Der letzte Akt

Es klingelte. Anna stand in der Küche und wusch den Salat für das Abendessen. Die Klingel war direkt über dem Spülstein angebracht, so dass Anna jedes Mal zusammenfuhr, wenn es klingelte und sie in der Nähe war. Aus diesem Grund benutzten auch weder ihr Mann noch ihre Kinder die Klingel. Diesmal jedoch schien sie besonders laut zu schrillen, und Anna schreckte mehr zusammen als sonst.

 

Als sie die Haustür öffnete, standen zwei Polizeibeamte draußen. Sie starrten sie mit wachsbleichen Gesichtern an. Anna starrte sie ebenfalls an und wartete darauf, dass sie etwas sagten. Sie starrte sie an, aber die beiden rührten sich nicht und sagten kein Wort. Sie standen so steif und so regungslos da, als seien sie zwei Wachsfiguren, die ihr jemand aus Jux vor die Haustür gestellt hatte. Sie hielten jeder mit beiden Händen ihren Helm vor sich.

 

«Was ist? », fragte Anna.

 

Sie waren beide jung. Sie trugen lederne Stulpenhandschuhe, die ihnen bis zu den Ellbogen reichten, und hinter ihnen am Straßenrand konnte Anna ihre schweren Motorräder stehen sehen. Herbstlaub fiel auf die Maschinen herab und trieb den Bürgersteig entlang. Die ganze Straße lag im leuchtenden gelben Licht des klaren, windigen Septembernachmittags. Der größere Polizist scharrte unbehaglich mit den Füßen. Dann fragte er: «Mrs. Cooper, Madam? »

 

«Ja, die bin ich. »

 

«Mrs. Edmund J. Cooper? », fragte der andere.

 

«Ja. » Allmählich begann es ihr zu dämmern, dass diese Männer, die beide nicht sonderlich erpicht darauf schienen, zu erklären, warum sie da waren, sich so sonderbar verhielten, weil sie eine unangenehme Pflicht zu erfüllen hatten.

 

«Mrs. Cooper», hörte sie den einen sagen, und an der Art, wie er es sagte sanft und behutsam, als müsse er ein krankes Kind trösten -, erkannte sie sofort, dass er ihr etwas Schreckliches mitteilen wollte. Eine Woge panischer Angst schlug über ihr zusammen, und sie fragte: «Was ist passiert? »

 

«Mrs. Cooper, wir müssen Ihnen mitteilen... »

 

Der Polizist hielt inne.

 

Die Frau, die ihn nicht aus den Augen ließ, hatte das Gefühl, dass ihr ganzer Körper schrumpfe und schrumpfe und immer weiter schrumpfe.

 

«... dass Ihr Mann heute nachmittag um 17 Uhr 45 auf dem Hudson River Parkway einen Unfall hatte und noch im Krankenwagen verstorben ist... »

 

Der Polizist, der gesprochen hatte, zog die Krokobrieftasche heraus, die sie Ed vor zwei Jahren zu ihrem zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte. Als sie danach griff, ertappte sie sich dabei, dass sie überlegte, ob das Leder wohl noch warm sei, weil es doch noch vor so kurzer Zeit so nahe an Eds Brust gelegen hatte.

 

«Wenn wir Ihnen irgendwie behilflich sein können...», sagte der Polizist. «Vielleicht telefonieren, damit jemand kommt... Freunde oder Verwandte... »

 

Anna hörte, wie seine Stimme immer leiser wurde und schließlich nicht mehr zu vernehmen war. Und in diesem Augenblick musste sie wohl zu schreien begonnen haben. Kurz darauf wurde sie regelrecht hysterisch, und beide Polizisten hatten alle Hände voll zu tun, um ihrer Herr zu werden, bis ihr vierzig Minuten später der Hausarzt eine Injektion verabreichte.

 

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, ging es ihr jedoch keineswegs besser. Weder der Arzt noch ihre Kinder konnten vernünftig mit ihr reden. Man musste sie während der nächsten paar Tage fast ständig unter Beruhigungsmitteln halten, sonst hätte sie sich zweifellos umgebracht. In den kurzen Wachperioden zwischen den Drogen-Gaben war sie wie eine Wahnsinnige, rief ununterbrochen nach ihrem Mann und sagte ihm, sie werde ihm nachfolgen, sobald sie könne. Es war entsetzlich, ihr zuzuhören. Um ihr Verhalten verständlicher zu machen, sollte hier jedoch sogleich gesagt werden, dass der Ehemann, den sie verloren hatte, keineswegs ein gewöhnlicher Ehemann gewesen war.

 

Anne Greenwood hatte Ed Cooper geheiratet, als sie beide achtzehn gewesen waren, und in den Jahren, die sie zusammen gelebt hatten, waren sie einander immer nähergekommen und in einem Maße voneinander abhängig geworden, dass man es mit Worten nicht beschreiben kann. Mit jedem Jahr, das vorüberging, wurde ihre Liebe inniger und überwältigender, und zuletzt hatte sie fast schon groteske Maße angenommen, so dass beide zum Beispiel die tägliche Trennung kaum noch ertragen konnten, wenn Ed morgens ins Büro fahren musste. Kehrte er am Abend heim, lief er durchs ganze Haus, um sie zu suchen, und sie ließ alles sofort stehen und liegen, um ihm entgegenzueilen, sobald sie die Haustür ins Schloss fallen hörte. Wenn sie sich dann trafen, sei es auf halber Treppe, auf dem Treppenabsatz, oder auf halbem Wege zwischen Küche und Diele, nahm er sie in die Arme, um sie minutenlang an sich zu drücken und so innig zu küssen, als hätten sie erst tags zuvor geheiratet. Es war wunderbar. Es war so einmalig, so unglaublich wunderbar, dass man beinahe verstehen kann, warum sie keine Lust und keinen Mut mehr hatte, weiter in einer Welt zu leben, in der es ihren Mann nicht mehr gab.

 

Ihre drei Kinder, Angela (20), Mary (19) und Billy (17 ½), blieben seit der Katastrophe ständig um sie herum. Sie liebten ihre Mutter heiß und taten alles, um sie am Selbstmord zu hindern. Liebevoll gaben sie sich alle Mühe, sie davon zu überzeugen, dass das Leben trotz allem lebenswert sein konnte. Ihnen allein war es zu verdanken, dass sie sich endlich doch aus ihrem Alptraum befreite und langsam in die Alltagswelt zurückfand.

 

Vier Monate nach dem unglückseligen Tag erklärten die Ärzte, sie sei nun wohl «einigermaßen außer Gefahr», und Anna war in der Lage, wenn auch voll Resignation, für ihre Kinder den Haushalt zu führen, einzukaufen und zu kochen.

 

Doch was geschah dann?

 

Noch ehe der Winterschnee geschmolzen war, heiratete Angela einen jungen Mann von Rhode Island und ließ sich am Stadtrand von Providence nieder.

 

Wenige Monate später heiratete auch Mary. Sie heiratete einen blonden Riesen aus Slayton, einer Stadt in Minnesota, und das Flugzeug entführte sie - für immer und immer und immer. Wieder brach Annas Herz in tausend Stücke, doch war sie stolz darauf, dass ihre beiden Töchter nicht die geringste Ahnung hatten, wie es in ihr aussah. («Ach Mami, ist es nicht herrlich? » - «Ja, mein Liebling, es ist die schönste Hochzeit, die ich miterlebt habe! Ich bin noch viel aufgeregter als du! » Und so weiter und so weiter.)

 

Und dann, um das Maß voll zu machen, ging ihr geliebter Billy, eben achtzehn geworden, zu seinem ersten Studienjahr nach Yale.

 

Und so war Anna auf einmal ganz allein in einem menschenleeren Haus.

 

Es war ein grässliches Gefühl, nach dreiundzwanzig Jahren lärmenden, turbulenten, glücklichen Familienlebens am Morgen allein zum Frühstück hinunterzugehen, schweigend vor einer Tasse Kaffee und einem Stück Toast zu sitzen und zu überlegen, was man mit dem Tag anfangen sollte, der sich so endlos vor einem erstreckte. Das Zimmer, in dem man sitzt, dasselbe Zimmer, das soviel Lachen gehört, so viele Geburtstage, so viele Weihnachtsbäume und so viele Geschenke gesehen hat, die jubelnd ausgepackt wurden, ist jetzt totenstill und merkwürdig kalt. Die Luft ist warm, die Temperatur normal, und dennoch fröstelt man in diesem Raum. Die Uhr ist stehen geblieben, weil man sie ja doch nie selbst aufgezogen hat. Ein Stuhl wackelt, und man fragt sich, wieso man das nicht schon vorher gemerkt hat. Und wenn man aufblickt, hat man auf einmal das beängstigende Gefühl, dass alle vier Wände ganz langsam immer näher auf einen zurücken, wenn man gerade nicht hinsieht.

 

Am Anfang ging sie mit ihrer Kaffeetasse zum Telefon und fing an ihre Freundinnen anzurufen. Doch alle ihre Freundinnen hatten Ehemann und Kinder und waren zwar nett und herzlich und fröhlich am Apparat, aber sie hatten einfach keine Zeit, sich am frühen Vormittag schon hinzusetzen und mit der traurigen Frau am anderen Ende der Leitung zu plaudern. Und so begann sie, ihre verheirateten Töchter anzurufen.

 

Auch sie waren immer sehr lieb zu ihr. Schon bald jedoch fiel Anna auf, dass ihr Verhalten ihr gegenüber sich unmerklich änderte. Sie war nicht mehr die Hauptperson in ihrem Leben. Die beiden hatten jetzt Ehemänner, um die sich bei ihnen alles drehte. Freundlich, aber bestimmt schoben sie ihre Mutter in den Hintergrund. Das war für Anna ein großer Schock. Aber die Mädchen hatten recht, das wusste sie. Sie hatten absolut recht. Sie hatte nicht mehr das Recht, in das Leben ihrer Töchter einzugreifen und bei ihnen Schuldgefühle zu wecken, weil sie sie vernachlässigten.

