Farber brauchte noch ein paar Tage, um Lirauns Schweigsamkeit auf den Grund zu kommen, wozu es viel Hartnäckigkeit und Überredungskunst bedurfte. Die Geschichte kam in Bruchstücken zutage. Zusammengestückelt ergab sie etwa folgendes: Die cianische Moral fand nichts dabei, wenn ein unverheiratetes Mädchen einen Liebhaber hatte, auch nicht, wenn es ein fremder Liebhaber war; Jungfräulichkeit war nichts Besonderes – eigentlich eher im Gegenteil. Bis man verheiratet war, wurde erwartet, daß man sein Leben lebte oder im Vaterhaus blieb. Darin lag eine besondere Symbolik – man sagte von einem Mädchen, es gehe »vom Dach ihres Vaters zu dem des Ehemannes«. Es war eine Sache des Besitzes, ganz einfach die Übertragung eines Anspruches, und im cianischen Lebensweg gab es keine Möglichkeit, zwischenzeitlich den Schutz eines anderen Mannes zu akzeptieren. Lirauns Sünde war es also nicht, mit Farber geschlafen zu haben – für die anderen Cian eine Angelegenheit äußerster Gleichgültigkeit –, sondern daß sie mit ihm lebte, »unter dem Dach« eines Mannes lebte, der nicht ihr Ehemann war.
All dies schenkte Farber eine weitere schlaflose Nacht. Wenn er dreißig Jahre früher geboren worden wäre, hätte er sich möglicherweise keinen Deut um Lirauns Wohlergehen geschert, doch Amoralität war nicht mehr in Mode, und zusammen mit ihrem Horatio-Alger-Optimismus und dem Trieb, Erfolg zu haben, hatte seine Generation den klassischen Humanismus wiederentdeckt – begrenzt auf ihre eigene Klasse, also die »Humanoiden« – gepaart mit einer Art einstudierter »Naivität«. Er blieb also wach und überlegte, was man am besten tun könne. Auf der einen Seite liebte er Liraun aufrichtig und wollte sie nicht verletzen – aber er wollte sie auch nicht verlieren. Auf der anderen Seite hatte er wie die meisten jungen Männer seiner Tage, besonders die Künstler und die Intelligenz, Angst zu heiraten. Doch wie auch immer er die Sache anging, es kam immer zum gleichen Punkt: Entweder mußte er sie heiraten oder sie verlassen.
Gegen Morgen beschloß er – reichlich kaltblütig, aber ein Mann kann oft Kaltblütigkeit als »Sinn für das Praktische« sehen, wenn er nur die Augen genügend zusammenkneift – daß es das beste sein würde, Liraun zu heiraten, aber nur nach cianischem Ritus. Das würde sie in den Augen der Cian wieder zu einer respektierten Frau machen, während es für seine terranischen Kollegen lediglich eine Eingeborenenhochzeit sein würde. Auf der Erde hätte sie keine rechtliche Gültigkeit, und wenn seine Beziehung zu Liraun schlecht verlief, könnte er am Ende seines Trips verschwinden und brauchte sich keine Gedanken über Ehe zu machen. Am Morgen würde er sein Anliegen an den cianischen Verbindungsmann schicken (aber dieser kleine, kalte Mann würde es wahrscheinlich, nach seinem Verhalten gegenüber Liraun auf der Party zu urteilen, sowieso nicht befürworten) und außerdem eine Notiz an die Co-Op senden, mit einer Erklärung dessen, was er vorhatte.
Dann legte er sich schlafen.
Er hatte noch nicht einmal daran gedacht, es Liraun mitzuteilen.
Lirauns Augen, als er es ihr sagte. Der zweite Schritt.
Am nächsten Nachmittag hatte Farber ein Gespräch mit dem Direktor der Co-Op.
Die meisten Erdenmenschen spielten den Verbitterten, weil es zum Lebensstil ihrer Zeit gehörte, aber bei Raymond Keane, dem Direktor, war dies keine angenommene Rolle. Er war verbittert. Er war ein verbitterter, sorgenvoller, zynischer, ausgebrannter Mann mit gerade noch genügend Energie für ein Reservoir erschöpfter Boshaftigkeit. Er war seit dem Beginn der terranischen Beziehungen mit »Lisle« hier, in der einen oder anderen Funktion. In der ganzen Zeit war es ihm nicht gelungen, wirklich vernünftige Handelsbeziehungen aufzubauen. Die letzte große Hoffnung war eine der Eingeborenen-Drogen gewesen – auf Weinunnach für einen völlig anderen Zweck benutzt, die die Co-Op auf die Erde importiert hatte als ein Serum, um bei Transplantationen die Organabstoßung zu verhindern. Es stellte sich heraus, daß sie den unangenehmen Nebeneffekt hatte, zwei Jahre nach der ersten Dosis sämtliche Choline im Körper des Patienten aufzulösen, etwas, was in den Jahren der Erprobung in der Enklave niemals passiert war. Offensichtlich wurde diese Reaktion durch irgendeine Umweltbedingung auf der Erde ausgelöst; irgend etwas hatte ein Episom ausgelöst, das auf »Lisle« latent geblieben war. Das war immer das Problem im interstellaren Handel: zu viele unberechenbare Faktoren, und die Spielregeln änderten sich ständig und unvorhersehbar. Keane, zu jener Zeit ein kleinerer Angestellter, wurde durch den Cholin-Skandal in das Amt des Direktors geputscht, war jedoch nicht fähig gewesen, diesen Schatten abzuschütteln. Immer wieder liefen die Exporte nach Terra falsch, versauerten, erfüllten nicht die Erwartungen – nie wieder so spektakulär wie bei dem ersten Fiasko, niemals schlimm genug, um ihn aus dem Amt zu werfen, aber es ging ständig so weiter. Das lief nun schon seit fünf Jahren so. Es hatte ihn aufgefressen. Er wirkte wie ein Mann, der eigentlich nicht weiterkann, es aber muß, und der deshalb ohne Kraft weitermacht, nur auf dem Posten gehalten durch eine Reihe komplexer, aber starr miteinander verbundener Schwächen.
