Der Besucher

Unlängst wurde mir von der Bahnspedition eine große Kiste vor die Haustür gestellt. Es war eine ungewöhnlich feste, wohlgefügte Kiste aus einem dunkelroten Hartholz, das an Mahagoni erinnerte. Ich hievte sie unter großer Mühe auf einen Tisch im Garten und untersuchte sie eingehend. Die Schablonenaufschrift auf der einen Seite ließ erkennen, dass sie von Haifa aus mit der MS Waverley Star auf den Weg gebracht worden war, doch fand ich nirgendwo den Namen oder die Adresse des Absenders. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wer in Haifa oder der Umgebung von Haifa auf den Gedanken gekommen sein mochte, mir ein großartiges Geschenk zu machen. Mir fiel niemand ein. Nachdenklich ging ich zum Geräteschuppen hinüber und holte mir einen Hammer und einen Schraubenzieher. Dann machte ich mich vorsichtig daran, den Deckel der Kiste abzuheben.

 

Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich entdeckte, das die Kiste mit Büchern gefüllt war - mit eigenartig aussehenden Büchern. Band für Band nahm ich sie alle aus der Kiste heraus (ohne zunächst auch nur in eines einen Blick zu werfen) und legte sie in drei ziemlich hohen Stapeln auf den Gartentisch. So lagen dort schließlich 28 stattliche Bände, und sehr hübsch anzuschauen waren sie auch. Sie waren - alle einheitlich - aufs prächtigste in sattgrünes Saffianleder gebunden und trugen auf dem Rücken in Goldprägung die Initialen O. H. C. und dazu eine römische Zahl (I bis XXVIII).

 

Ich nahm den erstbesten der Bände zur Hand - es war Band XVI - und schlug ihn auf. Die unlinierten weißen Seiten waren mit einer zierlich gestochenen Handschrift in schwarzer Tinte bedeckt. Auf der Titelseite stand die Jahreszahl «1934». Nichts weiter. Ich griff nach einem anderen Band. Er trug die Nummer XXI und enthielt weitere Manuskriptseiten in derselben Handschrift - nur dass hier auf der Titelseite die Jahreszahl «1939» stand. Ich legte den Band wieder auf den Tisch und zog Band l hervor, da ich hoffte, in ihm eine Art Vorwort oder vielleicht den Namen des Verfassers zu finden. Statt dessen entdeckte ich vorn im Band einen Briefumschlag. Er war an mich adressiert. Ich entnahm ihm den Brief, den er enthielt, und warf rasch einen Blick auf die Unterschrift: Oswald Hendryks Cornelius. Siehe da - Onkel Oswald!

 

Seit über dreißig Jahren hatte niemand von meiner Familie mehr etwas von Onkel Oswald gehört. Der Brief trug das Datum des 10. März 1964, und bis dato hatten wir nur vermuten können, dass Onkel Oswald noch lebte. Wir wussten so gut wie nichts von ihm, außer dass er in Frankreich lebte, dass er viel reiste und dass er ein wohlhabender Junggeselle mit einigermaßen anstößigen, aber extravaganten Neigungen war, der mit seinen Verwandten nicht das geringste zu tun haben wollte. Alles übrige waren Gerüchte und Hörensagen, aber die Gerüchte waren so schillernd und das Hörensagen so exotisch, dass Onkel Oswald für uns alle seit langem ein strahlender Held war, eine Legende.

 

«Mein lieber Neffe», so begann der Brief, «ich glaube, Du und Deine drei Schwestern, Ihr seid meine nächsten noch lebenden Blutsverwandten. Deshalb seid Ihr meine rechtmäßigen Erben, und da ich kein Testament gemacht habe, wird alles, was ich bei meinem Tode hinterlasse, Euch gehören. Leider habe ich nichts zu hinterlassen. Ich habe einst ein recht ansehnliches Vermögen besessen, und dass ich kürzlich auf meine Art über alles verfügt habe, geht Euch nichts an. Zum Trost jedoch schicke ich Euch hiermit meine persönlichen Tagebücher. Sie sollten, so meine ich, in der Familie bleiben. Sie geben Auskunft über die besten Jahre meines Lebens, und es wird Euch nicht schaden, sie zu lesen. Solltet Ihr sie aber herumzeigen oder gar an Fremde ausleihen, so tut Ihr das auf Eure eigene, sicherlich nicht geringe Gefahr. Und solltest Du gar auf den Gedanken kommen, sie zu veröffentlichen, dann würde das, so stelle ich mir vor, nicht nur Dein Ende, sondern auch das des fraglichen Verlegers bedeuten. Denn Du musst wissen, dass Hunderte der von mir in den Tagebüchern erwähnten Heldinnen allenfalls erst halbtot sind, und wärst Du so närrisch, ihren lilienweißen Ruf mit schamroten Druckbuchstaben zu beflecken, so würden sie im Handumdrehen dafür sorgen, dass Dein Kopf in einer Schüssel landet und wahrscheinlich obendrein noch im Ofen geröstet wird. So sei also lieber vorsichtig. Wir beide sind uns nur ein einziges Mal begegnet. Das war vor vielen Jahren, 1921, als Deine Familie noch in jenem großen, hässlichen Haus in South Wales lebte. Damals warst Du mit Deinen fünf Jahren noch ein kleines Kerlchen, und ich war Dein lieber Onkel. Du wirst Dich wohl kaum noch an das junge norwegische Kindermädchen erinnern, das Ihr damals hattet. Sie war eine bemerkenswerte adrette, wohlgestalte Person, die selbst noch in ihrer Uniform mit dem lächerlichen gestärkten weißen Brustlatz, der ihren lieblichen Busen versteckte, exquisite Formen erkennen ließ. An dem Nachmittag, als ich bei Euch war, nahm sie Dich auf einen Spaziergang zum Glockenblumenpflücken mit in den Wald, und ich fragte, ob ich mitkommen dürfe. Als wir schließlich mitten im Wald waren, versprach ich Dir eine Tafel Schokolade, wenn es Dir gelänge, allein den Weg nach Haus zurückzufinden. Und Du hast Dir die Tafel Schokolade verdient (siehe Bd. III). Du warst ein verständiges Kind. So lebt denn wohl. Oswald Hendryks Cornelius.»

