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Sidor Andrejewitsch Waninow war als Pope bei allen sehr beliebt. In ganz Ulorjansk lebte kein Mensch, den er seinen Feind nennen konnte, obgleich es eine Reihe Parteimitglieder gab, die jedes Jahr einmal pflichtgemäß gegen die Verdummung der Leute durch die Religion demonstrierten, in der Nacht darauf aber in der Kirche auftauchten und fromme Lieder sangen.
Sogar der Stadtsowjet machte dabei mit, der Genosse Guri Jakowlewitsch Blistschenkow, der immer, wenn eine Delegation aus Tobolsk in der kleinen Stadt erschien, um die Gesinnung der Bürger zu kontrollieren, eine flammende Rede hielt und forderte, man solle aus der Kirche eine Nudelfabrik machen. Sie sei dringend notwendig.
Später, wenn die Parteidelegation wieder abgezogen war, erschien Blistschenkow zerknirscht bei Väterchen Sidor, kniete vor dem von Babkin gestifteten Bronzekreuz nieder und ließ sich von Waninow seine Sünde verzeihen. Man war sich ja einig: Nur um des lieben Friedens willen forderte man eine Nudelfabrik, die natürlich nie gebaut wurde.
Auch sonst war Väterchen Sidor eine unantastbare Person. Nicht, weil er Jesus Christus auf Erden vertrat, sondern weil er von fast jedem Bürger von Ulorjansk zuviel wußte. Was ihm im Laufe der Jahre gebeichtet worden war, reichte aus, um einen ganzen Saal der Hölle zu füllen, aber Väterchen Waninow beschützte seine irdische Herde, vergab ihnen streng, aber gütig die Übeltaten und lebte von den Spenden der befreiten Sünder wie ein Bojare zu alten Zeiten.
Es war wirklich ein Glück, Sidor Andrejewitsch Waninow als Popen zu haben …
Gespannt wartete nun Babkin darauf, was dieser gütige und fehlerlose Mensch ihm zu sagen hatte. Er sah ihn, unter dem Schlitz der Lider hindurch, auf dem Stuhl am Fußende des Bettes sitzen, die Hände fromm gefaltet, den langen weißen Bart sauber gekämmt, ja, es sah sogar so aus, als habe er ihn vorher gewaschen.
»Mein lieber, armer Wadim Igorowitsch«, begann Waninow. Schon das war ungewöhnlich und veranlaßte Babkin, genau zuzuhören. »Nun bist du von uns gegangen, und ich kann sagen, daß ich erleichtert bin. Sehr erleichtert sogar. Eine innere Qual war's jedesmal, wenn ich dir gegenüberstand und du mich ansahst und unter meiner Anleitung dein Gebet gesprochen hast. Babkin, mein Lieber, nicht wert bin ich's, daß du vor mir das Kreuz schlugst. Wenn du mir an die Gurgel gegangen wärst, ich hätte mich nicht gewehrt. Ein Elender bin ich, zu schlecht, um dir unter die Augen zu treten. Verzeih mir, was ich dir angetan habe, auch ich bin nur ein schwacher Mensch und ein Mann dazu. Laß mich jetzt erzählen, wie alles gewesen ist – damals vor sechs Jahren. Oh, wie schäme ich mich …«
Babkin spürte ein Kribbeln im Blut. Vor sechs Jahren, dachte er. Was war vor sechs Jahren Ungewöhnliches geschehen? Er kam zu keinem Ergebnis und wartete gespannt, was der Pope weiter sagen würde. Waninow putzte sich die Nase, beugte sich vor, tätschelte Babkin den Fuß und schnaufte ergriffen.
»Erinnere dich, Babkin«, sagte er bedrückt. »Frühling war's, die Natur begann zu blühen, die Säfte stiegen hoch in die ältesten Bäume, vom Eichhörnchen bis zum Rentier – alles liebte sich. Kannst du verstehen, daß auch in mir das Frühjahr jubelte? Damals war ich vierundsechzig, kein Alter für einen Sibirier, o nein, da war noch Kraft in allen Gliedern …«
Waninow seufzte herzzerreißend, und auch Babkin hatte den Drang, zu seufzen. Aber natürlich blieb er stumm für seine Umwelt und mußte reglos anhören, was der Pope ihm nun beichtete.
»An einem Freitag«, fuhr Sidor Andrejewitsch fort, »ging ich mit meiner Angel zum Bach von Binowska, um mir, dem Herrn wohlgefällig, mein Abendessen zu angeln, einen schönen fetten Lachs, den ich mit einer Zitronensoße zubereiten wollte. Du weißt, wie gern ich Lachs mag, mein lieber, lieber Babkin …«
Wer weiß das nicht, dachte Babkin, staunend über diesen Anfang der Rede. Als wenn du es riechen könntest … Immer, wenn es bei uns Lachs gab, gekocht im Wurzelsud oder im Ofen mit Kastanien, warst du plötzlich da, hast die Mahlzeit gesegnet und dich an den Tisch gesetzt. Und geschmatzt hast du dabei wie ein Schweinchen …
Sidor Andrejewitsch räusperte sich, beugte sich vor und kratzte sich die klobige Nase.
»Also, ich komme zum Binowska-Bach, meine Angel mache ich zurecht, suche mir ein schönes, schattiges Plätzchen am Ufer, will den Köder auswerfen – und was sehe ich da? Na, was sehe ich, Wadim Igorowitsch?
Nicht allein bin ich am Bach: da liegt ein Mädchen im Moos, entblößt, sage ich dir … was heißt, entblößt: Nichts hatte es mehr an. Nackt war es, paradiesisch nackt. Liegt da allein in der Sonne, träumt vor sich hin, und es ist Frühling, Babkin, verstehst du? Frühling, und in allen Bäumen steigen die Säfte hoch … Glaub mir, ich zittere heute noch vor Scham …«
Waninow streckte die Hand aus, streichelte Babkins rechten Knöchel und versank in Zerknirschung.
Nanu, nanu, dachte Babkin erstaunt und lächelte wissend – nach innen natürlich. Was willst du mir da erzählen, Sidor Andrejewitsch? Allein an der Binowska, weit und breit keine Menschenseele, und da liegt vor dir im Moos schlafend ein paradiesisches Mädchen! Väterchen Waninow, na, na, na, was bist du bloß für ein Priester! Aber mir kannst du's gestehen. Wenn einer Verständnis für die Nöte der Männer im Frühling hat, dann bin ich es. Auch ich hab' dir nicht immer alles gebeichtet …
Waninow seufzte noch einmal tief und kämmte mit gespreizten Händen seinen bewundernswerten Bart.
»Babkin, meine Seele röstet in Scham wie Kartoffeln in einer Pfanne«, sagte der Pope stockend. »Aber nun bist du heimgegangen in den ewigen Frieden und kannst mir nicht mehr den Bart ausreißen oder mich mit Tritten durch die Kirche jagen. Oh, wie kenne ich dich! Das hättest du getan. Erinnere dich an diesen Tag im Frühling, mein Freundchen: Am Nachmittag kam dein Töchterchen Walentina vom Baden nach Hause und aß des Abends nichts von dem schönen Braten, den Nina immer mit Thymian würzt. Und dann weinte Walentina zwei Tage lang, und keiner wußte, warum. Später dann habt ihr die Lage erkannt. Einen dicken Bauch bekam es, dein Töchterchen, und im Februar wurde Aljoscha geboren, dein strammer Enkel. Oh, hast du damals Walentina verprügelt, immer und immer wieder, aber sie nannte den Namen des Vaters nicht. Jetzt weißt du es. Ich war's, mein lieber, lieber Wadim Igorowitsch … eine schwache Stunde, wo alle Säfte der Natur stiegen … Ach, ich verglühe in Scham.«
Babkin wollte hochzucken, Waninow an die Gurgel fahren, ihm wirklich den Bart abreißen und ihn mit Tritten durch die Gegend jagen – aber stocksteif lag er da, unbeweglich, ohne das geringste Zucken, so sehr er auch seine Muskeln anspannen wollte.
Du Hurenbock, schrie er im Inneren, du also warst es! Ach, wen hatte ich alles in Verdacht, aber wer denkt an den Popen! Walentina habe ich fast totgeprügelt, gedroht hab' ich ihr, sie für immer in ein Mädchenheim zu stecken, samt diesem Bastard, den sie in sich trug. Ein tapferes Mädchen ist sie, Waninow, du Ferkel, eine echte Babkin! Steinigen hätte ich sie können – sie hätte keinen Ton gesagt. Und dann kam Aljoscha zur Welt … ein süßes Kerlchen. Richtig stolz war ich – nach drei Töchtern endlich mal wieder etwas Männliches in der Familie. Und du Halunke hast ihn auch noch getauft, hast fromme Lieder dabei gesungen, und was hast du deinem Sohn geschenkt? Ein billiges Heiligenbildchen! Das alles kann man aber noch verzeihen … Verdammt jedoch sollst du dafür sein, daß ich seit fünf Jahren deinen Sohn großziehe und für ihn schon viele Rubel ausgegeben habe. Und was hast du in der ganzen Zeit getan? Bei uns gefressen hast du, Portionen hast du verschlungen, von denen sonst eine ganze Familie leben muß, und Aljoscha, das süße Kerlchen – Gott sei gelobt, daß er Walentina ähnlich sieht und nicht von dir die Knollennase geerbt hat' – hast du dich jemals um Aljoscha gekümmert? Ihn auf deinem sündigen Schoß geschaukelt, ihn deinen Bart zupfen lassen, mit ihm ein Spielchen gemacht? Nichts! Und wie war's in den anderen Jahren, wenn wieder im Frühling die Säfte stiegen? Na, erzähl schon, Waninow? Wieviel heimliche kleine Popen laufen in Ulorjansk herum?
Babkin brach erschüttert ab. Er hört mich ja nicht, dachte er verzweifelt. Ich bin ja fort aus dieser heuchlerischen Welt. Ich höre, sehe und rieche alles, aber ich bin trotzdem nicht mehr da. Plötzlich stieg ein heftiger Verdacht in ihm hoch; er wollte wieder aus dem Bett springen, aber er war ja steif wie ein Brett.
Was ist mit Walentina, schrie er Waninow im Geist an. Ist sie noch immer mit dir … O mein Töchterchen, mein armes Töchterchen, wie blind war ich doch, wie blind! Jetzt weiß man, was es bedeutet, wenn sie zweimal in der Woche zur Singstunde in die Kirche ging. Sidor Andrejewitsch, ich möchte dich erwürgen!
Waninow erhob sich von dem Stuhl und faltete die Hände vor seinem Bart.
»Jetzt bin ich es los, Babkin«, sagte er dumpf. »Auch, daß noch zwei liebe Kinderchen danach gekommen wären, wenn Dr. Poscharskij nicht eingegriffen hätte. Viel hast du ihm zu verdanken, mein armer Babkin …«
Er segnete noch einmal den Toten und verließ dann mit wuchtigen Schritten das Zimmer.
Wadim Igorowitsch blieb die Luft weg. Noch zwei Kinderchen von Walentina … Gott, schick einen Blitz herunter und erschlag diesen Popen Waninow! Ich kann es ja nicht mehr!
Er beruhigte sich nur langsam und sah unter den Wimpern gespannt auf die Tür.
Sie öffnete sich zögernd. Nina Romanowna kam herein und setzte sich mit zerknirschter Miene auf den Stuhl zu seinen Füßen …
Man darf es nicht verschweigen: Nina Romanowna Prutkina war ein wirklich hübsches Weibchen gewesen, das schönste in Ulorjansk, als Babkin sie heiratete. Daß sie dann, als sie die Babkina war, sich änderte, streitsüchtig und geizig wurde, ein gefürchtetes Mundwerk offenbarte, gehässig über alles und jeden sprach und immer Recht haben wollte – was man einer Frau nie zugestehen darf! – mochte daher rühren, daß sie die wohlhabendste Bürgerin von Ulorjansk geworden war. Zugeben muß man aber auch, daß sie zusammen mit Babkin im Basar schuftete von morgens bis abends und ihm so zwischendurch drei Töchter gebar.
Nichts war ihr zuviel. Sie schleppte Kisten und Säcke, bediente die Kunden, kümmerte sich um Kranke und Gebrechliche in der Stadt – ja, auch das tat sie, aber nur, damit die Leute sagten: Ja, die Babkina, die hat ein Herz für alle. Und sogar in die Partei hatte man sie aufgenommen wegen ihrer sozialen Einstellung. Babkin dagegen wurde von der Partei abgelehnt als neuer Kapitalist.
Ein rühriges Frauchen war Nina also, verehrt und gefürchtet, was ja oft zusammenpaßt.
Babkin starrte sie unter den halb geschlossenen Lidern hervor an. Was ist denn das, dachte er. Will sie mir auch noch etwas sagen? Weiß ich nicht alles von ihr? Hat sie etwa Geheimnisse zu verbergen? Nina, mein Weibchen, erzähl mir etwas Tröstliches nach der niederträchtigen Beichte von Waninow. Entlaß mich freudig aus dieser gemeinen Welt …
Nina Romanowna sah ihren toten Mann lange an, ehe sie zu sprechen begann. Im Gegensatz zu dem Popen machte sie durchaus nicht den Eindruck, bis zum Äußersten erschüttert zu sein. Sie putzte sich wohl zweimal die Nase, aber dann legte sie tapfer los.
»Mein lieber Wadim Igorowitsch«, sagte sie, »nun, da du nicht mehr unter uns bist, kann ich dir gestehen, daß du als Kaufmann und Betrüger deiner Kunden ein vorzüglicher Mann gewesen bist, der beste vielleicht im weiten Umkreis – aber doch ein Idiot, was das Leben außerhalb deines Basars angeht. Was hast du alles nicht gemerkt, o je! Nicht mal geahnt hast du's, und es geschah vor deiner Nase, wie man so sagt … Im Salon und hier, wo du jetzt liegst, hinten im Lager für die Kartoffeln und im Magazin für die Kleidung. Sogar im Stall bei den Ziegen, und nichts, gar nichts hast du mitgekriegt.«
Babkin durchlief es eiskalt. Noch waren Ninas Worte dunkel und voller Rätsel für ihn, aber es bahnte sich etwas Schreckliches an, das hörte er am Ton. Die Spannung in ihm wurde fast unerträglich.
»Drei Töchter habe ich dir geboren«, fuhr Nina Romanowna fort, »doch als Ehemann warst du ein lahmer Gaul. Wer dich einen feurigen Liebhaber nennen will, hat keine Ahnung. Da waren andere Männer stürmischer als du, voller Zärtlichkeit und Phantasie, oder bärenstark und mit hartem Griff …«
Babkin erstarrte, wie man so sagt – bei ihm war es ja nicht mehr möglich – schrie innerlich auf und hatte das Gefühl, zu brennen.