Er ließ Farber länger als eine Stunde draußen warten, ohne ihm einen Platz anzubieten.
Farber stand nicht leidenschaftlich entschlossen hinter seinen Heiratsplänen, als er an jenem Morgen ins Büro kam – es war der Morgen danach, und er begann, einige der mit seinem Vorhaben verbundenen Schwierigkeiten zu erkennen. Halb hatte er erwartet, man würde es ihm ausreden; und halb wünschte er sich das auch. Doch anstatt ihn zu überreden, hatte Keane ihn getadelt, hatte gedroht, getobt, gebrüllt und sich schließlich in eine so rotgesichtige Rage hineinmanövriert, daß er fast zu kreischen begann. Zuerst war Farber erstaunt gewesen. Er arbeitete mit dem denkbar lockersten Vertrag für die Co-Op, praktisch ohne jegliche Aufsicht, und an diese Art gemeinen Herunterputzens war er nicht gewöhnt. Dann begann er durchzudrehen. Keane tobte weiter – die Heirat würde unter den Cian böse Gefühle wecken, es sei ein Schritt in Richtung Auflösung der kulturellen Identität der terranischen Enklave, es könne andere Männer von der Erde ermuntern – oder schlimmer: Frauen –, das gleiche zu tun, es würde Farbers Loyalität aufteilen, ihn zuviel Zeit kosten … eine Fülle von Gründen, einige vernünftig, andere nicht und alle nur vorgeschoben. Farber beobachtete Keanes Miene beim Reden. Das Gesicht des Direktors war unausgeprägt und langweilig; die Haut schien aus Horn zu sein, übersät mit glänzenden toten Flecken, wie Schuppen aus ranzigem Fett, wo ein Traum gestorben und zu Chitin geronnen war. Was immer er auch sagte, sein wahrer Grund gegen die Heirat war, daß er die Cian haßte. Da war etwas, das über Logik, Pflichterfüllung oder gar Eigeninteresse hinausging. Er haßte die Cian. Er haßte die Co-Op, »Lisle«, seinen Job, Farber. Am meisten haßte er sich selbst. Es war ein erschöpfter, hilfloser Haß, um so schlimmer, weil er so ohnmächtig war. Er konnte nicht einmal zerstören. Alles, was er konnte, war negieren.
Farber konnte ein sehr hartnäckiger Mensch sein, wenn man ihn herausforderte, und nun wurde dieser maultierhafte Zug in ihm dominant. Er begann zu erröten. Unbewußt wappnete er sich, setzte sich entschlossener auf seinen Stuhl und stellte die Füße gerade auf den Boden.
Keane hatte sich schließlich verausgabt, und der Raum füllte sich mit einem Schweigen, das dauerte und dauerte. Farber saß absolut still. Er hatte noch kein Wort gesagt, seit Keane seine Tirade begonnen hatte. Er saß einfach reglos mitten im Büro – ein schimmernder, antiseptischer Käfig, Stahl, Plastik, Chrom, glänzende Kacheln, Glas, angefüllt mit Kleinigkeiten, Plaketten, gerahmten Zertifikaten, Karten, gestapelten Aktenordnern, ein riesiger Computerterminal, ein Hologrammbehälter, der eine halbe Wand einnahm. In diesem Stillleben saß Farber und starrte gleichgültig Keane an.
Keane fummelte in der Unordnung auf seinem Schreibtisch herum.
»Der cianische Verbindungsmann hat Ihnen für morgen ein Gespräch gewährt«, sagte Keane nach einer unangenehmen Pause, »um diesen Antrag von Ihnen zu diskutieren. Mein Rat lautet, nicht hinzugehen. Wenn Sie doch hingehen, dann müssen Sie dem Verbindungsmann versichern, alles sei nur ein Fehler oder eine falsche Vorstellung Ihrerseits gewesen. Verstehen Sie?«
»Mein Privatleben geht Sie nichts an!« sagte Farber gleichmütig.
»Unter keinen Umständen werden Sie diese Sache weiterverfolgen, Farber.«
»Ihre Autorität erstreckt sich nicht auf mein Privatleben«, wiederholte Farber mit einem Anflug von Wut. »Ich werde tun, was ich will.«
»Farber …«, sagte Keane, und Farber sagte gleichzeitig: »Es geht Sie nichts an.«
Pause.
»Ich kann Ihnen gehörigen Ärger bereiten!« drohte Keane.
Das war der dritte Schritt.
Hartnäckig nahm sich Farber den nächsten Nachmittag frei und ging zum cianischen Verbindungsmann bei der terranischen Mission, Jacawen sur Abut. Jacawen hatte sein Büro in der Altstadt.
