8. Die Kraft des »Social Feedback«: Wie die Digitalisierung des Ich unsere sozialen Beziehungen verändert


Mein multiples Selbst

Die Beziehungen, in die ich als erwachsener, ungefähr normalbiografisch sozialisierter Bewohner der sogenannten Ersten Welt eingebunden bin, sind so vielfältig wie die Gesellschaft selbst: Je nachdem wie breit meine beruflichen, kulturellen, freizeitlichen, sozialen Interessen, Vorlieben und Verpflichtungen gefächert sind, gestaltet sich mein Persönlichkeitsprofil mal mehr, mal weniger komplex. So muss man nicht einmal ein Hansdampf in allen Gassen mit Neigung zur multiplen Persönlichkeit sein, um Familienvater, Liebespartner, Ausgehkumpel, Abteilungsleiter, Selbsthilfegruppenteilnehmer, Bandgitarrist, Patenonkel, Patient, Segelclub-Mitglied, Tanzpartner und Kirchenältester in Personalunion zu verkörpern. All dies sind Aspekte meiner sozialen Persönlichkeit, und jeder dieser Aspekte ist verbunden mit einer bestimmten Welt, bestehend aus bestimmten Leuten, bestimmten Programmen und Zielen, einer bestimmten Tätigkeit, möglicherweise auch einer bestimmten Rolle und einem bestimmten Ort … Ich bin als erwachsener Mensch in der Regel ein soziales Mischwesen, das in mehreren Welten zu Hause ist, in mehreren Umgebungen funktioniert oder funktionieren soll.

Diese vielfältige Eingebundenheit meines modernen Ich wirkt selbstverständlich auf mich zurück, und so wundert es nicht, dass dieses Ich mitunter ins Straucheln gerät und sich inmitten einer Kakofonie aus Stimmen, Rollen und Erfordernissen nach Selbsterkenntnis sehnt. Wer bin ich eigentlich, wenn ich so viele bin? Gibt es mich – im Sinne eines rollen- und weltenunabhängigen, immer gleichbleibenden Persönlichkeitskerns – denn überhaupt?

Mit dieser Frage beschäftigten sich lange die Persönlichkeitspsychologen. Im Großen und Ganzen gibt es dabei zwei Lager: Die einen sagen, jeder Mensch verfüge über einen festen Persönlichkeitskern – manche gehen sogar so weit, zu sagen, dass erst das Vorhandensein eines solchen Kerns Persönlichkeit generiere. Und die anderen, so etwa der Soziologe und Persönlichkeitspsychologe Erving Goffman (1922–1982), sehen den Menschen als Rollenspieler, der nie aufhöre, auf der Bühne des Lebens Theater zu spielen26. Für Goffman ist das »Self«, das »Selbst«, das Ergebnis des von ihm so getauften »Impression Management« (IM), das heißt des zielgerichteten, bewussten oder unbewussten Versuchs, die Wahrnehmung anderer bezüglich meiner Person durch Regulieren und Kontrollieren von Informationen in sozialen Interaktionen zu beeinflussen. Das Selbst ist also für Goffman nichts von sich aus Seiendes, sondern das Produkt einer Zuschreibung: Ich bin das, als was die anderen mich wahrnehmen.

