6. Selbstvermessung als Medizin der Zukunft?


Wenn Zahlen heilen

Dan Horn aus Portland ist überzeugt, dass Daten heilen können. Anfang des Jahres 2012 wurde bei ihm Diabetes mellitus Typ 2 diagnostiziert, eine chronische Stoffwechselkrankheit, die zu einem erhöhten Blutzuckerspiegel führt. Das körpereigene Insulin reicht dann nicht mehr aus, um den Zucker in verwertbare Energie umzuwandeln. In westlichen Industrieländern ist Diabetes 2 als sogenannte Volkskrankheit weit verbreitet. Die Neigung dazu ist zwar genetisch bedingt, aber in den meisten Fällen sind Übergewicht und Bewegungsmangel daran schuld, dass die Krankheit entsteht. Dan sagt, die Diagnose sei für ihn keine allzu große Überraschung gewesen. Er wusste schon lange, dass er Übergewicht hatte, und war auch schon von verschiedenen Ärzten gewarnt worden, dass er sich in einem Diabetes-Vorstadium befinde. Nun war es also so weit.

»Mein Arzt sagte mir in glasklaren Worten, dass ich mir künftig Insulin spritzen müsse«, erzählt Dan. »Der Rubikon war überschritten.«

Der Bluttest Ende Dezember 2011 hatte einen Glykohämoglobin-Wert von 12,2 angezeigt. Werte zwischen 5,7 und 6,4 gelten als Vorstufe zu Diabetes, bei über 6,5 ist man Diabetiker.

»Traurig und wütend verließ ich die Klinik«, sagt Dan. »Ich wollte die medizinische Prognose einfach nicht akzeptieren. Ich wollte mir nicht für den Rest meines Lebens Insulin spritzen. Und ich wollte weder erblinden noch meine Füße verlieren.« Beides sind typische Langzeitfolgen bei Diabetes. Für Dan Horn war das die reine Horrorvision, auf gar keinen Fall durfte es so weit kommen! »Ich sah, dass mein Körper in schlechtem Zustand war«, sagt Dan. Die Ursache ist für ihn eindeutig: »Wegen der ›Software‹, die in meinem Gehirn lief.«

Dan Horn gerät ins Schwärmen über die Möglichkeiten zur Selbsthilfe, die die winzigen, nahezu unsichtbar am Körper tragbaren Messgeräte bieten. Er erzählt, wie er seinen Blutzuckerspiegel ab sofort jeden Morgen und nach jeder Mahlzeit gemessen und die Daten via Drittsoftware getrackt hat. Außerdem wurde über Withings sein tägliches Körpergewicht in die Cloud geladen, und einem Nike FuelBand in Kombination mit einem Fitbit überließ er es, rund um die Uhr zu kontrollieren, ob er sich auch genug bewegte. Sechs Monate später war sein Glykohämoglobin auf 5,4 gesunken, also auf einen absoluten Normalwert.

Dan fasst seine Geschichte so zusammen: »Einerseits hatte mir ein professioneller Mediziner schonungslos die Wahrheit über meinen Gesundheitszustand ins Gesicht gesagt. Andererseits half mir eine Reihe von Diensten und Devices, mit denen ich mich ausgestattet hatte, mir meines Verhaltens bewusst zu werden – und es zu ändern. Ich hatte mich gewissermaßen durch Daten selbst geheilt.«15

Erzähle mir, wie du lebst – und ich sage dir, was dir fehlt

Geschichten wie die von Dan Horn aus Portland sind für den Berliner Arzt Wilhelm Breitenbürger Wasser auf die Mühlen seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Allgemeinarzt. Der 64-Jährige betreibt seit 30 Jahren eine Praxis für Allgemeinmedizin und Psychosomatik in Berlin-Kreuzberg. Ihm liegt der mündige Patient am Herzen, der aufgeklärte, der selbst an seiner Heilung mitarbeitet, statt passiv zu bleiben und sich mit Medikamenten abspeisen zu lassen. Und wenn es jetzt die passende Technik gibt, die diesen Ansatz unterstützen kann – umso besser.

Bevor er sich 1983 mit einer eigenen Praxis niederließ, hatte er verschiedene medizinische Fächer ausprobiert: Chirurgie, Innere Medizin und HNO, er war Arzt in einer Naturheilklinik, übernahm Landarzt-Vertretungen. Schließlich dann die eigene Praxis.