Farber war schon früher in der Altstadt gewesen, aber niemals lange, weil er sich dort nicht wohlfühlte. Es war ein Ort mit steilen Kopfsteinpflasterstraßen, Türmen und Spitzen und Kuppeln, steilen Treppen, Terrassen und Baikonen und Plazas, langen, schmalen Gäßchen, die sich erdrückend zwischen hohen Mauern aus schwarzem Felsen hindurchschlängelten, in denen sich plötzlich Lücken mit erstaunlichen Ausblicken ins weite Land oder auf die unruhige See tief unten öffneten. Es war ein Ort mit verschiedenen Ebenen, mit Schächten, die tief in den Felsen hineinführten, tief hinab mit Lichtern und Fenstern, die silbern und orange wie Phosphoreszenz in den Tiefen am Grunde eines alten trockenen Brunnens glitzerten; wabenförmige Klippen eines diamantartigen Gesteins, die sich wie Klippen auf einer Klippe von einer Terrasse oder einem Platz erhoben, wie der Bug eines großen dunklen Schiffes hochragten und eine blinkende Kaskade von Fenstern hoch über den Dächern der darunterliegenden Ebene bildeten; mit weiteren Gebäuden, die darüber errichtet waren, und noch wieder andere oben drauf; verhangene Dächer stiegen hoch und höher in den blauschwarzen Himmel. Es war ein Ort, der durch kleine, vertikale Dschungel gebändigt war, die steil über die Stadt hinweg aufwuchsen wie rankender Wein. Ganz Aei war von Streifen Brachland durchzogen, um den Bürgern in der Stadt Erleichterung zu verschaffen, doch die wilden Streifen in der Altstadt verliefen fast senkrecht hinauf und hinunter: Unkraut und verknotete Büsche und kleine gestutzte Bäume, die in Spalten und Vorsprüngen der Außenmauern wurzelten, voll von struppigen, flinken Wesen – einige wie Ziegen, andere wie Eichhörnchen –, die da in würdiger Stille von Hügel zu Hügel sprangen, verfolgt von kleinen, wimmernden Raubtieren mit nadelspitzen Zähnen und permanentem entschuldigendem Grinsen. Es war ein Ort mit wenigen Geschäften oder offener Aktivität. In der Altstadt gab es keine Läden oder Lager, wohl aber viele Verwaltungsbüros und Wohnhäuser. Es gab tagsüber zwei Straßenmärkte und entlang der Esplanade Stände, in denen Essen verkauft wurde, doch nur wenige Restaurants, die nach Einbruch der Dunkelheit noch geöffnet hatten, und keine Wirtshäuser oder Vergnügungsstätten wie in der Neustadt. Irgendwie war es in mancher Hinsicht ein Sperrgebiet. Jeder Cian konnte die Altstadt besuchen, aber nur den Mitgliedern einer der Tausend Familien war gestattet, dort zu wohnen. In der Neustadt sah man häufig Nulls, Klone oder genetisch veränderte Wesen auf den Straßen – die Cian verfügten über eine unendlich verfeinerte biologische Technologie, und ihre genetischen Chirurgen, die »Schneider«, produzierten sonderbare Wesen je nach Auftrag als eines der Hauptexportgüter Weinunnachs – aber sie durften nicht den Fuß in die Altstadt setzen. Außenweltler wie die Terraner durften als Besucher hinein, wurden aber nicht gern gesehen. Es war ein Ort, der vornehmlich aus Felsen und behauenem Obsidian bestand, verwebt mit Holz, Eisen, Glas und Schiefer. Die vorherrschenden Farben waren Schwarz und Silber, mit ein paar Schiefergrau- und Rottönen dazwischen und zuweilen einem auffallenden Fleck Orange oder Erdbraun. Es roch nach sauberem, kahlen Felsen, Ozon und Meerluft, mit einem Unterton von Moschus. Es gab nur wenige laute Geräusche, doch die Stille vibrierte – als ob Millionen von Stimmen ein wenig zu leise summten, um noch vernommen zu werden. Die Atmosphäre in der Altstadt schwankte auf dem Grat zwischen »düster« und »ehrwürdig«.
Heute erschien sie Farber düster. Er nahm die Zahnradbahn hinauf, ging am Rand der Klippe über die Esplanade, stieg eine Treppe hinauf, durch ein Gäßchen, durch einen Tunnel, eine weitere Treppe, durch noch ein Gäßchen, drang immer tiefer und höher in die Altstadt vor. Schließlich war er so tief drinnen, daß er nur noch gelegentlich Feuerfrau sah, entfernt blickte sie über das Gewühl hoher Dächer in die schmalen Wohnbezirke und Durchgänge. Alles lag nun in ein schwebendes Halblicht getaucht, und er ging weiter, durch abwechselnde Streifen hellen, verhangenen Lichtscheins und Schatten, die so tief waren, daß sie wie eine schwarzglänzende feste Masse wirkten. Er fühlte sich wie ein Wurm, der sich durch schwarzen Felsen und nasse Erde windet, bis er an eine Treppe gelangte, die hinaufführte über das Kuppeldach eines Gebäudes auf der unteren Ebene, schwindelerregend und sonnengeblendet, mit einem steilen, ungesicherten Abfall auf der einen Seite. Dort fühlte er sich wie ein Insekt, das über einen nackten Bergrücken krabbelt. Jacawens Büro lag in der Nähe in einem Gebäude, das wie ein Giebel aus der Masse der anderen Häuser vorsprang. Die Fenster öffneten sich nur zu Luft und Ferne.