Die Bündelung des Selbst

Vielleicht liegt ein Grund, warum ein Social-Media-Netzwerk wie Facebook trotz aller Mängel von so vielen so begeistert genutzt wird, in einer tiefen Verunsicherung des modernen Menschen über sich selbst. Wer bin ich, und wenn ja wie viele? Das ist die subkutane Frage, die das moderne Individuum umtreibt, und seit der populäre Philosoph Richard David Precht sie auf dem Cover seines gleichnamigen Bestsellers gestellt hat, dürfte sie endgültig der Sphäre des Halbbewussten enthoben und einer breiten Öffentlichkeit ins Bewusstsein gekommen sein. Womöglich liegt das Geheimnis des anhaltenden Facebook-Booms in dem symbiotischen Verhältnis zwischen der Sehnsucht des aufgespaltenen Ich nach Einheit einerseits und dem Potenzial einer Facebook-Präsenz, die verlorene Einheit wiederzugewinnen. Wenn ich mich schon im realen Leben bis zur Unkenntlichkeit aufsplitten muss – auf Facebook wenigstens habe ich ein erkennbares Profil. Hübsch geordnet präsentiert sich hier die ganze Buntheit meiner Persönlichkeit. Sollte ich mich jemals im Wirrwarr der beruflichen, freizeitlichen, familiären oder sonstigen Bindungen verlieren, die oft nicht allzu viel mit dem zu tun haben, was mir gefällt, mich wirklich bewegt – auf Facebook weiß ich wieder, wer ich bin. Denn hier geht es um nichts weiter als um das, was mich bewegt, was die mit mir Verbundenen bewegt und was wir bewegen wollen. Es geht also um meine Bewegungen. Es geht, endlich einmal, nur um mich und meine Welt.

My friends are my castle

Indem ich mich in einem Social-Media-Netzwerk wie Facebook bewege, wächst über die Zeit hinweg ein digitales (Facebook-)Ich heran, dessen ich mich täglich, ja stündlich vergewissern kann. Durch die Kommentare, Postings und Likes meiner Facebook-Freunde gewinnt, meinen wir, meine eigene Persönlichkeit über den Umweg des Digitalen an Kontur. Die Resonanz meiner Kommunikationspartner auf meine Beiträge zeitigt einen »energetischen« Nutzen, der unabhängig von der Natur des Kommentars – zustimmend oder ablehnend – mein Ich stärkt, indem er mein Profil schärft. Mit ziemlicher Sicherheit werde ich über einen Kommentar, den ich auf der Pinnwand eines Bekannten hinterlassen habe, noch einmal nachdenken, wenn er – im Unterschied etwa zu anderen Kommentaren von mir oder zu den Kommentaren der anderen – null Likes bekommt. »War ich hier vielleicht doch zu einseitig?« – »Bin ich mit meiner Kritik womöglich übers Ziel hinausgeschossen?« Das sind Gedanken, die bestimmt jeder, der sich in Social-Media-Netzwerken an Diskussionen beteiligt, schon einmal gehabt hat. Es ist mir schließlich nicht egal, was meine Freunde und Bekannten denken. Wenn ich mich mit meiner Äußerung isoliere, werde ich mich vermutlich fragen, warum das so ist, meinen Kommentar überdenken und ihn entweder bewusst so stehen lassen, modifizieren oder löschen.

Ähnlich wie beim Biofeedback wirkt dieses »Social Feedback« auf mich und mein digitales Ich zurück. Goethe hätte dem sicher zugestimmt, hätten Internet und Social Media zu seiner Zeit schon existiert. Denn was der Diplomat Antonio im zweiten Akt des Schauspiels Torquato Tasso27 dem Dichter Tasso als Weisheit mit auf den Weg gibt, beschreibt ziemlich gut die Wirkung von Social Feedback auf die Persönlichkeitsbildung:

»Inwendig lernt kein Mensch sein Innerstes

Erkennen: denn er mißt nach eig’nem Maß

Sich bald zu klein, und leider oft zu groß.

Der Mensch erkennt sich nur im Menschen, nur

Das Leben lehret jeden, was er sey.«

Um uns selbst zu erkennen, brauchen wir die anderen. Der Blick in den sozialen Spiegel hilft uns, ein realistisches Bild von uns selbst zu bekommen.

