2. Die digitale Suche nach dem Ich: Einführung in die Selbstvermessung


Wer bin ich?

Das Suchen nach der eigenen Identität ist vielleicht die prägnanteste aller menschlichen Eigenschaften. Wir wollen uns selbst verstehen, ein Bewusstsein für das eigene So-Sein entwickeln, geistig wie körperlich. Ein probates Mittel zur Bildung eines Selbstbewusstseins, also eines Bewusstseins über das Verhältnis zwischen Ich und Welt, ist von alters her die Selbstreflexion. »Gnothi seauton« – »Erkenne dich selbst!« So lautet die berühmte, dem Gott Apollon zugeschriebene Formel aus dem antiken Griechenland.

Die Techniken zur Selbsterkennung sind je nach Kultur, intellektuellen und spirituellen Fähigkeiten unterschiedlich. Ob wir unser Befinden in Form eines mehrseitigen Tagebucheintrags von literarischer Qualität festhalten oder stichpunktartig Buch führen über einzelne von uns für wichtig gehaltene Kenngrößen – und seien es nur die wöchentlichen Haushaltsausgaben –, immer steht dahinter der Wunsch, Kenntnis über uns selbst und unser Leben zu erlangen. In erster Linie wohl, um »Herr über sich selbst« zu sein, das eigene Leben im Griff zu haben und nicht als Spielball anderer Kräfte durch die Welt zu kullern.

Die menschliche Neigung, Spuren, die man durch sein Tun hinterlässt, zu bewahren – nicht nur, aber auch in der Hoffnung, aus den Aufzeichnungen mehr über sich selbst zu erfahren –, hat in den letzten Jahren durch technische Entwicklungen wie Web 2.0, Social Media und Augmented Reality, also die computergestützte Erweiterung meiner Realitätswahrnehmung etwa durch Einblenden von Informationen in den momentanen Realitätsausschnitt auf meinem Smartphonedisplay, enormen Aufwind bekommen. Nie war es so einfach wie heute, mit Hilfe von Software, Kleinstgeräten wie dem Alleskönner Smartphone und winzigen Gadgets das eigene Leben zu beobachten und digital zu archivieren.

So weit, so gut. Doch was, wenn auch andere an meinen Daten interessiert sind? Wenn andere meine Bewegungen durchs Leben verfolgen, aufzeichnen und speichern, möglicherweise sogar, ohne dass ich davon weiß?

In der Tat ist solches Fremdinteresse an der eigenen Person längst die mal mehr, mal weniger versteckte Realität. Unzählige Programme und Dienste sind nur dazu da, uns am Computer oder über unser mobiles Endgerät beim Kaufen, Spielen, Herunterladen und Suchen auszuspionieren und die personenbezogenen Daten für verschiedenste Zwecke zu speichern. Vor allem für die Werbeindustrie sind die genauen Adressen und Telefonnummern attraktiv, möglichst angereichert durch Informationen zu Einkaufsgewohnheiten, persönlichem Umfeld und finanzieller Situation.

Im Jahr 2007 ließen sich die beiden amerikanischen Technikjournalisten Kevin Kelly und Gary Wolf von der allgemeinen Datensammelwut zu einem Projekt inspirieren, das sie »The Quantified Self« nannten. Die Grundidee lautet »Selfknowledge through numbers« – Selbsterkenntnis durch Zahlen. Durch permanente Vermessung des eigenen Körpers und die dadurch erhobenen Körperdaten will man sich selbst besser kennenlernen. Schließlich, so Gary Wolf, sei es nur fair, wenn man so viel über sich selbst wisse, wie es auch Google oder Facebook schon tun.

Auf der Internetseite www.quantifiedself.com heißt es: »Quantified Self is a collaboration of users and tool makers who share an interest in self knowledge through self-tracking. We exchange information about our personal projects, the tools we use, tips we’ve gleaned, lessons we’ve learned. We blog, meet face to face, and collaborate online.«1

Seit 2011 findet dieser Trend auch in Deutschland immer mehr Anhänger. Der deutsche Ableger definiert sich auf www.quantified-self.de schlicht als »Netzwerk aus Anwendern und Herstellern von Tools und Methoden auf Basis persönlicher Daten«.

Quantified Self ist also ein Prinzip in Bewegung: Selbsterkenntnis durch Daten, die durch konstantes Vermessen der eigenen Person, der jeweiligen Umwelt und der Bewegungen dieser Person in ihren Umwelten gewonnen, dokumentiert und je nach Belieben in Social-Media-Netzwerken geteilt werden.