Jacawens Erbsohn, Mordana, geleitete Farber hinein. Er war ein hochgewachsener, schweigsamer junger Mann mit einem Gesicht wie ein zorniger Engel, voller Stolz und Verachtung, entrückt und gutgeschnitten. Er bewegte sich wie ein Tiger, wie ein Krieger, der zur Schlacht gleitet. Seine Augen glitzerten von einer tödlichen Intelligenz und einer fast fanatischen Intensität. Es war offensichtlich, daß er Farber auf den ersten Blick nicht mochte, daß Farbers bloße Existenz irgendwie eine Beleidigung seiner Vorstellung vom Universum darstellte. Mit steifem, verschlossenem Gesicht, wie jemand, der einen üblen Geruch wahrnimmt, brachte er Farber ins Büroinnere und verschwand rasch.
»Setzen Sie sich, Farber«, begrüßte ihn Jacawen.
Farber setzte sich. Der Boden war hier mit einem Teppich bedeckt, der wie ein fahler Pilz wirkte, und man versank darin wie in einem Kissen. Jacawen saß ein paar Schritte entfernt auf einem niedrigen Podest. Das Büro war weiträumig, sauber, nicht überfüllt, mit Steinwänden und einer getäfelten Decke. In der Ostwand befand sich ein Fenster, von wo aus man über das Wattenmeer der Alten See blicken konnte; es stand offen, und man konnte die Brandung und das Geschrei der »Seevögel« hören, vom Wind herübergetragen und wieder verebbend, wenn der Wind sich legte. Dieser Wind, der durch das Fenster pfiff mit seiner Fracht, den Meeresgeräuschen, war dünn und kalt und schmeckte nach Salz, das wiederum nach Blut schmeckte. Sonnenlicht drang mit dem Wind herein, auch dünn und kalt, aber rein wie ein lupenreiner Kristall – es spiegelte auf dem prächtigen Wandbehang an der gegenüberliegenden Wand, auf dem sorgfältig Götter und Menschen dargestellt waren, kaltäugige Dämonen und schöne Frauen, Geburten und Kriege, Rettung und Tod.
Farber und Jacawen blickten sich schweigend an.
Jacawen war ein kleiner, nüchterner, selbstsicherer Mann mit jetschwarzem Haar und großen goldenen Augen, wie bei den meisten seiner Rasse. Er war schlank wie ein Otter, vermittelte den Eindruck von Kraft, eines kompakten, festen Muskelsystems. Seine Brüste waren nicht größer als die eines Erdenmannes, da er zur Zeit keine Milch gab, aber sein dünnes Hemd zeigte deutlich die Abdrücke von drei Paar Zitzen, jeweils zu zweien an seinem Brustkorb, und sechs kleine Beulen darunter. Sein Gesicht blickte ruhig, fast ausdruckslos, aber für Farber wegen der winzigen Spitzen der über die Lippen vorstehenden Eckzähne auch irgendwie satanisch. Jacawen war noch intelligenter und härter als sein Sohn, aber bei ihm war der Fanatismus zu einer sicheren, kontrollierbaren, nutzbringenden Kraft gezähmt, eine ständige, rauchlose Flamme. Beide waren Schattenmenschen, eine quasireligiöse Sekte, die in der Regierung Shasines stark vertreten war, aber Jacawen hatte die Reife und Klugheit der Erfahrung – Mordana war noch voller weltlichem Stolz, während Jacawen diesen längst hinter sich gelassen hatte und die sonderbare arrogante Demütigung eines älteren Schattenmenschen zeigte. Er strebte wie die Engel danach, jenseits von Scham und Stolz zu sein. Dabei hatte er unterschiedliche Erfolge.
»Wußten Sie, daß Liraun meine Halbnichte ist?« fragte er abrupt.
O Jesus, dachte Farber.
Nach einem Augenblick gelang es ihm zu sagen: »Nein, das wußte ich nicht.«
»Ich sage Ihnen dies nicht«, meinte Jacawen gleichmütig, »weil es an sich wichtig wäre, sondern als Beweis dafür, daß ich ihre Gedanken kenne, daß ich viel Zeit hatte, sie zu beobachten. Auf Weinunnach herrscht der Brauch, Kinder in bestimmten Wellen zu bekommen, im Abstand von vier Jahren. Liraun wurde in der Brachperiode zwischen zwei Wellen geboren, eineinhalb Jahre nach der letzten Welle und zweieinhalb Jahre vor der nächsten. Es passiert fast nie, daß unsere Frauen empfangen, wenn sie nicht empfangen sollen, aber manchmal geschieht es eben doch, und dies war so ein Fall. Verstehen Sie, Farber? Liraun ist allein aufgewachsen, ohne die passende Altersgruppe, ohne Kameraden. Nicht einmal mit Geschwisterkindern – die Mutter, die erst nach Monaten entdeckte, daß sie empfangen hatte, hatte nicht die Zeit, sich ausreichend um das Wachstum zu kümmern: Die meisten ihrer Kinder wurden tot geboren; eine Schwester starb als kleines Kind. Liraun überlebte, aber sie wuchs traurig und wild heran, und so ist sie immer noch. Sie befand sich auch schon bei anderen Gelegenheiten außerhalb der Harmonie.« Er hielt inne und blickte Farber an. »Verstehen Sie, Farber? Ich rede offen mit Ihnen über Privatangelegenheiten, entgegen dem Brauch unseres Volkes, und es ist mir zuwider – aber ich möchte verstanden werden.«
Farber runzelte die Stirn. »Mir scheint, Sie wollen mir sagen, daß Lirauns … Affäre mit mir … einfach ein neuer wilder Streich ist in einem Leben unglücklicher Rebellionen?«
»Das ist merkwürdig ausgedrückt, stimmt aber grundsätzlich.«
»Und das ist Ihrer Meinung nach alles?«
Jacawen saß einen Moment schweigend da und begann dann erneut.