Darüber hinaus stärkt das Eingebundensein in Social-Media-Netzwerke mein persönliches »Sozialkapital«, das wir mit dem Soziologen Nan Lin verstehen wollen als »elastisches Konstrukt zur Beschreibung des Gewinns, den man aus der Beziehung zu anderen Leuten zieht«28. Dank Social Media war es noch nie so einfach wie heute, Kontakte zu knüpfen und den Bekanntenkreis zu erweitern. Die Tools, um dies zu tun, sind einfach zu bedienen, die Möglichkeiten der Vernetzung durch Social Media übersteigen die im rein Analogen um ein Vielfaches. Ich muss nicht erst auf einem Konferenzparkett meine Visitenkarten unter die Leute bringen oder auf einer Party glänzen, es reicht schon, das, was ich für interessant halte, auf meiner Pinnwand zu posten, und schon bin ich in meinem per Mausklick erweiterbaren Kreis präsent. Mitunter reicht ein Kommentar, den ich irgendwo hinterlassen habe, um eine Freundschaftsanfrage von jemandem zu bekommen, dem meine Ansichten gefallen und der mich zum weiteren Austausch von Wissen und Meinungen gerne kennenlernen möchte. Klick. Kontakt bestätigt. Freundschaft möglich.

Die neue Echtheit

Auch ist die Qualität der zwischenmenschlichen Begegnungen dank Facebook und ähnlicher Social-Media-Netzwerke eine neue. Die Kommunikation zwischen Menschen, auch zwischen einander Fremden, hat durch die neue Offenheit, die die Social-Media-Netzwerke hervorgebracht haben, ein neues Niveau erreicht.

Befreit vom Firnis fragwürdiger Erfindungen wie Small Talk und anderer Warming-up-Methoden zur Vermeidung von Echtheit, steigt man in eine Unterhaltung mit jemandem, den man bereits über Facebook kennt, gleich auf ganz anderem Level ein. Schließlich ist man aufgrund ähnlicher Interessen und/oder gemeinsamer Facebook-Freunde aufeinandergetroffen. Vertrauen ist also schon da und muss nicht erst mühevoll nach allen Regeln der Kunst hergestellt werden. Für unsere Gesellschaft bisher typische Phänomene wie das höfliche Simulieren von Interesse bei eigentlichem Desinteresse, das nutzengetriebene Vortäuschen von Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit oder peinliches Anbiedern bis zur Selbstverleugnung werden obsolet. Man begegnet sich in medias res.

Die Chance zu neuer Echtheit hat allerdings auch eine Kehrseite: den Echtheitsschock. Der Echtheitsschock ist der Schock, den man erleidet, wenn man sich nach jahrelanger, noch in der Prä-Facebook-Ära geschlossener Bekanntschaft nun auf Facebook miteinander befreundet. Und plötzlich ganz neue Einblicke in die Persönlichkeit des Menschen bekommt, den man zu kennen glaubte, einfach, weil man sich doch schon so lange »kennt«. Was? Dieser Mist gefällt dem? Meine Lieblingsband hasst der? Und über die Demo, auf der ich letzten Sommer war, hat der sich zeitgleich lustig gemacht? Man teilt eben im physikalischen Aufeinandertreffen unter Umständen ganz andere Dinge als die, die einen sonst noch bewegen. Das kann für unangenehme Überraschungen sorgen.

Digitale Eitelkeit und die Persistenz des Netzes

Natürlich sind Social-Media-Netzwerke immer auch Schaufenster für die eigene Person, weswegen die Echtheit meistens nur die Teile betrifft, die ich für ausstellungswürdig halte. Kaum jemand wird sich hier in all seinen Abgründen outen (es sei denn, gerade das ist in meinem Facebook-Freundeskreis angesagt, und ich gewinne dadurch die Anerkennung der anderen). Je nach Persönlichkeitstyp und je nachdem, ob man viel oder wenig Wert auf das legt, was andere von einem denken, wird die Neigung, sich digital »schöner« zu verhalten als analog, beim einen mehr und beim anderen weniger ausgeprägt sein. Zumal jeder mündige User um die Persistenz des Internets weiß, also darum, dass im Netz, anders als im analogen Leben, nichts vergessen wird. Alles, was jemals gepostet wurde, ist prinzipiell wiederaufrufbar. Die Spuren, die ich in der digitalen Welt auf Schritt und Klick hinterlasse, generieren einen digitalen Fingerabdruck von mir, und jede noch so kleine Bemerkung, einmal im Netz gepostet, hallt unter Umständen tausendfach wider, an anderen Orten, zu anderen Zeiten, in anderen Kontexten. Das Wissen um die Unmöglichkeit, der eigenen digitalen Vergangenheit zu entkommen, wirkt bei den meisten auf das Verhalten zurück, beim einen mehr, beim anderen weniger.