 

Das unerwartete Auftauchen dieser Tagebücher verursachte große Aufregung in meiner Familie, und alles riss sich darum, sie zu lesen. Wir wurden nicht enttäuscht.

 

Es war eine erstaunliche Lektüre - heiter und vergnüglich, witzig, dramatisch und oft auch ebenso ergreifend. Die Vitalität dieses Mannes war einfach unglaublich. Er war ständig unterwegs, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Frau zu Frau, und zwischendurch suchte er Spinnen in Kaschmir oder war in Nanking hinter einer blauen Porzellanvase her. Aber die Frauen kamen immer an erster Stelle. Wo er auch aufkreuzte, überall hinterließ er einen endlosen Schwärm von über die Maßen zerzausten und zerschlagenen Frauen, die aber stets wie die Katzen schnurrten.

 

An 28 Bänden mit je dreihundert Seiten hat man eine gute Weile zu lesen, und nur sehr wenige Autoren brächten das Kunststück fertig, den Leser über eine solche Strecke hin in Atem zu halten. Aber Oswald schaffte es. Der Erzählstrom verlor nicht einen Augenblick seine Würze, kaum je sein Tempo, und jede einzelne Eintragung, ob lang oder kurz, und einerlei, wovon sie handelte, war fast ausnahmslos eine wunderbare kleine, in sich abgerundete Geschichte. Und wenn man schließlich die letzte Seite des letzten Bandes verschlungen hatte, saß man mit dem ziemlich atemberaubenden Gefühl da, dass hier womöglich eines der gewichtigsten autobiographischen Werke unserer Zeit vorlag.

 

Selbst wenn man dieses Œuvre nur als die Chronik der amourösen Abenteuer eines Mannes betrachtete, gab es zweifellos nichts, was sich damit hätte messen können. Casanovas Memoiren lasen sich daneben wie ein Kirchenblättchen, und der legendäre Liebhaber selbst wirkte neben Oswald sexuell minderbemittelt.

 

Aber darüber hinaus enthielt jede Seite gesellschaftliches Dynamit. Darin hatte Oswald vollkommen recht. Sicherlich aber irrte er, wenn er glaubte, die explosiven Reaktionen würden nur von seiten der Frauen kommen. Wie stand es denn mit ihren Männern, den gedemütigten Gehörnten, den Hahnreis? Der Hahnrei, wenn gereizt, ist ein äußerst wütender Vogel, und Hunderte und Aberhunderte würden aus dem Gebüsch aufflattern, falls zu ihren Lebzeiten <Die Cornelius-Tagebücher> ans Licht der Öffentlichkeit kämen. Eine Drucklegung kam daher nicht in Betracht.

 

Es war ein Jammer! Ein solcher Jammer, dass ich darüber nachdachte, ob sich da nicht irgend etwas machen ließ. So las ich denn die Tagebücher noch einmal vom Anfang bis zum Ende durch. Ich hoffte, wenigstens eine in sich abgeschlossene Geschichte zu entdecken, die man drucken und veröffentlichen könnte, ohne dass dadurch der Verleger und ich selbst in ernste Schwierigkeiten gerieten. Zu meiner großen Freude fand ich nicht weniger als sechs solcher Geschichten. Ich zeigte sie einem Anwalt. Er sagte, nach seinem Dafürhalten stelle ihre Veröffentlichung kein Risiko dar, aber eine Garantie könne er mir nicht dafür geben. Eine der Geschichten - <Das Erlebnis in der Wüste Sinai> erscheine ihm weniger riskant als die anderen fünf, fügte er hinzu.

 

So habe ich mich denn entschlossen, mit dieser Geschichte einen Anfang zu machen und sie unverzüglich mit meinem kurzen Vorwort hier zur Veröffentlichung anzubieten. Falls sie angenommen und gedruckt wird und alles gut geht, werde ich vielleicht noch zwei oder drei weitere preisgeben.

 

Die Sinai-Episode findet sich im letzten der Bände, Band XXVIII, und die Eintragung stammt vom 24. August 1946. Genauer gesagt ist es sogar die letzte Eintragung überhaupt, offenbar also das letzte, was Oswald je schrieb, und wohin er sich nach diesem Datum begab oder was er danach trieb, entzieht sich unserer Kenntnis. Hier sind wir gänzlich auf Vermutungen angewiesen. Sie werden die Eintragung sogleich im Wortlaut lesen können, aber damit Sie einiges, was Oswald in dieser Geschichte sagt und tut, besser verstehen, möchte ich Ihnen zunächst ein wenig über ihn selbst erzählen. Aus der Fülle der Bekenntnisse und Reflexionen, die in den 28 Bänden enthalten sind, tritt uns ein recht klares Bild seines Charakters entgegen.

 

Zur Zeit der Sinai-Episode war Oswald Hendryks Cornelius 51 Jahre alt, und er hatte natürlich nie geheiratet. «Ich fürchte», so pflegte er zu sagen, «dass ich mit einem ungewöhnlich wählerischen Wesen gesegnet - oder vielmehr sollte ich sagen: geschlagen - bin.»

 

In gewisser Weise traf dies zu, doch in manch anderer Hinsicht - und insbesondere was das Heiraten angeht - war diese Äußerung das genaue Gegenteil der Wahrheit.

 

Der wahre Grund, warum Oswald sich geweigert hatte zu heiraten, lag einfach darin, dass er sein Leben lang nie imstande gewesen war, seine Aufmerksamkeit länger auf eine einzelne Frau zu konzentrieren, als er zu ihrer Eroberung brauchte. War letzteres einmal geschehen, verlor er jedes Interesse an ihr und sah sich nach dem nächsten Opfer um.