»Damals, als Landarzt-Praxisvertretung, hatte ich teilweise 120 Durchläufe pro Tag. Also 120 Patienten pro Tag in zwei Sprechzimmern. Da wusste ich, was ich nicht wollte.«

Es ist Mittwochnachmittag. Wir sitzen in einem Café am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer. Jeden zweiten Mittwoch nimmt sich der Arzt frei. Es ist eine bewusste Pause, ein Freiraum, in dem er Sport macht, sich mit Leuten trifft, sich weiterbildet, durch Lektüre und durch das Leben selbst – nicht nur, aber auch, um ein guter Arzt sein zu können.

»In dieser Zeit als Landarzt-Vertretung sind mir viele Menschen begegnet, mit denen ich mich gerne bemüht hätte aufzudecken, warum sie krank geworden sind, und mit denen ich gerne durchgesprochen hätte, was zu tun ist. Aber um die Arbeit einigermaßen zu schaffen – das Wartezimmer war immer voll –, griff ich zu den Rezeptformularen, wissend, dass die Medikamente schnell wirksam waren. Allerdings: An den vielen Wiederholungsrezepten, die ich nebenbei noch unterschrieb – täglich bis zu 100 Stück – merkte ich, dass da was nicht stimmte.«

Wer zu Wilhelm Breitenbürger in die Praxis kommt, kriegt etwas Seltenes geboten: einen Arzt, der Zeit hat. Durchschnittlich eine halbe Stunde nimmt sich der Wahlberliner für jeden Patienten.

»Ich sitze da und kann erst einmal eine gründliche Anamnese machen«, sagt Breitenbürger, »durch Fragen und Zuhören. Ich untersuche auch körperlich und kann meistens eine ausreichend gute Diagnose stellen, ohne dass ich gleich in die technische Abklärungsdiagnostik gehe. Die dient oft genug nur der Absicherung des Arztes. Viele Arztbesuche wären vermutlich überflüssig, wenn die Leute mehr praktisches Wissen über Krankenbehandlung hätten, wenn sie mehr altbewährte Hausmittel kennen und mehr über gesunde Lebensführung wissen würden.«

Leider ist die Regel immer noch der passiv bleibende Patient, der Patient, der sich an den Dauergebrauch »seiner« Medikamente gewöhnt hat, statt selbst aktiv mit seinen Störungen umzugehen. »Im Gegenzug ist der Arzt natürlich wenig geneigt, Zusammenhänge aufzudecken, wenn er das Gefühl hat, der Patient sei selbst nicht sonderlich interessiert daran, Grundlegendes zu ändern«, sagt Breitenbürger. »Eine fatale Wechselwirkung.« Mit seinem Praxisstil steuert er gegen diese Passivität auf der einen und die Uninspiriertheit auf der anderen Seite.

»Indem ich mir für den Patienten und das, was er zu erzählen hat, Zeit nehme, habe ich ein gutes Gefühl, dass das, was ich da erkenne, auch stimmig ist. Ich frage ihn: ›Was ist eigentlich los? In welcher Situation stehst du gerade?‹ Weil das ja oft der Grund für die Erkrankung ist: dass es irgendwelche Belastungsfaktoren gibt, in der Beziehung oder am Arbeitsplatz oder sonst etwas, das man gemeinsam besprechen kann. In der Regel brauche ich dann nicht so viel weitere Abklärung und kann etwas naturheilkundlich oder schulmedizinisch veranlassen, sei es Beratung, seien es Wickel, Tees oder Wärme-Kälte-Anwendungen und so weiter. Ich verschreibe aber auch durchaus Medikamente. Und ich gebe den Patienten Ratschläge, was sie tun können, die ich dann auch konkret mit ihnen durchspreche. Manchmal gebe ich ihnen Hilfestellungen über NLP (Anm.: Neurolinguistisches Programmieren), sodass sie selbst erkennen können, welche Situationen sie besonders belasten und wie sie sich aus diesem Gefühl der Belastung befreien können. Mit manchen mache ich Affirmationen, um an Zukunftszielen zu arbeiten, mit manchen mache ich auch Autogenes Training und andere Entspannungsübungen. Und ansonsten bin ich mit denen intensiv dabei, sie von da wegzuholen, wo sie gerade hängen.«

Dieser Praxisstil, sich mit genug Zeit und innerer Beteiligung um den Patienten zu bemühen, geduldig mit ihm die Zusammenhänge zwischen Beschwerden und Lebensführung zu erörtern, Verhaltensänderungen vorzuschlagen und Alternativen zu finden, ist hierzulande immer noch ein Luxus, den man sich als Arzt leisten können muss, den Patienten zuliebe.