»Farber, ich glaube, Sie haben mich absolut nicht verstanden«, sagte er trocken. »Ich rede nicht über Ihren Heiratsantrag gegenüber Liraun. Was ich sagen wollte, ist … könnte eine Entschuldigung sein für den Druck und die Disharmonie, die Ihnen diese Sache verursacht haben muß, und eine Versicherung, daß es nicht Ihre Schuld ist. Verbindungen zwischen Terranern und Cian sollten eigentlich grundsätzlich nicht geschehen, aber wenn es einmal geschehen ist, dann überrascht es mich nicht, daß Liraun als einzige Frau in ganz Shasine dazu fähig ist. Welche Gründe dafür verantwortlich sind, Farber, das wollte ich Ihnen begreiflich machen.«
»Was ist mit meinem Heiratsantrag?« fragte Farber mit gepreßter Stimme.
»Das kann natürlich nicht geschehen. Es wäre unerlaubt.«
»Warum?«
»Weil Ihre Rasse und die meine sich miteinander nicht fruchtbar paaren lassen, Farber!« erwiderte Jacawen, und zum ersten Mal klang so etwas wie Leidenschaft durch seine Stimme. »Können Sie das nicht begreifen? Eine Heirat zwischen Ihnen und Liraun wäre unfruchtbar. Eine Heirat, aus der keine Kinder hervorgehen, wäre in den Augen der Nachtmenschen eine Schändlichkeit. Es ist eine Beleidigung aller Harmonie. Auf Weinunnach hat es so etwas noch nie gegeben! Und wird es auch niemals geben!« Seine ganze innere Härte flammte auf; die ständige, ruhige Flamme schwoll und flackerte hinter seinen Augen. Dann sank sie langsam wieder zurück, ließ ihn leicht erzittern, während sie verlosch. »Nein, tut mir leid, Farber«, wiederholte er, »es kann nicht sein. Ich rede nun offen zu Ihnen, Farber, wenn ich mich vielleicht auch damit entehre. Selbst wenn die Heirat nicht unmöglich wäre, wäre ich doch dagegen. Ich würde es nicht schätzen, könnte aber aus Achtung Ihrer Sitten nicht Ihrer freien Entscheidung entgegenstehen. Wie immer es auch sein mag, ich habe es nicht nötig: Ganz Weinunnach steht Ihnen im Weg und hindert Sie. Es ist ungesetzlich. Und ich kann nicht sagen, daß mir das leid tut.«
So ist das also, dachte Farber und spürte lediglich eine Welle der Erleichterung. Aber gerade, als sie ihn überspülte, ließ ihn irgendein ferner Teil von ihm, den er nicht verstand, sagen: »Sind Sie sicher, daß es keinen Weg gibt? Sind Sie sicher? Überhaupt keinen Weg?« In einem Tonfall mutwilliger, drängender Verzweiflung kamen die Worte heraus.
Jacawen starrte ihn an, und ein neuer Zug erschien auf seinem Gesicht: Verstimmung, Ärger, Boshaftigkeit, Zögern, Bedauern – vielleicht von jedem etwas. Er sagte: »Es gibt einen Weg, Farber. Wenn Sie es wünschen, könnten Ihnen unsere Schneider Ihren Genotyp so einstellen, daß er dem unseren gleicht. Dann könnten Sie heiraten, Farber. Mit dieser Änderung würden Sie nicht im eigentlichen Sinn zum Cian, aber sie würde Ihr Erbmaterial beeinflussen und Anzahl und Beschaffenheit Ihrer Chromosomen ändern. Es hat auf sie selbst kaum Wirkung, wohl aber bei Ihren Nachkommen. Es würde Ihren Samen verändern, Farber, es würde Ihren Samen verändern. Verstehen Sie? Sie und Liraun wären dann nicht unfruchtbar. Wenn Sie sie schwängerten, wären Ihre Kinder reinblütige Cian ohne eine Spur terranischen Blutes.« Er lächelte Farber schneidend an; die Boshaftigkeit war jetzt kaum noch verhüllt. »Nun, Farber, wollen Sie, daß ich Ihnen einen Termin bei den Schneidern verschaffe? Ich versichere Ihnen, es ist der einzig mögliche Weg, Liraun zu heiraten, dessen bin ich absolut sicher, Farber! Nun?«
Farber errötete vor Scham und verwirrtem Zorn. In einem Versuch, sein Gesicht zu bewahren, ließ er seine Stimme sagen: »Ja.«
»Sie möchten also gern zu den Schneidern?«
Gleichmütig: »Ja.«
»Ausgezeichnet!« meinte Jacawen. Seine Hand durchbrach einen Lichtstrahl. Ein Kontrollpult, ein kompaktes Jejun-Produkt, glitt aus dem Boden. Jacawen studierte eine Schalttafel, drehte einen Knopf, schlug auf drei Schalter und sagte etwas in einem Dialekt, zu rasch, um von Farber verstanden zu werden. Das Pult glitt zurück in den Boden. Jacawen blickte Farber an. »Nun«, sagte er, »Sie haben einen Termin in der Halle der Schneider, hier in der Altstadt, morgen um 11 Uhr 15 Ihrer Zeit. Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Und Jacawen lächelte mit wohlberechneter Güte, mit offener Verachtung, verspottete Farber, ergoß seinen Zorn über ihn – einen Zorn, der um so vieles zerstörerischer war als der Mordanas, weil er weniger reflexhaft kam und soviel mehr aus konkretem Anlaß. Farber hatte versucht zu bluffen, und man hatte ihn erwischt. Man hatte ihm das Spiel verdorben. Jacawen wußte, daß Farber niemals zu diesem Termin gehen würde, daß der Preis zu hoch war, daß Farber niemals hatte dorthin gehen wollen. Farber hatte versucht, es durchzustehen, und hatte dabei gehörig das Gesicht verloren. Jacawen wußte, daß Farber nicht den Mut hatte, das durchzustehen.