Aber was ist mit denen, die das nicht wissen?

Der Internetsoziologe Dr. Stephan Humer warnt davor, dass jede im Affekt geäußerte Beschimpfung, wenn sie im Internet geschieht, bleibt. Den von manchen propagierten »digitalen Radiergummi« hält er für Augenwischerei: »Technische ›Verfallsdaten‹ im Internet sind schlicht vergebliche Anstrengung, weil nicht umsetzbar«, sagt Humer. Den Grund dafür sieht er in der abstrakten Netzstruktur des Internets: »Man nähert sich dem Kern des Problems der unkontrollierbaren Datenverteilung erst dann, wenn man als gegeben annimmt, dass ein Datensatz nach seiner Veröffentlichung abgerufen werden kann. Bereits die theoretische Chance des Abrufes sorgt dafür, dass wir als Urheber nicht mehr die Gewissheit haben, hier Kontrolle ausüben zu können.« Seines Erachtens wird »die Kontextualisierung (…) in Zukunft eine größere Rolle spielen müssen. Nicht jede digital eingebrachte Beleidigung wird gleich zu einer anwaltlichen Handlung oder zu einem Strafantrag bei der Polizei führen. Was wir brauchen, ist ein Vergeben ohne Vergessen.«

Humer fordert daher eine »umfassende Beschäftigung mit dem Thema Digitalisierung und Gesellschaft, umfassende Aufklärung und Debatte über Datenschutz und – vor allem – Datensparsamkeit, Konzentration auf interdisziplinäre Projekte und Debatten, sprich: die Verwebung von Technik, Recht und Gesellschaft statt singulärer, kontraproduktiver und ausschließlich technisch konnotierter Scheinlösungen.«29

Verräterische Daten

Ray Smith (Name geändert) kann sich noch gut an den Tag erinnern, als seine Daten mehr über sein Ich verraten haben, als ihm lieb war. Als seine Freundin, Selbstvermesserin wie er, ihm eines Tages ihre Datenkurve zur Sexfrequenz zeigte. Und dann, anstatt ihn zur Rede zu stellen, nur stumm auf seine deutete. Und plötzlich sichtbar wurde, was sonst vermutlich in Ray Smiths Unterbewusstsein vergraben worden und nie ans Licht gekommen wäre: ein Punkt zu viel in seiner »Sexfrequenz«-Kurve! Das analoge Ich wurde gewissermaßen vom digitalen eingeholt. Und hinterließ eine bleibende Spur, nicht nur digital.

Das Beispiel aus dem Privatleben eines Selbstvermessers zeigt im Kleinen, was auch im Großen gilt: Die Digitalisierung des Ich birgt immer auch die Gefahr, dass Informationen zu Stellen durchsickern, für die sie nicht bestimmt waren. Dazu muss nicht einmal Datenmissbrauch im klassischen Sinne vorliegen. Selbst wenn gegen keine Datenschutzrichtlinie verstoßen wurde, kann es passieren, dass andere mehr von mir erfahren, als mir lieb ist – aufgrund von Arglosigkeit oder aufgrund einer Überforderung im Informationsmanagement (wer darf was wissen und wer was besser nicht?) oder aufgrund von Algorithmen, die die Informationen in einer Weise verteilen, die ich nicht mehr überblicken kann.