 

Ein normaler Mann würde darin schwerlich einen triftigen Grund dafür sehen, Junggeselle zu bleiben, aber Oswald war nun einmal kein normaler Mann. Er war nicht einmal ein normaler polygamer Mann. Er war, um ehrlich zu sein, ein so unbeständiger und unverbesserlicher Schwerenöter, dass keine Braut der Welt es länger mit ihm ausgehalten hätte als ein paar Tage, geschweige denn für die Dauer der Flitterwochen - obschon es, weiß der Himmel, genug Frauen gab, die nur zu bereit gewesen wären, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.

 

Er war hochgewachsen und schlank. Seine Stimme klang sanft, seine Umgangsformen waren angenehm, und auf den ersten Blick wirkte er eher wie ein Kammerherr am Hof der Königin als wie ein berüchtigter Wüstling. Nie sprach er anderen Männern gegenüber von seinen amourösen Affären, und hätte ein Fremder auch einen ganzen Abend mit ihm zusammengesessen und geplaudert, er wäre doch nicht in der Lage gewesen, das geringste Anzeichen von Arglist in Oswalds klaren blauen Augen zu entdecken. Oswald war im Grunde genau der Mann, den ein besorgter Vater gern gebeten hätte, seine Tochter sicher heimzubegleiten.

 

Saß Oswald aber mit einer Frau zusammen, einer Frau, die ihn interessierte, veränderte sich blitzschnell der Ausdruck seiner Augen, und wenn er sie ansah, begann genau im Zentrum seiner beiden Pupillen ein kleiner, gefährlicher Funke zu tanzen. Und dann redete er lebhaft und gescheit und sicherlich amüsanter auf sie ein, als das irgend jemand zuvor getan hatte. Dies war eine besondere Gabe von ihm, ein geradezu einzigartiges Talent, und wenn er es darauf anlegte, wanden sich seine Worte wie eine Schlange um seine Zuhörerin, bis er sie in eine Art Trance versetzt hatte.

 

Aber nicht nur seine gepflegte Unterhaltung und das Funkeln in seinen Augen faszinierte die Frauen. Es war auch seine Nase. (In Bd. XIV gibt Oswald mit offenkundigem Genuss den Wortlaut eines Briefchens wieder, das er von einer gewissen Dame erhielt, die darin solche und ähnliche Einzelheiten mit großer Genauigkeit beschreibt.) Anscheinend passierte, wenn Oswald Feuer fing, etwas Merkwürdiges mit seinen Nasenflügeln. Sie zuckten und strafften sich, und dabei weiteten sich seine Nasenlöcher und gaben ein Stück des hellroten Inneren frei. Das verlieh seinem Gesicht einen sonderbar wilden, animalischen Ausdruck, und wenn die Beschreibung dieses Vorgangs auch nicht sehr anziehend klingen mag, so war doch der Effekt auf die Damen elektrisierend.

 

Fast ausnahmslos fühlten sich die Frauen zu Oswald hingezogen. Er war vor allem anderen ein Mann, der sich um keinen Preis binden wollte, und das allein schon machte ihn begehrenswert. Rechnet man seinen überragenden Intellekt, seinen bestrickenden Charme und seine sagenumwobene Potenz hinzu, so ergibt das eine geradezu unwiderstehliche Kombination.

 

Doch wollen wir für einen Augenblick die anrüchige und zügellose Seite vergessen, um festzustellen, dass noch eine Reihe anderer überraschender Aspekte Oswald zu einer recht faszinierenden Gestalt machten. So gab es zum Beispiel nur sehr wenig, das er nicht über die italienische Oper des 19. Jahrhunderts wusste, und er hatte sogar ein kurioses kleines Bändchen über die drei Komponisten Donizetti, Verdi und Ponchielli verfasst. Er zählte darin alle bedeutenderen Mätressen auf, die diese Männer im Laufe ihres Lebens gehabt hatten, und untersuchte sodann ganz ernsthaft die Beziehungen zwischen schöpferischer und fleischlicher Leidenschaft und ihre Wechselwirkung im Hinblick auf die Werke dieser Komponisten.

 

Ein weiterer Gegenstand seines Interesses war chinesisches Porzellan, und er genoss als Autorität auf diesem Gebiet weltweite Anerkennung. Seine besondere Liebe galt den blauen Vasen der Tschin-Hoa-Periode, und er besaß eine kleine, aber exquisite Sammlung solcher Stücke.

 

Außerdem sammelte er Spinnen und Spazierstöcke.

 

Seine Sammlung von Spinnen oder, genauer gesagt, von Arachniden - denn sie schloss auch Skorpione und Pedipalpen ein - war vermutlich so umfassend wie keine andere, von Sammlungen in Museen abgesehen, und seine Kenntnis der zahllosen Gattungen und Arten war imponierend. Übrigens vertrat er (wahrscheinlich mit Recht) die Auffassung, dass Spinnenseide an Qualität dem außergewöhnlichen Gespinst des Seidenspinners überlegen sei, und nie trug er einen Schlips aus irgendeinem anderen Material. Er besaß etwa vierzig solcher Binder, und um diese stattliche Kollektion erwerben und sie jährlich um zwei neue Exemplare ergänzen zu können, hatte er Tausende und Abertausende von Arana und Epeira diademata (den gewöhnlichen englischen Gartenspinnen) in einem alten Treibhaus im Park seines Landsitzes vor Paris halten müssen, wo sie sich etwa in dem gleichen Tempo vermehrten, in dem sie sich gegenseitig auffraßen. Er sammelte selbst das Rohgespinst ein - niemand außer ihm durfte jenes gespenstische Glashaus betreten - und sandte es nach Avignon, wo es gehaspelt und gesponnen und gereinigt und gefärbt und zu Seidenstoff verarbeitet wurde. Diese Seide wurde dann direkt an Sulka in London geschickt, wo man von der ganzen Angelegenheit entzückt war und nur zu gern erlesene Schlipse aus einem so raren und wundersamen Material fertigte.

