neben Babkin nieder, zeichnete das Kreuz auf des Toten Gesicht und sprach murmelnd ein Gebet.

Nina wartete, bis er fertig war, und sagte dann: »Dr. Poscharskij wird gleich kommen. Soll ich jetzt unsere Kinder rufen?«

»Nicht hier, vor einem Waschmittelregal. Wir tragen ihn in sein Bett, und dort soll man ihn dann beklagen … Ich bleibe bei ihm, bis Poscharskij kommt.«

Schluchzend verließ Nina den Basar, Waninow erhob sich von den Knien und setzte sich auf eine Tonne mit dem Waschmittel ›Blütenrein‹.

Gegenüber, in Griffnähe, stand das Regal mit den Tabakwaren, und der Pope langte hin, zog eine Zigarre aus Georgien heraus, nahm ein Streichholz, biß die Zigarrenspitze ab, zündete die Zigarre an und blies den ersten Qualm genüßlich über den Toten hinweg.

Babkin hatte das Bedürfnis zu niesen, aber das gelang ihm nicht. Hat man schon jemals einen Toten niesen gehört? Erstaunlich war nur, daß er den Juckreiz in der Nase spürte, aber sein Körper sich nicht mehr dagegen wehren konnte.

Er dachte an den alten Komolow, der noch zwei Tage nach dem Tod seines Schwiegersohns die Leiche mit Fäusten und Fußtritten traktiert hatte, weil herausgekommen war, daß der Verblichene zwei bisher unbekannte außereheliche Kinder hinterließ, mit seiner Frau aber, Komolowas Tochter, kein einziges auf die Beine gebracht hatte. Wie schrecklich für den Schwiegersohn, nachträglich noch solche Schläge ertragen zu müssen, ohne sich wehren zu können!

Babkin wurde aus seinen Gedanken gerissen, denn Dr. Poscharskij stürmte, wie immer seine wie eine lange Leberwurst aussehende Arzttasche schwenkend, in den Basar. Einmal darauf angesprochen, erklärte er: »Das hat alles einen Sinn. So kann sich in den Injektions-Phiolen kein Bodensatz bilden!« Die Leute von Ulorjansk glaubten ihm das, weil es so gut klang. Injektions-Phiolen … Wir haben wirklich einen klugen Doktor.

Väterchen Waninow, der Pope, nahm wieder einen kräftigen Zug aus der Zigarre.

»Er ist hin, Bairam Julianowitsch«, sagte er und blies den Qualm wie ein Fabrikschlot von sich. »Du kannst hier nichts mehr tun. Der Himmel hat ihn schon vereinnahmt. Er steht vor Gottes Thron.«

Irrtum, wollte Babkin schreien. Ich bin noch hier, mitten unter euch, ihr Strolche! Und wie ich da bin! Ich sehe euch Halunken scharf wie ein Adler, ich höre euch wie ein Luchs, und Dr. Poscharskij stinkt nach Schweiß. Greif ins zweite Regal, hinter der Tür, da stehen Parfüms, und besprühe dich. So einen Geruch kann ja kein Toter aushalten …

»Trotzdem, ich muß meine Pflicht tun, Sidor Andrejewitsch.« Dr. Poscharskij kniete neben Babkin nieder, zog ihm die unteren Lider herunter und die oberen hoch, legte sein uraltes hölzernes Hörrohr an seine Brust, gab Babkin einige Ohrfeigen, als könnte er damit die Blutzirkulation wieder anfeuern, und erhob sich dann.

»Tot. Einwandfrei tot.«

»Und woran ist Babkin gestorben?«

»Wer weiß das? Man könnte es nur feststellen, wenn man ihn seziert. Aber dazu gibt Nina Romanowna nie ihre Einwilligung.«

»Nicht für einen herzhaften Händedruck.« Waninow legte seine Zigarre auf das Regal mit der Seife. »Aber für fünfhundert Rubel würde sie seine Leiche verkaufen. Es gibt nichts Geizigeres und Habgierigeres als Nina Romanowna.«

»Woher soll man fünfhundert Rubel nehmen, Väterchen Waninow?« Dr. Poscharskij betrachtete Babkin lange und intensiv. »Obgleich es mich reizen würde, ihn aufzuschneiden …«

So einer also bist du, dachte Babkin empört. Um deine Dummheit zu verdecken, willst du mich zerschneiden. Und Nina? Verkaufen würde sie mich für fünfhundert Rubel? Sieh an, sieh an, wie man über dein Weibchen denkt im Ort. Welch eine Bande habe ich jahrzehntelang höflich gegrüßt! Nun ist's zu spät, sie alle anzuspucken!