»Längere Gespräche mit Patienten kann man als Kassenarzt immer noch nicht oder nur sehr begrenzt auf den Krankenscheinen abrechnen. Da muss man eben in die Psychotherapie selbst gehen. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte als Allgemeinarzt in der Kassenpraxis bleiben«, sagt Breitenbürger.

Durch die halbstündige Taktung, die es erlaubt, mit dem Patienten entspannt und ohne Zeitdruck über seine aktuelle Lebenssituation zu sprechen, hat er schon viele überraschende Diagnosen stellen, schon viele Zusammenhänge aufdecken können, die anders vermutlich nie ans Licht gekommen wären. Oder erst nach diversen aufwendigen Diagnoseverfahren.

So erzählt beispielsweise eine Patientin, Mittvierzigerin mit eigener Werbeagentur: »Eines Tages kam ich wegen einer seltsamen Hautveränderung zu ihm. Ich war sehr aufgeregt, weil ich nicht wusste, was das ist, und weil ich Angst hatte, dass etwas Schlimmes dahinterstecken könnte. Er sagte: ›Bleib mal ruhig. Das ist eine Schuppenflechte. Was ist denn gerade los in deinem Leben? Juckt dich was?‹ Tatsächlich hatte ich gerade in der Zeit ziemlichen Stress wegen einer Frau, mit der ich mir bis dahin ein Atelier geteilt hatte. Es war die Phase, in der wir unsere Ateliergemeinschaft auflösten und alles auseinanderdividieren mussten, auf zum Teil unschöne Art. Dass mich das belastete, war mir aber bis zu dem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen.«

Verborgene Zusammenhänge aufdecken, die Wechselwirkungen erkennen zwischen dem eigenen Erleben und Verhalten einerseits und den körperlichen Reaktionen andererseits – darum geht es auch beim Selftracking. Ist das Ziel beim Quantified Self die »Selbsterkenntnis durch Zahlen«, so ist es für Ärzte wie Wilhelm Breitenbürger, könnte man sagen, die Selbsterkenntnis durch Worte. Erzähle mir, wie du lebst – und ich sage dir, was dir fehlt.

Da ein Arzt selten bereit oder in der Lage ist, sich derart intensiv für seine Patienten und ihr Leben zu interessieren, könnte Quantified Self hier womöglich ein Ersatz sein. Wenn man keinen Arzt hat, der angemessen zuhört, was man als Patient zu sagen hat, lässt man eben die Technik »zuhören«. Oder nicht? Wir bitten Wilhelm Breitenbürger um eine Einschätzung.

»Im Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden, dass Leute versuchen, mit Hilfe von technischen Geräten, die sie selbst leicht bedienen können, ihre Gesundheit in den Griff zu bekommen. Dieses Biofeedback kann zu mehr Entspannung führen, zu mehr Bewegung, zu Pausen, zu einer gesünderen Lebensweise. Es führt insgesamt zum Leben im Hier und Jetzt. Das ist Leben in der Gegenwart in voller Präsenz. Wie man diese Präsenz erreicht, ist egal, die Lebensenergie fließt dann. Der Mensch kann dann sagen: ›Ich bin, der ich bin.‹ Also, das könnte durchaus eine Ergänzung sein zur Gesprächsmedizin, bei der der fühlende Arzt den Patienten mit seinen Schwächen und Stärken erfasst, die Gefahren sieht, eine Diagnose stellt und berät und ihn unterstützt. Allerdings fehlt bei solchen Eigenmessungen meines Erachtens der Faktor ›Veränderungsenergie‹. Man muss schon sehr viel Willen aufbringen, sich selbst zu heilen. Aber gerade was die Prävention von Krankheiten angeht, halte ich die Selbstvermessung durchaus für sinnvoll.«

Allerdings, so wenden wir ein, besteht bei der Selbstvermessung doch sicher auch die Gefahr, dass die Geräte gar nicht das messen, was sie zu messen vorgeben. Kann man beispielsweise tatsächlich, wie es die Selbstvermesser tun, aus Hirnwellen, die während des Schlafs aufgezeichnet werden, oder aus einem Bewegungssensor, der misst, wie oft der Körper sich im Schlaf bewegt hat, ableiten, wie »gut« im Sinne von erholsam man geschlafen hat?