Die »Quantified Selfer«, »Lifelogger« oder »Selftracker« betrachten den menschlichen Körper als einen Daten-Körper, der permanent mit seiner Umwelt im Austausch steht. Sie messen und dokumentieren (»tracken«) beinahe jeden Aspekt ihres alltäglichen Lebens: was sie essen und wie sie sich danach fühlen, wie und wie viel sie schlafen, wie viel sie sich am Tag bewegen, wie oft sie Sex haben, sie tracken die verschiedensten Körperfunktionen, Befindlichkeiten und Verhaltensweisen. Das Stresslevel – sowohl das subjektiv gefühlte wie auch das objektiv gemessene – wird ebenso in Zahlen festgehalten wie das tägliche Kommunikationsverhalten, Finanzaktivitäten, Kaffee- oder Alkoholkonsum. Immer geht es darum, biologische, psychische und physische Werte, im Großen und Ganzen also alle gesundheitsrelevanten Daten (z. B. Körpergewicht, Blutwerte, Blutdruck, Lungenkapazität oder psychisches Befinden), mit umwelt- und verhaltensbezogenen Informationen (z. B. Standort, Arbeitszeit pro Tag, Ernährung, täglich zurückgelegten Wegstrecken oder Schritten) ins Verhältnis zu setzen und daraus Erkenntnisse über den eigenen Lebensstil, das eigene So-Sein, abzuleiten.

Die Verfahren, um die Daten zu erfassen, sind je nach gemessenem Bereich unterschiedlich. So werden die Zahlenwerte sowohl manuell in Excel-Tabellen oder andere Listen eingetragen – etwa die momentane Stimmung auf einer Skala von eins bis zehn – als auch via Smartphone-App oder Vitalitätssensor automatisch erfasst und je nach Belieben visualisiert und auf Quantified-Self-Portalen oder in sozialen Netzwerken mit der Community geteilt. Ausgewertet werden die Daten meist in Form von Visualisierungen wie Diagrammen, Graphen oder tag clouds.

Die Selftracker erhoffen sich von den Werten und den sich über die Zeit herauskristallisierenden Korrelationen zwischen den verschiedenen Parametern nichts Geringeres als eine tiefere Selbsterkenntnis. Aus den gewonnenen Daten wollen sie Dinge über sich und ihren Körper herausfinden, die man sonst nicht herausfinden würde, Zusammenhänge aufdecken, die bislang im Verborgenen lagen. Wer bin ich, und wer will ich sein?, lauten die Kernfragen der Selftracking-Bewegung. Mit Hilfe von Smartphone-Apps, diversen Tools, Gadgets und Devices wie etwa mit Sensoren ausgestatteten Schuhen, Stirn- oder Armbändern, daumengroßen Schrittzählern, mit dem Computer vernetzten Körperwaagen, Blutzucker- oder Lungenfunktionsmessgeräten einerseits, Visualisierungs- und Auswertungs-Software andererseits wird die uralte Philosophentradition, sich selbst erkennen zu wollen, mit neuer Energie belebt und sozusagen aus den ätherischen Höhen des Elfenbeinturms ins vergleichsweise pragmatische Hier und Jetzt verfrachtet. Der »Blick in den digitalen Spiegel«, wie es ein Quantified-Selfer ausdrückt, ermöglicht einen vollkommen neuen Zugang zu sich selbst, zum eigenen Körper, zum eigenen Sein.

Wer will ich sein?

Der Quantified-Self-Bewegung geht es, wie schon angedeutet, nicht um Selbsterkenntnis allein, sondern auch um Selbstoptimierung. Die Selbstvermesser wollen aus den gewonnenen Daten erkennen, warum sie so leben, wie sie leben, um schädliche, also dem Wohlbefinden und der Leistungsfähigkeit abträgliche Verhaltens- und Reaktionsmuster zu ändern. Sie wollen wissen, wie ihr Körper »tickt«, wie es in ihrem Inneren aussieht, wie und nach welchen Mustern ihr Körper auf die unzähligen Einflüsse reagiert, die sein tägliches Ausgesetztsein mit sich bringt – mit dem Ziel, dort, wo es nötig ist, gegenzusteuern und das Verhalten zu ändern. So sind viele Produkte zur Selbstvermessung so konzipiert, dass sie die Selbstmotivation fördern und den Anwender zu einem von ihm angestrebten Verhalten motivieren sollen. Indem er vom jeweiligen Programm ein unmittelbares Feedback bekommt, sei es visuell, akustisch oder auch nur als reiner Zahlenwert, wird ihm ein bestimmtes Verhalten bewusst gemacht, was wiederum zur Verhaltensänderung animiert.