 

«Aber du willst doch nicht behaupten, dass du Spinnen wirklich magst? », pflegten die Frauen, die Oswald auf seinem Landsitz besuchten, zu fragen, wenn er ihnen seine Sammlung vorführte.

 

«Oh, ich bete sie an», antwortete er dann. «Vor allem die Weibchen. Sie erinnern mich nämlich sehr an gewisse menschliche Weibchen, die ich kenne. Sie erinnern mich an meine menschlichen Lieblingsweibchen. »

 

«Was für ein Unsinn, Liebling! »

 

«Unsinn? Ganz und gar nicht. »

 

«Das ist doch geradezu beleidigend. »

 

«Ganz im Gegenteil, meine Teure, es ist das größte Kompliment, das ich einer Frau machen kann. Hast du zum Beispiel nicht gewusst, dass die Spinnenweibchen beim Liebesakt so wild sind, dass die Männchen wirklich Glück haben, wenn sie am Ende mit dem Leben davonkommen? Nur wenn ein Männchen außergewöhnlich agil und unglaublich raffiniert ist, kommt es heil davon. »

 

«Oswald, nun mach mal einen Punkt! »

 

«Und die Krabbenspinne, meine Süße, die winzig kleine Krabbenspinne ist in ihrer Leidenschaft so gefährlich, dass ihr Liebhaber sie mit kunstvollen Schlingen und Knoten aus seinem eigenen Faden fesseln muss, ehe er es wagen kann, sie zu umarmen...“

 

«Jetzt aber Schluss, Oswald, und zwar auf der Stelle! », riefen dann die Frauen, und ihre Augen schimmerten und glänzten.

 

Oswalds Spazierstocksammlung war auch wieder etwas Besonderes. Jeder seiner Stöcke hatte einst irgendeiner berühmten oder berüchtigten Persönlichkeit gehört. Er bewahrte sie in seiner Pariser Wohnung auf, in zwei langen Gestellen an den Wänden des Flurs, der, breit wie eine Autostraße, vom Salon zu seinem Schlafzimmer führte. Über jedem Spazierstock wies ein kleines Elfenbeinschildchen auf den ehemaligen Besitzer hin: Sibelius, Milton, König Faruk, Dickens, Robespierre, Puccini, Oscar Wilde, Franklin D. Roosevelt, Goebbels, Königin Viktoria, Toulouse-Lautrec, Hindenburg, Tolstoj, Laval, Sarah Bernhardt, Goethe, Woroschilow, Cezanne, Tojo... Es müssen insgesamt über hundert Stöcke gewesen sein, manche sehr hübsch, andere unscheinbar, manche mit goldenem oder silbernem Knauf und manche mit geschwungenem Griff.

 

«Nehmen Sie doch einmal den Tolstoj herunter», sagte Oswald etwa, wenn er eine schöne Besucherin durch den Flur führte. «Nur zu, nehmen Sie ihn... So ist's recht... Und jetzt... Jetzt fahren Sie einmal mit der Handfläche sanft über den Knauf, den die Hand des großen Mannes blankgerieben hat. Ist es nicht wunderbar, so etwas zu berühren und den Kontakt mit der Haut zu spüren? »

 

«Ja, wirklich. Eigenartig. »

 

«Und nun greifen Sie nach dem Goebbels, und tun Sie das gleiche. Nein, richtig zufassen. Sie müssen Ihre Hand fest um den Griff legen... Gut... Und jetzt... jetzt stützen Sie sich einmal mit Ihrem ganzen Gewicht darauf, ganz fest, genauso, wie der kleine, hinkende Doktor das zu tun pflegte... Da... Ja, so ist's recht... Und nun verharren Sie etwa eine Minute lang in dieser Stellung, und dann sagen Sie mir, ob Sie nicht das Gefühl haben, ein kleiner, eisiger Finger kröche Ihnen den Arm herauf und in Ihren Ausschnitt hinein? »

 

«Es ist abscheulich! »

 

«Gewiss, das ist es. Manche Leute werden ohnmächtig dabei. Sie schlagen der Länge nach hin. »

 

Niemand hat sich in Oswalds Gesellschaft je gelangweilt, und vielleicht liegt darin - mehr als in allem anderen - die Erklärung für seinen Erfolg.

 

Wir kommen nunmehr zur Sinai-Episode. In jenem Monat hatte Oswald sich damit amüsiert, gemütlich und gemächlich von Khartum nach Kairo zu fahren. Er besaß einen vortrefflichen Vorkriegs-Lagonda, der während der Kriegsjahre in der Schweiz sorgsam eingelagert gewesen und, wie Sie sich vorstellen können, mit allen technischen Raffinessen unter der Sonne ausgestattet war. An dem Tag vor seinem Erlebnis in der Wüste Sinai, das am 23. August 1946 stattfand, hielt Oswald sich in Kairo auf. Er war im Shepheard's Hotel abgestiegen und hatte an jenem Abend, nach einer Reihe dreister Manöver, eine mohammedanische Dame vermutlich aristokratischer Herkunft becirct, die mit Vornamen Isabella hieß. Diese Isabella aber war ausgerechnet die eifersüchtig bewachte Mätresse von niemand geringerem als einer gewissen, nur zu bekannten dyspeptischen Persönlichkeit königlichen Geblüts (Ägypten war damals noch eine Monarchie). Ein für Oswald typisches Unternehmen!

 

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Gegen Mitternacht fuhr er mit der Dame nach Gizeh hinaus und überredete sie, mit ihm im Mondschein die Spitze der großen Cheopspyramide zu erklimmen.