 

Sie suchte Dr. Jacobs noch immer regelmäßig auf, aber auch er konnte ihr nicht viel helfen. Er versuchte sie zum Reden zu bringen, und sie gab sich auch große Mühe. Gelegentlich hielt er ihr einen kleinen Vortrag voll versteckter Anspielungen über Sex und Sublimierung. Anna begriff nie so recht, worauf er hinauswollte, im wesentlichen aber schien es sich darum zu handeln, dass sie sich wieder einen Mann nehmen sollte.

 

Sie begann, allein im Haus herumzuwandern und Dinge in die Hand zu nehmen, die Ed gehört hatten. Sie hob einen seiner Schuhe auf, steckte die Hand hinein und tastete die kleinen Vertiefungen ab, die sein Fuß und seine Zehen auf der Innensohle hinterlassen hatten. Als sie eine Socke mit einem Loch entdeckte, bereitete es ihr eine unbeschreibliche Freude, das Loch zu stopfen. Manchmal suchte sie auch ein Hemd, eine Krawatte, einen Anzug heraus und legte alles auf dem Bett bereit, damit Ed es anziehen konnte, und einmal, an einem verregneten Sonntagvormittag, kochte sie Irish-Stew.

 

So konnte es nicht weitergehen, es war hoffnungslos.

 

Wie viele Tabletten würde sie also brauchen, um diesmal ganz sicherzugehen? Sie ging nach oben und zählte ihren geheimen Vorrat nach. Neun waren noch da. War das genug? Ganz sicher nicht. Oh, verdammt. Das einzige, was sie ganz ohne Zweifel nicht noch einmal ertragen konnte, war ein Misslingen - die rasende Fahrt zum Krankenhaus, das Magenauspumpen, den sechsten Stock des Payne-Whitney-Pavillons, die Psychiater, die Demütigungen und all das Elend.

 

Dann musste sie eben eine Rasierklinge nehmen. Das Schwierige mit der Rasierklinge war nur, dass man es richtig machen musste. Die meisten Selbstmordkandidaten fingen es schon falsch an, wenn sie die Rasierklinge am Handgelenk ansetzten. Nein, nicht nur die meisten - so gut wie alle. Sie schnitten nicht tief genug. Tief drinnen gab es eine große Arterie, die man einfach erreichen musste. Mit Venen war es nicht getan. Das gab nur ein furchtbares Geblute, führte aber am Ende zu nichts. Außerdem war es gar nicht so leicht, eine Rasierklinge zu halten - jedenfalls nicht, wenn man einen energischen Schnitt machen, sie geradewegs ganz tief hindurchziehen wollte. Aber sie würde es richtig machen. Die, denen der Selbstmordversuch misslang, wollten im Grunde ja, dass er misslang. Sie dagegen meinte es ernst.

 

Sie ging zum Medizinschränkchen im Badezimmer und suchte nach Rasierklingen. Sie fand nicht eine einzige, obwohl nicht nur ihr eigener, sondern auch Eds Rasierapparat noch da waren. Aber in keinem steckte eine Klinge, und die kleinen Päckchen daneben waren auch verschwunden. Nun ja, das war verständlich. Derartige Dinge waren damals aus gutem Grund aus dem Haus entfernt worden. Aber das spielte keine Rolle. Sie konnte sich jederzeit neue Rasierklingen kaufen.

 

Anna kehrte in die Küche zurück und nahm den Kalender von der Wand. Sie wählte ein Datum - den 23. September, Eds Geburtstag - und schrieb Rk (für Rasierklingen) auf das Blatt. Jetzt war der 9. September. Sie hatte also vierzehn Tage Zeit, um ihre Angelegenheiten zu ordnen. Es war noch eine Menge zu tun: Rechnungen bezahlen, ein neues Testament schreiben, das ganze Haus putzen, Billys Collegegeld für die nächsten vier Jahre anweisen, Briefe an ihre Kinder, ihre eigenen Eltern und Eds Mutter schreiben, und so weiter und so fort.

 

Aber wenn sie auch noch so fleißig war - die vierzehn Tage erschienen ihr unendlich lang. Sie sehnte sich danach, die Klinge anzusetzen, und zählte jeden Morgen nach dem Aufwachen die Tage, die sie noch überstehen musste, als wäre sie ein Kind, das auf Weihnachten wartet. Wo immer sich Ed Cooper jetzt, nach seinem Tod, auch befinden mochte, sie wollte ihm rasch folgen, und sei es auch nur ins Grab.

 

Mitten während dieser zweiwöchigen Wartezeit jedoch bekam sie eines Morgens um halb neun Uhr Besuch von ihrer Freundin Elizabeth Paoletti. Anna machte sich in der Küche gerade Kaffee. Sie zuckte zusammen, als es klingelte, und zuckte noch einmal zusammen, als es ein zweites Mal energischer klingelte.

 

Liz kam ins Haus gestürzt und redete wie immer ohne Unterlass. «Anna, sei ein Schatz, du musst mir unbedingt helfen! Bei uns im Büro haben alle die Grippe. Du musst einfach mitkommen! Keine Widerrede! Ich weiß, dass du maschineschreiben kannst und nichts anderes zu tun hast, als hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen. Also nimm deinen Hut und deine Handtasche. Beeil dich, Mädchen! Los, mach schnell! Ich komme sowieso schon viel zu spät! »

 

«Lass mich in Ruhe», sagte Anna. «Geh, Liz! »

 

«Das Taxi wartet», drängte Liz.

 

«Bitte! », sagte Anna. «Zwing mich nicht. Ich komme nicht mit. »

 

«Doch, du kommst», antwortete Liz. «Reiß dich zusammen. Anna! Deine Tage als Märtyrerin sind vorüber. »

 

Anna weigerte sich standhaft, aber Liz setzte sich durch, und zum Schluss erklärte Anna sich einverstanden. Sie würde mitkommen, aber nur für einige Stunden.

 

Elizabeth Paoletti leitete eine Gesellschaft für Adoptionen, eine der besten in der ganzen Stadt. Neun ihrer Angestellten lagen mit Grippe im Bett, und außer ihr waren nur noch zwei im Büro. «Du hast zwar keine Ahnung von unserer Arbeit», erklärte sie Anna im Taxi, «aber du hilfst uns eben, soweit du kannst. »

 

Im Büro ging es zu wie in einem Tollhaus. Allein die Telefone machten Anna ganz krank. Sie rannte ständig von einem Apparat zum anderen, um Mitteilungen entgegenzunehmen, deren Sinn sie nicht verstand. Und dann die Mädchen draußen im Wartezimmer: junge Mädchen mit aschgrauen, versteinerten Gesichtern, deren Aussagen sie mit der Schreibmaschine auf ein offizielles Formular übertragen musste.

 

«Name des Vaters? »

 

«Weiß ich nicht. »

 

«Das wissen Sie nicht? »

 

«Was hat der Vater damit zu tun? »

 

«Meine Liebe, wenn der Vater bekannt ist, dann muss er sein Einverständnis geben, bevor wir das Kind zur Adoption freigeben können. »

 

«Keine Angst, er ist nicht bekannt. »

 

«Sind Sie sich da auch ganz sicher? »

 

«Himmel, ich hab's Ihnen doch gesagt, oder nicht? »

 

Um die Mittagszeit brachte ihr irgend jemand ein Sandwich, aber sie hatte keine Zeit, etwas zu essen. Um neun Uhr abends wankte Anna erschöpft, hungrig und tief erschüttert über die traurigen Erfahrungen, die ihr der Tag vermittelt hatte, nach Hause, machte sich einen starken Drink, briet sich ein paar Eier mit Speck und ging zu Bett.

 

«Morgen früh um acht hole ich dich wieder ab», hatte Liz zu ihr gesagt. «Und sei um Gottes willen bereit! » Anna war bereit. Und kam von ihrem neuen Job nicht mehr los. So einfach war das.

 

Sie hatte von Anfang an nichts weiter als eine richtige anstrengende Arbeit mit vielen Problemen gebraucht - mit den Problemen anderer Leute, nicht den eigenen.

 

Die Arbeit war aufreibend und oft erschütternd, aber sie nahm Anna jede einzelne Minute am Tag voll in Anspruch. Und nach anderthalb Jahren - wir überspringen einige Zeit - fühlte sie sich wieder vergleichsweise zufrieden. Es fiel ihr immer schwerer, sich ihren Mann lebensnah und deutlich vorzustellen, wie er ihr die Treppe herauf entgegengelaufen war oder ihr abends beim Essen gegenübergesessen hatte. Auch an seine Stimme erinnerte sie sich nicht mehr so genau, und sogar sein Gesicht war ihr nur noch ganz klar gegenwärtig, wenn sie ein Foto von ihm betrachtete. Sie dachte natürlich noch immer an ihn, doch sie entdeckte, dass sie das tun konnte, ohne sogleich in Tränen auszubrechen. Und wenn sie sich jetzt vor Augen hielt, wie sie sich noch vor einiger Zeit betragen hatte, war ihr das eher peinlich. Sie interessierte sich wieder etwas mehr für ihre Kleidung und ihre Frisur, benutzte wieder den Lippenstift und rasierte sich die Beine. Das Essen schmeckte ihr, und wenn jemand ihr zulächelte, lächelte sie freundlich zurück und meinte es aufrichtig. Mit anderen Worten, sie freute sich, am Leben zu sein.