Die Antwort überrascht uns: »Auch wenn die Interpretation womöglich falsch ist«, sagt Breitenbürger, »so schafft die Beschäftigung damit die Vision der Besserung, die Vision der Gesundheit. Und das allein führt schon zu einer Verbesserung.«

Könnte er sich vorstellen, dass Patienten in Zukunft mit USB-Stick zu ihm in die Praxis kommen, um ihre über einen bestimmten Zeitraum gesammelten Daten mit ihm zu besprechen?

»Das würde ich nicht wollen. Um den Patienten zu erfassen, will ich keinen USB-Stick. Er kann ihn auf den Tisch legen, und ich rede mit ihm über seine Lebensträume und arbeite mit ihm an der Verwirklichung. Ich bin Unterstützer, eine Art Katalysator. Ich unterstütze den Patienten darin, dass seine eigene innere Natur zum Zuge kommt.«

Quantified Self – die passende Medizin für die digitale Gesellschaft?

Ob man sich auf diesem Weg zur eigenen inneren Natur, zu Selbsterkenntnis, Selbstverbesserung und -heilung lieber von einem in dieser Hinsicht kompetenten Arzt unterstützen lässt oder von neuen Technologien, ist wohl vor allem eine Typfrage. Ob man sich selbst lieber sprechend oder messend erkundet, ob man sich lieber in Worten abgebildet sieht oder in Zahlen, hängt wohl hauptsächlich davon ab, in welchem Element man sich wohler fühlt – im Erzählen oder im Zählen – und wem man mehr traut – dem entstandenen Text oder den gemessenen Zahlenwerten. Mit anderen Worten: Welchen Weg der Heilung ich einschlage, hängt davon ab, in welcher Kultur ich mich zu Hause fühle.

Jede Medizin ist hochgradig kulturspezifisch. Die Vorstellungen dessen, was »gesund« bedeutet und was »krank«, sowie die Mittel und Wege der Heilung sind eng mit dem Kulturkreis verzahnt, in dem sie entstanden sind und in dem sie sich entwickelt und weiterentwickelt haben. Jede Kultur, verstanden als gewachsene Gemeinschaft von ähnlich Lebenden, hat also ihre eigene Medizin, und es gibt eigene Wissenschaftszweige – Ethnomedizin, Medizinethnologie und Medizinsoziologie –, die diese kulturelle (und oft auch politische) Bedingtheit der weltweit existierenden Medizinen erforschen.

Die digitale Revolution hat seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert beinahe all unsere Lebensbereiche verwandelt, in einem ähnlichen Ausmaß, wie es im 19. Jahrhundert die Industrielle Revolution getan hat. Die Computerisierung zunächst der Arbeitswelt, inzwischen aber auch der privaten Lebensbereiche, hat unter anderem zur Folge, dass wir uns in einem noch nie gekannten Ausmaß mit einem technischen Gerät identifizieren. Der eigene Computer bzw. das Smartphone ist zum technischen Ableger der eigenen Persönlichkeit geworden. Die digitale Revolution ist eine Kulturrevolution.

Betrachtet man nun beides zusammen – die kulturelle Bedingtheit von Medizinen und die Computerisierung unserer Gesellschaft, die sich in den letzten 20 Jahren rasant vollzogen hat –, liegt der Schluss nahe, dass die computerisierte Medizin die Medizin für unsere (digitale) Gesellschaft ist. Ist das so?

eHealth und mHealth

Unter den Namen »eHealth«, »E-Gesundheit«, »Health 2.0«, »Online Health« oder auch »Cybermedizin« und »(Internet-)Consumer Health Informatics« firmieren seit einiger Zeit alle Anwendungen elektronischer Geräte zur medizinischen Versorgung und anderer Aufgaben im Gesundheitswesen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt eHealth als den »Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) für die Gesundheit«. Dazu zählt sie »die Behandlung von Patienten, die Erforschung von Krankheiten und ihren Ursachen, die Ausbildung von Arbeitskräften im Gesundheitswesen sowie das Tracken und Monitoring der öffentlichen Gesundheit«16.