Er hatte recht. Auch Farber wußte es.
Die Scham, die Farber fühlte, als er aus dem Büro trat – das war der vierte Schritt.
Es war schon Spätnachmittag, als er die Enklave erreichte; daher stoppte Farber bei der Kantine der Co-Op, um etwas zu trinken. Er fand an der Bar Dale Brody, bereits auf dem Weg zum stinkenden, bewußtlosen Besäufnis. Der Traubenwein der Co-Op mußte so gut wie üblich gewirkt haben, weil sich Brody nach ein paar Minuten des Schweigens und Trinkens mit kalter Schulter zu Farber beugte und mit rauher, übelriechender Stimme sagte: »Nigger kann man vögeln, aber doch nicht heiraten! Wir heiraten zu Hause unsere Nigger auch nicht!«
Farber ballte seine große Faust – fühlte sich wie ein Typ in einem altmodischen Film, tat es aber dennoch – und schlug Brody zwei Zähne aus.
Das war der fünfte Schritt.
Als sich Farber schließlich wieder in seinem Büro meldete, wartete eine Notiz auf ihn, die besagte, er solle bei Dr. Anthony Ferri, dem Ethnologen der Co-Op, vorbeischauen.
Ferri war ein phlegmatischer, zurückhaltender Mann, doch seine kühle Zurückhaltung war eine Maske für einen gierigen Ehrgeiz, der in Keane schon vor Jahren zu Schlacke verbrannt war. Er arbeitete für die Co-Op, aber gleichzeitig machte er Feldarbeit für Cornell – eigentlich befaßte er sich nur mit Feldarbeit für Cornell, so hätte er selber es formuliert, wenn man ihn in redefreudiger Stimmung antraf –, und alle Träume konzentrierten sich auf die wunderbaren Monographien, die er veröffentlichen würde, die Bücher, die er schreiben würde, die Honorare, die er verdienen würde, Stipendien und Lehrstühle, Vorlesungsreisen und Besitz. Er wollte berühmt werden, respektiert, ein Riese auf seinem Gebiet. Das war seine eine Leidenschaft; alles andere mußte dafür sublimiert werden. Und es war möglich, daß er seinen Traum in Realität umwandelte. Er war ein ausgezeichneter Kopf, hatte eine enorme – wenn auch sehr spezialisierte – Bildung und genügend Praxis, um zu wissen, daß er in jeder Minute seines Aufenthaltes auf »Lisle« wie ein Dämon arbeiten mußte, wenn er jemals seine Ambitionen erfüllt sehen wollte. All dies stand auf der Habenseite in seinem Hauptbuch. Auf der Sollseite stand seine Persönlichkeit. Die meisten fanden ihn kalt, distanziert und unfreundlich. Eigentlich war er ein recht geselliger Typ, und wenn er sie überhaupt bemerkte, mochte er Leute auch aufrichtig. Aber er bemerkte sie nur selten – er war zu absorbiert von seiner Arbeit, zu gehetzt durch das Gefühl, die Zeit verrinne und bringe ihn seinem Ziel nicht näher. Er war schweigsam bis zu dem Punkt, wo es beleidigend werden konnte. Das lag aber hauptsächlich daran, daß er zu den meisten Dingen nichts zu sagen wußte. Aber wenn er glaubte, ein wenig Kommunikation würde seiner Karriere förderlich sein, und insbesondere, wenn ein Thema der Diskussion in seinen Fachbereich fiel, konnte er plötzlich einnehmend, beredt, enthusiastisch, überzeugend und sogar gewandt werden.
An diesem Abend war er das alles.
Er wollte, daß Farber für ihn arbeitete. Genauer gesagt, wollte er Farber als Forschungsassistenten, der die Daten sammelte, an die er selbst nicht herankam. Ferri war zu kalt – wenn er dies auch gegenüber Farber nicht so ausdrückte –, um mit den Cian wirklich auf freundschaftlichem Fuß stehen zu können, bei ihnen zu Hause eingeladen zu werden; er hatte es versucht, auf seine schmeichelndste Weise und mit all den professionellen Tricks, die er beherrschte, aber man hatte ihn zurückgewiesen – mit der typischen cianischen Höflichkeit, aber entschieden. Das bedeutete, daß in Shasine einige Türen ihm auf immer verschlossen bleiben würden. Aber Farber hatte sogar eine intime Beziehung mit einer Cian, und wenn er, wie der Klatsch es besagte, sie heiraten würde, bestand die Möglichkeit, daß er sogar enger zur cianischen Gesellschaft zugelassen würde. Ferri, der sah, daß Farber wütend wurde, gab hastig zu, daß es ihm egal sei, ob Farber Liraun heiratete oder nicht, aber wenn er es täte – wenn er es wirklich täte … Der Job wäre auch nicht sehr anstrengend, erklärte Ferri, er müsse hauptsächlich die Augen offenhalten, heimlich Gespräche aufzeichnen – Ferri zog ein Armband heraus, das einen Microminiaturrecorder verbarg – und das Material Ferri geben. Nur die einfachen Daten. Er brauchte es nicht zu analysieren oder seine Schlüsse daraus zu ziehen. Das würden Ferri und seine semantischen und anthropologischen Computer schon tun. Wenn Farber nur an die entsprechenden Fakten herankäme.