Nicht auch noch mit Sidor Andrejewitsch, schrie er seiner Frau zu. Nina, tu mir das nicht an. Erst schwängert er unser Töchterchen Walentina … und jetzt willst du mir gestehen, daß auch du … Ninotschka, Erbarmen! Erbarmen!
Nina Romanowna putzte sich wieder die Nase und sprach dann tapfer weiter:
»Du weißt es, Babkin: Ein schöner kräftiger Mann ist Isaak Guramowitsch. Er ist nicht nur fünf Jahre jünger als du – er kann auch eine ganze Rinderseite auf der Schulter tragen, als sei's ein Häschen. So stark ist er …«
Babkin hätte laut gestöhnt, wenn er es gekonnt hätte. Isaak Guramowitsch Narinskij, der Nachbar und Metzger – wer kannte ihn nicht in Ulorjansk? Ein Stier von Mensch, rotgesichtig und gutmütig, der zu jeder Kuh »Keine Angst, mein Kleines«, sagte, bevor er sie mit einem einzigen Axthieb auf den Kachelboden schickte.
Narinskij und Nina – das war mehr, als man ertragen konnte. Aber es blieb Babkin, dem Unglücklichen, keine Zeit, sich länger darüber aufzuregen. Nina Romanowna sprach weiter – und jetzt, nachdem die letzte Scheu gefallen war, beherzter und lauter.
»Nun ist es so, mein lieber Babkin: Eine heißblütige Frau bin ich. Als wir jung waren, hast du es gewußt, aber je älter du wurdest, um so mehr hast du's vergessen. Was soll man tun, wenn im Körper die Sehnsucht brennt? Wie soll ein armes, vom Ehemann kaum noch beachtetes Weibchen glücklich werden? Mit Jakow Petrowitsch Sapanow habe ich mal darüber gesprochen …«
Der Briefträger, durchzuckte es Babkin. Hab' ich doch richtig gesehen, vor drei Jahren! Komme ich aus dem Lager, und wer fährt wie zwei ertappte Diebe auseinander? Nina und Jakow. Behaupten, Jakow habe ihr einen Witz ins Ohr geflüstert, und er erzählt ihn auch, einen ganz und gar dämlichen Witz, über den nicht einmal eine Ratte lacht … Wie ahnungslos warst du doch, Babkin, wie blind!
»Er ist kein schöner Mann, der Jakow Petrowitsch«, plapperte Nina weiter, »nein, das kann niemand von ihm sagen. Eher häßlich ist er, riecht nach billigem Machorka und oft auch nach Fusel. Aber kommt es auf das Äußere an, Babkin? Sapanows Qualitäten erkennt man erst, wenn er …« Sie winkte ab. »Was soll ich's erklären? Er ist ein pockennarbiger, aber fleißiger Mensch …«
Sie holte tief Atem und putzte sich zum vierten Mal die Nase. Ihr Sommer-Herbst-Schnupfen, dachte Babkin, innerlich taumelnd vor diesem Geständnis. Daß mir das jetzt wieder auffällt! Nach Nellis Geburtstag begann der Schnupfen, immer zum Ende des Sommers, ging dann bis in den Herbst hinein, und so plötzlich, wie er auftauchte, war er auch wieder verschwunden.
Dr. Poscharskij zuckte nur mit den Schultern, sagte, da könne man nichts machen, das sei eine Allergie, der Satan wisse, woher sie käme, und damit war Schluß. Ein Nichtskönner, dieser Bairam Julianowitsch. Hab ich es nicht immer gesagt? Nichtskönner! Auch bei mir hat er sich geirrt – und nun liege ich tot da!
»Weißt du eigentlich, Babkin«, sagte Nina Romanowna, »welch ein guter und treuer Mensch Guri Jakowlewitsch Blistschenkow ist? Ein wirklicher Freund, das muß man sagen.«
Blistschenkow, durchfuhr es Babkin. Der Stadtsowjet. Der mächtigste Mann in Ulorjansk! Ging immer herum mit einer Menschenfressermiene, sprach nicht, sondern knurrte nur, aber wenn es am Tag der Oktoberrevolution hieß: Fahnen heraus, alles versammelt sich auf dem Marktplatz, dann stand er auf dem Rednerpult, konnte plötzlich vernünftig sprechen und erzählte jedes Jahr dasselbe: Alles würde besser, das Volk der Werktätigen werde bald in einem irdischen Paradies leben, Vorbild sein für alle Völker, es lebe Lenin …
Und dann ging er ins Bürgermeisterhaus, setzte sich an einen Tisch, der sich unter den köstlichen Speisen bog, und fraß und soff bis zum Umfallen.
Daß Babkin das ›Büfett‹ geliefert hatte, nahm Blistschenkow als selbstverständlich hin. Geliefert natürlich ohne einen Rubel Bezahlung.
Ein solcher Mensch soll ein guter Mensch sein?
»Guri Jakowlewitsch hat ein warmes Herz«, unterbrach Nina Babkins Gedanken. »Niemand sieht ihm das an, aber er hat's. Im Winter des vorigen Jahres war's. Erinnere dich – ein schrecklicher Winter. Schnee wie noch nie, zu Bergen war er geweht, das Eis sprengte sogar die Bäume auseinander, nachts klang es wie Kanonenschießen, und halb Ulorjansk lag krank im Bett. Isaak Guramowitsch konnte eine Woche lang nicht schlachten, so arg hatte ihn das Fieber gepackt. Jakow Petrowitsch lag zu Hause und war so schlapp wie ein alter Lederriemen, und du, Babkin, bist hustend herumgelaufen, hast ein Dampfbad nach dem anderen genommen und warst nur noch eine bellende Kreatur. Aber der Genosse Blistschenkow strotzte vor Gesundheit. Weißt du noch? In den Basar kam er, um sich ein wollenes Hemd zu kaufen. Du hast wieder im Dampfbad gesessen, und ich habe Guri Jakowlewitsch bedient. O Babkin, hatte der einen breiten Oberkörper! Und wer seine schmalen Hüften kennt …«
O nein, nein, nein! schrie Babkin innerlich. Ausgerechnet Blistschenkow, dieser Erzheuchler! Küßt dem Lenindenkmal die Füße und schleicht dann abends hintenherum in die Kirche! Alles eine einzige Bande! Der Pope, der Nachbar Metzger, der Briefträger, der Stadtsowjet! In welch einer Welt habe ich da gehaust! Nur Betrug und Lüge! Oh, könnte man doch wieder leben …
»Wie soll ich es dir erklären, Babkin«, sagte Nina Romanowna, das Frauchen, für dessen Treue Babkin durchs Feuer gewandelt wäre. »Vor zweiunddreißig Jahren war ich in dich verliebt, wie nur ein junges Mädchen verliebt sein kann. Jetzt, ganz ehrlich sage ich es, bin ich verliebt in Blistschenkow. Warum wohl hat man mich in die Partei aufgenommen? Blistschenkow hat für mich in Tobolsk mit goldener Zunge geredet, bis die hohen Genossen den Antrag genehmigten. Kann sein, daß Guri und ich heiraten, natürlich erst nach dem Trauerjahr. Du kennst ja Ulorjansk! Man muß den Leuten die trauernde Witwe vorspielen, solange es schicklich ist …«
Vorspielen! Babkin hätte die Augen vor Wut verdrehen mögen. Eine gebrochene Witwe spielt sie der Umwelt vor und liegt mit Isaak, Jakow und Guri im Bett! Abwechselnd, so wie sie die Kartoffeln zubereitet – mal mit Salz, mal mit Speck und mal mit saurer Sahne …
Wo ist ein Mensch, der dich in meinem Namen anspuckt! O je, o je, daß ich das anhören muß …
Nina Romanowna erhob sich vom Stuhl. Ihr Herz hatte sie ausgeschüttet – jetzt begann wieder das alltägliche Leben.
»Aber schön begraben sollst du werden, Babkin!« sagte sie und lächelte ihrem Mann verheißungsvoll zu. »Man wird singen und Musik spielen an deinem Grab, Blistschenkow wird eine Rede halten, Isaak wird einen halben Ochsen braten für all die Gäste, und wir alle werden dich laut beweinen. Zwar wird das teuer werden, gar nicht daran denken darf ich – aber das ist es mir wert, um dich würdig in die Erde zu bringen.«
Zum fünften Mal putzte sie sich die Nase, schlug das Kreuz über ihre bemerkenswerte Brust und verließ, plötzlich mit einem naturgetreu gespielten Schluchzen, das Zimmer.
Wadim Igorowitsch war so elend zumute, daß er hätte sterben mögen, wenn er nicht schon tot gewesen wäre. Welch ein Leben war das, dachte er. Welch ein trauriges Leben …
Der nächste, der ins Zimmer kam, sich mit Leidensmiene auf den Stuhl am Fußende des Bettes setzte und durch die flackernden großen Kerzen auf Babkin starrte, war Boris Witalowitsch Pyljow, Babkins Schwiegersohn und Lehrer an der Schule von Ulorjansk.
Mit Pyljow war das so eine Sache. Babkin hatte ihn nie gemocht – warum, das wußte er nicht zu erklären. Schon bei der ersten Begegnung mit Pyljow hatten sich ihm die Nackenhaare gesträubt wie bei einem Hund, der seinen fauligen Knochen verteidigt. Als Pyljow Babkins älteste Tochter heiratete, hatte der nur deshalb seine Einwilligung gegeben, weil Nelli behauptete, im Vorgriff auf eine gesunde und anständige Familie, bereits schwanger zu sein.
Das stellte sich nach der Hochzeit als Falschmeldung heraus. Babkin schrie von Betrug und mochte Pyljow noch weniger leiden. Sechs Jahre waren sie nun verheiratet, und noch immer war kein Kind da. Ein glatter Versager, dieser Boris Witalowitsch!
Babkin, der so gerne Großväterchen geworden wäre und es dann durch Walentinas Bankert geworden war, hatte Nelli immer bedauert. Sie war keine Schönheit, aber ein strammes Mädchen und hatte alles das, was man als Frau haben muß, an der richtigen Stelle. Was wollte der Lehrer Pyljow noch mehr? Nelli war gebaut für sieben Kinderchen – und keines kam. Gebt zu, Genossen, das ist eine Schande!
Pyljow kratzte sich die kleine Nase, wischte sich dann über sein etwas weibisch wirkendes Gesicht und lockerte seine Krawatte. Er war einer der wenigen Leute von Ulorjansk, die einen Schlips trugen, und verteidigte das damit, daß er als Lehrer eine Respektsperson sein müsse.
Wer hier am Tobol, im weiten Sibirien eine Krawatte trug, dazu noch eine Krawatte von auffälligem buntem Muster – sie war rot-grün gestreift und bedruckt mit lauter silbernen Sternchen – galt als etwas Besonderes. Der Luxus solch einer bunten Halsbinde wurde überall anerkannt.
»Mein liebes Väterchen Babkin«, begann Pyljow stockend.
Babkins Herz machte einen Sprung. O je, dachte er. Wer so seine Rede anfängt, den beutelt das schlechte Gewissen. Red schon, du verdorrtes Moosbündel, inzwischen habe ich Übung im Zuhören.
»Ich mache es kurz, Väterchen«, sagte Pyljow. »Nicht viel ist zu sagen, ziemlich langweilig ist das Leben … Was soll da schon passieren?«
Typisch Pyljow, dachte Babkin böse. Von nichts weiß er, lebt dahin wie ein Stück Schulkreide, und um ihn herum brodelt das Chaos. Das Chaos der Familie Babkin. Was ich bisher gehört habe, reicht für sieben Höllen … Nur weiter, Pyljow, nur weiter!
»Ich habe Nelli, deine Tochter, geheiratet, aber warum habe ich das getan? Weil sie so schön ist? Nicht mal ein Blinder würde das behaupten. Nicht übel ist sie, da muß man ehrlich sein, aber ein so ästhetischer Mensch wie ich fühlt sich elend und wird allergisch gegen durchschnittliche Unvollkommenheit. Warum also, frag es nur, Väterchen Babkin, habe ich Nelli geheiratet? Weil sie Geld hat – ganz einfach! Zwar dein Geld, aber sie wird's einmal erben. Siehst du, die Rechnung ist aufgegangen! Jetzt erbt sie es. Nach Tobolsk werden wir ziehen und ein fröhliches Leben führen.«
Pyljow beugte sich etwas vor. Oh, könnte ich ihn jetzt ins Gesicht schlagen, dachte Babkin. So mitten hinein in das fade Gesicht, die mädchenhafte Nase plattwalzen – oh, wäre das ein Gefühl!
Pyljow war aber noch nicht fertig, er blieb sitzen und wedelte sich mit der bunten Sternenkrawatte Luft zu. Im Zimmer war es stickig warm, jemand hätte das Fenster aufstoßen müssen, doch die Ehrfurcht vor dem Toten verbot das Hereinlassen von frischer Luft.
»Bleiben wir bei der Ehrlichkeit, Väterchen«, sagte Pyljow leise. Babkin mußte sich anstrengen, um ihn zu verstehen. »Im Grunde wäre es Unsinn gewesen, Nelli zu heiraten … ich meine, vom Männlichen her betrachtet. Mit großer Mühe habe ich das mein Leben lang verschwiegen, keiner hat es bemerkt, und niemand traut's mir auch zu, aber dir, mein armer Babkin, kann ich es nun sagen, denn dein Schweigen ist ewig: Ich liebe nur Männer! Ganz ungefährlich ist das, denn mein Liebling Bobo, der Milizionär …«
Babkin schloß – natürlich nur bildlich gemeint – die Augen. Mein Schwiegersohn Boris Witalowitsch Pyljow ist ein Schwuler! Der Lehrer von Ulorjansk! Das war mehr, als man als Vater und guter Bürger ertragen konnte.
Aber man muß auch das hinnehmen … Stumm und steif liegt man da zwischen den Kerzen, und selbst Dr. Poscharskij weiß nicht, woran man gestorben ist! Das Schlimmste ist's für einen Toten, nicht zu wissen, warum er gestorben ist.
Da stelle ich eine Büchse mit Scheuerpulver ins Regal und liege plötzlich auf der Erde! Ganz ohne Schmerzen, nicht die geringsten Anzeichen einer Krankheit – falle einfach um und bin für die Welt nicht mehr da … Kann mir das jemand erklären? Ich höre doch alles, Genossen …
Pyljow erhob sich vom Stuhl, wechselte brav eine niedergebrannte Kerze aus und zog seinen Sternchenschlips wieder hoch. Korrektheit ist das halbe Leben eines Lehrers.