»Tragen wir Wadim Igorowitsch in sein Bett«, sagte Waninow. »Wenn man's genau überlegt, bin ich der einzige Geschädigte durch seinen Tod. Nina erbt ein stattliches Vermögen, du verdienst als Arzt an ihm, Mischin wird den Sarg liefern, Sablin, der Blumenhändler, wird die Ausschmückung übernehmen und zweihundert Prozent aufschlagen. Nur ich muß ihn umsonst beerdigen und verliere dabei noch einen fleißigen Spender für die Kirche. Nie werde ich sagen, daß Gott ungerecht ist – aber das Priesteramt ist ein entbehrungsreiches Amt …«

Hilflos mußte es Babkin über sich ergehen lassen, daß Waninow und Dr. Poscharskij ihn wie einen Sack aus dem Basar ins Haus und auf sein Bett schleppten, ihm die Hände über der Brust falteten und ein zusammengerolltes Handtuch unter sein Kinn schoben, damit sein Mund nicht aufklappte.

»Nun können sie kommen und trauern!« sagte Dr. Poscharskij zufrieden. »Er sieht gestorben schöner aus als im Leben.«

»Er hat nun auch keinen Ärger mehr. Gott war ihm gnädig. Wenn er im Leben gewußt hätte, was alles um ihn herum geschehen ist … ein glücklicher Mensch, so zufrieden dahinzugehen …«

Väterchen Sidor sah Dr. Poscharskij fragend an. »Was willst du den Angehörigen sagen, Bairam Julianowitsch? Woran ist Babkin gestorben?«

»An einem apoplektischen Insult. Das versteht keiner, aber es klingt gut.«

»Und wenn sie es erklärt haben wollen?«

»Dann spreche ich lateinisch, und alle werden ergriffen sein.« Dr. Poscharskij rieb sich die Hände und nahm seine Tasche wieder an sich. »Ein Arzt, der verständliche Erklärungen gibt, ist fast wie ein Selbstmörder.«

Sie verließen das Schlafzimmer, setzten beide eine ergriffene Miene auf und sprachen dann der inzwischen versammelten Familie ihr Beileid aus.

Babkin war nun allein, lag steif auf seinem Bett und war maßlos empört über das, was er hatte anhören müssen.

Wenn es stimmt, daß man einmal wiedergeboren wird, werde ich ihnen allen Feuer unter die Hintern legen, dachte er. Hat man solche Strolche schon gesehen? Ein Pope und ein Arzt, die in die Hölle gehören … Und man liegt hier herum, hört und sieht das alles und kann sich nicht rühren! Ist das schon eine Art Buße für ein – seien wir jetzt wenigstens ehrlich – erfolgreich geheucheltes anständiges Leben? Aber betrügen und betrogen zu werden, sind zwei ungleiche Schuhe. Und es ist schmerzlich, jetzt zu erkennen, welch ein Idiot man gewesen ist!

Babkin wurde ein bißchen müde, schlief ein und erwachte wieder, als dicke Kerzen rund um sein Bett flackerten und eine Mutter-Gottes-Ikone neben seiner rechten Gesichtshälfte an das Kissen geklemmt war. Er fühlte sich ausgeschlafen und frisch, hatte Durst auf ein Glas Bier, aber es war sinnlos, seinen Wunsch kundzutun; er lag steif und stumm da und wartete, was alles noch auf ihn zukommen mochte.

Wie in dem Film war es, den er einmal gesehen hatte, wo ein Scheintoter erleben mußte, daß man ihn beinahe lebendig begraben hätte.

Babkin packte eine schreckliche Panik. Wie, wenn auch er nur scheintot war? Wenn er in Wahrheit lebte und sich nur nicht rühren konnte? Wie der Mann im Film!

Es war doch unnatürlich für einen Toten, daß er alles sah, hörte und roch, obgleich ja noch keiner weiß, wie das Totsein wirklich ist. Aber normal war das nicht, was Babkin jetzt erlitt.

Er zwang sich mit aller Kraft, einen Muskel zu bewegen, die Hand zu heben, das Bein anzuziehen – nichts, aber auch gar nichts regte sich an seinem Körper. Nicht einmal der Schweiß brach bei diesen Anstrengungen aus seinen Poren, und dabei war es sommerlich warm, und alle in Ulorjansk schwitzten.