 

Zu dieser Zeit musste Anna geschäftlich nach Dallas in Texas. Die Aktivitäten des Büros beschränkten sich gewöhnlich auf das Gebiet des Bundesstaates. In diesem Fall aber war ein Ehepaar, das durch die Agentur ein Baby adoptiert hatte, anschließend von New York nach Texas umgezogen, und nun, fünf Monate später, hatte die Ehefrau geschrieben, sie wolle das Kind nicht länger behalten. Ihr Mann sei kurz nach ihrer Ankunft in Dallas an einem Herzanfall gestorben, sie selbst habe fast unmittelbar darauf wieder geheiratet, und ihr jetziger Mann könne «sich mit einem Adoptivkind im Haus nicht abfinden».

 

Das war ein ernster Fall, bei dem es nicht nur um das Wohl des Kindes, sondern darüber hinaus um alle möglichen rechtlichen Probleme ging.

 

Also flog Anna mit einer Frühmaschine von New York nach Texas hinunter und traf zum Frühstück in Dallas ein. Sie trug sich in ihrem Hotel ein, und dann verbrachte sie die nächsten acht Stunden mit den Personen, die mit dieser Angelegenheit zu tun hatten. Als sie alles erledigt hatte, was sich an einem Tag erledigen ließ, war es halb fünf Uhr nachmittags, und sie fühlte sich vollkommen erschöpft. Mit einem Taxi fuhr sie zum Hotel zurück und ging in ihr Zimmer. Telefonisch erstattete sie Liz über alles Bericht. Dann zog sie sich aus und entspannte sich lange in einem schönen, warmen Bad. Anschließend legte sie sich, noch ins Badetuch gehüllt, aufs Bett und rauchte eine Zigarette.

 

Ihre Bemühungen in Sachen des Kindes hatten zu nichts geführt. Die zwei Anwälte, die zugegen gewesen waren, hatten sie sehr von oben herab behandelt. Wie sie diese Männer hasste! Sie hasste ihre Arroganz und wie sie ihr glattzüngig zu verstehen gegeben hatten, dass sie nicht das geringste bei ihrem Klienten erreichen werde. Der eine hatte die ganze Zeit mit den Füßen auf dem Tisch dagesessen, und beide waren so dick und fett gewesen, dass ihnen der Speck über den Gürtel in die Hemden quoll und ihnen wie Wasserschläuche um die Hüften hing.

 

Anna war schon öfter in Texas gewesen, aber noch nie allein. Immer war Ed bei ihr gewesen, den sie auf Geschäftsreisen hierher begleitet hatte. Und auf solchen Reisen hatten sie oft über die Texaner gesprochen und darüber, dass sie eigentlich wenig sympathisch waren. Über ihre Derbheit und Vulgarität konnte man sich noch hinwegsetzen, daran lag es nicht. Aber in diesen Menschen hier schien eine steinzeitliche Brutalität fortzuleben, etwas so Gewalttätiges, Hartes, Unbarmherziges, wie man es unmöglich vergeben konnte. Sie schienen kein Mitgefühl, kein Mitleid, keine Zärtlichkeit zu kennen. Die einzige Tugend, die sie besaßen - und die sie unentwegt fremden Besuchern vorexerzierten -, war eine Art professioneller Jovialität. Sie umfloss sie wie Sirup. Ihre Stimmen und ihr Lächeln waren gleichsam klebrig davon. Aber diese Honigsüße ließ Anna kalt, ließ sie ganz, ganz kalt.

 

<Warum gebärden sie sich so gern als harte Männer? > hatte sie Ed immer wieder gefragt.

 

<Sie sind eben Kinder>, pflegte Ed zu antworten. <Gefährliche Kinder, die ihre Großväter nachzuahmen versuchen. Ihre Großväter waren Pioniere. Diese Menschen sind es nicht. >

 

Die heutigen Texaner schienen aus einem egoistischen Willen heraus zu leben, Ellbogenmenschen, die stießen und gestoßen wurden. Jeder stieß hier jeden. Und ein Fremder konnte nicht leicht in ihrer Mitte beiseite treten und energisch verkünden: «Ich jedenfalls will niemanden stoßen und auch nicht gestoßen werden. » Das war unmöglich. Und besonders unmöglich in Dallas. Von allen Städten in Texas war Dallas diejenige, die Anna immer am meisten verstörte. Es war eine gottlose Stadt, dachte sie. Eine gierige, gewalttätige, gottlose Stadt. Eine Stadt, in der das Geld Amok lief, und weder falscher Glanz noch falsche Kultur, noch sirupsüße Reden verbargen die Tatsache, dass die große goldene Frucht innen verfault war.

 

Anna lag noch immer, in ihr Badetuch gehüllt, auf dem Bett. Diesmal war sie in Dallas allein. Kein Ed war da, der sie mit seiner einzigartigen Kraft und Liebe umgeben hätte. Und vielleicht lag es daran, dass ihr plötzlich ziemlich unbehaglich zumute war. Sie zündete sich wieder eine Zigarette an und wartete darauf, dass das Unbehagen schwand. Doch es schwand nicht, sondern verstärkte sich noch. Ein harter kleiner Angstknoten schien ihr den Magen abzuschnüren, und sie spürte den Druck von Minute zu Minute stärker werden. Es war ein unangenehmes Gefühl. So wie man es manchmal erlebte, wenn man nachts allein im Haus war und im Nebenzimmer Schritte hörte oder zu hören glaubte.

 

Hier waren es Millionen Schritte, und sie hörte sie alle.

 

Sie stand auf vom Bett und trat, noch immer in ihr Badetuch gehüllt, ans Fenster. Ihr Zimmer befand sich im 21. Stock, und das Fenster stand offen. Die große Stadt lag blass und milchiggelb in der Abendsonne. Die Straße unten war vollgestopft mit Automobilen. Der Gehsteig wimmelte von Fußgängern. Alle eilten heimwärts von der Arbeit, drängten sich und wurden gedrängt. Sie sehnte sich nach einem Freund. Wie gern hätte sie gerade in diesem Augenblick mit jemandem gesprochen! Wie gern ein Haus gekannt, das sie hätte aufsuchen, eine Familie, die sie hätte besuchen können - eine Frau und ihren Mann, eine Familie, in der es Kinder gab und Spielzimmer und wo man sie, mit offenen Armen, schon an der Tür mit dem Ruf empfing: «Anna, wie schön, dass du kommst! Wie lange kannst du bleiben: eine Woche, einen Monat, ein Jahr? »

 

Und plötzlich, wie es in solchen Situationen manchmal geht, machte es «klick» in ihrem Gedächtnis, und sie sagte laut: «Conrad Kreuger! Großer Gott im Himmel! Er lebt ja hier in Dallas... Jedenfalls hat er früher hier gewohnt... »

 

Sie hatte Conrad seit ihrer gemeinsamen Schulzeit in New York nicht mehr gesehen. Damals war sie ungefähr siebzehn, und Conrad war ihr Beau, ihre große Liebe, ihr ein und alles gewesen. Über ein Jahr lang waren sie zusammen gegangen, sie hatten sich ewige Treue geschworen und sich vorgenommen, bald zu heiraten. Dann war plötzlich Ed Cooper in ihr Leben getreten, und das hatte natürlich das Ende ihrer Romanze mit Conrad bedeutet. Doch Conrad schien den Bruch nicht allzu schwer genommen zu haben. Zerschmettert hatte ihn das jähe Ende ihrer Liebe ganz bestimmt nicht, denn kaum einen oder zwei Monate später hatte er schon mit einem anderen Mädchen aus ihrer Klasse angebändelt... Wie hieß sie doch noch?

 

Ein großes, vollbusiges Mädchen mit flammend rotem Haar und einem außergewöhnlichen Namen, einem altmodischen Namen. Wie war er nur? Arabella? Nein, Arabella nicht. Aber bestimmt irgend etwas mit Ära... Araminty? Ja, das war es! Araminty. Und nach einem Jahr hatte Conrad Kreuger geheiratet und war mit ihr nach Dallas, seinem Geburtsort, gezogen.

 

Anna ging zum Nachttisch und nahm das Telefonbuch zur Hand.

 

Kreuger, Conrad P., M. D.

 

Ja, das war Conrad. Er hatte immer gesagt, er wollte Arzt werden. Im Buch stand die Nummer der Praxis und die der Privatwohnung.

 

Ob sie ihn anrufen sollte?

 

Warum eigentlich nicht?

 

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Zwanzig nach fünf. Sie nahm den Hörer ab und nannte der Vermittlung die Nummer der Praxis.

 

«Praxis Doktor Kreuger», meldete sich eine Mädchenstimme.

 

«Guten Tag», sagte Anna. «Ist Doktor Kreuger zu sprechen? »

 

«Der Doktor hat gerade zu tun. Wie ist Ihr Name bitte? »

 

«Würden Sie ihm bitte ausrichten, dass Anna Greenwood angerufen hat? »

 

«Wer? »

 

«Anna Greenwood.»

 

«Gern, Miss Greenwood. Möchten Sie einen Termin? »

 

«Nein, vielen Dank. »

 

«Kann ich sonst etwas für Sie tun? »

 

Anna nannte ihr Hotel und bat, die Adresse an Dr. Kreuger weiterzugeben.