»Da ist aber noch etwas, Väterchen«, sagte Pyljow kühn. »Mütterchen Nina wird auf dem Erbe hocken wie eine Glucke auf den Eiern. Was macht man mit einer solch bösen Glucke? Na? Den Hals dreht man ihr um! Genau das wäre zu überlegen … was nützen mir sonst Nelli und ihr Erbe, wenn Nina Romanowna es bewacht wie Fafner?«
Babkin wußte nicht, wer Fafner war. Woher soll ein ehrlicher Mensch aus Ulorjansk wissen, daß einmal ein Drache mit Namen Fafner einen Germanskij-Schatz, Nibelungenschatz genannt, bewacht hat und von einem ziemlich einfältigen Jüngling, der sich Siegfried betitelte, erschlagen wurde? Ganz unmodern, nur mit einem Schwert! Blistschenkow hatte also doch recht mit seiner Behauptung: Die Deutschen sind uns weit unterlegen.
Diese Unwissenheit konnte man Babkin also nicht übelnehmen, aber sie ärgerte ihn doch sehr. Immer muß dieser Schwachkopf von Schwiegersohn akademisch sprechen, dachte er. Fafner! Was soll das bedeuten?
Neulich sagt er zu mir: »Väterchen, wenn die ökonomischen Innovation Sibiriens ihren Kulminationspunkt erreicht hat, wird auch Ulorjansk in der Gesamtintegration eine sublime Rolle im konzernalen Aufbau der Industrie bekommen.«
Ich habe weise und zustimmend genickt – was blieb mir anderes übrig? Er hätte auch sagen können: Tschimlabumtratatätä … ich hätte ebenso genickt. Und jetzt soll Ninotschka, dieses ungetreue Aas, ein oder eine Fafner sein?
»Babkin, Väterchen«, sagte Pyljow wie ein Verschwörer. »Wir werden Mütterchen Nina wohl töten müssen, um an das Erbe zu kommen. Kein Problem, Wadim Igorowitsch … Stell dir vor – wie glücklich du sein wirst, dein Weibchen so schnell wieder bei dir zu haben! Familiensinn muß man haben, Väterchen, Familiensinn …«
Er winkte Babkin freundlich zu und verließ befriedigt das Zimmer. Nur als er die Tür aufstieß, begann er pflichtschuldig zu schluchzen.
Was muß ich noch alles erleben, dachte Babkin zum wiederholten Male, als er für eine Minute wieder allein in seinem Sterbezimmer war. Da liegt man nun, stumm und steif, alle halten einen für tot und erzählen mir mehr, als man im Leben jemals hätte ertragen können, und nun glauben sie, mich mit dieser Beichte selig in den Himmel entlassen zu können. O je, ist das eine Welt! Sei froh, Wadim Igorowitsch, daß du morgen begraben wirst!
Er kam gar nicht mehr dazu, bei diesem Gedanken in Panik zu geraten, denn wer möchte schon gern, daß man über einem Lebenden den Sarg zunagelt, weil Nelli Wadimowna, sein ältestes Töchterchen, mit rotgeweinten Augen an sein Bett trat.
War immer ein stolzes Mädchen, dachte Babkin zufrieden, meine Erstgeborene. Sittsam, züchtig, tüchtig in Schule und Haushalt, eine wahre Stütze von uns Alten, bis sie diesen widerlichen Pyljow kennenlernte, diesen hochgestochenen Lehrer, der überall Ehrfurcht verbreitet, wenn er Lateinisch spricht oder sein Wissen herumspritzt wie die Feuerwehr ihr Wasser.
Von da an, vor allem, als sie ›Frau Lehrer‹ geworden war, trug Nelli die Nase so hoch, daß man befürchten mußte, es könne hineinregnen. Im Haus tat sie nur noch wenig, sie half nicht mehr im Magazin, sondern beschäftigte sich mit der sozialen Erziehung der Kinder, hielt Vorträge im großen Saal des Stadtsowjets Blistschenkow, trug bei den Feiern der Oktoberrevolution eine rote Fahne und erklärte ihrem Väterchen, er habe sich von der Idee des Kommunismus weit entfernt, da er so etwas wie ein Kapitalist geworden sei.
»Geschuftet habe ich dafür!« hatte Babkin sie damals angeschrien. »Ich und dein Mütterchen haben gearbeitet wie drei Stachanows zusammen, nichts ist mir in den Schoß gefallen, krumm sind wir unter der Last der Arbeit geworden! Und du taube Nuß willst mir sagen, was Sozialismus ist? Geh erstmal hin und bring ein Kind zur Welt …«
Nun stand sie also da am Fußende des Bettes, flackernd beleuchtet von den Kerzen, starrte auf ihr totes Väterchen und begann zu weinen.
Babkin wappnete sich mit Vorsicht: Wenn die stolze Nelli zu weinen begann, mußte er etwas Schreckliches zu hören bekommen. Sein Tod war kein Grund, um in Tränen auszubrechen, nicht bei Nelli Wadimowna. Zu oft hatte sie an Gräbern verkündet, daß mit der Geburt die Vergänglichkeit des Menschen schon vorprogrammiert sei.
Laß hören, dachte Babkin, auf alles gefaßt nach dem, was er bisher hatte schlucken müssen. Ziere dich nicht, Töchterchen. Vielleicht sterbe ich wirklich, wenn mein Herz vor lauter Erregung zusammenbricht.
»O Väterchen«, begann Nelli schluchzend, und das war schon sehr verdächtig. »Da liegst du nun, du guter Mensch, und hast immer nur an das Gute geglaubt. Aber wer kann schon Böses sehen, wenn er ständig zwischen Gurkenfässern und eingesalzenen Fischen lebt? Wir alle haben dich geliebt, auch wenn wir froh sind, daß du uns nun nicht mehr unter deiner Fuchtel hast und wir endlich Ruhe haben vor deinen unflätigen Beschimpfungen! Doch bevor wir die Erde über dich schaufeln, ist noch etwas zu erzählen …«
Nur zu, dachte Babkin, wieder wütend wie ein ausgebrochener Stier. Nur zu, Nelli! Wenn ich dich eine schimmlige Gurke nannte – war das nicht die reine Wahrheit? Unflätig war ich? Ha, es geschieht dir recht, daß du einen Schwulen zum Mann hast! Laß hören, du kommunistische Posaune …
»Ich habe Boris Witalowitsch Pyljow, den Lehrer, geheiratet. Aber warum denn nur? Nur, um von zu Hause wegzukommen, wo ich nur putzen und Kartons schleppen, nur die niedrigste Arbeit tun mußte. Und dann kamen auch noch deine Kunden nach hinten ins Lager, diese geilen Esel, und griffen mir unter den Rock. ›Ei, welch strammes Mädchen haben wir denn da‹, sagten sie und leckten sich die Lippen. ›Laß sehen, was du da unterm Leinen versteckst.‹ Ja, so war das, Väterchen, und von all dem hast du keine Ahnung gehabt. Dann sah ich Pyljow, den klugen Lehrer; ganz kurz war er erst in Ulorjansk, kam frisch von der Akademie in Tobolsk. Ich bin zu ihm gegangen, in sein Zimmer, habe mich ausgezogen und auf sein Bett gelegt. Nur aus Verzweiflung, Väterchen, glaub mir. Aus wilder Sehnsucht, mal etwas anderes zu sehen als dein Magazin und etwas anderes zu werden als ein duldsames Mütterchen, das aus dem Wochenbett nicht mehr herauskommt. Pyljow schien mir der richtige Mann zu sein …«
Nelli seufzte tief, wischte sich die Tränen vom Gesicht und sprach darauf weniger zerknirscht weiter:
»Aber was ist das für ein Mann! Nicht ein Kind hat er auf die Beine gekriegt, verkroch sich vor der Hochzeit hinter dem Popen und hielt mir einen Vortrag über die Keuschheit. Und nach der Hochzeit, schon in der ersten Nacht, bekam er Bauchkrämpfe und lag von da an neben mir wie ein schnarchendes Stück Fleisch. Die ganzen Jahre, Väterchen – ein Gefäß ohne Inhalt, eine Flasche ohne Saft. Womit habe ich das verdient, frage ich mich. Zieht da das Leben an mir vorbei und sieht mich gar nicht an! Ein schönes Mädchen bin ich doch. So kam ich ins Gespräch mit Sapanow, und Jakow Petrowitsch verstand mich. Er ist ein welterfahrener Mann, kennt als Briefträger die Menschen und weiß um viele geheime Schicksale. So einer von der Post sieht und hört ja manches, was uns anderen verborgen bleibt … Nun ja, Väterchen: Sapanow ist ein Mann und besucht mich nun jede Woche zweimal, wenn Pyljow seine geschichtlichen Abendkurse in der Volksbildungsgemeinschaft hält.«
Zum Jammern ist's, schrie Babkin in sich hinein. Was habe ich für eine Familie! Jeder schläft mit einem anderen, die Moral ist wie ein Sumpf, und ich bin herumgegangen mit stolzer Miene und habe immer geglaubt, die Babkins seien das Muster eines sowjetischen Haushalts.
Und ausgerechnet Sapanow, der Briefträger, mit dem auch schon meine Nina … Ein schiefes Maul hat er, und wenn er lacht, sieht man tabakbraune Zähne! Keine Schönheit, wahrlich nicht – das gleicht auch nicht sein heller Tenor aus, mit dem er im Kirchenchor und im Folkloreverein singt; ja, sogar Arien schmettert er – wie neulich aus so einer Oper, die in Japan spielt und von einem Mädchen handelt, das sich Schmetterling nennt. Schon das ist Blödsinn: Wer heißt denn Schmetterling? Aber die Genossen klatschen und sind begeistert, sicherlich nur, um nicht zu zeigen, wie wenig sie davon verstehen. So ist das überall: Wenn man mit den Wölfen heult, ist man gut gelitten.
Dieser Sapanow! Ist der heimliche Liebhaber meiner Nelli! Ha, wenn ich noch lebte – mit der Peitsche würde ich ihn durch Ulorjansk jagen!
»Da ist aber noch was, Väterchen«, fuhr Nelli Wadimowna fort und putzte sich vorher die Nase. »Niemand hat gewagt, es dir zu sagen, aber nun, da du da steif und unfähig zur Rache daliegst, will ich es dir gestehen: Natalja, mein liebes Schwesterchen, von dem ihr alle glaubt, es sei tot, verschollen in der Taiga, gefressen von wilden Tieren – Natalja lebt.«
Jetzt, Herz, steh still, dachte Babkin ergriffen. Mach ein Ende, hör auf zu schlagen und laß mich sterben. Wer erträgt solches noch? Dazu muß man toter als tot sein, aber, ihr grausamen Lieben, ich lebe noch – ihr wißt es nur nicht!
Natalja, meine kleine, süße Nataljascha, mein zweites Mädchen, soll leben? Wo denn, nun sag es doch, Nelli, wo denn? Wo kann ich sie umarmen? Warum hat sie nie einen Laut von sich gegeben? Warum hat sie uns alle in dem Glauben gelassen, die Taiga habe sie gefressen? Hat sich weggeschlichen aus dem behüteten Elternhaus, um irgendwo ein eigenes Leben zu beginnen, was?
War ich wirklich solch ein Tyrann? War zu meinen Lebzeiten kein Auskommen mit mir, und alle brachen aus und betrogen mich? Welch ein armer, einsamer Mann war ich doch und hab' es nie gemerkt! Wie blind tappt doch jeder Mensch durch die Landschaft, und erst nach dem Tod sagt man ihm, wie abscheulich und nutzlos er für seine Umgebung war. Man möchte weinen, Nelli, wenn man als Toter noch weinen könnte.
»Natalja hat uns damals mit einem Lastwagen verlassen. Du weiß doch, Väterchen, es kamen viele Waren mit dem Lastwagen aus den Zentralmagazinen zu dir. Draußen am Jemnakbrunnen hat sie auf den Wagen gewartet, ist einfach eingestiegen und fort war sie. Drei Werst weiter hat sie ihr Hemd zerrissen und in den Wald geworfen … da hat man's später gefunden, und wir alle haben geglaubt, nun ist Natalja tot. Sogar einen Grabstein haben wir auf dem Friedhof errichtet, und Väterchen Waninow hat den Segen gesprochen. Dabei war Natalja lebendig und lustig wie nie zuvor. War erst mit dem Lastwagenfahrer zusammen, ging dann nach Omsk, und eine solch große Stadt hat tausend Möglichkeiten für ein Mädchen wie Natalja. Zwei Jahre brauchte sie, bis sie als Kellnerin damals im Hotel Sibirsk zur Frau des Parteibeauftragten für Wasserwirtschaft wurde. Auf einer schönen Datscha wohnt sie jetzt, zwei Kinderchen hat sie schon … Nur ein Papierchen hat sie nicht, daß sie Natalja Wadimowna Tschubarjana heißt. In wilder Ehe lebt sie in Omsk. Tschubarjan, sagt sie, ist der Ansicht, daß, wenn man sich erst einmal ausgezogen hat, ein amtliches Papierchen völlig überflüssig ist …«
Ein Hurennest, jammerte Babkin innerlich, und sein Herz krampfte sich zusammen. Meine schöne, glückliche, mustergültige Familie – nichts anderes als ein Hurennest! Nichts stimmt mehr überein mit dem, was ich als mein erfülltes Leben betrachtet habe. Überall Lug und Trug! Eine Lawine aus Heuchelei!
Natalja lebt in einer schönen Datscha bei Omsk? Na ja, schon immer war sie die Schönste von meinen Töchtern, den besten Mann habe ich ihr gegönnt … Zu gern möchte ich diesen Parteisekretär Tschubarjan kennenlernen, meinen Schwiegersohn ohne Trauschein. Zwei Enkelchen hat er mir beschert, der Fleißige … dreifacher Großvater bin ich nun, und alle drei Lieblinge sind Bastarde! O Himmel, welchen Segen hast du über mich geschüttet, aber es sind Tropfen, so schwer, daß sie mich erschlagen können …
Unter fast geschlossenen Lidern hervor sah er Nelli, seine Älteste, an und haßte sie plötzlich, weil sie nicht mehr weinte, sondern auf einmal ziemlich fröhlich war. Nataljas Schicksal zu erzählen, hatte ihr Spaß gemacht.