In Deutschland gehört der Bereich eHealth bislang zum sogenannten »zweiten Gesundheitsmarkt«. Anders als der »erste Gesundheitsmarkt«, der als (Noch-)Kernbereich unserer Gesundheitswirtschaft den Bereich der »klassischen« Gesundheitsversorgung durch Krankenversicherung, Arbeitgeber, Staat und andere Sozialversicherungsträger umfasst, beinhaltet der »zweite Gesundheitsmarkt« alle privat finanzierten Produkte und Dienstleistungen rund um die Gesundheit, also zum Beispiel freiverkäufliche Arzneimittel, individuelle Gesundheitsleistungen oder Fitnessprodukte und -programme.17

Das Journal of Medical Internet Research definiert eHealth als »wachsendes Feld in der Schnittmenge aus Medizinischer Informatik, Gesundheitswesen und Wirtschaft, verbunden mit Gesundheitsdienstleistungen und Informationen, die durchs Internet und daran gekoppelte Technologien verbreitet und gefördert werden. In einem weiteren Sinne bezeichnet der Ausdruck nicht nur eine technische Entwicklung, sondern auch einen Geisteszustand, eine Art zu denken, eine Geisteshaltung und ein Bekenntnis, durch vernetztes, globales Denken und den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien die Gesundheitsversorgung vor Ort, regional und weltweit zu verbessern.«18

Ein zunehmend wichtiger Teilbereich der eHealth ist der Bereich mobile Health, kurz »mHealth«. Unter mHealth fallen alle Gesundheitsdienstleistungen durch mobile Endgeräte. Manche Experten gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent aller Smartphone-Nutzer bis 2015 Apps aus dem Bereich mHealth benutzen werden. Laut dem Hightech-Verband BITKOM hat sich die Zahl der Gesundheits-Apps seit 2010 fast verdreifacht und lag im Jahr 2011 bei etwa 15 000.19

Gerade in der Tatsache, dass es sich bei dem rasant wachsenden Phänomen eHealth um weit mehr als nur eine technische Entwicklung handelt, nämlich um eine Denkweise, eine Haltung, ein Bekenntnis, und zwar ein Bekenntnis zu vernetztem und globalem Denken und dem Willen, das Gesundheitswesen durch Informations- und Kommunikationstechnologien zu verbessern, zeigt sich auch hier die enorme Bedeutung der Kulturzugehörigkeit des Konzepts »Gesundheit«.

Wer generell Vorbehalte gegenüber dem Internet hat, selbst möglichst wenig Zeit vor Computern verbringt und den Kauf eines Smartphones aus Überzeugung verweigert, wird sich wohl auch für die Idee eHealth nicht erwärmen können, geschweige denn selbst derartige Gesundheitsservices in Anspruch nehmen. Wer dagegen ohnehin technikaffin ist, sich viel im Internet bewegt und Spaß an neuen digitalen Artefakten hat, wird eHealth als überfälligen Schritt des Gesundheitswesens in die richtige Richtung preisen, nämlich in die Richtung, in die sich sowieso alles längst bewegt: zum digitalen Ich in der digitalen Gesellschaft.

Bedenkt man, dass sowohl der Gesundheitssektor als auch die IT-Branche weltweit zu den größten Wachstumsmärkten zählen, liegt die Vorstellung nahe, dass eHealth und mHealth unser Gesundheitssystem in absehbarer Zukunft ähnlich eindrucksvoll verändern werden wie beispielsweise das Handy die Telekommunikation.

Demokratisierung der Medizin oder Gesundheitsdiktatur?

Birgt das Thema »Quantified Self« insgesamt schon viel gesellschaftlichen Zündstoff, so gilt dies erst recht für die medizinische Anwendung. Selbstvermessung in der Medizin – eine Vorstellung, die bei den einen für Euphorie sorgt und bei den anderen für Horrorvisionen.

Beim Quantified-Self-Treffen im Januar 2013 in der Berliner c-base, dem Hauptquartier der Berliner Hackerszene, treffen wir auf den Biohacker und Mediziner Dr. Ralf Belusa. Als Neuromediziner und Start-up-Unternehmer ist er ein großer Fan des Big-Data-Ansatzes. Seit ungefähr drei Jahren sammelt er alle möglichen Daten über seinen Körper und über die Umgebungen, in denen sich dieser Körper aufhält. Dann vergleicht er jeweils den Datenverlauf seiner Körperdaten mit dem der entsprechenden Umgebungsdaten. Auf die Weise hat er schon viele Korrelationen entdeckt, die aufgrund ihrer Häufigkeit mit ziemlicher Sicherheit tatsächlich in einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang stehen. So hat er beispielsweise entdeckt, dass Kopfschmerzen bei ihm eindeutig luftdruckbedingt sind. Oder dass es bei ihm einen ganz eigenen Zusammenhang gibt zwischen Gewichtszunahme und Körperfettanteil, von dem er bislang nichts wusste: Wenn der Körperfettanteil infolge von ungünstiger Ernährung und wenig Bewegung über 12,8 Prozent ansteigt, nimmt der Körper durch weiteres Essen auch an Gewicht zu. Unterhalb von 12,8 Prozent schlagen selbst überschüssige Kalorien nicht ins Gewicht, sondern steigern nur das Körperfett bis zu diesem Wendepunkt. Durch diese neue Erkenntnis sei für ihn jede Diät oder jedes Ernährungsprogramm im Hinblick auf das Körpergewicht unwichtig und sinnlos geworden, sagt Dr. Belusa. Und wenn sein Smartphone anzeigt, dass die aktuellen Daten zur Luftverschmutzung in seinem Jogginggebiet heute kritische Werte erreichen, dann geht er eben woanders joggen. Prävention durch Wissen, Wissen durch Daten, also Prävention durch Daten.