 

«Das will ich gern tun», antwortete die Sekretärin. «Auf Wiederhören, Miss Greenwood. »

 

«Auf Wiederhören», sagte Anna. Sie fragte sich, ob Dr. Conrad P. Kreuger sich nach so vielen Jahren noch an ihren Namen erinnern würde. Ach ja, vermutlich doch. Sie legte sich wieder auf ihr Bett und versuchte sich vorzustellen, wie Conrad damals ausgesehen hatte. Überdurchschnittlich gut jedenfalls. Groß... schlank... mit breiten Schultern... beinahe pechschwarzem Haar... und einem fabelhaften Gesicht... einem starken, kraftvollen Gesicht... einem starken, kraftvollen Gesicht wie einer dieser griechischen Helden, Perseus oder auch Odysseus. Und vor allem war er sehr sanft gewesen, ein ernster, anständiger, ruhiger, sanfter Junge. Geküsst hatte er sie nicht sehr oft - nur, wenn sie sich abends verabschiedeten. Und für Knutschen hatte er im Gegensatz zu allen anderen auch nicht viel übrig gehabt. Wenn er sie am Samstagabend vom Kino nach Hause brachte, hielt er mit seinem alten Buick vor ihrem Haus, blieb neben ihr im Wagen sitzen und unterhielt sich mit ihr noch etwas - über die Zukunft, seine und ihre, und darüber, dass er später nach Dallas zurückkehren wollte, um dort ein berühmter Arzt zu werden. Dass er sich weigerte, sie zum Knutschen und all dem Drum und Dran zu verleiten, hatte sie tief beeindruckt. Er respektiert mich, hatte sie sich damals gesagt. Er liebt mich. Und damit hatte sie wohl auch recht gehabt. Auf jeden Fall war er ein netter, guter Kerl. Und wenn Ed Cooper nicht ein supernetter, superguter Kerl gewesen wäre, hätte sie ganz gewiss Conrad Kreuger geheiratet.

 

Das Telefon klingelte. Anna nahm den Hörer ab. «Ja? », meldete sie sich. «Hallo?»

 

«Anna Greenwood?»

 

«Conrad Kreuger!»

 

«Meine liebe Anna! Was für eine wunderschöne Überraschung! Mein Gott, nach all diesen Jahren... »

 

«Ja, Conrad, es ist lange her, nicht wahr? »

 

«Eine Ewigkeit. Deine Stimme klingt aber noch genauso wie früher. »

 

«Deine auch. »

 

«Und was führt dich in unsere schöne Stadt? Bleibst du länger? »

 

«Nein. Ich muss morgen schon zurück. Hoffentlich stört es dich nicht, dass ich dich angerufen habe. »

 

«Aber nein, Anna! Ich freue mich. Geht es dir gut? »

 

«Ja, mir geht es gut. Jetzt jedenfalls wieder. Eine Zeitlang ging es mir ziemlich schlecht. Nach Eds Tod... »

 

«Was? »

 

«Er ist vor zweieinhalb Jahren bei einem Autounfall umgekommen. »

 

«Mein Gott, Anna, das tut mir aber leid! Wie schrecklich... Ich... Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll... »

 

«Sag lieber gar nichts. »

 

«Aber jetzt geht es dir gut? »

 

«Ja, danke. Ich schufte jetzt wie ein Sklave. »

 

«So ist es recht... »

 

«Wie... Wie geht es Araminty? »

 

«Ach, der geht es gut. »

 

«Habt ihr Kinder? »

 

«Eines», antwortete er. «Einen Jungen. Und du? »

 

«Ich habe drei. Zwei Mädchen und einen Jungen. »

 

«Sieh mal an! Hör mal, Anna... »

 

«Ich höre. »

 

«Ist es dir recht, wenn ich zu dir ins Hotel komme und dich auf einen Drink einlade? Du würdest mir eine sehr große Freude machen. Bestimmt hast du dich nicht im geringsten verändert. »

 

«Ich bin alt geworden, Conrad. »

 

«Das ist gelogen. »

 

«Und ich fühle mich auch alt. »

 

«Brauchst du vielleicht einen guten Arzt? »

 

«Ja. Das heißt, nein. Natürlich nicht. Ich will keine Ärzte mehr sehen. Alles, was ich brauche, ist jetzt... na ja... »

 

«Ja? »

 

«Diese Stadt macht mich nervös, Conrad. Mir fehlt jemand, mit dem ich reden kann. Das ist alles. »

 

«Na, ich bin ja schließlich auch noch da. Ich muss mir nur noch einen Patienten ansehen, dann bin ich frei. Ich erwarte dich unten in der Bar, im Soundso-Raum, ich habe vergessen, wie er heißt. Um sechs, in ungefähr einer halben Stunde. Passt dir das? »

 

«Ja», sagte sie, «natürlich. Und... danke, Conrad. » Sie legte den Hörer auf und begann sich anzukleiden.

 

Sie war leicht verwirrt. Seit Eds Tod war sie nie mehr ausgegangen und schon gar nicht mit einem Mann in eine Bar. Dr. Jacobs würde sich bestimmt freuen, wenn sie ihm nach ihrer Rückkehr von ihrem Rendezvous erzählte. Er würde ihr nicht etwa überschwänglich dazu gratulieren, aber er würde sich ganz gewiss freuen. Er würde sagen, das sei einmal ein Schritt in die richtige Richtung gewesen, ein Anfang. Sie besuchte ihn noch immer regelmäßig. Und jetzt, da es ihr soviel besser ging, waren seine versteckten Anspielungen weniger diskret und direkter geworden. Mehr als einmal hatte er ihr gesagt, dass ihre Depressionen und ihre suizidalen Tendenzen nie ganz aufhören würden, bevor sie nicht - buchstäblich und körperlich - Ed durch einen anderen Mann «ersetzt» hätte.

 

«Aber es ist doch einfach unmöglich, einen geliebten Menschen zur Zerstreuung durch einen anderen zu ersetzen», hatte Anna zu ihm gesagt, als er bei ihrem letzten Besuch dieses Thema wieder zur Sprache brachte. «Gott im Himmel, Doktor, als Mrs. Crummlier-Browns Papagei im letzten Monat starb verstehen Sie, nicht ihr Mann, ihr Papagei -, war sie so erschüttert, dass sie sich geschworen hatte, sich nie wieder einen Vogel zu besorgen! »

 

«Mrs. Cooper», hatte Dr. Jacobs gesagt, «normalerweise hat man mit einem Papagei keinen Sexualverkehr. »

 

«Also... nein... »

 

«Deshalb braucht er auch nicht ersetzt zu werden. Aber wenn ein Ehemann stirbt und die Witwe noch eine lebensvolle und gesunde Frau ist, wird sie unweigerlich innerhalb von drei Jahren einen Ersatz suchen, wenn ihr das irgend möglich ist. Und umgekehrt ist es genauso. »

 

Sex. Das war das einzige, was diesem Doktor einfiel. Er hatte nur Sex im Kopf.

 

Bis Anna sich angezogen hatte und mit dem Lift nach unten fuhr, war es zehn Minuten nach sechs geworden. Sie hatte gerade die Bar betreten, da sprang ein Herr von einem der Tische auf. Es war Conrad. Er musste wohl die Tür im Auge behalten haben. Verlegen lächelnd kam er ihr entgegen. Anna lächelte ebenfalls. Wie man es immer in solchen Fällen tut. «Sieh da! », sagte er. «Sieh da, sieh da! » Und sie hob ihm, in Erwartung eines Begrüßungskusses, lächelnd die Wange entgegen. Aber sie hatte vergessen, wie formell Conrad immer gewesen war. Er ergriff lediglich ihre Hand und schüttelte sie - ein einziges Mal. «Das ist aber wirklich eine Überraschung», versicherte er. «Komm, setzen wir uns. »

 

Es war eine Bar wie in jedem anderen Hotel: sie war schummrig beleuchtet, und es standen viele kleine Tische herum. Auf jedem Tisch stand ein Schälchen mit Erdnüssen. Lederbezogene Bänke liefen an den Wänden entlang. Die Kellner trugen weiße Jacken und kaffeebraune Hosen. Conrad führte sie zu einem Ecktisch, wo sie einander gegenüber Platz nahmen. Sofort kam ein Kellner herbeigeeilt.

 

«Was möchtest du? », fragte sie Conrad.

 

«Kann ich einen Martini haben? »

 

«Natürlich. Wodka? »

 

«Nein, lieber Gin. »

 

«Einen Gin-Martini», sagte er zu dem Kellner. «Nein, bringen Sie zwei. Wie du dich vielleicht erinnerst, Anna, bin ich noch nie ein großer Trinker gewesen. Aber ich glaube, dies muss gefeiert werden.» Der Kellner eilte davon.

 

Conrad lehnte sich bequem zurück und betrachtete sie eingehend. «Gut siehst du aus», meinte er schließlich.

 

«Du auch, Conrad», erwiderte sie. Und das stimmte. Erstaunlich, wie wenig er in den fünfundzwanzig Jahren gealtert war. Er war genauso schlank und sah genauso gut aus wie früher - nein, eigentlich besser. Sein schwarzes Haar war immer noch schwarz, seine Augen klar, und alles in allem wirkte er wie ein Mann, der kaum über dreißig ist.

 

«Du bist doch älter als ich, nicht wahr? », fragte er.

 

«Was für eine Frage! » Sie lachte. «Ja, Conrad. Ich bin genau ein Jahr älter als du. Zweiundvierzig. »

 

«Mir war doch so. » Er betrachtete sie immer noch aufmerksam. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Schultern. Anna fühlte, dass sie errötete.

 

«Bist du ein erfolgreicher Arzt? », fragte sie. «Bist du der erste Arzt am Platze? »

 

Er hielt den Kopf schief, was Anna immer gern an ihm gemocht hatte: ganz auf eine Seite, so dass das Ohr beinahe die Schulter berührte. «Erfolgreich? », wiederholte er. «Erfolgreich kann heutzutage jeder Arzt in einer Großstadt sein. Finanziell, meine ich. Ob ich jedoch ein erstklassiger Arzt bin, das ist eine andere Frage. Ich kann nur hoffen und beten, dass ich es bin. »

 

Die Drinks kamen, Conrad hob sein Glas. «Willkommen in Dallas, Anna», sagte er. «Es ist schön, wieder mit dir zusammen zu sein. Es war besonders nett, dass du mich angerufen hast. »

 

«Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Conrad. » Sie meinte es aufrichtig.