Man sah es ihr an: So etwas wäre auch das richtige für mich gewesen, stand deutlich lesbar in ihrem Gesicht. Nur zu dumm war ich, von Ulorjansk nach Tobol oder Omsk auszurücken. Statt dessen bin ich an diesen Pyljow geraten, der beim Anblick eines Frauenkörpers Bauchkrämpfe bekommt! Nun bin ich dreißig, noch nicht alt genug, aber zu träge, um Ulorjansk und Pyljow von einer Stunde zur anderen zu verlassen. Bei Sapanow, dem Briefträger, muß ich bleiben und mich bescheiden mit dem, was er hat. Glaub mir, Väterchen, ich bin keine glückliche, zufriedene Frau. Ich schlafe mit meiner Sehnsucht …
»Nun sei Gott mit dir, Väterchen«, sagte Nelli, obwohl sie in ihren Parteireden immer ausrief, es gäbe keinen Gott, und Religion sei eine Manifestation des Unsinns. »Geh friedlich in den Himmel ein. Ärger hast du nun nicht mehr – und wir sind es los, unser beschwertes Gewissen. Rein sind wir alle vor dir, seliger Wadim Igorowitsch …«
Das Kreuz schlug sie über Stirn und Brust, sah Babkin noch einmal mit einem langen Blick an und verließ zufrieden das Sterbezimmer.
Babkin atmete auf. Von außen sah man das nicht, da war er steif wie ein Brett, aber innerlich, da konnte er atmen und spürte die Risse seiner Seele.
Wer kommt nun, dachte er gespannt. Der Nächste, bitte. Nur heran, nur heran … Schüttet euer Herz aus vor dem toten Babkin! Heißt es nicht, der Mensch käme ab und zu wieder auf die Welt? Der Leib verdorre zwar, aber die Seele sei unsterblich? Wenn das stimmt – oh, ihr Lieben alle, lauft weg und verkriecht euch, wenn ich auf die Erde zurückkomme. Fürchterlich werde ich unter euch aufräumen, ihr Schlangenbrut, ihr Mißgeburten einer Ziege! O Gott, mein Gott, schick mich so schnell wie möglich wieder zurück auf diese verworfene Welt!
Er röchelte vor Zorn, natürlich nach außen hin unhörbar, und starrte zur Tür, wer nun wohl als nächster hereinkommen würde.
Man soll es nicht glauben: Der Nachbar war's, Viktor Viktorowitsch Afanasjew, dieser Kretin, von dem Babkin einmal gesagt hatte, er sei eine Kreuzung zwischen Affe und Kröte.
Babkin bekam einen Schrecken, als er Afanasjew eintreten sah, in einem schwarzen Anzug, mit sauberem weißem Hemd und sogar einem schwarzen Schlips. Er sah aus wie ein biederer Genosse und war doch die Abgefeimtheit in Person.
Und wie er dasteht vor dem Bett und sich von den Kerzen bescheinen läßt! Erlöscht, ihr Kerzen … Wo dieser Mensch steht, ist Jaucheduft in der Luft!
Wer Viktor Viktorowitsch kannte – und wer in Ulorjansk kannte ihn nicht? – sprach nur Gutes über ihn. Das war's vor allem, was Babkin auf die Nerven ging: Alle Welt grüßte Afanasjew, als sei er ein Ehrenmann, jeder gab ihm die Hand, ohne sie sich hinterher mit heißem Wasser und harter Bürste abzuschrubben, und wenn man von ihm redete, hieß es nur: Ein braver Genosse und Bürger; für jedermann hat er ein Ohr, und ein Wohltäter ist er zudem auch. Für's Kinderheim hat er gestiftet, für die Komsomolzen, für den Bau eines Schwimmbades, für das Aufpolieren des bronzenen Lenindenkmals, für alles stiftet er, womit man sich einen Namen machen kann – und ist doch der größte Gauner, den die Sonne je beschienen hat!
Womit er seine Rubel gemacht hat? Ha, er verkaufte die ›freien‹ landwirtschaftlichen Produkte, den Überschuß, den die Bauern in der weiten Umgebung nach Ablieferung des Sowchosensolls für sich behalten durften. Das alles verschob Afanasjew in dunkle Kanäle, von denen niemand wußte, wohin sie führten, und fett wurde er dabei wie ein Mastschwein, das nur in Milch gerührtes bestes Mehl bekommt.
Außerdem – der Teufel hole ihn – kaufte er Land auf, saß auf der Scholle wie ein Geier und wartete darauf, daß irgendwann einmal Ulorjansk für die Ansiedlung irgendeiner Industrie entdeckt wurde. Dann würde er das zusammengeraffte Land verkaufen zu einem Preis, der einem die Hosen zerriß, und zur Beruhigung eine bestickte Festtags-Parteifahne stiften. Ja, so einer war Viktor Viktorowitsch.
Komm nicht näher an mein Bett, Halunke, dachte Babkin, sonst spucke ich dir zwischen die Augen …
Afanasjew sah erschüttert den toten Babkin an. Da hatte man sich jedesmal mit beleidigenden Worten angeschrien, wenn man sich irgendwo begegnete, und jetzt lag er stumm da, der gute Babkin, bleich und steif, und wenn man ihm sagen würde: Du bist der mustergültigste Heuchler, den je ein Wind umfächelt hat, dann konnte er sich nicht mehr wehren. Wie schön doch so ein Toter ist.
»Ähäm …«, begann Afanasjew seine Abschiedsrede und kratzte sich den linken Handrücken. Der stumme Babkin nötigte ihm doch ein wenig Ehrfurcht ab. »Wer hätte das gedacht, Wadim Igorowitsch? Fällst einfach um und bist nicht mehr. Wo bleibt nun unser schöner Streit? Zwanzig Jahre haben wir ihn gepflegt, und plötzlich ist alles aus. Fehlen wirst du mir, mein lieber Babkin …«
Das mit den zwanzig Jahren stimmte.
Es begann damit, daß Babkin von einer uralten Tante vor knapp einundzwanzig Jahren völlig unerwartet am Stadtrand von Ulorjansk, in der besten Lage, ein Grundstück erbte. Ein unbebautes Feld, an dem vorbei sich die Stadt nach und nach ausdehnte. So oft und eindringlich man Tante Xenia Sidorowna auch ins Gewissen geredet hatte, sie möge das Stückchen Land verkaufen, um keine häßliche Baulücke entstehen zu lassen, immer hatte sie jeden vor die Tür gesetzt, der mit einem solchen Ansinnen kam.
»Nichts wird verkauft!« hatte sie geschrien. »Ihr Gauner! Ihr Betrüger! Eine alte Frau übers Ohr hauen, das wäre etwas für euch! Nicht mit Xenia Sidorowna!« Selbst Bürgermeister Blistschenkow blitzte bei ihr ab. »Nicht anders als die anderen bist du, Guri Jakowiewitsch!« lamentierte sie. »Laß mein Land ruhig eine Baulücke sein, um so wertvoller wird es!«
Recht hatte sie, die Alte … Und dann starb sie an allgemeiner Entkräftung, weil ihr Mägen immer kleiner wurde und sie kaum noch etwas essen konnte. Es war, als würde sie von innen abgeschnürt.
Dr. Poscharskij, der ihren Verfall mit sichtbarem medizinischem Interesse verfolgte, hatte dafür einige lateinische Ausdrücke zur Hand, bei deren Klang allein jedem klar wurde, daß man daran sterben mußte. Es gab ein großes Begräbnis, und dann wartete alles gespannt auf die Testamentseröffnung.
Aus Tobolsk kam ein Rechtsanwalt, zog aus seiner Ledermappe ein Aktenstück und las in Anwesenheit der Zeugen Blistschenkow und Waninow, des Popen, den letzten Willen der Xenia Sidorowna vor.
Welch eine Überraschung! Ausgerechnet Babkin erbte das umstrittene Stück Land. Die Hoffnung, darauf etwas Repräsentatives zu bauen, schwand für immer dahin. Babkin war noch zäher als Tante Xenia, das wußte jeder. Bei der verstockten Alten hätte Waninow, der Pope, es vielleicht noch erreicht, daß sie das Grundstück an die Stadt verkaufte, indem er ihr versprach, sie käme ohne Überprüfung ihres Lebenswandels direkt in den Himmel. Doch bei Babkin war jeder Versuch in den Wind geblasen.
Aber nein! Sechs Wochen, nachdem er die Erbschaft angetreten hatte, erhielt Babkin einen Brief aus Tobolsk von einem Rechtsanwalt Julian Michailowitsch Tunkel. Darin forderte ihn dieser mit nüchternen Worten auf, das Erbe sofort an den rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Er möge beiliegendes Dokument – in beglaubigter Abschrift – durchlesen: ein Brief von Xenia Sidorowna, eindeutig datiert nach der Abfassung ihres Testaments, in dem sie das schöne Grundstück für zweitausendvierhundert Rubel verkauft hatte.
An wen wohl? Erraten, liebe Genossen: An Viktor Viktorowitsch Afanasjew.
Damals, vor zwanzig Jahren – im Januar geschah solches – trat Babkin brüllend gegen die Wand seines Wohnzimmers, schwor, das Grundstück mit Dynamit in die Luft zu sprengen, was freilich nur den Erfolg gehabt hätte, daß man später einen Teil der Ausschachtungsarbeiten sparen konnte, bezeichnete Afanasjew als den größten Lumpen dieser Welt und beauftragte seinen Rechtsanwalt, Tante Xenias Brief anzufechten.
Auch als Viktor Viktorowitsch eine von Tante Xenia unterschriebene Quittung vorlegte und erklärte, sie habe das Geld in bar kassiert, blieb Babkin dabei, dies alles sei Betrug, eine grandiose Fälschung, ein Verbrechen, das zum Himmel stinke.
Genossen, wer kennt das nicht? Wenn man erst das Gericht einschaltet und dann die verschiedenen Instanzen bemüht, rollen einem die Rubel nur so davon, und die Rechtsanwälte umklammern heimlich die Bibel und bitten darum, dieser Prozeß möge noch lange währen.
Genau so war's. Nach elf Jahren endlich – der Wert des Grundstücks war längst mehrfach an die Rechtsanwälte vergeudet worden – entschied das Oberste Gericht in Omsk, Viktor Viktorowitsch habe die besseren Argumente, den Brief und die Quittung, und sprach ihm endgültig das Grundstück zu.
Danach lag Babkin mit einer Art Nervenfieber eine Woche lang im Bett, schwor, Afanasjew bei einer Begegnung im Wald oder am Fluß zu entmannen, und haßte niemanden auf dieser Welt heftiger als seinen Nachbarn.
Und nun stand Viktor Viktorowitsch an Babkins Bett, heuchelte Ergriffenheit und war doch voll von Zufriedenheit.
Babkin beschwor seine Muskeln, ihm zu gehorchen. Aufspringen und Afanasjew anspringen wollte er – aber sein Körper reagierte nicht. Er blieb steif, wie es sich für einen Toten gehörte.
»Bevor du in die Hölle fährst, mein lieber Wadim Igorowitsch, denn selbst du wirst nicht glauben, daß dir der Himmel offen steht, nicht wahr«, fuhr Afanasjew fort, »ist es die Pflicht eines guten Menschen, wie ich einer bin, dir Klarheit auf den langen Weg mitzugeben. Machen wir es kurz, mein hingestreckter Freund: Natürlich gehört das Grundstück dir! Der Brief, die Quittung der ehrbaren Xenia Sidorowna, alle Dokumente waren gefälscht. Aber hervorragend gefälscht, gib es zu, Babkin. Selbst du bist darauf hereingefallen. Nun steht ein Häuserblock auf dem Grundstück, und ich kann von den Mieteinnahmen leben wie ein Bojar! Am Schwarzen Meer war ich voriges Jahr, in Sotschi, mein Lieber. Und nächstes Jahr leiste ich mir eine Fahrt nach Leningrad und werde auf der Ostsee segeln. Ein Leben ist das! Sieh ein, daß es gut war … Tot bist du nun, was hättest du von all den Rubelchen gehabt, na? Ich aber bin noch ein Baum voller Saft und werde hundert Jahre alt. Gesteh, es hat den Richtigen getroffen.«
Wenn es eines Anstoßes bedurft hätte, um eine Wiederauferstehung Babkins möglich zu machen – diese Rede hätte sie in Sekundenschnelle ausgelöst. Wie eine Explosion durchbebte es Babkin, aber sein Körper blieb weiterhin unbeweglich. Für ihn war es der endgültige Beweis, daß er wirklich tot war und daß es sich damit bestätigte: Tote hören und erleben weiterhin alles, was auf Erden vor sich geht, ohne eingreifen zu können. Das Rätsel des ewigen Lebens war damit gelöst, nur mitteilen konnte man es niemandem mehr – das war die große Qual und Strafe. Auch das Himmelreich war nicht das, was einem die Popen versprachen. Genau betrachtet, war das ganze Leben eine einzige Lüge, man begriff es bloß nicht.
Geh weg, Viktor Viktorowitsch, geh weg aus meinem Sterbezimmer, du Hundeschiß! Verdirb mir nicht das Glücksgefühl, aus dieser Welt entfernt worden zu sein. Wie herrlich wird es sein, euch alle nur noch aus der Ferne beobachten zu können und sich die Hände zu reiben, wenn ihr von anderen in den Hintern getreten werdet. Geh endlich weg von mir … zu sagen gibt es nichts mehr.
Ein unerfüllbarer Wunsch war's. Afanasjew nahm eine kleine Wanderung durch das Zimmer auf, lief sich gewissermaßen Mut an und trat dann wieder an das Bett. Tief Atem holte er, kratzte noch einmal seinen linken Handrücken und stieß ein verlegenes »Ähä« heraus.
»Da ist noch etwas, mein guter Wadim Igorowitsch«, sagte er, »was du wissen solltest. Hat's dich nicht gewundert, daß ich nie geheiratet habe? Gib es zu, ein ansehnlicher Mann bin ich doch. Es gab Zeiten, da verdrehten die Weibchen die Augen nach mir, und wenn ich die Lippen spitzte, wackelten sie mit den Hintern wie rossige Stuten. Aber ich bin allein geblieben, ohne Frau. Es gibt keine, die sich Afanasjewa nennen kann. Woher wohl dieser Zustand? Fragst du dich das nicht, mein liebster Freund? Oh, tiefe Gründe hat das. Ein Mädchen gab es mal, das hieß Nina Romanowna und wurde die Frau des widerlichen Babkin. Nie hast du erfahren, daß sie vorher in meinen Armen gelegen hatte, und nie hast du erfahren, daß sie später, eine reife schöne Frau und damals schon Mutter von zwei Töchtern, wieder in meinen Armen lag, während du dich um deine Kohlfässer gekümmert hast. Und höre, mein Guter: das Grundstück mit allem, was jetzt darauf steht, mit dem großen schönen Wohnblock und den Gärten drumherum, ich hab's in meinem Testament deiner Nina vermacht. Meinem Seelenfrieden zuliebe hab ich's getan, und so bleibt alles nun doch in der Familie Babkin, zumal ich glaube, daß Walentina, dein jüngstes Töchterchen, der Zeitrechnung nach auch von mir sein könnte …«
Erst Narinskij, der Metzger, Sapanow und Blistschenkow und jetzt auch noch Afanasjew, dieser Gauner! O Ninotschka, wer hat dir sonst noch den Rock ausgezogen? Ein Blinder war ich, wirklich ein Blinder, ein Trottel, ein Clown! Alle lachten über mich, und ich habe gedacht, sie lachten mir zu aus Freundlichkeit und Nächstenliebe. Hatte ich ein armes Leben, o je! Den Babkins gehört also irgendwann das Grundstück wieder, großzügig geschenkt im Bett … Wenn es wirklich eine Hölle gibt, Viktor Viktorowitsch, dann muß eine besondere Abteilung ganz allein für dich eingerichtet werden!