 

«... Es gibt keinen sichereren Ort», schrieb er in sein Tagebuch, «und auch keinen romantischeren als den Gipfel einer Pyramide in einer warmen Vollmondnacht. Nicht nur die herrliche Aussicht erregt die Leidenschaften, sondern auch das seltsame Gefühl der Macht, das einen überkommt, wenn immer man aus großer Höhe auf die Welt hinabblickt. Und was die Sicherheit angeht - die Cheopspyramide ist 137 Meter hoch, also 27 Meter höher als die Kuppel der St. Pauls-Kathedrale in London, und von ihrer Spitze aus kann man mühelos alles, was sich etwa nähert, sorgsam beobachten. Kein anderes Boudoir auf Erden hat solche Annehmlichkeiten zu bieten. Keines hält einem so viele Fluchtwege offen, denn sollte die finstere Gestalt eines Verfolgers auf der einen Seite der Pyramide heraufgeklettert kommen, braucht man nur ruhig und gelassen auf der anderen Seite hinunterzusteigen... »

 

Der Zufall wollte es, dass Oswald in jener Nacht nur mit knapper Not entkam. Irgendwie musste man im Palast von der kleinen Affäre Wind bekommen haben. Jedenfalls bemerkte Oswald plötzlich aus seiner luftigen Mondscheinhöhe nicht eine, sondern drei finstere Gestalten, die sich von drei verschiedenen Seiten der Pyramide näherten und hinaufzuklettern begannen. Zu seinem Glück aber hat die große Cheopspyramide ja noch eine vierte Seite, und als die gedungenen Araber den Gipfel erreichten, waren die beiden Liebenden bereits wieder am Fuß der Pyramide angelangt und in den Wagen gestiegen.

 

In der Tagebucheintragung vom 24. August wird der Bericht an eben diesem Punkte aufgenommen. Diese Eintragung wird hier Wort für Wort und Komma für Komma so wiedergegeben, wie Oswald sie niedergeschrieben hat. Nichts wurde geändert, nichts hinzugefügt, nichts gekürzt.

 

24. August 1946

 

«Er wird Isabellas Kopf abschlagen, wenn er sie jetzt erwischt», sagte Isabella.

 

«Unsinn! », antwortete ich. Aber ich dachte bei mir, dass sie wahrscheinlich recht hatte.

 

«Er wird Oswalds Kopf auch abschlagen», sagte sie.

 

«Meinen nicht, liebe Dame. Ich werde längst weit fort von hier sein, wenn der Tag anbricht, denn ich fahre jetzt unverzüglich nilaufwärts nach Luxor. »

 

Wir entfernten uns in rascher Fahrt von den Pyramiden. Es war inzwischen etwa halb drei Uhr morgens.

 

«Nach Luxor? », fragte sie.

 

«Ja. »

 

«Und Isabella fährt mit dir. »

 

«Nein», sagte ich.

 

«Doch», sagte sie.

 

«Ich reise prinzipiell nicht mit einer Dame», sagte ich.

 

Vor uns sah ich einige Lichter. Sie gehörten zum Mena House Hotel, einer Herberge, wo die Touristen sich unweit der Pyramiden in der Wüste aufhalten können. Ich fuhr ziemlich nahe an das Hotel heran und hielt.

 

«Hier setze ich dich ab», sagte ich. «Es war sehr nett mit dir. »

 

«Du willst also Isabella nicht mit nach Luxor nehmen? »

 

«Nein, leider nicht», sagte ich. «Los, hau ab! »

 

Sie schickte sich an, aus dem Wagen zu steigen, setzte den einen Fuß auf die Straße, hielt inne, und dann schwang sie sich plötzlich zu mir herum und übergoss mich mit einer nicht aufhörenden Flut von so schmutzigen Ausdrücken, wie ich sie noch nie von den Lippen einer Dame gehört hatte seit... nun ja, seit 1931 in Marrakesch, als die gierige alte Herzogin von Glasgow ihre Hand in eine Pralinenschachtel tauchte und von einem Skorpion gezwickt wurde, den ich dort aus Sicherheitsgründen untergebracht hatte (Bd. XIII, 5. Juni 1931).

 

«Du bist widerlich», sagte ich.

 

Isabella sprang aus dem Wagen und schlug so heftig die Tür zu, dass mein ganzes Gefährt erbebte. Ich brauste davon. Dem Himmel sei Dank! Ich hatte sie vom Hals. Ich kann es nun einmal nicht ertragen, wenn ein hübsches Mädchen sich schlecht benimmt.

 

Beim Fahren behielt ich den Rückspiegel im Auge, doch bisher schien kein Wagen mir zu folgen. Nachdem ich den Stadtrand von Kairo erreicht hatte, suchte ich mir meinen Weg durch Seitenstraßen und mied das Zentrum der Stadt. Ich war nicht etwa sonderlich beunruhigt. Die Wachhunde des Königs würden die Sache wahrscheinlich nicht weiter verfolgen. Dennoch wäre es tollkühn gewesen, unter den gegebenen Umständen ins Shepheard's Hotel zurückzukehren. Das war im übrigen auch gar nicht nötig, denn bis auf ein kleines Handköfferchen hatte ich mein gesamtes Gepäck bei mir im Wagen. Ich lasse nie größere Koffer im Hotelzimmer stehen, wenn ich abends in einer fremden Stadt ausgehe. Ich bin gern beweglich.

 

Natürlich hatte ich nicht die Absicht, nach Luxor zu fahren. Vielmehr wollte ich Ägypten jetzt endlich verlassen. Ich mochte dieses Land überhaupt nicht. Wenn ich es mir recht überlege, hatte ich es nie gemocht. Ich fühlte mich dort nicht wohl in meiner Haut. Das lag wohl an dem Schmutz überall und an den Fäulnisgerüchen. Geben wir es nur zu, es ist ja doch wirklich ein ziemlich unsauberes Land, und ich habe den starken Verdacht, auch wenn ich dergleichen ungern sage, dass die Ägypter sich weniger gründlich waschen als irgendein Volk in der Welt - die Mongolen vielleicht ausgenommen. Bestimmt jedenfalls spülen sie das Geschirr nicht so, wie ich es gewohnt bin. Ob Sie mir glauben oder nicht: am Rand der Tasse, die man mir gestern zum Frühstück hinstellte, befand sich ein langer, verschmierter kaffeebrauner Abdruck einer Unterlippe. Igitt! Es war ekelhaft! Ich habe immer wieder darauf gestarrt und überlegt, wessen sabbernde Unterlippe sich da wohl verewigt hatte.