 

Er musterte ihr Glas. Sie hatte einen großen Schluck getrunken: das Glas war halb leer. «Trinkst du lieber Gin als Wodka? », fragte er.

 

«Ja», antwortete sie.

 

«Dann solltest du deine Gewohnheit ändern. »

 

«Warum? »

 

«Weil Gin nicht gut für Frauen ist. »

 

«Nicht gut? »

 

«Er schadet ihnen. »

 

«Dann schadet er Männern aber doch ebenso. »

 

«Nein, das tut er nicht. Für Männer ist er bei weitem nicht so schlecht wie für Frauen. »

 

«Und warum ist er für Frauen so schlecht? »

 

«Er ist es eben», sagte er. «Es hängt mit dem Organismus der Frauen zusammen. Was tust du denn beruflich, Anna? Und was hat dich hier herunter nach Dallas geführt? Erzähl mir doch ein bisschen von dir? »

 

«Warum ist Gin so schlecht für Frauen? », fragte sie noch einmal lächelnd.

 

Er schüttelte lächelnd den Kopf, antwortete aber nicht darauf.

 

«Also sag's schon», sagte sie.

 

«Nein, lassen wir das. »

 

«Du kannst mich doch nicht so abspeisen», sagte sie. «Das ist nicht recht. »

 

Nach einer kurzen Pause sagte er: «Na schön, wenn du es unbedingt wissen willst... Gin enthält ein bestimmtes Öl, das aus Wacholderbeeren gepresst wird. Man benutzt es zum Aromatisieren. »

 

«Und was bewirkt dieses Öl? »

 

«Eine Menge. »

 

«Ja, aber was? »

 

«Schreckliche Sachen. »

 

«Conrad, du brauchst keine Hemmungen zu haben. Weißt du, ich bin inzwischen erwachsen. »

 

Er war doch immer noch der alte Conrad, dachte sie, noch immer so schüchtern, gewissenhaft und zurückhaltend wie früher. Deswegen mochte sie ihn ja auch. «Wenn dieser Drink mir wirklich so furchtbar schadet», meinte sie, «dann wäre es höchst unfreundlich von dir, mir nicht zu sagen, worin dieser Schaden besteht. »

 

Zögernd griff er mit dem rechten Daumen und Zeigefinger an sein linkes Ohrläppchen. Dann sagte er: «Nun, die Sache ist die, Anna: Das Wacholderbeerenöl übt eine unmittelbare Reizung auf den Uterus aus. »

 

«Ach, geh doch! »

 

«Nein im Ernst. »

 

«Mutters Verderben! », sagte sie. «Das ist doch ein Altweibermärchen. »

 

«Leider nicht. »

 

«Aber das bezieht sich doch sicher nur auf schwangere Frauen! »

 

«Nein, auf alle Frauen, Anna. » Jetzt lächelte er nicht mehr. Im Gegenteil, sein Ton war sehr ernst. Er schien tatsächlich um ihr Wohlergehen besorgt.

 

«Worauf hast du dich eigentlich spezialisiert? Das hast du mir noch gar nicht gesagt. »

 

«Gynäkologie und Geburtshilfe. »

 

«Aha! »

 

«Trinkst du schon sehr lange Gin? », fragte er.

 

«Ach, seit ungefähr zwanzig Jahren», antwortete Anna.

 

«Viel? »

 

«Mein Gott, Conrad, hör doch endlich auf, dir Sorgen um mein Innenleben zu machen! Ich möchte bitte noch einen Martini. »

 

«Aber gern. »

 

Er winkte dem Kellner. «Einen Wodka-Martini, bitte», sagte er.

 

«Nein», korrigierte Anna, «Gin. »

 

Seufzend schüttelte er den Kopf. «Auf seinen Arzt hört heutzutage wohl niemand mehr. »

 

«Du bist nicht mein Arzt. »

 

«Nein», pflichtete er ihr bei. «Ich bin dein Freund. »

 

«Sprechen wir lieber von deiner Frau», schlug Anna vor. «Ist sie noch immer so schön wie früher? »

 

Er zögerte. Nach einigen Augenblicken antwortete er: «Um die Wahrheit zu sagen, wir sind geschieden. »

 

«Nein! »

 

«Unsere Ehe dauerte nur ganze zwei Jahre. Und sie durchzustehen war sogar ziemlich schwer. »

 

Aus irgendeinem Grund erschreckte das Anna. «Und sie war so ein schönes Mädchen! », sagte sie. «Wie ist das denn nur gekommen? »

 

«Weil alles, aber auch wirklich alles mit uns beiden schief ging. »

 

«Und der Junge? »

 

«Den hat sie. Wie üblich. »Es klang verbittert. «Sie ist mit ihm nach New York zurückgekehrt. Einmal im Jahr, in den Sommerferien, darf er mich besuchen. Er ist jetzt zwanzig. Studiert in Princeton. »

 

«Ein netter Junge? »

 

«Ein großartiger Junge», sagte Conrad. «Aber ich kenne ihn kaum. Viel Spaß macht es nicht. »

 

«Und du hast nie wieder geheiratet? »

 

«Nein. Aber genug von mir. Sprechen wir lieber von dir. »

 

Langsam, vorsichtig erkundigte er sich nach ihrer Gesundheit und nach der schweren Zeit, die sie nach Eds Tod durchgemacht hatte. Sie stellte fest, dass es ihr nichts ausmachte, mit ihm darüber zu sprechen, und so erzählte sie ihm mehr oder weniger rückhaltlos alles.

 

«Warum ist dein Arzt aber der Ansicht, dass du noch immer nicht wieder ganz gesund bist? », fragte er. «Auf mich machst du nicht den Eindruck, als würdest du noch einmal einen Selbstmordversuch machen. »

 

«Das werde ich auch sicher nicht. Nur manchmal, weißt du, wenn ich deprimiert bin, dann habe ich das Gefühl, dass schon ein ganz kleiner Stoß genügen würde, um mich wieder umzuwerfen. »

 

«Und was ist dann? »

 

«Dann zieht es mich wieder zum Badezimmerschränkchen. »

 

«Was gibt es denn in deinem Badezimmerschränkchen? »

 

«Nicht viel. Aber unter anderem alles, was eine Frau braucht, um sich die Beine glatt zu rasieren. »

 

«Ach so. » Conrad musterte einen Moment lang aufmerksam ihr Gesicht. « Warst du in einer solchen Stimmung, als du mich vorhin angerufen hast? », fragte er.

 

«Nicht ganz. Aber ich hatte an Ed denken müssen, und das ist immer etwas gefährlich für mich. »

 

«Ich bin froh, dass du mich angerufen hast. »

 

«Ich auch», sagte sie.

 

Anna hatte ihren zweiten Martini beinahe ausgetrunken. Conrad wechselte das Thema und erzählte von seiner Praxis. Sie hörte ihm nicht recht zu, aber sie betrachtete ihn aufmerksam. Ersah so verdammt gut aus, dass es schwer fiel, ihn nicht zu betrachten. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund und bot Conrad auch eine an.

 

«Nein, danke», lehnte er ab. «Ich rauche nicht. » Er nahm ein Streichholzbriefchen vom Tisch, gab ihr Feuer und blies das Streichholz aus. «Sind das Mentholzigaretten? »

 

«Richtig. »

 

Sie inhalierte tief und blies den Rauch langsam in die Luft. «Und jetzt willst du mir sicher erzählen, dass das Rauchen meine Fortpflanzungsorgane zerstört», sagte sie.

 

Lachend schüttelte er den Kopf.

 

«Warum hast du mich dann gefragt? »

 

«Einfach aus Neugier, weiter nichts. »

 

«Du lügst. Das sehe ich dir an. Du wolltest mir gerade erzählen, wie häufig Lungenkrebs bei starken Rauchern vorkommt. »

 

«Lungenkrebs hat nichts mit Menthol zu tun, Anna. » Immer noch lächelnd trank er einen winzigen Schluck von seinem Martini, den er bisher kaum angerührt hatte. Dann stellte er das Glas behutsam auf den Tisch zurück. «Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du eigentlich machst», fuhr er fort, «und warum du nach Dallas gekommen bist. »

 

«Zuerst musst du mir mehr über Menthol erzählen. Auch wenn es nur halb so schädlich ist wie dieser Wacholderbeersaft, dann muss ich sofort darüber Bescheid wissen. »

 

Er lachte und schüttelte den Kopf.

 

«Bitte! », sagte sie.

 

«Nein, meine Dame. »

 

« Conrad, du kannst doch nicht immer solche Sachen aufs Tapet bringen und dich dann darüber ausschweigen. Das ist nun schon das zweite Mal innerhalb von fünf Minuten. »

 

«Ich will niemanden mit meiner Medizin langweilen. »

 

«Du langweilst mich aber nicht. Diese Dinge interessieren mich sehr. Komm, erzähl schon. Sei kein Spielverderber. »

 

Es war hübsch, leicht beschwingt von den beiden Martinis in der Hotelbar zu sitzen und mit diesem charmanten Mann zu plaudern, diesem ruhigen, angenehmen, charmanten Mann. Er war nicht gehemmt. Ganz und gar nicht. Er war lediglich von Natur aus bedachtsam.

 

«Ist es denn so schockant? », fragte sie.