Geh endlich hinaus, Afanasjew! Und ich danke dir … Ich bin so froh, nicht mehr unter euch Bestien zu leben.
Babkin wartete ab, bis Afanasjew leise das Zimmer verlassen hatte, nicht, ohne vorher ein Gebet am Fußende des Bettes zu sprechen, und fragte sich, ob nun noch etwas kommen könnte, das alles bisherige übertraf. Unvorstellbar war das … Wo gab es eine Steigerung über Afanasjews Gemeinheiten hinaus?
Ist denn kein einziger guter Mensch in meiner Umgebung, dachte Babkin traurig. Gibt es keine guten Seelen mehr? Da kommen sie herein zu mir, laden ihren Dreck ab, und dann gehen sie erleichtert davon, als sei nichts geschehen. Muß man sich das bieten lassen, auch als Toter?
Babkin hielt den Atem an, als die Tür sich wieder öffnete.
O nein, das darf nicht sein, durchfuhr es ihn. Er auch? Mein lieber, lieber Gott im Himmel, schick einen Blitz herunter und erschlag sie alle.
Aljoscha Sidorowitsch Sawitzkij war ein Nachbar, den Babkin von Kindheit an mit bösen Blicken betrachtet hatte.
Sawitzkij, fünf Jahre älter als Babkin, hatte im kindlichen Alter ein Spiel daraus gemacht, den Nachbarjungen Wadim Igorowitsch zu verprügeln, wo immer er ihn traf. Und das war oftmals am Tag, in der Schule, auf der Straße, am Fluß, im Birkenwald, am Seeufer.
»Na, Mamasöhnchen?« sagte dann der starke Aljoscha Sidorowitsch etwa. »Hast heute noch nicht das Höschen vollgemacht? Helfen wir dem sofort ab …« Und schon ging's los, mit Faustschlägen, Fußtritten, ekelhaften Ringergriffen – alles nur so zum Spaß, bis dem armen kleinen Babkin nichts anderes übrig blieb, als vor Angst tatsächlich in die Hose zu machen.
Zu Hause erzählte er nichts davon, aber er schwor sich, dem giftigen Sawitzkij einmal alle Schmach zurückzuzahlen. Jahre konnte das dauern, groß und stark mußte man dafür werden, um gegen ihn zu bestehen, und Babkin trainierte und unterzog sich allen Mühen, deren Endziel es war, starke Muskeln zu bekommen und jedermann Respekt einzuflößen. Er stemmte Hanteln und Gewichte, ließ sich im Boxring puddingweich schlagen, krachte auf die Ringmatten, zog Expander und wirbelte beim Judo durch die Luft, daß es eine wahre Pracht war.
Als Babkin sechsundzwanzig war, dünkte er sich so weit, um gegen Sawitzkij anzutreten und ihm alle Kinderschmach zu vergelten.
Am Ufer des Sees war's, als sie an einem Sommernachmittag zusammentrafen. Aljoscha Sidorowitsch lagerte da mit seiner Angebeteten, der hübschen Nina Romanowna, briet einen selbstgefangenen Fisch auf dem Holzfeuer und blickte schon sehr nachdenklich drein, als er Babkin heranschlendern sah.
»Jetzt verpestet er uns sogar die schöne Luft!« sagte Sawitzkij auch noch, und Nina, die Schöne, lachte etwas exaltiert.
»Na na«, entgegnete Babkin und grinste siegessicher. »Brätst wohl den Fisch, um deinen eigenen Gestank zu überdecken? Wann, Aljoscha, hast du zum letztenmal unter dich gemacht?«
Diese Kindheitserinnerung ließ in Babkin alle Kräfte schwellen. Sawitzkij sprang auch sofort auf, rollte wild mit den Augen und zog die Schultern hoch. »Du rostiger Eisentopf!« schrie er, ballte die Fäuste und streckte sie vor. Das sah imponierend aus, und er hoffte auch, Nina damit zu beeindrucken. »Komm her! Ich biege dir den Henkel nach hinten!«
»Die Sehnsucht des Menschen war immer, wie ein Vöglein fliegen zu können!« antwortete Babkin ganz ruhig. Damals war er noch ein junger Mensch mit etwas Bildung, was im Laufe der Jahre allerdings immer mehr abgeflacht war, obwohl es ja umgekehrt der Fall sein sollte. Das Alter bringt Weisheit und Erfahrung, sagt man doch immer, aber bei Babkin reduzierte sich später alles auf den begrenzten Raum seines Einkaufsmagazins.
An jenem Tag allerdings, mit sechsundzwanzig saftigen Jahren, konnte Wadim Igorowitsch noch solche Reden führen. »Willst du ein Vöglein sein, Aljoscha?«
Ein dumpfer Laut antwortete ihm. Dann schnellte Sawitzkij vor, und das war ein Fehler, den er Zeit seines Leben bereute.
Babkin erwartete ihn, wandte einen ganz einfachen Judogriff an, Aljoscha flog durch die Luft, wirklich wie ein etwas träger Vogel, und landete bäuchlings am Seeufer. Bevor er aufspringen konnte, sichtlich benommen, war Babkin schon bei ihm, ergriff ihn an Hemdkragen und Hosenboden, hob ihn hoch und schleuderte ihn in den See. Dort ging Sawitzkij sofort unter, kam prustend hoch und kroch aufs Land zurück. Nicht dieser Flug kostete ihn alle Nerven, sondern Nina, die lachend hinter dem brutzelnden Fisch saß und Babkin applaudierte, als habe er eine gute Zirkusnummer abgezogen.
Nina applaudierte Babkin … das war das Ende aller Hoffnungen für Aljoscha Sidorowitsch, das zauberhafte Weibchen für sich zu gewinnen. Tief gekränkt, im Inneren zerrissen, saß Sawitzkij am Seeufer und verzichtete auf eine Fortsetzung des Kräftemessens. Babkin dagegen, sich seiner Überlegenheit bewußt, fraß vor Aljoschas Augen zusammen mit Nina den köstlichen Fisch auf, warf ihm die abgenagte Mittelgräte zu und sagte hämisch: »Damit mein Vögelchen nicht verhungert!«
Welche Schande! O welche Schande!
Das weitere kennen wir: Babkin heiratete später Nina Romanowna, zeugte drei Kinder mit ihr, alles Töchter, Gott sei's geklagt, vernachlässigte sein Krafttraining, wurde wie so viele Männer in der Ehe träge und dick, aber Sawitzkij versuchte trotzdem nicht mehr, mit Babkin einen handgreiflichen Streit anzufangen.
Nur eins war unangenehm: Aljoscha Sidorowitsch erbte den Viehhandel seines Onkels Leonid Michailowitsch und wurde somit Nachbar von Babkin. Nur vier Häuser trennten sie voneinander. Die beiden Männer begegneten einander also jeden Tag – wie früher als Kinder – grüßten sich mit fortschreitendem Alter auch wieder und traten später sogar in Geschäftsbeziehungen, weil Babkin von Sawitzkij Schweinchen und Kälber kaufte, sie selbst schlachtete, zerteilte, räucherte und verwurstete und – sein Nachbar, der Metzger Narinskij, wurde grün vor Ärger – damit einen guten Gewinn erzielte.
Babkins ›Würste auf sibirische Art‹ wurden bis Perm verkauft, sie waren lange haltbar in Dosen und ein begehrter Wintervorrat für die Städter. Narinskij allerdings, auch das wissen wir jetzt, rächte seine Metzgerehre, indem er ab und zu mit Nina Romanowna schlief. Man darf sich nichts gefallen lassen – vor allem nicht in Sibirien!
Nun also kam Sawitzkij ins Sterbezimmer, bekreuzigte sich wie alle guten Christen vor dem Toten, legte sogar einen Strauß Feldblumen auf Babkins Bauch und betrachtete den dahingegangenen Nachbarn unverschämt lange. Babkin wußte genau, was Aljoscha jetzt dachte: Besser du als ich … und dabei bin ich auch noch fünf Jahre älter als du! Wenigstens diesen Triumph habe ich, von anderen Dingen ganz zu schweigen.
Aber gerade diese ›Dinge‹ waren es, die Sawitzkij an Babkins Bett trieben. Bevor einer in den Himmel oder die Hölle kommt – weiß man, wohin? – sollte man einen dicken Strich unter das Kontobuch des Lebens machen. So etwas reinigt auch ungemein die eigene Seele.
»Mein lieber Wadim Igorowitsch«, begann Sawitzkij.
Babkin stockte wieder der Herzschlag. Wer so anfing, wer ihn ›lieber‹ nannte, hatte einen großen Haufen abzutragen. Aber wo kam der her bei Sawitzkij? Außer dem Viehkauf gab es nichts, was die Babkins mit den Sawitzkijs verband. Oder doch? Ihr guten Heiligen, was kommt jetzt ans Tageslicht? War ich denn in meinem Leben nur von Halunken umgeben?
»Wir haben uns nie gemocht, mein Bester, nie! Wenn wir uns sahen, rumorte in unseren Herzen der Wunsch: Schlag ihm jetzt den Schädel ein!«
Ehrlich ist er, dachte Babkin zufrieden. Genau so war's, Freundchen. Wir grüßten uns freundlich und knirschten innerlich mit den Zähnen. Und das vierunddreißig Jahre lang. Ist das eine Zeit! Aber so ist das Dasein, man schleppt lebenslang Dinge mit sich herum, die mit einem verwachsen sind wie ein Leberfleck. Du, Aljoscha Sidorowitsch, warst mein Leberfleck, den ich haßte, so oft ich ihn betrachtete. Daß du mich überlebt hast, ist eine Gemeinheit des Schicksals. Gott hätte das nicht zulassen dürfen. Im Himmel werd' ich ihn fragen, wer ihn dazu überredet hat, mich eher von der Erde wegzunehmen als dich! Da muß wirklich ein Irrtum vorliegen in der göttlichen Gerechtigkeit.
»Eigentlich ist es nicht viel, was ich dir zu sagen habe«, fuhr Sawitzkij fort. »Nur eine Kleinigkeit ist's, von minderer Bedeutung und eigentlich nicht wert, daß man darüber lange spricht. Aber ich will dich ruhig ziehen lassen, unbelastet von jeglicher Unwissenheit.«
Das klang direkt philosophisch und verbreitete natürlich Schrecken in Babkins Seele. Wenn jemand derartig weihevoll spricht, muß er mit seinem Gewissen schon arg am Boden liegen. Aber Sawitzkij und ein Gewissen! Da muß man lachen, Genossen! Das wäre, als wenn ein Fuchs mit einer Gans sonntags spazieren ginge …
»Das war nämlich so, Wadim Igorowitsch«, sagte Sawitzkij mutig, »daß mir fast das Herz stehenblieb, als du vor vier Jahren zu mir kamst und erklärtest, du wolltest deinem Betrieb eine Dosenwurstherstellung angliedern. Gierig wie immer, hab' ich gedacht. Kann sich mit Rubelscheinen den Hintern abwischen, der Babkin, aber nein, nicht genug hat er, sondern muß immer weiter Geld scheffeln. Immer fetter wird er dabei und eines Tages in seinem Reichtum ertrinken. Ja, ersticken wird er in seinen Rubeln! Und nun liegst du da und hast Platz in einer hölzernen Kiste. Das ist das einzige, was ich dir gönne! Aber vor vier Jahren, da war ich sprachlos, zugegeben. Und was hast du gesagt? ›Aljoscha Sidorowitsch‹, hast du gesagt, ›kannst du mir gute Schweinchen und zarte Kälbchen liefern? Beste Qualität natürlich, aber billig müssen sie sein. Ein Sonderpreis, unter Freunden … ‹ Ja, das hast du gesagt: Unter Freunden! Hinterher habe ich mich erkundigt, ob du in Behandlung beim Nervenarzt bist, aber keiner wußte etwas davon. Auch besoffen warst du nicht … Ich habe keine Wodkafahne an dir gerochen. Er meint es tatsächlich ernst, dachte ich. Wirklich, er will von dir Vieh kaufen, um Wurst daraus zu machen und noch reicher zu werden. Na warte, du Rubelschlund … das Beste, was ich bekommen kann, sollst du haben! Und so geschah's, Wadim Igorowitsch! Und du warst zufrieden mit jeder Lieferung, auch mit dem Preis.«
Das stimmt genau, dachte Babkin verwundert. Was soll das, Aljoscha? Über Dinge, die in Ordnung sind, hat bis jetzt noch keiner an meinem Sterbebett gesprochen. Du, ausgerechnet du, wolltest mich Armen damit erfreuen?! Das wäre eine zu harte Strafe, die ich mitnehme in die Ewigkeit. Tu mir das nicht an, bei all unserer Feindschaft nicht!
Sawitzkij beugte sich vor, ordnete seine Blumen auf Babkins Bauch und legte dann los.
»Wenn du wüßtest, mein Guter, wie ich dich betrogen habe! Ha! Wie jedesmal läuft mir auch jetzt bei diesem Gedanken ein Wonneschauer über den Rücken! Was hast du von mir gekauft – du ahnst es nicht! Schöne Schweinchen, ja, zarte Kälbchen, ja – und bezahlt hast du dafür einen gerechten Preis. Unter Freunden, wie du sagst. Mir hüpft das Herz, wenn ich daran denke. Gekauft hast du Fleisch, das vom Veterinär abgelehnt wurde. Wegwerfen hätte ich es müssen, kein Stempelchen hatte es bekommen. Es waren allesamt Notschlachtungen wegen Krankheit; Schweinepest, Tuberkulose, was weiß ich. Nichts als wertloses Fleisch – und Babkin kauft es zu einem Freundschaftspreis! Muß man da nicht jubeln, Wadim Igorowitsch?«
Sawitzkij rieb sich die Hände. Tatsächlich, das tat er an einem Totenbett, vor einem, der dem Himmel nahe war und den er so schmählich betrogen hatte. Welch ein verdorbener Halunke!