 

Ich fuhr jetzt durch die engen, schmutzigen Straßen der östlichen Außenviertel von Kairo. Ich wusste genau, wohin ich wollte. Darüber war ich mir bereits klar geworden, ehe ich noch mit Isabella die Pyramide halb wieder hinuntergeklettert war. Ich wollte nach Jerusalem. Das war sozusagen gar keine Entfernung, und Jerusalem hatte mir immer schon gefallen. Außerdem kam ich so am schnellsten aus Ägypten heraus. Meine Reiseroute hatte ich wie folgt geplant:

 

1. Von Kairo nach Ismailia. Fahrzeit ungefähr drei Stunden. Unterwegs würde ich wie gewöhnlich eine Oper singen. Ankunft in Ismailia zwischen 6 und 7 Uhr morgens. Dort ein Hotelzimmer nehmen und zwei Stunden schlafen. Dann duschen, rasieren und frühstücken.

 

2. Um 10 Uhr vormittags den Suezkanal überqueren (die Brücke bei Ismailia) und dann auf der Wüstenstraße durch die Halbinsel Sinai zur Grenze von Palästina fahren. Unterwegs in der Wüste Sinai nach Skorpionen suchen. Zeit insgesamt etwa vier Stunden. Ankunft an der Grenze von Palästina also gegen 2 Uhr nachmittags.

 

3. Von dort gleich weiter nach Jerusalem via Beersheba. Ankunft im King David Hotel rechtzeitig zum Aperitif und zum Abendessen.

 

Es war schon einige Jahre her, seit ich diese Strecke zuletzt gefahren war, aber ich erinnerte mich, dass die Wüste Sinai eine hervorragende Gegend war, wenn man nach Skorpionen suchen wollte. Ich wünschte mir sehnlichst noch ein weiteres Opishophthalmus-Weibchen, womöglich ein großes. Dem Exemplar, das ich besaß, fehlte das fünfte Segment des Schwanzes, und das war eine Schande.

 

Es dauerte nicht lange, bis ich die Hauptstraße nach Ismailia gefunden hatte, und sobald ich mich auf ihr befand, fuhr ich mit meinem Lagonda stetig und gleichmäßig etwa 100 Stundenkilometer. Die Straße war schmal, hatte aber eine glatte Oberfläche, und es herrschte kaum Verkehr. Das Nildelta lag rings um mich öde und trostlos im Mondlicht da, lauter flache baumlose Felder mit Wassergräben dazwischen und überall tiefschwarze Erde. Eine unsagbar trübselige Landschaft.

 

Aber mich kümmerte das nicht. Ich hatte nichts damit zu schaffen. Ich saß gemütlich und isoliert in meinem Luxusgehäuse - wie ein Einsiedlerkrebs in seiner Schale - und gab kräftig Gas. Oh, wie gern bin ich doch unterwegs. Wie gern fliege ich dahin, neuen Menschen und neuen Städten entgegen, und lasse die alten hinter mir! Nichts in der Welt vermag mich mehr zu beschwingen. Und wie sehr verachte ich den Durchschnittsbürger, der in seinem kleinen Häuschen mit seiner dümmlichen Frau zusammenhockt, im eigenen Saft dahinschmort und langsam vermodert, bis er das Ende seines Lebens erreicht. Und immer mit derselben Frau! Ich kann es einfach nicht begreifen, wie ein Mann, der seine fünf Sinne beisammen hat, Tag um Tag und Jahr um Jahr dieselbe Frau erträgt. Gewiss, nicht alle bringen dieses Kunststück fertig. Aber Millionen tun so als ob.

 

Ich selbst habe eine intime Beziehung nie, aber auch nie länger als zwölf Stunden aufrechterhalten. Zwölf Stunden sind für mich das äußerste. Schon acht Stunden wollen mir etwas lang erscheinen. Sie sehen ja, was zum Beispiel mit Isabella passierte. Während wir uns dort oben auf dem Gipfel der Pyramide befanden, war sie eine Dame mit ermunternden Qualitäten, gefügig und verspielt wie ein Hündchen. Und hätte ich sie dort oben der Willkür jener drei gedungenen Araber überlassen und mich allein aus dem Staube gemacht, so wäre alles zum besten gewesen. Aber ich war so töricht, bei ihr zu bleiben und ihr beim Abstieg zu helfen. Und wie hat diese reizende Dame mir das dann vergolten! Mit einem Schwall ordinären Hurengekreischs, das mir in den Ohren gellte. Abscheulich!

 

In was für einer Welt leben wir! Ein Kavalier darf heute nicht mehr auf Dank rechnen.

 

Der Lagonda glitt leise durch die Nacht. Wie war's jetzt mit einer Oper, dachte ich. Und welche soll es diesmal sein? Mir war nach Verdi zumute. Vielleicht Aida! Natürlich! Aida war genau das richtige - ich war schließlich noch in Ägypten! Sehr passend.

 

Ich fing an zu singen. In dieser Nacht war ich besonders gut bei Stimme. Ich sang aus voller Kehle. Es war herrlich. Und während ich durch die kleine Stadt Bilbeis fuhr, war ich Aida und sang «Numei pieta», die wunderschöne Schlusspassage der ersten Szene.