»Joe, hör mich an«, sagte Ferri drängend. »Du bist hier neu. Du merkst gar nicht, was für eine gottverdammt heimliche Kultur das ist. Auf der Oberfläche wirkt alles recht offen und entspannt; jeder ist freundlich und höflich und fast ohne Streß, verglichen mit einer irdischen Gesellschaft wie in Amerika oder Rußland. Wenig Anzeichen von Neurosen, wenige Fälle von Wahnsinn; Selbstmordrate gering, durch Streß verursachte Krankheiten selten, psychosomatische Krankheiten fast unbekannt. Aber sie sind so absolut besessen, ihr Privatleben für sich zu behalten! Das ist einfach sakrosankt. Sie reden nie darüber. Sie wollen uns auch nichts untersuchen lassen. Wir sind seit mehr als zehn Jahren hier und wissen immer noch nichts über sie, abgesehen von dem, was sie uns selbst preisgeben. Nichts, verdammt nichts! Uns ist es noch nie gelungen, einen Cian körperlich zu untersuchen, geschweige denn, einen zu sezieren. Joe, du mußt uns einfach helfen!«
»Ich weiß nicht«, antwortete Farber.
»Ich kann dich bezahlen, aus meinem Cornell-Etat. Ganz gut.«
»Das ist es nicht.«
»Was ist es dann?«
»Ich weiß einfach nicht, ob ich so etwas tun möchte. Ich glaube, ich mag es nicht.«
»Es gibt auf dieser Welt eine Hölle von Fragen, mehr, als es Antworten gibt. Du weißt das, Joe«, fuhr Ferri fort, als habe er Farber nicht gehört, als existiere die Möglichkeit einer verneinenden Antwort gar nicht. »Zum einen, ich möchte um alles in der Welt wissen, wie die Schneider deinen Genotyp ändern wollen. Sie werden doch nicht deinen Körper aufschneiden und mit kleinen Hammern und Schraubenziehern an jeder Zelle in deinem Körper herumfummeln, oder? Sicher nicht. Aber wer weiß – man hat mir gesagt, ihre genetische Wissenschaft sei die am weitesten entwickelte der bekannten Galaxis und daß sie auf dieser Basis weiten interstellaren Handel treiben … Es ist so verdammt frustrierend, wenn man sich den technologischen Stand dieser Zivilisation vorstellt, so wie er wirklich ist. Soweit ich sagen kann, haben die Cian die Fähigkeit, Raumfahrt zu betreiben, wenn man alle Einzelheiten ihrer Technologie richtig zusammenstellen würde, und diese Kapazität haben sie schon seit tausend Jahren. Sie wollen es einfach nicht – es interessiert sie nicht. Verdammt, niemand schert sich darum. Sieh dir doch die primitive Lebensweise an, Karren, die von Tieren gezogen werden, und das andere alles. Sie müssen das nicht! Die Technologie ist da, steht seit über tausend Jahren zur Verfügung – so sagen sie –, aber sie setzen sie einfach nicht ein. Sie kennen effiziente Massenkommunikation und Hochgeschwindigkeitstransportsysteme, aber sie setzen sie nur selten ein; die meiste Zeit über laufen sie zu Fuß, und in ganz Aei gibt es kein öffentliches Telefonnetz, außer in der Enklave. Was für eine kulturelle Entwicklung produziert eine solche Psychologie?« Er machte eine Pause, um sich über das Gesicht zu wischen und starrte dann Farber an.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Farber milde. Er hatte beschlossen, es habe keinen Zweck, die Fluten von Ferris Rede einzudämmen, wenn sie erst einmal entfesselt waren.
»Du hast so verdammt recht, weißt du!« sagte Ferri wütend und wischte sich wieder über das Gesicht. »Keiner weiß es. In der Geschichte der Erde hat es so etwas nie gegeben. Trotz der gelegentlichen Ludditen und Zurück-zur-Natur-Freaks. Es hat niemals eine menschliche Gesellschaft gegeben, die alle Geräte und Wohltaten einer hochentwickelten Technologie zur Verfügung hatte und sie nicht benutzte, deren Mitglieder einfach keine Lust hatten, sie zu benützen – und ich glaube, auf der Erde wird es eine solche Gesellschaft auch niemals geben. Das einfache Leben, edle Wilde und all das – alles nur Blödsinn. Primitive Völker grapschen immer gierig nach den Bequemlichkeiten, die ihnen langfristig Schaden zufügen, auch wenn die zivilisierten, bequemen Methoden nicht so gut funktionieren wie die alten primitiven. Sieh dir die Eskimos an, zum Teufel! Wie hält man sie in ihren Iglus, nachdem sie erst einmal ein Einkaufszentrum gesehen haben?«
»Die Cian sind aber keine Eskimos«, meinte Farber.