Besonders brisant werden die Themen Echtheit und Persistenz, wenn nicht mehr ich es bin, der postet, was er gerade macht, sondern die Technik selbst. Wenn »machendes Ich« und »editierendes Ich« nicht mehr identisch sind, weil letzteres vom Algorithmus abgelöst wurde, der ein automatisches Posten meiner Statusmeldung veranlasst. »Frictionless sharing« – »reibungsloses Teilen« nennt sich das automatische Veröffentlichen in sozialen Netzwerken. Im Kapitel neun gehen wir darauf näher ein.

Das Selbst? — Mein Selbst!

Ob es sich bei dem eigenen Selbst/Ich um etwas im Kern Unerschütterliches handelt, das je nach Kontext nur um Aspekte erweitert oder verändert wird, oder ob es eine chamäleonartig je nach Umgebung wechselnde Verkörperung einer Idee ist, diese Frage mag Persönlichkeitspsychologen und Philosophen beschäftigen. Das Interesse des Selbstvermessers am eigenen Ich, an der eigenen Persönlichkeit, das Streben nach Selbsterkenntnis, genauer, nach Erkenntnis darüber, wer und wie ich in Relation zu den anderen bin, bahnt sich seine Wege außerhalb der wissenschaftlichen Arena: mitten im Alltagsleben. Viel mehr als die theoretische Frage nach der Beschaffenheit des Selbst des Menschen interessiert mich als Selftracker, wie es um mein Selbst bestellt ist. Ich messe, was ich bin, und ich bin, was ich messe. Und möglicherweise kristallisieren sich mit der Zeit aus der Fülle der dokumentierten Wechselwirkungen zwischen meinem Körper bzw. meiner psychischen Verfasstheit einerseits und dem jeweiligen Kontext, in dem ich mich befinde, andererseits bestimmte Muster heraus, aus denen ich dann so etwas wie ein Selbst-Verständnis ableiten kann. Selftracker sind sich der prinzipiellen Abhängigkeit ihrer körperlichen und seelischen Verfasstheit vom jeweiligen Kontext bewusst, ohne dadurch jedoch in Spekulationen über die Frage zu verfallen, ob sie denn nun über ein »wahres Selbst« verfügen oder nicht.

Insofern ist Quantified Self ein Eldorado für alle Suchenden nach Selbsterkenntnis. Nie war es so einfach wie heute, einen Blick ins Innere des Ich-Apparats zu bekommen, zu verstehen, wie man selbst tickt, warum man auf dies und jenes so oder so reagiert. All die kleinen, leicht handhabbaren, technisch simplen und daher kostengünstigen Sensoren, Apps, Gadgets und Devices erlauben mir einen Einblick in Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, der zuvor undenkbar gewesen wäre. Überzeugte Quantified Selfer schwärmen, man könne durch das Sammeln von Daten wie IQ-Wert, Hautwiderstand, Lungenkapazität, Blutzuckerwerte, Schrittanzahl, Puls usw. »den Geist in den Zahlen sichtbar machen«. Quantified Self sei für ihn, so ein Selbstvermesser, »wie ein Blick in den digitalen Spiegel. Das digitale Spiegelbild meines eigenen Selbst sozusagen.«30