Eine Schwierigkeit beim Vermessen der Umgebung besteht natürlich darin, dass man erst einmal definieren muss, was »Umgebung« in diesem (Vermessungs-)Sinn bedeutet, und man ist diesbezüglich wohl (noch) auf Intuition, gesunden Menschenverstand und gegebenenfalls medizinisches (Vor-)Wissen angewiesen. Wenn mich mein Körpergewicht interessiert, werde ich wohl kaum die Lautstärke messen. Die dürfte eher relevant sein, wenn es zum Beispiel um Konzentration oder um die Schlafqualität geht. Obwohl – wer weiß? Schließlich befindet sich die Selbstvermessung noch im Pionierstadium, das Experiment Quantified Self hat gerade erst begonnen. Die Vermessung der Körperwelten ist ein großes Abenteuer, für Laien wie für Wissenschaftler.

Zu denen, die diesem Experiment skeptisch gegenüberstehen, gehört die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh. In ihrem Artikel »Der vermessene Mann« warnt sie:

»Schon jetzt freut sich das überforderte Gesundheitssystem darauf, Quantified Self sukzessive zu einer allgemeinen Verpflichtung zu erheben, um auf dieser Grundlage Versicherungsleistungen nach dem Selber-schuld-Prinzip zu verweigern. Wenn es einen optimalen Lebensstil gibt, der zum optimalen Körper führt, dann gibt es auch messbare Abweichungen, an die sich Belohnung und Strafe knüpfen lassen. (…) Die Verknüpfung von Krankheit und Schuld bedeutet nicht weniger als das Ende von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität – zwei Werte, die das Fundament einer demokratischen Gesellschaft bilden. Wer glaubt, Gesundheit und Wohlbefinden könne man sich erarbeiten, indem man entlang von Normen alles ›richtig‹ macht, der mag bald nicht mehr einsehen, warum er mit seinen Versicherungsbeiträgen für die Raucherlungen, Säuferlebern und verfetteten Herzen irgendwelcher undisziplinierter Hedonisten aufkommen soll.«20

Auch literarisch hat sich Juli Zeh mit dem Thema Gesundheit und Schuld auseinandergesetzt. Ihr im Jahr 2009 erschienener Roman Corpus Deliciti zeichnet das Horrorszenario einer Gesundheitsdiktatur, in der jeder Mensch das Bestmögliche für seinen Körper tun muss. Jeder Verstoß gegen das staatlich streng kontrollierte Fitnessgebot wird hart bestraft, und auch die Protagonistin landet vor Gericht, weil sie in Trauer um ihren im Gefängnis verstorbenen Bruder, den man des Mordes angeklagt und mittels eines irreführenden DNA-Tests für schuldig erklärt und verurteilt hatte, die obligatorischen Schlaf- und Ernährungsberichte und das tägliche Sportprogramm vernachlässigt hat. Man unterstellt ihr deswegen sogar terroristische Absichten.

Corpus Deliciti ist eine Dystopie, ein Stück Science-Fiction, das uns warnen will, wohin es im schlimmsten Fall führen kann, wenn die – heute schon gebräuchliche – Technik zur Körperüberwachung nicht mehr in der Regie des Einzelnen steht, sondern von anderen beherrscht wird. Ein solcher Übergang von der freiwilligen, selbstbestimmten Vermessung des eigenen Ich hin zu einer staatlich vorgeschriebenen und entsprechend kontrollierten Pflicht zur Selbstvermessung würde in der Tat eine neue Diktatur bedeuten. Der Quantified-Self-Bewegung aber geht es um das genau Gegenteil: um den selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper.

Quantified Self – eine Gefahr für den Menschen?