»Verdammt richtig! Verdammt treffend!« rief Ferri sarkastisch. »Du hast den Nagel wieder einmal auf den Kopf getroffen, mein Freund. Die Cian sind keine Eskimos. Verdammt klug. Aber dennoch tun wir so, als seien sie so. Die Cian sind gefährlich, weil sie den Menschen äußerlich so ähnlich sind, verglichen mit anderen Aliens, auf die wir gestoßen sind, so daß wir meinen, es sind Leute mit Schminke und Fellkostüm, die wir für Menschen halten und auf dieser Ebene mit ihnen kommunizieren – aber sie sind keine Menschen, und es liegt eine beträchtliche Gefahr darin, wenn wir mit ihnen so umgehen, als ob sie das wären. Es sind Fremde, mit fremdartigen Denkprozessen, die von den unsrigen sehr verschieden sind, trotz der oberflächlichen Ähnlichkeit. Es gibt so wenige Gemeinsamkeiten, daß wir besser fahren, wenn wir sie als Tiere betrachten – oder auch als Monster –, anstatt so zu tun, als seien sie Menschen.«
»Sie sind menschlich genug, um mit ihnen schlafen zu können«, schnappte Farber, ohne nachzudenken, und errötete dann bis an die Ohren.
»Sex!« schnarrte Ferri. »Man kann sie also bumsen – na und? Unten auf der Erde bumsen die Leute Ziegen, Schafe, Hunde, Pferde, Kühe … macht das eine Kuh menschlich, weil man sie vögeln kann? Du bist genauso schlimm wie diese Idioten von der Co-Op. Jeden Tag sehe ich, wie sie ihrer Rolle gerechter werden – sie werden zu Agenten der britischen East-India-Company, und die Cian sind die verlotterten Eingeborenenhorden, stimmt’s? Stimmt’s? Sie nennen sie sogar schon Nigger, selbst die Leute, die einen echten Schwarzen niemals so nennen würden – selbst die Schwarzen nennen sie so, zum Teufel! Kolonialismus, das ist es. Wir alle bilden uns ein, die Erde sei eine Kolonialmacht, und demnach sind die Cian zurückgebliebene Wilde, denen wir die Wohltaten der Zivilisation nahebringen. Aber die Cian sind kein zurückgebliebenes Volk, trotz der Karren und der Handarbeit und der barbarischen Pracht und alldem – sie waren Mitglieder der Handelsallianz schon Tausende von Jahren, ehe wir aufkreuzten, und die Enye zumindest halten von ihnen eine Menge mehr als von uns. Und dennoch behandeln wir sie wie Stammeshäuptlinge aus Indien oder Afrika im neunzehnten Jahrhundert und nennen sie Nigger. Weil wir sie zu kennen glauben, aber das tun wir nicht. Ich tue es nicht. Du tust es nicht.«
»Vielleicht kenne ich sie ein wenig besser als andere«, meinte Farber ruhig, doch mit einer Spur Verachtung.
»Vielleicht auch nicht. Sie haben nicht einmal den selben Zeitbegriff wie wir. Sind nicht so darauf bedacht, Zeit als eine lineare Sache zu betrachten. Verben in ihrer Sprache kennen keine Fälle, nur Aspekte oder Validitäten wie bei den Hopis. Man kann sagen ›erinnert essen‹ oder ›essen erwartet‹ aber nicht ›er aß‹ oder ›er wird essen‹. Zum Teufel, bei der Co-Op sollten sie keine Menschen unseres Schlages haben, die mit diesen Wesen Kontakt halten. Wir sind fehl am Platze für diesen Job, vollständig deplaziert. Sie hätten Asiaten schicken sollen, Indianer, Polynesier, Eskimos, selbst Buschmänner oder Uraustralier – jemanden, der zumindest eine Chance hätte, die Cian zu begreifen.«
»Du kennst die politische Situation zu Hause«, sagte Farber achselzuckend.
»Ja, das tue ich«, knurrte Ferri. Einen Moment lang schwieg er. Dann fuhr er fort: »Frauen haben in dieser Gesellschaft eine sehr merkwürdige Rolle. Du lebst mit einer, heiratest sie vielleicht! Willst du nicht mehr über sie erfahren? Willst du nicht eine faire Chance, die Motive deiner eigenen Frau besser zu verstehen? Ich verstehe sie jetzt nicht. Auch du nicht. Unverheiratete Frauen sind Eigentum ihres Vaters. Verheiratete sind zumindest anfangs Eigentum des Mannes. Kein Status, wenig Rechte. Das Bild einer patriarchalischen Gesellschaft. Aber so bleibt das nicht. Irgendwie wechseln einige Frauen den Status und dringen direkt bis zur Spitze vor. Sie werden fast verehrt. Wieso passiert das? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß eine Frau zeit ihres Lebens bis zu dreimal ihren Namen wechselt. Der Name deiner Frau lautet Je Genawen, glaube ich mich zu erinnern. Stimmt’s? Das bedeutet ungefähr: gehört Genawen, ihrem Vater. Wenn sie dich heiratet, wird sie Je Farber heißen, ob du es glaubst oder nicht: ›gehört Farber‹. Wenn sie den Statussprung macht, wie auch immer das geschieht, wird ihr Name zu ›gehört zu …‹, wie immer auch der Name ihrer ersten weiblichen Ahnen lautete. Was soll dieser Unsinn? Ich weiß es nicht, aber du könntest mir helfen, es herauszufinden.« Er legte die Hand mit eingeübter Ernsthaftigkeit auf Farbers Arm. »Joe, das ist das erste Mal, daß eine Cian mit einem Terraner eine intime Beziehung aufnimmt. Innerhalb einer Dekade oder noch mehr Jahren. Deshalb ist es so wichtig. Vielleicht passiert es niemals wieder. Siehst du das nicht ein? Du bist in einer besseren Position, mehr über sie zu erfahren, als jeder einzelne dieser Mission. Du mußt mir einfach helfen!«
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Farber und stand auf, Ferris Protest beiseite fegend, um zu gehen.
Er hatte bereits den sechsten Schritt getan, wenn er es auch noch nicht gemerkt hatte.