 

Eine halbe Stunde später, in Sagasig, war ich Amonasro und bat den König von Ägypten, die äthiopischen Gefangenen zu schonen: «Ma tu, re, tu signore possente. »

 

Und als ich durch El Abbasa fuhr, war ich der Feldherr Radames. Ich sang «Fuggiam gli adori nospiti», und ich ließ alle Wagenfenster herunter, damit dieses unvergleichliche Liebeslied an die Ohren der Fellachen dringen konnte, die in ihren Hütten zu beiden Seiten der Straße schnarchten. Vielleicht würde es sich in ihre Träume mischen.

 

Als ich schließlich in Ismailia ankam, war es sechs Uhr früh, und die Sonne kletterte bereits in einen milchblauen Himmel empor. Ich aber lag mit Aida im schrecklichen Verlies und sang: «O, terra, addio; addio volle di pianti! »

 

Wie schnell hatte ich die Fahrt hinter mich gebracht. Ich fuhr zu einem Hotel. Die Angestellten waren noch etwas verschlafen. Ich brachte sie auf Trab und bekam das beste verfügbare Zimmer. Die Bettücher und die Bettdecke sahen so aus, als hätten schon 25 ungewaschene Ägypter 25 Nächte hintereinander darin geschlafen. Daher riss ich alles herunter (nicht ohne mir danach unverzüglich die Hände mit antiseptischer Seife zu schrubben) und ersetzte es durch mein persönliches Bettzeug. Dann stellte ich meinen Wecker und schlief fest und tief zwei Stunden lang.

 

Zum Frühstück bestellte ich mir ein pochiertes Ei. Als man mir den Teller hinstellte - und ich gestehe, dass sich mir allein beim Schreiben darüber schon der Magen umdreht -, lag ein zehn Zentimeter langes, glänzendes, gekräuseltes pechschwarzes menschliches Haar quer über dem Eigelb. Das war zuviel. Ich sprang auf und stürzte aus dem Speisesaal hinaus. «Addio! » rief ich und warf dem Kassierer im Davoneilen ein paar Geldscheine hin. «Addio valle di pianti!» Und damit schüttelte ich den schmutzigen Staub des Hotels von meinen Füßen.

 

Auf in die Wüste Sinai! Sie würde eine willkommene Abwechslung sein! Eine richtige Wüste gehört heute zu den am wenigsten verseuchten Flecken auf unserer Erde, und die Wüste Sinai bildete da keine Ausnahme. Die Straße, die sie durchquerte, war ein etwa 220 Kilometer langer, schmaler schwarzer Teerzementstreifen. Auf halber Strecke etwa befand sich die einzige Tankstelle in einem aus ein paar Hütten bestehenden Ort, der Bir Rawd Salim hieß. Alles übrige weit und breit war nichts als leere, unbewohnte Wüste. Es würde dort sehr heiß sein um diese Jahreszeit, und so war es lebenswichtig, dass ich mir für den Fall einer Panne etwas Trinkwasser mitnahm. Daher fuhr ich bei einer Art Krämerladen in der Hauptstraße von Ismailia vor, um mir meinen Wasserkanister auffüllen zu lassen.

 

Ich ging in den Laden und sprach mit dem Besitzer. Der Mann litt unter einem üblen Trachom. Die glasigen Körner am unteren Rand seiner Augenlider waren so dick, dass die Lider selbst von den Augäpfeln abstanden - ein abscheulicher Anblick. Ich fragte ihn, ob er mir fünf Liter abgekochtes Wasser verkaufen könne. Er hielt mich offensichtlich für verrückt und schließlich für vollends übergeschnappt, als ich darauf bestand, ihm in seine schmuddelige Küche zu folgen, da ich sichergehen wollte, dass er auch alles richtig machte. Er füllte einen großen Kessel mit Leitungswasser und stellte ihn auf einen Petroleumkocher. Der Apparat hatte nur eine winzig kleine, schwelende gelbe Flamme. Der gute Mann schien jedoch sehr stolz auf seinen Kocher zu sein und stolz auch darauf, wie gut er funktionierte. Den Kopf schief zur Seite gelegt, stand er bewundernd davor. Nach einer Weile meinte er, ich würde vielleicht lieber vorn im Laden warten. Er werde mir, so sagte er, das Wasser bringen, sobald es soweit sei. Ich weigerte mich, die Küche zu verlassen. Ich stand da und bewachte den Kessel wie ein Löwe. Ich wartete darauf, dass das Wasser zu kochen begann, und während ich so dastand, sah ich plötzlich die Frühstücksszene mit all ihren Schrecken - dem Ei, dem Eigelb und dem Haar wieder vor mir. Wessen Haar mochte es gewesen sein, das da in dem schleimigen Gelb meines Frühstückseis gelegen hatte? Zweifellos doch das Haar des Kochs. Und wann, bitte sehr, hatte dieser Koch sich wohl das letzte Mal die Haare gewaschen? Wahrscheinlich hatte er sie sich noch nie gewaschen! Also wirklich, großartig! Mit ziemlicher Sicherheit hatte der Koch Läuse. Doch davon allein gingen einem noch nicht die Haare aus. Was konnte dann die Ursache dafür sein, dass jenes Haar des Kochs an diesem Morgen auf mein pochiertes Ei gefallen war, als er das Ei aus der Pfanne auf den Teller beförderte? Für alles gibt es einen Grund, und in diesem Fall war der Grund klar. Der Koch hatte an der Kopfhaut eine eitrige seborrhoische Impetigo. Und das Haar selbst, das lange schwarze Haar, das ich, wäre ich weniger aufmerksam gewesen, um ein Haar verspeist hätte, wimmelte folglich von Millionen und Abermillionen quicklebendiger pathogener Kokken, deren genauen wissenschaftlichen Namen ich glücklicherweise vergessen habe.