Ein wenig versöhnt mit seiner Verfassung war Babkin erst, als die Nachbarin Arune Jelisaweta an sein Bett trat, die Frau des Metzgers Isaak Narinskij, ein unverschämt, ja teuflisch schönes Weib, sich über ihn beugte und ihn zärtlich küßte. Dabei fielen ihre langen schwarzen Locken über seinen Kopf, und er konnte in dieser Lage im Ausschnitt ihres Sommerkleides die halbverhüllten, harten, runden Brüste sehen, nicht eingeschnürt durch einen dummen Halter.

Bei jedem lebendigen Mann hätte ein solcher Einblick verräterische Regungen hervorgerufen, aber hier veränderte sich nichts. Babkin lag da wie ein Klotz.

In dieser Minute war sich Babkin endlich sicher, daß er doch tot war. Endgültig. Aber er sah, hörte und roch alles. Wenn das die Hinterbliebenen wüßten …

Laß das sein, du dummes Luder! dachte Babkin, als ihm Arune Narinskaja die Augen zudrückte. Jetzt kann ich doch kaum etwas sehen. Mir bleibt nur ein Schlitz unter den Wimpern. Mach mir die Augen wieder auf, mein Schneebrüstchen!

Aber Arune ging weinend hinaus, fiel nebenan der Witwe Nina um den Hals und benahm sich, als sei sie selbst die Witwe.

Verzweifelt bemühte sich unterdessen Babkin, die Lider wieder zu öffnen, aber sein Körper versagte ihm auch diesen Dienst. Ergeben in sein unabwendbares Schicksal ließ er noch einen stummen Fluch gegen Arune, das herrliche Weibchen, los und tröstete sich mit der Erwartung auf weitere interessante Begebenheiten.

Ein langweiliger Tag wurde es. Niemand kümmerte sich mehr um Babkin. Nur einmal kam Nelli, seine älteste Tochter, die Frau des Lehrers Pyljow ins Zimmer, erneuerte die Kerzen und verschwand schnell wieder.

So ist das nun, dachte Babkin voller Bitternis. Da liegt man und ist bereits abgeschrieben. Nebenan werden sie jetzt rechnen, was jeder erbt, und wie ich Nina, mein Weib, kenne, wird sie sogar die eigenen Kinder betrügen.

Verschweigen wird sie, daß unter dem Polster des Sofas dreizehntausend Rubel liegen, ein ungeheures Vermögen, für das ich auf Jahre hinaus in ein Lager käme. Und was mit den gehorteten ›seltenen‹ Waren wie Strickpullover, Gummistiefeln, Kofferradios und Uhren geschieht, weiß jetzt nur noch Nina Romanowna. Das alles sieht man nun und kann nicht mehr eingreifen …

Am Abend kamen noch einmal der Pope Waninow und Dr. Poscharskij an sein Bett, saßen auf zwei Stühlen zu Babkins Füßen und unterhielten sich über den Tod. Poscharskij hatte den ganzen Tag über dem Rätsel gebrütet, wieso ein bisher leidlich gesunder Mensch wie Babkin plötzlich umfiel und nicht mehr war. Der Arzt fand keine Antwort auf diese Frage, las in medizinischen Büchern nach und kam schließlich zu dem Ergebnis, daß Babkin einen Infarkt bekommen hatte. Einen Herzhinterwand-Infarkt, der solche Sekundentode auslösen kann.

Der Pope Waninow segnete beim Hinausgehen noch einmal den seligen Babkin, dann entstand vor der Tür eine erregte Diskussion. Babkin hörte seine Nina schreien, und schließlich kam Mischin, der Sargmacher, herein, beleidigte ihn schamlos, nahm seine Maße und gestand triumphierend, wie er sowohl Babkin als auch die Witwe übers Ohr hauen wollte.

Welch ein Glück für dich, daß ich stumm und steif bin! sagte Babkin im Inneren. O du Verbrecher Igor Grigorjewitsch! Keine Ehrfurcht vor den Toten! Komm du nur zu uns, wenn deine Zeit abgelaufen ist. Durch alle Wolken werde ich dich jagen! Kein Erzengel wird mich daran hindern! Ein Schuft bist du, Mischin, ein Schuft …

Dann wurde es wieder langweilig, bis tief in die Nacht hinein, wie sich Babkin ausrechnete. Er schlief ein wenig, wurde aber sofort wach, als jemand über sein Gesicht strich. Es war Väterchen Sidor, der Pope, und was jetzt folgte, in ununterbrochener Reihenfolge, hätte auch einen lebenden Babkin dazu gebracht, einen Herzschlag zu bekommen.