»Aber mein Lieber, Pech hatte ich doch. Entdeckt wurde ich zwar nicht von dir, du Tropf, du warst viel zu dämlich dazu, sondern von Nelli, deinem Töchterchen. Ein kluges Mädchen … Sieht sich eines Tages die frisch gelieferten Schweinehälften an, und was sagt sie zu mir: ›Komm mal her, du Erzgauner, du Schwanzhaar des Teufels, was drehst du uns da an? Freibankfleisch? Ohne Stempelchen vom Veterinär? Sind wohl am Rotz gestorben, die lieben Schweinchen, was? Soll man das meinem Väterchen Babkin melden? Das Gesicht wird er dir auf den Rücken drehen. Na, nun rede … ‹ Ich hab's gestanden, was blieb mir anderes übrig? Und was sagt dein süßes Töchterchen Nelli? ›Hör zu, Aljoscha Sidorowitsch‹, sagt es zu mir, ›keine einzige Kopeke ist das Fleisch wert, du aber kassierst bei Väterchen gute fette Rubel dafür. Was ist nun, wenn ich schweige, nichts verrate, nichts gesehen habe? Wäre das nicht die Hälfte deines ergaunerten Gewinns wert? Überleg es dir gut, Genosse Sawitzkij!‹ – Ha, was gab's da noch zu überlegen? Keine Strafe, weitere Lieferungen von wertlosem Fleisch und immer noch ein gutes Geschäft … Nelli und ich waren uns einig, teilten den Gewinn, und da wir nun mal Partner waren, Nelli ein strammes Mädchen ist und ich trotz meiner Jahre ein noch leistungsfähiger Mann bin, verlegten wir die monatlichen Abrechnungen für ein Stündchen in mein Bett. Babkin, mein Guter, was will man mehr vom Leben? Geschenktes Geld und ein geschenktes Weibchen – und der Genosse Lehrer Pyljow drückte mir sogar begeistert die Hand, wenn ich ihm ein saftiges Lendenstück ins Haus brachte.«
Sawitzkij atmete tief durch. »Das war's, Babkin, du größtes Rindvieh auf dieser Erde … Friede sei mit dir.« Er reckte sich, als sei er gerade aus dem Bett gestiegen, und ließ die Gelenke knacken. »Wie leicht fühle ich mich jetzt, wie ein Federchen! Es ist schon etwas Gutes, sein Gewissen zu erleichtern.«
Sawitzkij, für den Babkin im Augenblick keinen Schimpfnamen mehr fand, weil alle, die er kannte, und das war ein Sack voll, zu mild waren und alle Flüche zu zahm, bekreuzigte sich wieder, faltete sogar die Hände, sprach murmelnd ein Gebet und entfernte sich dann wie ein Erlöster.
Als die Tür hinter ihm zuklappte, dachte Babkin: Selbst die Beulenpest ist zu milde für ihn. Oh, wenn man noch einmal leben könnte …
Aber da ging die Tür schon wieder auf, und der nächste kam herein.
Walentina Wadimowna war mit ihren achtundzwanzig Jahren schon ein richtiges Hausmütterchen geworden. Nicht allein, weil sie ein Kind großzog, von dem keiner außer dem Popen und nun auch Babkin den Vater kannte und diese Tatsache es mit sich brachte, daß ein anständiger Bürger von Ulorjansk nicht bereit war, Walentina zu ehelichen – nur eine Menge unanständiger Anträge bekam sie als Entschädigung. Nein, Walentina hatte sich auch damit abgefunden, neben Nina, dem Mütterchen, den Haushalt zu führen, Väterchen Babkin zur Hand zu gehen und immer noch fleißig im Kirchenchor zu singen. Weshalb … na, das wissen wir ja nun.
Walentina besaß ein wahres Engelsstimmchen, jubilierte in den höchsten Tönen, klar und rein, und wenn die Babkins etwa in Swerdlowsk oder gar in Irkutsk gelebt hätten, wäre aus ihr sicherlich eine hervorragende Opernsängerin geworden. Aber in Ulorjansk verkümmerte ihr Talent; wer kommt schon in diese Abgeschiedenheit, um einen neuen Opernsopran zu entdecken?
Nun stand Walentina vor dem Bett ihres geliebten Väterchens, sah den Bleichen an und begann sofort zu weinen.
Nötig hast du's, dachte Babkin und wurde doch angerührt von ihrem ergriffenen Schluchzen. Und wie nötig! Läßt sich von einem Popen ein Kind machen! Von einem Greis! Ungeheuerlich ist das! Da laufen in Ulorjansk eine Menge stramme Männer herum, unverheiratet, bereit, Babkins Schwiegersohn zu werden, und was tust du, Walentina? Mit Waninow, einem Priester, sündigst du! Wer kann dir das verzeihen? Zittere deinem letzten Stündlein entgegen … Ich hab' es hinter mir, und was ich auch im Leben getan habe, es ist wie Limonade gegen die Säure, die ihr mir seitdem über meine Seele geschüttet habt!
»Mein Väterchen«, begann Walentina Wadimowna und unterbrach ihr Schluchzen ruckartig. Babkin fiel das sofort auf. Ein innerlich so zerbrochener Mensch kann doch eigentlich sein Leid nicht ausknipsen, als drehe er an einem Lichtschalter.
»Mein gutes Väterchen«, sagte Walentina noch einmal, »was soll ich dir gestehen? Schreckliches ist mit mir geschehen, und du hast es nicht gewußt. Nun muß es erzählt werden, deiner ewigen Ruhe wegen … Kein Auge bekäme ich nachts mehr zu, wenn ich dich so unwissend in die Ewigkeit ziehen ließe.«
Ich weiß alles, wollte Babkin schreien, aber er konnte es ja nur nach innen brüllen, äußerlich war er stumm und steif. Meine Jüngste – und das Liebchen des Popen. Pfui über dich, pfui! Hat's einen Sinn, sich jetzt noch – oder erst – zu schämen! Was soll's? Der Bastard ist da, ein süßes Kindchen – wer hätte Waninow so etwas zugetraut? Als Enkelchen hab ich's an mein Herz genommen, und ich liebe es. Erben wird es einmal viele Rubel, wenn auch Nina, meine Witwe und deine Mutter, dieses verdammte Aas, die Augen schließt … Schweigen wir also über deine Verruchtheit, Walentina, erzähl mir etwas Erfreuliches.
Was aber gab es im Hause Babkin in diesen Abschiedsstunden schon Erfreuliches zu berichten? Suchen mußte man das mit starken Lampen, als habe man ein sibirisches Diamantensteinchen im Strohvorrat verloren.
»Wie gut kennst du Väterchen Waninow, den Popen«, setzte Walentina ihre Beichte fort. »Im Kirchenchor haben wir immer fleißig geprobt, und wie das so bei Proben ist – man kommt sich näher, nicht nur musikalisch, auch menschlich. Die Töne machen das, Väterchen, der harmonische Zusammenklang, der Zauber der Melodie, das Wunder, was man mit ein paar Noten alles machen kann. Und Waninow, das weißt du ja, ist ein großer Sänger. Sein Baß läßt die Ikonostase erzittern und dringt in die Herzen ein. Ach, war ich damals ein junger, schwärmerischer Mensch, so gutgläubig und voll Hunger auf Zärtlichkeit …«
Der Blitz treffe Waninow, den Mädchenschänder, schrie es in Babkin. Hab ich's nicht gesagt: Ein reines Wesen ist Walentina, mein Töchterchen. Aber der alte bärtige Bock hat sie beschmutzt. Predigt wider die Sünde und läßt außerhalb der Kirche vor jedem Rock die Hosen fallen! O je, o je … kein Vertrauen hast du zu deinem Väterchen gehabt, Walentina. Hättest es gleich sagen müssen: Sidor Andrejewitsch hat mir die Tugend gestohlen! An seinem Bart hätte ich ihn aufgehängt, – an diesem langen, weißen Bart, der sein ganzer Stolz ist.
»Da lag ich nun eines Tages am Ufer des Binowska-Baches, ganz allein hinter einem Busch, wie's sich gehört, wenn man nichts mehr auf der Haut hat, sonnte mich und träumte, daß ich auf der Bühne eines Opernhauses stehe und die ›Mimi‹ aus ›La Bohème‹ singe. Im Ohr klingt's mir wunderschön, Väterchen, nichts höre und sehe ich mehr um mich herum … Da fällt ein Schatten plötzlich über mich, und Waninow steht vor mir, eine Angel in den Händen. War das ein Schrecken, glaub es mir. Starr vor Scham bin ich gewesen, um mich drehte sich der Bach, das Gras, der Wald … Und da sagt Sidor Andrejewitsch mit seinem dröhnenden Baß: ›Schäme dich nicht, mein Töchterchen. Wenn ein Mensch das Paradies sucht, findet er Gottes Güte!‹ Neben mich setzte er sich, streichelte meinen nackten Leib … Ein Gefühl war's, Väterchen, wie kann man's beschreiben? Zum erstenmal geschah's doch: Ein Fremder berührte mich. Ein Zittern überkam mich, fast ohnmächtig wurde ich davon. Und plötzlich war auch Väterchen Waninow im Paradies, zog seine Kleider aus und lag neben mir in der Sonne am Ufer des Binowska-Baches …«
Die Hölle möge dich erschlagen, Sidor Andrejewitsch, knirschte Babkin und verdrehte vor Wut die Augen. Die ganze Hölle! Was hast du meinem Töchterchen angetan! Liegt da und träumt von Opern, die Sonne wärmt sie, Schmetterlinge umgaukeln sie, die Vöglein singen auf den Zweigen – und da kommst du, der Lüstling im ehrwürdigen Priestergewand und … Oh, laß mich nicht weiterdenken, du Schuft! Nicht an deinem Bart möchte ich dich aufhängen … nicht daran … Und du, Walentinuschka, schweig jetzt. Foltere das Vaterherz nicht noch mehr mit Einzelheiten. Dein Väterchen hat dir verziehen, du mein gequältes Lämmchen, meinen Segen hast du.
»So war's nun mal«, sagte Walentina Wadimowna und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Wenn der Chor geprobt hatte, blieb ich immer noch für ein Stündchen bei Waninow, die Noten ordnen, wie es hieß, und die Kerzen auswechseln … die Woche zweimal, daran kann man sich gewöhnen, Väterchen. Und hat's nicht Erfolg? Das Solo singe ich allemal, meine Stimme lobt jeder, und Sidor Andrejewitsch hat versprochen, daß mir einmal der Himmel offenstehen wird …«
Versprechungen, mein Täubchen, alles nur unverbindliche Versprechungen! Zum Fressen kam er immer zu uns, saß da herum und dröhnte Psalmensprüche, spielte mit seinem heimlichen Kind, der gütige Pope, und betrog uns alle, sobald er zur Tür hereinkam!
Mich wundert's nur, daß er nicht auch Nina, deiner Mutter, das Singen beigebracht hat … Mit Narinskij, dem Metzger, und Blistschenkow, dem Stadtsowjet, hat sie schon fleißig geübt. Was, da staunst du, mein Kindchen? Unser Mütterchen, ein halbes Jahrhundert alt, und treibt's wie eine Häsin … Bin ich nicht ein armer, geschlagener Mann, sag an? Beneidet hat man mich, als ich noch lebte … Davonrennen würd' jeder, wenn er, wie ich jetzt, die grausame Wahrheit kennt.
Geh hin in Frieden, mein zerrupftes Täubchen, mein weißes Schwänchen. Eine Betrogene bist du wie ich. Immer trifft es die Braven …
Auch Walentina versäumt es nicht, das Kreuz zu schlagen und ein stilles Gebet zu sprechen. Zögernd kam sie an die Seite des Bettes, beugte sich über Babkin und küßte ihn auf die eiskalte Stirn. Er wollte sie gerührt umarmen und an sich drücken, aber sein Körper war ja leblos und ihm nicht zu Diensten.
Mit liebendem Blick sah Babkin seiner Tochter nach, als sie das Zimmer wieder verließ. Ist nun Ruhe? dachte er. Wer kann noch kommen? Waren sie nicht alle hier, diese elenden Heuchler? Keinen will ich mehr sehen. Keinen! War ich im Leben vielleicht ein böser Mensch, so hab ich's jetzt genug gebüßt. Mag sein, daß ich das Fegefeuer dadurch gespart habe – oder war es das sogar? Nun laßt mich ruhig in die Ewigkeit ziehen.
Ist es eigentlich Tag oder Nacht, dachte Babkin weiter und gähnte innerlich. Die Fenster haben sie verhängt mit schwarzen Tüchern, die ihnen Mischin, der Sargmacher, geliehen hat. Nur die großen Kerzen brennen still vor sich hin, und an ihrem Niederbrennen kann man erraten, wie die Stunden davongegangen sind. Links neben dem Bett hängt eine Uhr an der Wand, aber ich kann ja den Kopf nicht zu ihr drehen. Eine einfache Uhr ist's …
Babkin hatte zuerst eine Uhr mit einem Gongschlag gehabt, aber Nina Romanowna schrak nachts immer hoch, wenn es, neben ihr an der Wand Bing-bong machte, und wochenlang lag sie Babkin in den Ohren, bis er die Uhr auswechselte gegen eine, die stumm war.
Wäre die Gonguhr noch dagewesen, hätte Babkin jetzt gewußt, wie die Zeit verrann. So aber lag er herum und wußte nicht, ob es Tag oder Nacht war.
Irgendwann schlief er ein, was bedeutete, daß er seiner Umwelt entglitt, für die er sich sowieso nicht veränderte. Ein Toter hat bleich und bewegungslos zu sein, und beide Forderungen erfüllte Babkin.
So hörte er auch nicht, daß nebenan in der guten Stube sein Dahingehen kräftig begossen wurde, wobei Väterchen Pope den Ton angab und mißbilligend bemerkte, daß Blistschenkow, dieser eitle Parteifunktionär, sich bei jeder Gelegenheit an Nina Romanowna drängte und ihr sogar heimlich, wie er dachte, in den prallen Hintern kniff.
Natürlich, wer soviel erbt wie die Babkina, ist ein begehrenswertes Weibchen von der Stunde ihrer Witwenschaft an, auch für einen Stadtsowjet.
Als dann noch Sapanow, der Briefträger, kam und seine Balalaika mitbrachte, stieg die Stimmung, als wäre es ein Volksfest.
Wortkarg und mit umwölkter Miene saß nur Dr. Poscharskij in der Ecke. Er soff still vor sich hin, leerte Glas um Glas und sah trübsinnig zu, wie die anderen zu tanzen begannen.