Eine neue Idee von Normalität

Selftracker bekommen von Nicht-Selftrackern oft zu hören, sie seien narzisstische Egozentriker, die nur um sich selbst kreisten. Das ist in der Regel nicht der Fall. Dem Selbstvermesser geht es durchaus um den Austausch mit der Community; im Teilen der eigenen Körperdaten mit anderen Selftrackern kann man ohne Weiteres einen sozialen Akt sehen. Das digitale Ich, der Datenkörper, wird über den Austausch im Internet sozusagen wieder ans »echte Leben« angebunden, wenn auch wiederum »nur« übers Internet. Indem ich meine Werte auf einer Plattform veröffentliche, mache ich sie für andere Selbstvermesser zugänglich. Gleichzeitig erhalte ich Einblick in die Körperdaten der anderen, und so wird ein gegenseitiges Vergleichen und Kommentieren möglich. Indem ich meine Werte mit denen der anderen vergleiche, kann ich mich verorten. Ich bekomme ein Gefühl dafür, wo ich in Relation zu anderen stehe. Unabhängig von tradierten, von irgendwelchen Autoritäten irgendwann als »normal« oder »nicht normal« definierten Standards kann ich so meine eigene, an der Gruppe derer, die so ähnlich unterwegs sind wie ich, orientierte Normalität schaffen. Durch Quantified Self findet also eine Individualisierung des Konzepts »Normalität« statt. Interessierte bisher vor allem, was allgemein als »gesund«, »schädlich«, »normal« oder »abnorm« galt, geht es nun um die Frage, ob etwas »für mich gesund« ist, ob etwas »mir schadet« oder ob ich »normal im Vergleich zu meinen Freunden« bin. Allgemein gültige und möglicherweise längst überholte Normen treten in den Hintergrund. Relevante Vergleichsgröße ist jetzt der eigene Freundeskreis, sind all jene, die so ähnlich sind wie ich. Willkommener Effekt ist die beruhigende Erkenntnis, dass ich so abnorm ja doch nicht bin, wie mich meine Umgebung glauben lässt, ist das Aufatmen darüber, dass ich so krank offenbar doch nicht bin, wie mich der Arzt gesehen hat. Ein therapeutischer Begleiteffekt von Quantified Self liegt darin, das Selbstbewusstsein derer zu stärken, die in ihrem physikalischen Alltag bis dahin wenig Bestätigung von außen bekommen.

Hilfe zur Selbsthilfe

Mit dem Teilen der Daten einher geht, ganz ähnlich wie in gewöhnlichen sozialen Netzwerken, die emotionale Teilhabe am Geschehen der anderen, aber auch der Austausch von Erfahrungen und wissenswerten Sachinformationen. Anbieter wie moodtracker.com oder curetogether.com stellen Onlinetools für Leute mit bestimmten, oft chronischen Leiden bereit. Moodtracker beispielsweise, ein Portal für Leute mit Depression, kombiniert das Prinzip, durch Tracken der eigenen Stimmung Mechanismen ihrer Verschiebung zu entlarven und somit Licht ins Dunkel des eigenen Seelenlebens zu bringen, mit dem Prinzip der klassischen Selbsthilfegruppe, das Leiden des anderen durch Anteilnahme zu mindern, gegebenenfalls auch durch Sachinformationen und Tipps. In dieser technikgestützten Selbsthilfe plus dem Beistand der Community liegen wissenschaftlich noch nicht erforschte, aber vermutlich nicht zu unterschätzende Heilungspotenziale. Sowohl für das Individuum als auch für eine Gesellschaft, die sich das Interesse am Wohlergehen des anderen weitgehend abtrainiert hat.

Geht es bei herkömmlichen Social-Media-Netzwerken primär darum, mit meinen selbst ausgewählten Kontakten in einen kommunikativen Austausch zu treten, der thematisch vom gestrigen Frühstück oder dem neuesten Lady-Gaga-Video bis zum F. A. Z.-Verriss meines Lieblingsschriftstellers oder dem Aufruf zur Demo gegen Rechts reichen kann, prinzipiell also unspezifisch, mitunter auch zweckfrei ist, so steht bei Quantified Self ein klarer Nutzen im Vordergrund: mich und/oder andere besser zu verstehen und, je nach Ambition, in bestimmten Disziplinen zu verbessern, zum Beispiel in körperlicher Fitness, Leistungsfähigkeit oder Aussehen. Im Vergleich zum Twittern oder Posten bei Facebook, wo sich das »social« im vernetzten kommunikativen Austausch erschöpft, geht Quantified Self einen Schritt weiter: Man will Erfahrungen weitergeben, um anderen zu helfen, und man will die Erfahrungen der anderen nutzen, um sich selbst zu helfen. Social Media für soziale Zwecke. Social Social Media!