Neben den Einsichten in die Funktionsmechanismen des eigenen Körpers für Trainings- und Optimierungszwecke geht es bei Quantified Self auch darum, überholte Standards dessen, was vermeintlich »normal« ist oder »gesund«, neu zu justieren. Man will sich nicht länger von einer – womöglich im Verdacht der Profitorientiertheit stehenden – Arztautorität messen, kategorisieren und therapieren lassen, zumindest nicht ausschließlich. Statt sich in die alleinige Obhut eines chronisch überarbeiteten und zur Wirtschaftlichkeit verdammten Arztes zu begeben, nimmt man die Sache lieber selbst in die Hand. Man misst und trackt und wertet aus und teilt diese Daten mit der Community. Die Daten der anderen, genauer: all jener Community-Mitglieder, die einen ähnlichen Lebensstil pflegen wie man selbst, bilden dann neue Maßstäbe, unabhängig davon was bis dahin als »normal« oder »nicht normal« galt. Diese neuen, wenn man so will evidenzbasierten, durch die Ergebnisse der Community definierten und insofern vergleichsweise differenzierten Konzepte von »Normalität« erlauben es dem Individuum, sich selbstbestimmt zu entwickeln, eingebettet im Datennetz der Community. Lieber vergleicht man sich mit denen, die einem selbst ähneln, und versucht, nach und nach besser (je nach eigenen Zielen eben: schneller, schlanker, kräftiger, leistungsfähiger oder was auch immer) zu werden, anstatt sich von fremden Autoritäten »krank« reden und »gesund« medikamentieren zu lassen.

Quantified Self allerdings als Protestbewegung zu verstehen, die in prinzipieller Opposition zum bestehenden Gesundheitssystem agiert, hieße, ihren konstruktiven Charakter gründlich zu verkennen.

Tatsächlich scheint auch die etablierte Medizin inzwischen die Notwendigkeit erkannt zu haben, den Einzelfall bei der Wahl der Therapie mehr als bisher zu berücksichtigen. Unter dem Schlagwort »individualisierte Medizin« propagieren immer mehr Ärzte ein Gesundheitssystem, das ihnen eine auf die persönlichen Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnittene Vorsorge, Diagnostik, Früherkennung und Therapie ermöglicht. Sie wollen individuelle Krankheitsrisiken genauer vorhersagen können und unerwünschte Nebenwirkungen sowie ineffiziente Therapien möglichst vermeiden. Mit Quantified Self erhobene Daten können hier wertvolles Basismaterial liefern. Der »Patient« wird gleichsam zum Mitarbeiter des Arztes. Die Arbeitsergebnisse des Patienten, der dank Quantified Self große Mengen an eigenen Körperdaten gesammelt hat, werden mit der Arbeit des Arztes, der über ein breites Spektrum an Wissen und Erfahrung verfügt, kombiniert. Der Blick in die Tiefe (Patient) und der Blick in die Breite/Weite (Arzt) ermöglichen zusammen eine Analyse der Gesundheit des Patienten von ganz neuer Qualität. In Kapitel sechs werden wir darauf näher eingehen.

Nicht zuletzt ist Quantified Self auch ein neuer Markt mit offenbar beachtlichem Wachstumspotenzial. Viele Quantified-Selfer sind gleichzeitig Informatiker, Bioinformatiker oder in irgendeiner Form mit der Erforschung und Entwicklung neuer (Software-)Technologien beschäftigt. Oft entwickeln sie eigene Lösungen zur Sammlung von Daten, experimentieren mit selbst gebastelten Sensoren oder entwickeln eigene Software. So vereint die über den Globus verteilte Quantified-Self-Community bloße Anwender einer von anderen entwickelten Technik mit Anwendern, die gleichzeitig Produzenten sind – Produzenten, die mal mehr, mal weniger kommerzielle Wege einschlagen.

Mit dem vorliegenden Buch wollen wir einen Überblick bieten über das schier uferlose Thema der Digitalisierung unseres Lebens, insbesondere der eigenen Person. Die digitale Revolution hat unsere Gesellschaft in einem Ausmaß verändert, wie es zuletzt die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert getan hat. Wir sind gewissermaßen eins geworden mit der Technik. Computer, Internet und Smartphone sind längst viel mehr als nur Instrumente zur Organisation und Kommunikation. Sie sind gleichsam zu Erweiterungen unseres Selbst mutiert, sind »intelligent« geworden, passen sich immer mehr unseren Bedürfnissen an, werden immer menschlicher. Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine lösen sich zunehmend auf, wir statten uns mit Sensoren aus und verbinden uns mit Kleinstgeräten, die uns auf Schritt und Tritt vermessen. Wir vertrauen den Geräten mitunter mehr (an) als einem Arzt, im Gegenzug erhoffen wir uns Aufschluss über unser Verhalten, über unser individuelles, komplexes, rätselhaftes So-Sein. Davon und von den möglichen Folgen der Digitalisierung unseres Ich handelt dieses Buch. Und wir hoffen, dass es den Leser in Erstaunen versetzt.


http://www.ted.com/talks/gary_wolf_the_quantified_self.html

Quantified-Self-Mitbegründer Gary Wolf gibt einen kurzen Überblick über die Erkenntnisse seiner persönlichen Selbstvermessung. (Video)