»Was ist mit dir?« fragte Väterchen Waninow etwas außer Atem und beugte sich zu Dr. Poscharskij hinunter. Er hatte gerade mit Arune Jelisaweta, der Frau des Metzgers Narinskij, getanzt, und der Druck ihres beachtenswerten Busens lag noch auf ihm. »Kommst du nicht darüber hinweg, daß Wadim Igorowitsch nebenan liegt und sein Schimpfen verklungen ist? Gräm dich nicht, Bairam Julianowitsch, dein Totenschein war für uns alle ein Geschenk.«
»Wenn man nur wüßte, woran Babkin gestorben ist!« antwortete Dr. Poscharskij mit trübem Blick. »Woran? Keine Ruhe läßt mir das.«
»Ein Herzschlag, Brüderchen Doktor. Du hast's diagnostiziert.«
»Weil's einfach ist, Sidor Andrejewitsch. Herzstillstand. Jeder Tod ist Herzstillstand! Oder hat man schon einen Toten gesehen ohne ein stillstehendes Herz? Aber jeder Herzstillstand hat eine Ursache. Wo ist sie bei Babkin, frage ich, wo? Er war immer ein gesunder Mensch, der Gute, fast unanständig gesund für den Geschmack eines Arztes. Und da fällt er um und rührt sich nicht mehr. Nachdenklich macht das doch!«
»Mich nicht. Er ist dahin … das ist die Hauptsache.«
Väterchen Pope rülpste, sah hinüber zu Walentina, die mit dem widerlichen Bodenspekulanten Afanasjew tanzte und es duldete, daß er seine widerwärtigen Hände auf ihre Hinterbacken preßte. Ein Anblick, der Waninow den weißen Bart sträubte. Eingreifen mußte man da. Benimmt man sich so unter den Augen der Kirche?
»Was bringt das Denken, Poscharskij?« sagte Waninow philosophisch. »Nur Falten auf der Stirn und Kummer in der Seele. Beides ist Babkin nicht wert.«
»Genau genommen dürfte er gar nicht tot sein!« Dr. Poscharskij ertränkte seinen Kummer in einem neuen Glas Wodka. »Wenn ich Babkin doch bloß sezieren dürfte. Ist er erst mal aufgeschnitten, weiß man mehr …«
Waninow, der Pope, winkte ab und stürzte sich wieder in das Gewühl der Trauernden. Morgen liegt Babkin in der Erde, da ist es gleichgültig, woran er gestorben ist. Ein schönes, feierliches Begräbnis wird's werden. Wir alle werden weinen, wie's sich gehört, und Nina, die arme Witwe, stützen, die herzzerreißend »Wadim! O mein Wadim!« rufen wird.
Die Schalmeienbläser der Parteikapelle werden spielen, Blistschenkow, der himmelschreiende Heuchler, wird eine Rede halten, worauf noch mehr geweint wird, dann wird Mischin den Sarg zuschrauben – und dann hinein mit Babkin in die Grube.
Amen.
Wir alle werden befreit sein. Ein guter Mensch, dieser Babkin, gemessen an uns. Aber wer weiß das schon außer uns selbst!
Alle werden wir glücklich sein, wenn sich erst der Erdhaufen über seinem Sarg wölbt …
Babkin erwachte aus seinem Schlaf, noch immer ohne Zeitgefühl, ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, so weit sein Gesichtsfeld reichte, und ärgerte sich sofort wieder.
Allein war er, keiner hielt Wache an seinem Totenbett, wie's sich gehörte, wenn einer ein ordentliches Leben hinter sich hat und ein so großes Erbe hinterläßt. Das enttäuscht, man muß das zugeben, Genossen, zumal hinzukommt, daß keinerlei Blumen auf Wadim Igorowitschs Bett lagen – bis auf die verwelkten Strünke, die Afanasjew ihm auf den Bauch gelegt hatte.
An dem Zustand dieser Blumen aber erkannte Babkin, daß eine Anzahl Stunden verstrichen sein mußte und daß es vermutlich Morgen geworden war.
So war's auch.
Der Schreiner Igor Grigorjewitsch Mischin erschien, und hinter ihm trugen zwei Gehilfen den Sarg ins Zimmer.
Dreihundert Rubel für diese Kiste, die nur vierzig Rubel wert war! Ein Betrug von zweihundertsechzig Rubeln wurde da neben ihm abgestellt. Babkin wäre grün vor Wut geworden, wenn er das gekonnt hätte.
Mischin betrachtete Babkin mit geübtem Blick, sah dann hin-über zum Sarg und wiegte den Kopf. Nicht nur, daß der Sarg das Billigste war, was überhaupt für einen solchen Zweck lieferbar war, er schien jetzt, bei eingehender Betrachtung des Toten, auch noch etwas eng zu sein.
Obwohl ein Dahingegangener seine unbequeme Lage nicht mehr spürt und auch keine Druckflecken mehr bekommt – Probleme verursacht noch immer das Hineinlegen, wenn der Sarg vorne und hinten und seitlich nicht paßt.
»Na na«, sagte Mischin, deutlich erschrocken. »Bist ja breiter, als ich dachte. Hast schon im Leben immer Schwierigkeiten gemacht, und nun hört's auch im Tode nicht mit dir auf.«
Mischin scheuchte die beiden Gehilfen aus dem Zimmer, wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, holte dann einen Zollstock aus der Tasche und beugte sich über Babkin.
Hinweg! schrie es in Babkin. Igor Grigorjewitsch, ich spucke dich an! Muß ich das selbst als Toter noch ertragen, deinen widerlichen Geruch nach billigem Machorka und saurem Schweiß? Hören die Bestrafungen denn niemals auf? Warum läßt man mich so leiden? Ich bin kein musterhafter Mensch gewesen, bestimmt nicht; das Leben, liebe Genossen, zwingt einen oft dazu, anders zu handeln, als die Bibel es uns vorschreibt, aber zuviel an Strafe ist ungerecht! Seht doch nur, welche Gauner Afanasjew und Sawitzkij sind! Dagegen waren meine kleinen Gaunereien erträglich, gebt das zu!
Mischin maß gewissenhaft Babkins Körperbreite, verglich sie mit seiner Eintragung im Notizbuch und schüttelte wieder den Kopf.
»Möglich ist's, Wadim Igorowitsch«, sagte er darauf. »Ein bißchen quetschen muß man, aber das wird nicht anders sein, als wenn du mit der Eisenbahn von Tobolsk nach Nowo Sapkow fährst, zusammen mit Koffern, Kisten, Kartons und Säcken. Soll ich dir was erzählen, Babkin? Drei Sommer ist es her, da sitz ich noch im Zug, eingepfercht zwischen dicken Bauernweibern, die Zwiebeln und Gurken fressen. Da tropft's plötzlich auf meinen Kopf, erst langsam, dann schneller, immer schneller. ›Na na, Genossinnen‹, sagte ich und blickte aus dem Fenster. ›Was ist denn das? Erklärt mir das!‹ – ›Nun ja – ‹, sagt so eine Fette neben mir – ›kein Wunder ist's.‹ Dabei frißt sie an einer dicken Zwiebel und schmatzt, als quetsche sie Wasser durch einen Leinenbeutel. ›Das ist Warwa … ‹ – ›Wer, bitte, Genossin, ist Warwa?‹, frage ich zurück. Und was sagt sie? ›Warwa ist mein Ferkelchen. Oben, über dir, Genosse, im Karton ist es. Eine kleine Blase hat es. So lang ist die Fahrt. Kümmern Sie sich nicht weiter darum, Genosse … ein paar Tröpfchen sind's ja nur … ‹ Was sagst du dazu, Babkin: In einem staatlichen Eisenbahnwagen wirst du von Schweinchen vollgepinkelt! Ein Skandal ist das doch! Sieh, so etwas geschieht dir nicht. Nur ein wenig eng wirst du liegen … das wollte ich dir damit klarmachen.«
Mischin maß auch noch einmal die Länge von Babkin und war erfreut, daß der Sarg, diese elende Kiste, wenigstens hier paßte. Er klopfte noch einmal das Kopfkissen zurecht, sehr dumpfe Laute waren es, die Babkin verrieten, daß keine Federn im Bezug steckten, nicht einmal Kapok oder Wollflocken, sondern einfache Hobelspäne, Abfall, die Mischin sonst in seinem gemauerten Ofen verbrannte. Auch als er die wie wertvolles Moiré aussehenden Laken und Überdecken zurückschlug, raschelte es verdächtig.
So klingt kein Stoff, durchzuckte es Babkin. Keine Seide knistert so laut. O nein, so hohl kann überhaupt kein Stoff klingen. Und plötzlich wußte er's: Papier ist es … zu glänzender Seide gepreßtes Papier, weiter nichts! Wer es nicht anfaßt, wer's nur sieht, glaubt, der liebe Verblichene gehe, in wertvollen Stoff eingehüllt, in die Ewigkeit.
Man wagt es, Babkin, den reichen Babkin, in Papier zu begraben!
Aber Seide wird man berechnen! Ist erst der Deckel zu, wer will da noch kontrollieren?
Igor Grigorjewitsch Mischin, kein Höllenkessel ist groß genug für dich! Im Pech sollst du braten!
»Warte noch ein Weilchen, Babkin«, sagte Mischin und klappte den Zollstock zusammen. »Mit der Witwe ist noch ein Wörtchen zu reden. Wie sollst du losmarschieren? In einem Hemd oder in einem schwarzen Anzug oder so, wie du da liegst? Nina Romanowna wird es entscheiden. Ein schönes Hemdchen habe ich bei mir, gebleichter und bedruckter Nessel, billig wie ein Hühnchenschenkel, aber für dich, Babkin, soll's dreißig Rubel kosten! Betrug, wem Betrug gebührt, mein Guter. In deinem Leben hast du genügend andere übers Ohr gehauen …«
Er ging hinaus und hinterließ einen Babkin, dem schwindlig wurde vor Zorn. Was tun, dachte er, wenn er mir dieses Hemd überzieht? Nichts kann ich tun – welcher Tote hätte sich jemals wehren können! Nina, mein Weibchen, mein verfluchtes, lehne das Hemd ab. Höre meinen Ruf aus der Unendlichkeit … In meinem schwarzen Festtagsanzug laß mich begraben werden.
War es, daß Nina Romanowna tatsächlich so etwas wie eine innere Stimme hörte – wir werden's nie ergründen. Jedenfalls sagte sie zu Mischin, der sein Hemd anbot, mit strenger Stimme: »Nichts da, Igor, Grigorjewitsch! So, wie er daliegt, wird er begraben!«
»In seinem Arbeitsanzug?« rief Mischin entsetzt. »Nina Romanowna, die Würde des Todes sollte man anständig bekleiden! Ein glänzendes Seidenhemd …«
»Sein Liebstes war sein Arbeitsanzug, wer weiß das besser als ich! Er behält ihn an! Was soll Wadim Igorowitsch mit einem Seidenhemd? Nie hat er eins getragen …«
»Er war ja auch noch nie tot!« gab Mischin zu bedenken. »Ein Arbeitsanzug! Soll etwa ein Kanalarbeiter mit seinen langen Gummistiefeln begraben werden?«
»Wenn er's will!«
»Wer kann ihn dann noch fragen? Aber seine Witwe, die muß es wissen.«
»Und ich weiß es!« schrie Nina Romanowna erbost. »Babkin, unser Väterchen, war das Herz des Basars. Jeder kannte ihn in seiner Kluft! Also trägt er sie auch im Tod!«
»Schlimm ist es«, stöhnte Mischin, als er an Waninow, dem Popen, vorbeiging, der sich wieder eingefunden hatte, zusammen mit Dr. Poscharskij und der trauernden Familie, »wenn Witwen im Geiz baden. Wann hat unsereiner schon Gelegenheit, einen so wohlhabenden Mann wie Babkin unter die Erde zu bringen? Für immer in Erinnerung wird er bleiben: Ein gutes Geschäft war das. Aber hier? Ein paar Kopeken kleben daran, mehr nicht. Ich werde Babkins gedenken müssen als Opfer seiner Witwe. Hat er das verdient? Immer mehr verroht die Menschheit …«
Mischin kehrte zurück ins Sterbezimmer und setzte sich mißmutig auf die Kante des Sarges. Mit umflortem Blick sah er Babkin an, der unter seinen Lidern böse Blicke gegen ihn schoß.
»Dein Weib«, sagte der Schreiner, »deine Witwe Nina Romanowna, ein wahres Aas ist sie! Wie konntest du sie nur heiraten? Wo hast du deine Augen gehabt, mein armer Wadim Igorowitsch? Die Galle selbst ist sie! Will dich begraben, so wie du bist, in diesem alten zerknitterten Anzug, mit dem Ölfleck auf dem Hemdkragen, mit den krumm gelaufenen Absätzen deiner Schuhe. Was für ein schreckliches Weib ist das! Dabei ließ sich alles so gut an: der Sarg, die Papierdecke, auf dem Deckel das Kruzifix aus bemaltem Blech – und plötzlich macht Nina Romanowna den Rubelsack zu! Babkin, in mir kommt echte Trauer auf, mein Herz beginnt zu zucken. Solch einen Heimgang hast du nicht verdient.«
Er erhob sich, deckte Babkin auf und bewegte dessen rechten Arm. Die Leichenstarre hat nachgelassen, stellte Mischin fest, erstaunlich früh. Keine Schwierigkeiten gab es, Wadim Igorowitsch in den zu engen Sarg zu quetschen. Um Nina zu ärgern, nur darum, steckte Mischin zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus.
Aus dem Nebenraum stürzten die beiden Gehilfen herein, während der Lehrer Pyljow einen entsetzten Blick ins Zimmer warf. Mischin hörte noch, wie Walentina schluchzte, dann fiel die Tür wieder zu.
»Bringen wir's hinter uns!« sagte Mischin. »Hinein in die Kiste mit ihm. Oben und unten packt ihr an, ich stütze ihn in der Mitte. Genau über den Sarg, Genossen, halten wir ihn, und wenn ich sage ›los‹, öffnen wir unsere Finger. Dann fällt er rein, und wir brauchen nicht zu drücken. Glotzt nicht wie zwei Schafe. So, wie er ist, kommt er rein. Seine Witwe verschmäht das schöne Hemd! Bei Babkin kann man wahrlich sagen: Er ist erlöst!«
Sie packten ihn, wie Mischin angeordnet hatte, trugen ihn aus dem Bett zum Sarg und peilten die richtige Lage an. Mischin kommandierte »Los!« – und dann plumpste Babkin auf Holzwolle und Papierbettuch, schlug mit dem Kopf am Sargrand auf, aber er lag nach Mischins Meinung gut zwischen den Brettern, ein wenig zusammengestaucht zwar, aber dennoch vorteilhaft anzuschauen.
Mischin war zufrieden, rieb sich die Hände und schickte seine Gehilfen wieder hinaus.