 

«Nein, das kann man nicht sagen. »

 

«Dann erzähl doch schon. »

 

Er nahm das Zigarettenpäckchen, das vor ihr lag, in die Hand und las den Aufdruck. «Es geht um folgendes», erklärte er dann. «Wenn man Menthol inhaliert, wird es vom Blut aufgenommen. Und das ist ungesund, Anna. Es übt eine ganz bestimmte Wirkung auf das Zentralnervensystem aus. Gelegentlich wird es deswegen auch von Ärzten verschrieben. »

 

«Das weiß ich», unterbrach sie ihn. «Schnupfentropfen und Inhalierspray. »

 

«Das ist eines der weniger wichtigen Anwendungsgebiete. Kennst du die anderen auch? »

 

«Bei Erkältungen reibt man sich die Brust damit ein. »

 

«Das kann man natürlich tun, aber helfen würde es überhaupt nicht. »

 

«Man mengt es in Heilsalben für aufgesprungene Lippen. »

 

«Das ist Kampfer. »

 

«Ja, stimmt. »

 

Er wartete, als wollte er sie noch einmal raten lassen.

 

«Nun sag schon», verlangte sie.

 

«Es wird dich vielleicht etwas überraschen. »

 

«Ich lasse mich ausgesprochen gern überraschen. »

 

«Menthol», dozierte Conrad geduldig, «ist ein bekanntes Antiaphrodisiakum. »

 

«Ein was? »

 

«Menthol unterdrückt sexuelle Regungen. »

 

«Conrad, du willst mir wohl was weismachen. »

 

«Ich schwöre dir, dass es so ist. »

 

«Wer gebraucht es denn dann? »

 

«Heutzutage kaum noch jemand. Es schmeckt zu stark durch. Salpeter ist da viel besser. »

 

«Ach ja, davon hab ich schon gehört. »

 

«Was hast du denn gehört? »

 

«Dass man es Gefangenen gibt», sagte Anna. «Sie mischen es ihnen jeden Morgen unter ihre Hafergrütze, um sie zu beruhigen. »

 

«Es ist auch in den Zigaretten», sagte Conrad.

 

«Du meinst, in denen, die die Gefangenen bekommen. »

 

«Nein, ich meine, in allen Zigaretten. »

 

«Aber das ist doch Unsinn. »

 

«Meinst du? »

 

«Aber natürlich. »

 

«Wie kannst du das sagen? »

 

«Niemand würde sich damit abfinden. »

 

«Man findet sich sogar mit Krebs ab. »

 

«Das ist ganz was anderes, Conrad. Woher willst du wissen, dass man Salpeter in die Zigaretten tut? »

 

«Hast du nie darüber nachgedacht», sagte er, «warum eine Zigarette weiterbrennt, wenn du sie in den Aschenbecher legst? Tabak brennt nicht von allein. Jeder Pfeifenraucher kann dir das bestätigen. »

 

«Na ja, vielleicht benutzen sie Chemikalien», sagte sie.

 

«Eben, eben. Sie benutzen Salpeter. »

 

«Brennt denn Salpeter? »

 

«Selbstverständlich. Früher war es ein Hauptbestandteil des Schießpulvers. Auch von Zündschnüren. Es ist sehr geeignet für Zündschnüre. Die Zigarette, die du da rauchst, ist eine erstklassige, langsam verbrennende Zündschnur. Verstehst du? »

 

Anna betrachtete ihre Zigarette. Obwohl sie schon einige Minuten lang nicht mehr daran gezogen hatte, brannte sie weiter, und von der Spitze ringelte sich der Rauch in einer graublauen Spirale in die Höhe.

 

«Also in dieser Zigarette ist danach Menthol und Salpeter? », fragte sie.

 

«Genau. »

 

«Und beides sind Antiaphrodisiaka. »

 

«Ja. Du kriegst gleich die doppelte Dosis. »

 

«Lächerlich, Conrad! Es ist doch viel zu wenig, um irgend etwas zu bewirken. »

 

Er lächelte und schwieg.

 

«Da ist doch nicht mal genügend drin, um eine Küchenschabe lahm zu legen», sagte sie.

 

«Das glaubst du, Anna. Wie viele rauchst du denn am Tag? »

 

«Ungefähr dreißig. »

 

«Na ja», meinte er, «es geht mich im Grunde ja nichts an. » Er zögerte und fügte anschließend hinzu. «Aber wir beide wären heute vermutlich sehr viel besser dran, wenn es mich doch etwas anginge. »

 

«Conrad, was um alles in der Welt willst du damit sagen? »

 

«Ich meine lediglich, wenn du nicht damals plötzlich beschlossen hättest, mir den Laufpass zu geben, wäre uns beiden viel Kummer erspart geblieben. Und wir wären heute noch glücklich miteinander verheiratet. »

 

Sein Gesicht war auf einmal sonderbar verkniffen.

 

«Ich - dir den Laufpass gegeben? »

 

«Es war ein großer Schock für mich, Anna. »

 

«Du liebe Zeit! », gab sie zurück. «Aber so etwas passiert in diesem Alter doch oft, nicht wahr? »

 

«Das weiß ich nicht», antwortete Conrad.

 

«Du bist mir doch nicht immer noch böse, weil ich das damals getan habe? »

 

«Böse? Großer Gott, Anna, böse werden Kinder, wenn sie irgendein Spielzeug verlieren. Ich habe eine Frau verloren. »

 

Sie starrte ihn sprachlos an.

 

«Sag mal», fuhr er fort, «hattest du denn gar keine Ahnung, was ich damals eigentlich empfunden habe? »

 

«Aber Conrad, wir waren doch noch so jung! »

 

«Es hat mich vernichtet, Anna. Es hat mich völlig vernichtet. »

 

«Aber wieso... ?»

 

«Wieso was? »

 

«Wieso hast du, wenn es dir soviel bedeutet hat, gleich kehrtgemacht und dich schon wenige Wochen später mit einer anderen verlobt? »

 

«Hast du denn nie etwas von Reaktion gehört? », fragte er.

 

Sie nickte und sah ihn entgeistert an.

 

«Ich habe dich wahnsinnig geliebt, Anna. »

 

Sie schwieg.

 

«Entschuldige», sagte er. «Ich habe mich gehen lassen. Bitte, verzeih

 

mir. »

 

Langes Schweigen.

 

Conrad lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sah sie an. Sie nahm sich wieder eine Zigarette aus dem Päckchen und steckte sie sich an. Dann blies sie das Streichholz aus und legte es bedächtig in den Aschenbecher. Als sie wieder aufblickte, beobachtete er sie noch immer mit einem starren, halb abwesenden Blick.

 

«Woran denkst du? », fragte sie.

 

Er schwieg.

 

«Conrad», sagte sie, «hasst du mich noch immer deswegen? »

 

«Dich hassen? »

 

«Ja, hassen. Ich habe nämlich das sonderbare Gefühl, dass du mich hasst. Ja, dass du mich noch nach all diesen Jahren hasst. »

 

«Anna», sagte er.

 

«Ja, Conrad? »

 

Er rückte seinen Sessel näher an den Tisch heran und beugte sich vor. «Ist es dir je in den Sinn gekommen... »

 

Er verstummte.

 

Sie wartete.

 

Er wirkte auf einmal so tiefernst, dass sie sich ebenfalls vorbeugte.

 

«Was soll mir in den Sinn gekommen sein? », fragte sie.

 

«Dass du und ich... dass wir beide... noch einen Schlusspunkt zu setzen haben? »

 

Sie starrte ihn an.

 

Er starrte zurück. «Sei nicht schockiert», sagte er. «Bitte. »

 

«Schockiert? »

 

«Du siehst aus, als hätte ich dich soeben gebeten, mit mir zusammen aus dem Fenster zu springen. »

 

Die Bar war jetzt voll besetzt. Es war sehr laut. Fast wie auf einer Cocktailparty. Man musste fast schreien, um sich verständlich zu machen.

 

Conrads Augen ruhten auf ihr mit einem ungeduldigen, fast gierigen Blick.

 

«Ich hätte gern noch einen Martini», sagte sie.

 

«Muss das sein? »

 

«Ja», sagte sie, «das muss sein. »

 

In ihrem ganzen Leben hatte sie ausschließlich mit einem einzigen Mann geschlafen: mit ihrem Ehemann. Mit Ed. Und es war jedes Mal schön gewesen.

 

Dreitausend Mal?

 

Wahrscheinlich öfter. Wahrscheinlich viel öfter. Wer zählt so etwas?

 

Angenommen jedoch, dass die genaue Zahl (es musste eine genaue Zahl geben) dreitausendsechshundertundachtzig betrug... und in dem Bewusstsein, dass es jedes Mal ein Akt reiner, leidenschaftlicher Liebe zwischen demselben Mann und derselben Frau gewesen war... wie um Himmels willen konnte dann ein ganz anderer Mann, ein ungeliebter Fremder hoffen, beim dreitausendsechshundertundeinundachtzigsten Mal für den anderen plötzlich einspringen zu können und auch nur in etwa willkommen zu sein?

 

Er wäre doch nur ein Eindringling.

 

Alle Erinnerungen würden zurückkommen. Sie würden daliegen und unter der Woge der Erinnerungen ersticken.