Ist Quantified Self tatsächlich eine Entwicklung, die uns Grund zur Sorge gibt? Wir bitten den Medizinsoziologen Professor em. Dr. Klaus Hurrelmann um eine Einschätzung. Per E-Mail fragen wir nach einem Termin für ein Telefoninterview. Am nächsten Vormittag haben wir Herrn Hurrelmann in der Leitung.

Der emeritierte Professor und renommierte Gesundheitswissenschaftler Hurrelmann sieht in dem Selbstvermessungstrend eine Entwicklung von »unschätzbarem Wert«. Zumindest für den Einzelnen und zumal für den Mann. Weil dadurch endlich auch Männer beginnen, ein Körpergefühl zu entwickeln.

»Die jungen Männer sind im Unterschied zu den jungen Frauen ziemlich blind dem eigenen Körper gegenüber. Insofern ist das ein Meilenstein – wenn auch auf eine eigenartige, technisch verbrämte Form –, wenn hier junge Männer Interesse daran haben, welchen Körper sie besitzen und welche Eigenschaften dieser Körper hat. Das ist sensationell. Das ist nicht in der Tradition von männlichem Körperbewusstsein. Langfristig wird in der Medizin ja ohnehin sehr intensiv in Richtung Telemedizin gearbeitet, also an der Übertragung von Körperdaten an bestimmte Datenzentren, von wo aus dann, fachkundig ausgewertet, Rückmeldungen erfolgen.«

Allerdings sei sowohl bei Telemedizin als auch bei Quantified Self Vorsicht geboten. Denn: »Damit gebe ich natürlich Daten preis. Ich gebe quasi öffentlich, also fachöffentlich, Daten über meine Befindlichkeiten an eine Instanz weiter. Die Jungs, die Quantified Self betreiben, machen das eben öffentlich in ihrer Community. Das kann blitzschnell auch darüber hinausgehen, im Sinne von Datenmissbrauch. In der seriösen Medizin wie auch bei Quantified Self muss man höllisch aufpassen, dass das wirklich geschlossene und kontrollierte Transformationswege der Daten sind.«

Also was nun? Quantified Self – Chance oder Risiko? Wir wollen noch eine zweite Autorität hören.

Und fragen beim Berliner Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) nach. Dessen Gründungsdirektor, der Informatiker und Internetforscher Professor Dr. Dr. Thomas Schildhauer, sieht in Quantified Self sowohl Chancen als auch Risiken: »Wenn man es positiv sieht, dann kann das Gesundheitssystem dadurch vielleicht sogar entlastet werden. Weil Menschen durch die Eigenbeobachtung eher feststellen, wenn sie in einem kritischen Bereich landen, und sich dann vielleicht auch ohne medizinische Hilfe selbst ›einstellen‹ können. Auf der anderen Seite kann es natürlich auch dazu führen, dass plötzlich Beobachtungsmuster entstehen, die genau das Gegenteil generieren – die also dazu führen, dass Menschen mit den Datenmengen in der Interpretation überfordert sind und dadurch erst recht Problemlagen entstehen. Also dass ich möglicherweise auf einmal feststelle: Ich vergleiche mich innerhalb einer bestimmten Bezugsgruppe mit anderen Menschen, die immer einen niedrigeren Blutdruck haben als ich, und obwohl ich damit vorher eigentlich nie ein Problem hatte, wächst plötzlich ein Problem an, weil ich auf einmal das Gefühl habe, dass ich da vielleicht doch ein Problem habe.«

Die Gefahr einer Gesundheitsdiktatur, in der die Selbstvermessung für jeden Bürger verpflichtend wird, sieht Schildhauer nicht.

»Das würde ja bedeuten, dass wir in irgendeiner Form ein gesetzgebendes Verfahren in Gang setzen würden, das natürlich schnell in der Frage nach der Privatheit der Daten mündet. Da bin ich skeptisch, dass wir in absehbarer Zeit irgendeine verpflichtende, vielleicht sogar gesetzliche Regelung bekommen. Solange das auf freiwilliger Basis läuft und ich mich selbst entscheiden kann, meine Daten auf einer bestimmten Plattform zur Verfügung zu stellen, ist das eine andere Geschichte, als wenn das einfließt beispielsweise in Bewertungen von Versicherungspolicen oder ähnliches. Ich kann mir zwar vorstellen, dass es da Begehrlichkeiten gibt, aber da muss noch viel Wasser die Spree hinunterfließen, bis es da zu einer übergreifenden Entwicklung kommen kann.«