»Warst nie ein schöner Mensch, Babkin«, sagte er und breitete die fürchterliche Papierdecke mit dem Moiremuster über Wadim Igorowitschs Körper. »Aber jetzt – vielleicht noch ein kleines Holzkreuz zwischen den Fingern – kann man dich fast eine Schönheit nennen. Kein verzerrtes Gesicht mehr, keine wutfunkelnden Augen, keine nach vorn gewölbten Lippen wie ein spuckendes Lama, keine zorngeschwellten Stirnadern … Frieden ist überall, seitdem du uns den Gefallen getan hast, umzufallen.«
Er stopfte die Papierdecke an Babkins Seite in den Sarg, zupfte sie gerade, schob das mit Holzspänen gefüllte Kissen unter seinen Kopf – welch eine Schande, jammerte Babkin innerlich, so behandelt und so schändlich begraben zu werden – und faltete ihm die Hände über der Brust.
Mag es nun Mischins lässige Arbeitsweise gewesen sein, oder kam es vom Hineinplumpsen des Körpers in den Sarg – das linke obere Seitenbrett hatte sich gelockert und stand etwas heraus. Mischin betrachtete es mit gerunzelter Stirn, klopfte mit der Faust dagegen, hieb dann mit drei gewaltigen Schlägen gegen das Brett, aber es ging keinen Millimeter zurück und sah äußerst häßlich aus.
»Zu fett bist du!« schimpfte Mischin und starrte Babkin böse an. »Vollgefressen wie eine Mastsau! Drückt sogar den Sarg auseinander, na so was! Noch nie ist mir das passiert. Die meisten Menschen werden dünner, bevor sie sterben – aber du brätst dir natürlich deine eigenen Kartoffeln! Bleibt so fett wie zuvor, der Hamster.«
Mischin kniete neben dem Sarg nieder, begutachtete die Wölbung und entschloß sich, mit Hammer und ein paar Nägeln das Brett wieder in Form zu bringen. Eigentlich hätte er Babkin dazu wieder herausnehmen müssen, aber Mischin tätschelte Wadim Igorowitsch nur die Wange und sagte: »Mein Alterchen, ein bißchen Hämmern regt dich jetzt nicht mehr auf.« Dann wühlte er in seinem mitgebrachten Werkzeugkasten.
Durch Babkin zog ein ihm unbekannter warmer Strom. Schon als er in den Sarg geplumpst war, hatte es ihn durchzuckt. Ein völlig fremdes Gefühl war's, ein Kribbeln von den Fußspitzen bis zu den Haarwurzeln, ein Jucken, das man nicht wegkratzen konnte, weil man ja tot war.
Jetzt fahre ich aus meiner Haut, dachte Babkin zufrieden. Endlich! Bisher war meine Seele noch im Körper eingeschlossen … Jetzt aber werde ich emporschweben ins Paradies. Auf Nimmerwiedersehen, schnöde, verlogene Welt. Jetzt werde ich frei und glücklich sein …
Mischin kam zurück, einen Hammer und ein paar lange Nägel in der Hand. Schnell muß es gehen, dachte er. Wie das aus der Küche duftet! Nina Romanownas Künste am Herd sind bekannt. Nach gebratenen Hühnchen riecht es, mit einem Hauch Thymian und Salbei, und Zwiebelgemüse wird es auch geben und hinterher einen Früchtepudding … Genossen, das Wasser läuft einem im Mund zusammen.
Sicherlich wird man mich einladen zum knusprigen Hühnchen, der Sargmacher ist schließlich im Augenblick der wichtigste Mann, noch mehr als der Pope. Der Pope kann nur wortgewaltig reden, singen und segnen – am offenen Sarg! Was könnte er machen ohne Sarg? Nichts, sag' ich, gar nichts. Vorbei sind die Zeiten des Großen Vaterländischen Krieges, wo man die Toten in Säcken begraben mußte, weil jedes Holzbrett wichtig war für den Sieg.
Laß mir also ein Hühnerschenkelchen übrig, Nina Romanowna, auch ein Stückchen Brust kann es sein … Wenn der Sarg zugeschraubt ist, werdet ihr zufrieden sein. Auf dunkle Eiche hab' ich ihn gebeizt, nichts mehr zu sehen ist vom einfachen Fichtenholz. Erst wollte ich sogar Mahagonibeize nehmen, aber zu protzig ist das. Das traut den Babkins keiner zu, daß sie den Alten in Mahagoni begraben. Aber Eiche, hier in Sibirien, das ist auch schon ein Luxus, den man bestaunen wird.
Was ein geschickter Schreiner so alles mit Beize zaubern kann! Da müßte schon ein Holzfachmann kommen, um den kleinen Schwindel zu entdecken. Wer, Genossen, seid ehrlich, hat denn Ahnung von den verschiedenen Holzmaserungen? Nina Romanowna hat sie nicht … Vielleicht der Lehrer Pyljow, aber dem ist das alles egal. Ihm glaubt außerdem sowieso keiner, auch wenn ihm alle mit andächtigem Blick zuhören und so tun, als stünden sie auf der Treppe der Weisheit.
»Achtung, Babkin, es geht los!« sagte Mischin fröhlich ob des durch die Türritze duftenden Brathühnchens. »Ein paar Nägelchen, und deine Kiste ist wieder in Ordnung.«
Er kniete sich wieder neben den Sarg, direkt neben den Kopf Wadim Igorowitschs, setzte einen Nagel an das herausgebogene Brett und schlug zu.
Durch Babkins Körper zog wieder dieses warme Gefühl, verbunden mit dem Drang, die Arme auszubreiten und wegzufliegen wie ein Vogel.
Alles schön und gut, dachte er etwas verbittert, ich entschwebe, aber das Hämmern Mischins ist keine sphärische Begleitmusik. Wie erzählte uns doch Waninow, der heuchlerische Pope, immer: Ihr werdet hören Harfenklänge und Engelsstimmen … Nichts da: Mischin hämmert und treibt Nägel in den Sarg!
Ein richtiger Handwerker zeichnet sich dadurch aus, daß er es sich bequem macht und immer die kürzesten Wege einschlägt. So zog auch Mischin den Sargdeckel mit dem scheußlichen Blechkreuz zu sich heran, hämmerte weiter und hoffte, daß durch Babkins Körper der Sarg nicht so ausgebeult war, daß am Ende der Deckel nicht mehr paßte.
Eine Blamage wäre das! Man steht am Grab, Waninow hat den Segen gesprochen, man legt den Deckel auf, will ihn verschrauben, aber siehe da – er ist zu klein! Vieles kann man erklären, aber nicht, daß der Deckel über Nacht geschrumpft ist. Die Beteuerungen und Entschuldigungen von Handwerkern sind sonst wahre Kunstwerke an Beredsamkeit, aber hier würden sie nicht helfen.
Mischin stieg Hitze ins Gesicht. Den Sargdeckel ergriff er – was bewies, aus welch leichtem, minderwertigem Holz er bestand – stülpte ihn über Babkin und sah mit Entsetzen, daß seine ärgsten Befürchtungen zutrafen: Nichts paßte mehr.
»Völlig ausgebeult hast du den Sarg!« schrie Mischin auf Babkin hinunter und schwang wütend den Hammer. »Nichts als Ärger hat man mit dir – im Leben und sogar im Tod! Willst du mich blamieren? Bloßstellen, du Halunke? Aber ich, Igor Grigorjewitsch, werd's dir zeigen!«
Er warf den Deckel weg, beugte sich haßerfüllt über den armen Babkin, starrte ihn mit giftigen Blicken an, und die Erregung schüttelte Mischin so arg, daß seine Finger sich öffneten und ihm der Hammer entglitt.
Er fiel, aus nicht großer Höhe zwar, aber trotzdem unangenehm schwer wegen seines Eigengewichts, auf Babkins Kopf, dort, wo seine Haare begannen, schrammte dann über die Stirn, die Schläfe hinunter und auf das schreckliche Sägespänekissen.
In Babkins Körper gab es eine Art elektrischen Schlag. Er krümmte sich, streckte sich – und mit einem Ruck richtete er sich auf.
Tatsächlich, wirklich, unbegreiflich: Babkin saß im Sarg, hatte die Augen geöffnet, starrte Mischin wutentbrannt an und sagte ganz deutlich:
»Du willst mich erschlagen, du Hund?«
Könnt ihr ahnen, Genossen, wie's ist, wenn der Himmel einfällt, die Sonne sich verdunkelt, die Meere über die Ufer treten und der Boden unter einem aufreißt? Ihr könnt es nicht? Dann fragt einmal Igor Grigorjewitsch Mischin aus Ulorjansk.
Mischin erstarrte zunächst, wie es in der Bibel heißt, zu einer Salzsäule, hörte Babkins Worte, sah die Welt um sich schwarz werden und fiel in kerzengerader Haltung nach vorne um, mit dem Gesicht auf die Dielen. Das unfaßbare Entsetzen drehte in seinem Hirn alle Schalter ab.
Auch Babkin brauchte eine lange Minute, ehe er begriff, daß er wieder lebte und als Lebender in einem Sarg nichts zu suchen hatte. Vorsichtig stieg er von der Holzspanmatratze, zerriß dabei die scheußliche Papierdecke, machte auf den Dielen einige Kniebeugen, um sich zu vergewissern, daß er keiner Täuschung erlag, kniff sich darauf in Arm und Bauch und spürte zufrieden den Schmerz.
Er hob den Fuß gegen Mischin und trat vorsichtig nach ihm, was er ebenfalls in seinen Zehen spürte, tappte auf seinen derben Sohlen zum Fenster, zog die Vorhänge auf, riß die schwarzen Tücher weg und stieß die Fensterflügel auf. Frische, aber sehr warme Luft kam in das Zimmer, es war heller Tag.
Mittag muß es sein, aha. Es riecht nach gebratenem Fleisch, sie schlemmen also. Während ich Armer noch nicht mal unter der Erde bin, fressen sie sich rund und loben die Stunde, in der ich tot umfiel! Aber da kennt ihr Wadim Igorowitsch Babkin schlecht. Er kommt wieder! Wieso das möglich ist? Fragt nicht mich! Mischin hat mir den Hammer auf den Kopf geworfen, und meine Seele kehrte in den Körper zurück! Es gibt noch Wunder, Genossen! Lenin hat uns den Sowjetstaat gebracht, aber was ist das gegen die Wiedererweckung durch einen Hammer!
Liebe Freunde, ich lebe!
So völlig sicher allerdings war sich Babkin dessen doch noch nicht. Wer so plötzlich aus der Ewigkeit in die Gegenwart zurückspringt, darf mißtrauisch sein.
Kein Zweifel, alles um ihn herum war normal: Er roch den Hühnerbraten, durch das Fenster flutete das warme Tageslicht, vor ihm lag wie eine umgestürzte Säule der arme Mischin. Vogelgezwitscher hörte Babkin, ein Auto fuhr klappernd vorbei, und wenn er gegen das Fußende des Bettes klopfte, spürte er es an seinen Fingerknöcheln.
Seine Rippen schmerzten ihn jetzt, weil er in dem zu engen Sarg eingequetscht worden war, vor allem aber erinnerte er sich genau an alles, was seine Familie und seine Nachbarn ihm gebeichtet hatten im guten Glauben, er nehme die ungeheuerlichen Geständnisse still mit in die Unendlichkeit.
Was jetzt, fragte sich Babkin.
Da steht man nun und blickt seinen Sarg an, aus dem man hinausgehüpft ist. Hinter dieser Tür dort wird die Familie sitzen und mit gutem Appetit gebratene Hühnchen essen, ein wenig ungeduldig schon, daß der alte Babkin noch immer nebenan liegt und nicht schon längst in der Erde. Der Pope wird wieder für drei fressen und Walentina, mein schönes Töchterchen, mit Blicken beleidigen, frei von allem Schuldgefühl, daß er einen Bastard gezeugt hat …
O je, o je, was für ein Leben ist das! Nun muß man einen ganzen Berg aus Lug und Trug abtragen, muß Rache nehmen für die bisher unbekannte Schmach. Ein großes Aufräumen wird's geben, Heulen und Zähneklappern werden durch die Zimmer schallen, Fäuste werden fliegen, Augen zuschwellen, Beulen sich wölben … Das bist du dir schuldig, Babkin, wo man dich so betrogen hat!
An der Tür klopfte es. Babkin zuckte zusammen, hatte einen Augenblick den Gedanken, zurück in den Sarg zu flüchten, blieb dann aber doch stehen und wartete ab.
»Kommst du?« rief es durch die Tür. Nina Romanownas Stimme war's. Sein Weib, das mit dem Nachbarn Narinski, dem Parteisekretär Blistschenkow, dem Briefträger und wer weiß wem noch … Es begann in Babkins Ohren zu rauschen. »Hühnchen gibt's, Igor Grigorjewitsch. Bist du fertig?«
»Gleich …«, antwortete Babkin und ahmte Mischins Stimme nach, so gut er konnte.
»Beeil dich … Laß das Brüstchen nicht kalt werden …«
Welch fröhliches Miststück, dachte Babkin erschüttert. Wie lustig Nina plötzlich reden kann. »Äham« und »Mmm« hat sie in den letzten Jahren nur gesagt. Das Allernötigste. Aber jetzt! Trällert wie eine Lerche und hüpft herum wie ein Zicklein! Welch eine Freude – und bloß, weil ich tot bin. Babkin, der große Esel!
Er reckte sich ein wenig, legte den Deckel über den Sarg, betastete das billige Kreuz aus Blech und empfand große Lust, Mischin so lange zu treten, bis der aus seiner Ohnmacht erwachte.
»Später, mein Lieber«, sagte Babkin leise und rieb sich die Hände. Er lauschte dem Klang seiner Stimme nach und erklärte sich selbst zum wiederholten Male: Du lebst, Wadim Igorowitsch. Mach dir nichts vor. Du lebst! Nicht mehr davonlaufen kannst du … Du bist wieder mitten unter ihnen, unter diesen Hyänen, die deine Seele zerrissen haben. Babkin, du lebst!
Er stieg über den noch immer reglosen Mischin hinweg, machte vor der Tür noch einmal drei Kniebeugen, ballte abwechselnd die Faust und spreizte die Finger, auch dreimal hintereinander, atmete tief durch, straffte sich, zog seine Hose hoch über die Hüften und drückte das Kinn an den Hals.
Ihr lieben Babkins, ich komme zurück!
Dann drückte er die Klinke herunter, stieß die Tür auf und überblickte den Tisch mit den dampfenden Hühnchen und dem Zwiebelgemüse.
»Guten Appetit, ihr Wölfe!« sagte Babkin in die plötzliche Stille hinein.