Nonverbale Kommunikation 2.0

Dass so viele Menschen weltweit so enthusiastisch an der Digitalisierung ihres Ich mitwirken, wie die massenhafte Facebook-Nutzung zeigt, inspiriert die Programmierer zu immer neuen Apps und Devices, die auf Facebook aufbauen und ihren (allesamt schüchternen?) Nutzern eine Kontaktaufnahme zu anderen Menschen im »realen« (physikalischen) Leben erleichtern oder diese sogar ersetzen wollen. Kommunikation, sogar die nonverbale, wird damit überflüssig. Nicht mehr ich bin es, der spricht, und nicht mehr mein Körper ist es, der Signale sendet. Die Signale kommen jetzt aus den Geräten.

Das »Amico Bracelet« beispielsweise soll dazu dienen, dass kontaktwillige Facebook-Nutzer, die nichts voneinander wissen, sich im physikalischen Leben treffen. Das schmale Bluetooth-Armband (»wearable Bluetooth 4-enabled bracelet«) synchronisiert sich mit einer Handy-App, die das eigene Facebook-Profil aggregiert und diese Informationen in einem Speicher im Armband ablegt. Daraufhin strahlt es eine aggregierte Ansicht dieses Profils im Umkreis von etwa 50 Metern aus. Andere, die auch gerade ein »Amico« tragen, strahlen ihr Profil ebenfalls aus. Wenn zwei Profile, die von der Technik als gut zueinander passend erkannt werden, sich nahe kommen, fangen beide Armbänder an zu vibrieren. Der Hersteller wirbt damit, dass auf die Weise das Geheimnisvolle an einer Begegnung zwischen zwei Fremden gewahrt bleibe. Ich weiß vom anderen nur, dass sein Facebook-Profil gut zu meinem passt, aber nicht, inwiefern. Bisher gibt es das Armband allerdings nur als Prototyp31. Alles andere als geheimnisvoll und auch ungleich direkter als andere Facebook-basierte Dating-Dienste, die es zuhauf gibt, ist eine Anfang des Jahres 2013 erschienene Facebook-App mit dem unmissverständlichen Namen »Bang Your Friends« – »Bums deine Freunde«. Die Anwendung soll Facebook-Freunde mit eindeutigen Absichten physikalisch zusammenbringen, einfach und pragmatisch: Unter den eigenen Facebook-Kontakten kann der Nutzer die begehrten Freunde markieren. Sollte einer dieser Facebook-Freunde seinerseits einen ähnlichen Wunsch äußern, werden beide via E-Mail über das gegenseitige Interesse informiert. Bang!

Man kann darin eine Verrohung der Sitten sehen, einen Angriff auf die Kunst des Flirtens, mithin einen Kulturverfall … oder eine moderne, zeitgemäße Form der romantischen Annäherung: technikgestützt und je nach Charakter (der Anwendung und der Anwender) mal spielerischer, mal pragmatischer. Wir wollen derartige Dienste nicht beurteilen. Vielmehr interessiert uns daran die Frage, ob und wenn ja, wie solche Services die Begegnungen zwischen Menschen beeinflussen. Angenommen, das Amico-Armband wird tatsächlich produziert, und angenommen, ein solches am Handgelenk zu tragen wird eines Tages so selbstverständlich wie heutzutage der Besitz eines Handys – welche Auswirkungen hat diese neue Sinnfälligkeit des Subkutanen auf die zwischenmenschlichen Begegnungen? Wie verändert sich mein Sozialverhalten, wenn ich auf einmal dank technischer Hilfsmittel schon aus einigem Abstand weiß, was ich früher erst in unmittelbarer Nähe des anderen ahnen konnte, manchmal sogar erst nach einer Berührung?


http://vimeo.com/15218294

Der britische Designer und Quantified-Self-Anhänger James Burke hat intime persönliche Beziehungen digital gemessen und analysiert. In einem Vortrag stellt er die Ergebnisse vor. (Video)