Das Beste aus beiden Welten

Unter dem Schlagwort »Individualisierte Medizin« (auch: »Personalisierte Medizin«) vollzieht sich in jüngster Zeit ein Bewusstseinswandel im (schul-)medizinischen Sektor: Immer mehr Ärzte propagieren ein Gesundheitssystem, das es ihnen erlaubt, den einzelnen Menschen bei der Wahl der Therapie mehr zu berücksichtigen. Sie wollen eine Medizin, die eine auf die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnittene Vorsorge, Diagnostik, Früherkennung und Therapie ermöglicht, um individuelle Krankheitsrisiken genauer vorhersagen zu können und unerwünschte Nebenwirkungen sowie ineffiziente Therapien möglichst zu vermeiden.

Für Wilhelm Breitenbürger ist das alles nicht neu. Er engagiert sich schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert für einen medizinpolitischen Wandel hin zu mehr Rücksicht auf Individualität. Er korrespondiert mit Politikern, spricht vor Publikum und tauscht sich mit Kollegen aus. Aber viel getan hat sich in all den Jahren nicht.

Sein 1984 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichter Artikel »Plädoyer für eine alternative Praxisführung – Wie kann der Patient im ärztlichen Alltag zu Eigenverantwortlichkeit geführt werden?«21, in dem er ausführlich die Vorteile für alle Beteiligten – Arzt, Patient und Gesundheitssystem – darlegt, die ein Praxisstil mit mehr Zeit für den einzelnen Patienten mit sich bringt, hat ihm zwar viele positive Reaktionen aus der Ärzteschaft eingebracht. Dennoch hat sich die Lage seit damals nicht verbessert. Das persönliche Gespräch wird von den kassenärztlichen Vereinigungen noch immer stiefmütterlich behandelt. In deren Abrechnungslogik ist das Patientengespräch kaum Geld wert. Reich werden kann man als Arzt auf die Weise also immer noch nicht. Zumindest nicht im finanziellen Sinn.

Betrachtet man nun alles zusammen: erstens das Drängen der Ärzte nach mehr Möglichkeiten, individuell und gründlich auf den einzelnen Patienten eingehen zu können; zweitens die Notwendigkeit, im entspannten, sich ohne Zeitdruck entwickelnden Gespräch mit dem Patienten herauszufinden, welche Aspekte seines Lebens ihn tiefgreifend stören und ihm daraufhin zu zeigen, was er selbst tun kann, um gesund zu werden; und drittens den enormen Datenschatz, den ein Selbstvermesser fortlaufend generiert und der ein komplexes Bild seines Körpers in seinem spezifischen Alltag liefert, so liegt der Schluss nahe, dass die Kombination aus Quantified Self und ärztlicher Unterstützung zur Verbesserung des überforderten Gesundheitswesens beitragen könnte.

Die positive Vision, unsere Vision, wäre ein Arzt mit genug Zeit (Systemvoraussetzung), Geduld und echtem Interesse am Patienten und seiner Erzählung (persönliche Voraussetzungen), der im Gespräch mit dem Patienten dessen Lebenslage erörtert, entscheidende Punkte gegebenenfalls mit durch Quantified Self erhobenen Daten vergleicht und dann mit dem Patienten gemeinsam Ziele formuliert und ein Gesundheitsprogramm entwickelt, das der Patient wiederum dank Quantified Self besser befolgen kann, was nach und nach dazu führt, dass er die Botschaften seines Körpers entschlüsseln und damit sich selbst besser verstehen kann.


http://www.cooking-hacks.com/index.php/documentation/tutorials/ehealth-biometric-sensor-platform-arduino-raspberry-pi-medical

Die Macher des Elektronik-Magazins »Cooking Hacks« haben eine Bauanleitung für ein umfangreiches medizinisches Analyse- und Vermessungsgerät veröffentlicht.

Das Smartphone, ohnehin ständiger Begleiter, wird durch verschiedene Gesundheits-Apps zur Dokumentation von beispielsweise Blutdruck, Schlafverhalten, emotionalen Zuständen oder Blutzucker zur zentralen Schalt- und Sammelstelle der eigenen Gesundheitsdaten. Mit diesem ausgelagerten »Körpergedächtnis« zum Arzt zu gehen, ihm die Daten in der Sprechstunde zu zeigen, um das Gemessene auch angemessen interpretieren zu können, würde einen großen Schritt in Richtung einer modernen Medizin bedeuten.