 

Genau dieses Argument hatte sie vor ein paar Monaten bei einer Sitzung mit Dr. Jacobs vorgebracht, und der alte Jacobs hatte geantwortet: «Es werden keine Erinnerungen kommen, das ist Unsinn, meine liebe Mrs. Cooper. Vergessen Sie das. Es wird für Sie nur die Gegenwart geben. »

 

«Aber wie soll ich das machen? », hatte sie ihn gefragt. «Woher soll ich den Mut nehmen, in ein Schlafzimmer zu gehen und mich vor einem ganz anderen Mann, einem Fremden, auszuziehen? Einfach so... eiskalt? »

 

«Eiskalt? », hatte er empört gerufen. «Mein Gott, liebe Frau, es wird Ihnen siedend heiß werden! » Und später hatte er dann gesagt: «Glauben Sie mir, Mrs. Cooper, jede Frau, die nach über zwanzig Jahren ständigen - und, wie ich verstanden habe, in Ihrem Fall außergewöhnlich aktiven - Sexuallebens plötzlich damit aufhört, leidet unter psychischen Störungen, bis sie ihre alten Gewohnheiten wieder aufnimmt. Sie fühlen sich jetzt sehr viel besser, das weiß ich. Aber es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, dass Ihr Zustand noch keineswegs wieder ganz normal ist... »

 

Zu Conrad sagte Anna jetzt: «Das soll doch etwa nicht ganz zufällig ein therapeutischer Vorschlag sein - oder? »

 

«Ein was? »

 

«Ein therapeutischer Vorschlag. »

 

«Was um alles in der Welt soll das heißen? »

 

«Es klang genau, als hättest du mit meinem Dr. Jacobs zusammen ein Attentat auf mich ausgeheckt. »

 

«Hör mal», sagte er und beugte sich jetzt ganz über den Tisch, um mit einer Fingerspitze ihre linke Hand zu berühren, «als wir uns damals kannten, war ich zu jung und viel zu nervös, um dir einen solchen Vorschlag zu machen, auch wenn ich es noch so gern getan hätte. Außerdem glaubte ich ja, dass wir noch viel Zeit hätten. Ich stellte mir vor, wir hätten ein ganzes Leben vor uns. Woher sollte ich wissen, dass du mir den Laufpass geben würdest? »

 

Annas Martini kam. Sie nahm das Glas und begann hastig zu trinken. Sie wusste genau, welche Wirkung der Alkohol auf sie haben würde. Sie würde anfangen zu schweben. So war es immer nach dem dritten Martini. Wenn sie den dritten Martini trank, würde ihr Körper innerhalb von Sekunden schwerelos sein, und sie würde durch den Raum schweben wie ein Wölkchen Wasserstoffgas.

 

Sie saß da und hielt das Glas mit beiden Händen, als sei es ein Abendmahlskelch. Dann trank sie noch einen kräftigen Schluck, so dass nicht mehr viel im Glas übrig blieb. Über den Glasrand hinweg sah sie, wie Conrad sie missbilligend beobachtete, während sie trank. Sie lächelte ihn strahlend an.

 

«Wenn du operierst, hast du doch auch nichts dagegen, ein Betäubungsmittel anzuwenden, oder? », fragte sie.

 

«Bitte, Anna, sag so was nicht. »

 

«Ich fange an zu schweben», sagte sie.

 

«Das sehe ich», antwortete er. «Warum hörst du nicht auf? »

 

«Was hast du gesagt? »

 

«Ich sagte, warum hörst du nicht auf? »

 

«Soll ich dir sagen, warum? »

 

«Nein. » Er machte eine Handbewegung, als wollte er ihr das Glas wegnehmen. Deswegen hob sie es hastig an die Lippen und stürzte den Rest Martini hinunter. Sie stülpte es für Sekunden fast um, damit auch der letzte Tropfen in ihre Kehle rann.

 

Als sie Conrad wieder ansah, legte er dem Kellner gerade einen Zehndollarschein aufs Tablett, und der Kellner sagte beflissen: «Danke, Sir. Vielen Dank! » Dann merkte sie, dass sie aus der Bar schwebte und von Conrad am Ellbogen mit leichter Hand durch die Hotelhalle zu den Fahrstühlen dirigiert wurde. Sie schwebten in den 21. Stock hinauf, den Flur entlang zu ihrer Tür.

 

Sie fischte den Schlüssel aus ihrer Handtasche, schloss auf und schwebte ins Zimmer. Conrad folgte ihr und schloss die Tür. Dann packte er sie plötzlich, schloss sie in seine starken Arme und begann sie voller Hingabe zu küssen.

 

Er küsste sie auf den Mund, die Wangen, den Hals und holte zwischen den Küssen immer wieder tief Atem. Sie betrachtete ihn mit weit offenen Augen, sonderbar unbeteiligt, sah ihn wie in einer Großaufnahme vor sich, so etwa wie man das Gesicht des Zahnarztes vor sich sieht, wenn er an einem oberen Backenzahn arbeitet.

 

Und dann steckte Conrad plötzlich seine Zunge in ihr Ohr. Es wirkte auf sie wie ein elektrischer Schlag. Es war, als wäre ein Stecker mit 200 Volt in eine Steckdose geschoben worden, und alle Lichter gingen an. Ihre Knochen begannen zu schmelzen, und der heiße Schmelzfluss rann in ihre Glieder, bis sie in Flammen aufging. Es war die gleiche herrliche, wilde, rücksichtslose, flammende Explosion, wie Ed sie früher so oft bei ihr ausgelöst hatte, wenn er sie nur mit der Hand berührte. Sie warf die Arme um Conrads Hals und küsste ihn weit leidenschaftlicher, als er sie je geküsst hatte. Und wenn er zunächst auch aussah, als fürchte er, sie werde ihn bei lebendigem Leibe verschlingen, gewann er doch bald sein Gleichgewicht wieder.

 

Anna hatte nicht die leiseste Ahnung, wie lange sie dort standen und sich so hingebungsvoll küssten, aber es musste ziemlich lange gewesen sein. Ein solches Glücksgefühl durchströmte sie... ein solches Vertrauen endlich wieder, ein so plötzliches, überwältigendes Selbstvertrauen, dass sie sich am liebsten die Kleider vom Leibe gerissen und mitten im Zimmer einen wilden Tanz für Conrad aufgeführt hätte. Aber so etwas Närrisches tat sie nicht. Statt dessen schwebte sie einfach davon, zum Bett hinüber, und setzte sich hin, um wieder zu Atem zu kommen. Conrad setzte sich sogleich neben sie. Sie legte den Kopf an seine Brust und genoss es, dass er ihr sanft über die Haare strich. Dann öffnete sie einen Knopf an seinem Hemd, schob ihre Hand hinein und legte sie auf seine Brust. Zwischen den Rippen spürte sie das Schlagen seines Herzens.

 

«Und was muss ich da sehen? », sagte Conrad auf einmal.

 

«Was musst du wo sehen, Liebling? »

 

«Auf deiner Kopfhaut. Dagegen musst du aber was tun, Anna. »

 

«Tu es für mich, Liebster. »

 

«Im Ernst», sagte er. «Weißt du, wie das aussieht? Wie ein winziges Anzeichen von androgener Alopezie.»

 

«Wunderbar! »

 

«Keineswegs wunderbar. Es ist eine Entzündung der Haardrüsen, die mit der Zeit zu einer Glatze führen kann. Das kommt bei älteren Frauen häufiger vor. »

 

«Ach, hör schon auf, Conrad! » Sie küsste ihn sanft auf den Hals. «Ich habe wundervolles Haar. »

 

Sie richtete sich auf und zog ihm die Jacke aus. Dann löste sie seine Krawatte und schleuderte sie quer durchs Zimmer.

 

«Hinten an meinem Kleid ist ein kleiner Haken», sagte sie. «Würdest du ihn bitte öffnen? »

 

Conrad öffnete den Haken, zog den Reißverschluss herunter und half ihr aus dem Kleid. Darunter trug sie einen sehr hübschen hellblauen Unterrock. Conrad hatte, wie die meisten Ärzte, ein normales weißes Hemd an, dessen Kragen jetzt offen stand. Und das war ihm sehr recht. Rechts und links an seinem Hals liefen kräftige Muskeln entlang, und wenn er den Kopf drehte, sah man sie unter seiner Haut spielen. Er hatte den schönsten Hals, den Anna je bei einem Mann gesehen hatte.

 

«Lass uns alles ganz, ganz langsam machen», sagte sie. «Bis wir vor Ungeduld verrückt werden. »

 

Sein Blick ruhte einen Moment auf ihrem Gesicht und wanderte dann weiter, an ihrem Körper hinab. Sie sah ihn lächeln.

 

«Wollen wir ganz vornehm und verschwenderisch sein und uns eine Flasche Champagner kommen lassen, Conrad? Der Etagenkellner kann ihn bringen, und du versteckst dich im Badezimmer, während ich ihm aufmache. »

 

«Nein», sagte er. «Du hast schon genug getrunken. Bitte, steh auf. »

 

Der Ton, in dem er das sagte, veranlasste sie, tatsächlich sofort aufzustehen.

 

«Komm her! », sagte er.

 

Sie trat dicht vor ihn hin. Er saß noch immer auf dem Bett, streckte jetzt ohne aufzustehen die Hand aus und begann, ihr die restlichen Kleidungsstücke auszuziehen. Er tat es langsam und bedächtig. Sein Gesicht warf auf einmal sehr blass geworden.

 

«O Liebling», jubelte sie, «wie wunderbar! Fabelhaft, du hast ja richtig dichte Haare in deinen Ohren! Weißt du, was das bedeutet? Das ist der sichere Beweis für eine überdurchschnittlich starke Männlichkeit! » Sie beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn liebevoll aufs Ohr. Er fuhr fort, sie auszuziehen: Büstenhalter, Schuhe, Miederhöschen, Schlüpfer und schließlich die Strümpfe. Alles warf er einfach zu Boden. Als er ihr auch den zweiten Strumpf ausgezogen und ihn fallen gelassen hatte, wandte er sich ab, als existierte sie nicht mehr, und begann sich nun selber auszuziehen.

 

Es war seltsam, so dicht vor ihm zu stehen ohne einen Faden am Leib, während er ihr keinen einzigen Blick mehr gönnte. Aber vielleicht war das bei Männern so üblich. Vielleicht war Ed eine Ausnahme gewesen. Woher sollte sie das wissen? Conrad zog zuerst sein weißes Hemd aus, faltete es sorgfältig zusammen, stand auf, trug es zu einem Sessel und legte es über die eine Armlehne. Das gleiche tat er mit seinem Unterhemd. Dann setzte er sich wieder auf die Bettkante und begann seine Schuhe auszuziehen. Anna verhielt sich ganz still und beobachtete ihn. Sein plötzlicher Stimmungsumschlag, sein Schweigen, seine merkwürdige Intensität - das alles flößte ihr eine leichte Furcht ein. Aber es erregte sie auch. In seinen Bewegungen lag eine verstohlene Geschmeidigkeit, ja, beinahe eine drohende Gefahr, als sei er ein herrliches Raubtier, das sich behutsam anschlich, um zu töten. Ein Leopard.

 

Fasziniert sah sie ihm zu. Sie beobachtete seine Finger, die Chirurgenfinger, wie sie die Schnürsenkel des linken Schuhs lösten, den Schuh vom Fuß streiften und säuberlich mit der Spitze unters Bett stellten. Dann folgte der rechte Schuh. Anschließend die linke Socke und die rechte Socke, die beide sorgfältig zusammengelegt und mit äußerster Präzision über die Schuhspitzen drapiert wurden. Endlich bewegten sich die Finger auf den Hosenbund zu: Sie öffneten einen Knopf und zogen dann den Reißverschluss herunter. Die Hose wurde ausgezogen, in ihre Bügelfalte gelegt und ebenfalls zum Sessel getragen. Dann folgte die Unterhose.

 

Conrad selbst kehrte, inzwischen nackt, langsam zum Bett zurück und setzte sich auf die Kante. Und jetzt erst wandte er den Kopf und bemerkte Anna. Anna stand wartend da - wartend und zitternd. Langsam, bedächtig maß er sie von Kopf bis Fuß. Dann schoss auf einmal seine Hand vor, packte sie beim Handgelenk und riss sie mit einem scharfen Ruck quer über das Bett.

 

Die Erleichterung war ungeheuer. Anna umschlang ihn mit beiden Armen und hielt ihn fest, so fest - als fürchte sie, er könne fortgehen und nie mehr wiederkommen. So lagen sie da, Anna an ihn geklammert, als wäre er das letzte auf der Welt, woran sie sich festklammern könnte, und Conrad, der sich allmählich von ihr löste und begann, sie mit seinen Fingern, den geschickten Chirurgenfingern, an verschiedenen Körperstellen zu berühren. Und sofort stürzte sie wieder in einen Sinnesrausch.

 

Das, was er während der folgenden Minuten mit ihr machte, war schrecklich und wunderbar zugleich. Sie wusste, dass er sie lediglich bereit machte, vorbereitete oder, wie man im Krankenhaus sagte, die Operation einleitete, aber, o Gott, noch nie hatte sie etwas Ähnliches erlebt! Und alles ging so furchtbar schnell, in kaum mehr als wenigen Sekunden hatte sie jenen beinahe unerträglichen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab, an dem sich der ganze Raum zu einem einzigen, winzigen, blendenden Lichtpunkt zusammenzuziehen schien, der jeden Augenblick explodieren und sie bei der geringsten Berührung in Stücke zerreißen würde. In diesem Moment schwang Conrad mit einer einzigen, schnellen, tigerhaften Bewegung seinen Körper zum Schlussakt auf sie.

 

Und jetzt fühlte Anna, wie ihre Leidenschaft ihr aus dem Körper gezogen wurde wie ein endlos langer, lebender Nerv, so als würde ein endlos langer, stromgeladener elektrischer Draht ihr langsam aus dem Körper gezogen, und sie schrie Conrad zu, er solle weiter, weiter, weitermachen, und während sie noch so schrie, hörte sie plötzlich eine andere Stimme irgendwo über sich, und diese andere Stimme wurde immer lauter und lauter, immer drängender und immer fordernder:

 

«Ich habe dich gefragt, ob du einen Schutz trägst? », verlangte die Stimme zu wissen.

 

«Oh, Liebling, was ist denn? »

 

«Ich frage dich dauernd, ob du einen Schutz trägst. »

 

«Wer? Ich? »

 

«Ich spüre da ein Hindernis. Anscheinend trägst du ein Pessar oder so etwas. »

 

«Aber nein, Liebling, natürlich nicht! Es ist so wunderbar mit dir! Bitte, sei still... »

 

«Es ist gar nicht so wunderbar, Anna. »

 

Wie das Bild auf einer Filmleinwand wurden die verschwommenen Umrisse des Raumes wieder klar. Dicht vor ihr schwebte Conrads Kopf, von seinen nackten Schultern getragen. Seine Augen starrten direkt in die ihren. Sein Mund sprach immer noch.

 

«Wenn du einen Schutz trägst, dann solltest du endlich lernen, wie man ihn korrekt einführt. Nichts ist so ärgerlich wie Nachlässigkeit bei diesen Dingen. Die Gummikappe muss ganz hinten direkt über den Muttermund gestülpt wird. »

 

«Aber ich benutze doch überhaupt nichts! »

 

«Wirklich nicht? Aber da ist doch ganz eindeutig ein Hindernis. »

 

Auf einmal schien nicht nur das Zimmer, sondern die ganze Welt langsam unter ihr davon zu gleiten.

 

«Mir ist schlecht», sagte sie.

 

«Dir ist was? »

 

«Mir ist schlecht. »

 

«Sei nicht kindisch, Anna! »

 

«Conrad, bitte, lass mich. Bitte, lass mich! »

 

«Was soll das heißen? »

 

«Geh runter von mir, Conrad! »

 

«Das ist doch lächerlich! Anna. Na gut, es tut mir leid, dass ich was gesagt habe. Vergiss es. »

 

«Geh! », schrie sie ihn an. «Geh runter! Geh runter! Geh runter! »

 

Sie versuchte, ihn von sich zu stoßen, aber er war groß und stark und hielt sie fest.

 

«Beruhige dich! », mahnte er. «Lockere dich. Du kannst dich doch nicht plötzlich anders besinnen, wenn wir mitten dabei sind. Und fang um Gottes willen nicht noch an zu weinen. »

 

«Lass mich in Ruhe, Conrad. Bitte! »

 

Es kam ihr vor, als drücke er sie nieder, mit allem was ihm nur dienlich war, mit Armen und Ellbogen, Händen, Schenkeln und Knien, Knöcheln und Füßen. Er hielt sie umklammert wie eine grässliche Kröte. Ja, das war es, eine riesige Kröte, die sie keuchend umklammerte und fest entschlossen schien, sie nicht loszulassen. Sie hatte einmal zugesehen, wie eine Kröte genau das tat. Das Tier kopulierte auf einem Stein am Bach mit einem Frosch: es saß da, regungslos, abstoßend, ein böses, gelbes Leuchten im Auge, hielt den Frosch mit den beiden kräftigen Vorderbeinen gepackt und wollte ihn nicht mehr loslassen...

 

«Hör auf, dich zu wehren, Anna. Du benimmst dich wie ein hysterisches Kind. Herrgott, Weib, was hast du denn bloß? »

 

«Du tust mir weh! », rief sie verzweifelt.

 

«Ich tue dir weh? »

 

«Du tust mir schrecklich weh! »

 

Sie sagte es nur, damit er sie endlich freigab.

 

«Weißt du auch, warum es weh tut? », fragte er.

 

«Conrad! Bitte! »

 

«Augenblick mal, Anna. Zuerst muss ich dir das erklären... »

 

«Nein! », schrie sie. «Du hast mir schon genug erklärt! »

 

«Meine liebe Dame... »

 

«Nein! » Sie kämpfte verzweifelt um ihre Freiheit, aber er hielt sie fest.

 

«Es tut weh», fuhr er fort, «weil du keine Gleitflüssigkeit produzierst. Die Schleimhaut ist vollkommen trocken... »

 

«Aufhören! »

 

«Die medizinische Bezeichnung dafür lautet senile atrophische Vaginitis. So etwas kommt mit dem Alter, Anna, deswegen heißt es senile Vaginitis. Leider kann man fast gar nichts dagegen tun... »

 

In diesem Augenblick begann sie zu schreien. Ihre Schreie waren nicht sehr laut, aber es waren echte Schreie, schreckliche, entsetzte, qualvolle Schreie, und als Conrad sich das eine Weile angehört hatte, rollte er mit einer einzigen, graziösen Bewegung von ihr herunter und schob sie mit beiden Händen zur Seite. Er schob so stark, dass sie vom Bett auf den Boden fiel.

 

Langsam kam sie wieder auf die Füße und schrie, während sie ins Badezimmer wankte, mit einer seltsam klagenden Stimme: «Ed! ... Ed! ... Ed! ...» Dann fiel die Tür ins Schloss.

 

Conrad blieb still liegen und lauschte auf die Geräusche aus dem Bad. Zuerst hörte er nur das Schluchzen, dann aber, wenige Sekunden später, hörte er außerdem das scharfe, metallische Klick einer aufspringenden Schränkchentür. Sofort richtete er sich auf, sprang aus dem Bett und zog sich hastig an. Seine säuberlich gefalteten Kleidungsstücke lagen griffbereit, so dass er in Minutenschnelle fertig war. Dann ging er zum Spiegel und wischte sich mit einem Taschentuch den Lippenstift vom Gesicht. Er zog einen Kamm aus der Jackentasche und glättete sein dünnes schwarzes Haar. Er schritt um das Bett herum und sah nach, ob er auch nichts vergessen hatte. Dann trat er behutsam, so wie man auf Zehenspitzen aus einem Zimmer schleicht, in dem ein Kind schläft, in den Hotelflur hinaus und zog leise die Tür hinter sich ins Schloss.