 

Kann ich denn, so werden Sie fragen, wirklich mit absoluter Sicherheit sagen, dass der Koch eine eitrige seborrhoische Impetigo hatte? Nun, mit absoluter Sicherheit - nein. Aber wenn es keine Impetigo war, dann hatte er bestimmt Kopfgrind. Und was hieß das? Ich wusste nur zu gut, was das hieß. Es hieß, dass zehn Millionen Mikrosporen an jenem schrecklichen Haar geklebt und nur darauf gewartet hatten, in meinen Mund zu gelangen.

 

Mir wurde speiübel.

 

«Das Wasser kocht», sagte der Ladenbesitzer triumphierend.

 

«Lassen Sie es nur kochen», sagte ich zu ihm. «Lassen Sie es noch acht Minuten kochen. Oder wollen Sie vielleicht, dass ich mir den Typhus hole? »

 

An und für sich trinke ich, wenn ich es irgend umgehen kann, nie Wasser, auch wenn es noch so sauber ist. Pures Wasser schmeckt nach nichts. Natürlich verwende ich es für Tee oder Kaffee, aber selbst da nehme ich nach Möglichkeit Vichy- oder Malvern-Wasser. Ich meide Leitungswasser. Leitungswasser ist ein verteufeltes Zeug. Und oft ist es nicht mehr oder weniger als geklärte Jauche.

 

«Bald ist Ihr Wasser verkocht», sagte der Ladenbesitzer und zeigte mir grinsend seine grünlichen Zähne.

 

Ich nahm den Kessel selbst vom Kocher und goss den Inhalt in meinen Kanister.

 

Vorn im Laden kaufte ich noch sechs Orangen, eine kleine Wassermelone und eine Tafel gut verpackter englischer Schokolade. Dann stieg ich wieder in meinen Lagonda. Endlich konnte ich aufbrechen.

 

Wenige Minuten später überquerte ich die Schiebebrücke, die unmittelbar oberhalb des Timsahsees über den Suezkanal führt, und vor mir lag die endlose glühende Wüste. Die schmale Straße dehnte sich wie ein langes schwarzes Band bis hin zum fernen Horizont. Ich machte es mir in meinem Lagonda bequem und fuhr bei weit geöffneten Fenstern wie gewöhnlich mit einer gleichmäßigen Geschwindigkeit von etwa 100 Stundenkilometern. Der Luftzug, der von draußen hereindrang, war heiß wie der Gluthauch eines Ofens. Es war inzwischen fast 12 Uhr, und die Sonne brannte senkrecht auf das Wagendach herunter. Mein Wagenthermometer registrierte 40 Grad. Aber Hitze macht mir, wie Sie wissen, nicht viel aus, solange ich mich nicht bewegen muss und entsprechende Kleidung trage - in diesem Fall eine cremefarbene Leinenhose, ein weißes Hemd aus durchlässigem Stoff und dazu einen Schlips aus Spinnenseide in einem prächtigen Moosgrün. Ich fühlte mich rundherum wohl und war mit der Welt zufrieden.

 

Einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, unterwegs wieder eine Oper zu singen - mir war nach La Gioconda zumute -, und ich fing auch schon an, doch nach den ersten paar Takten des Eröffnungschores begann ich leicht zu transpirieren, und so ließ ich denn die Vorhänge des Wagens herunter und steckte mir eine Zigarette an.

 

Ich fuhr jetzt durch das schönste Skorpionen-Land der Welt, und ich brannte darauf, anzuhalten und auf Suche zu gehen, noch ehe ich Bir Rawd Salim und damit die auf halbem Wege gelegene Tankstelle erreicht hatte. Bisher war mir nicht ein einziges Fahrzeug begegnet, und ich hatte kein Lebewesen mehr gesehen, seit ich vor einer guten Stunde Ismailia verlassen hatte. Das gefiel mir. Die Halbinsel Sinai war eine echte Wüste. Ich fuhr an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Da ich durstig war, aß ich eine Orange. Dann stülpte ich mir meinen weißen Tropenhelm auf den Kopf, wagte mich langsam aus dem Wagen, meinem komfortablen Einsiedlerkrebsgehäuse, hervor und trat ins Sonnenlicht. Eine gute Minute lang stand ich regungslos mitten auf der Straße und blinzelte in dem grellen Licht, das mich umgab.

 

Eine sengende Sonne, ein weiter, heißer Himmel, und darunter, wohin man blickte, das riesige gelbe Sandmeer, das nicht von dieser Welt schien. In der Ferne, südlich der Straße, sah man kahle blassbraune terrakottafarbene Berge, über denen ein blauer und purpurroter Schimmer lag. Sie schienen plötzlich aus der Wüste hervorzuwachsen und schwanden in dem Hitzeflimmern unter dem glühenden Himmel wieder dahin. Die Stille war überwältigend. Kein Laut war zu hören, weder das Singen eines Vogels noch das Summen eines Insekts, und mich überkam ein seltsames, göttergleiches Gefühl, als ich dort allein inmitten dieser großartigen heißen, unmenschlichen Landschaft stand. Es war, als befände ich mich auf einem anderen Planeten, auf dem Jupiter oder dem Mars oder an einem noch ferneren und noch trostloseren Ort, wo nie ein Grashalm wuchs und wo sich nie Wolken rötlich färbten.

 

Ich öffnete den Kofferraum meines Wagens und nahm meine Beutetrommel, mein Netz und meine kleine Handschaufel heraus. Dann verließ ich die Straße und betrat den weichen brennenden Sand. Ich schritt langsam etwa hundert Meter in die Wüste hinein und ließ forschend meinen Blick über den Boden gleiten. Ich suchte nicht nach Skorpionen, sondern nach Skorpionnestern. Der Skorpion ist ein kryptozoisches, sich nur zur Nachtzeit zeigendes Tier. Den ganzen Tag über hält er sich entweder unter einem Stein oder in einem Erdloch verborgen - je nachdem, zu welcher Art er gehört. Erst nach Sonnenuntergang kommt er hervor, um nach Nahrung zu jagen.

 

Da ich es auf einen Opisthophthalmus abgesehen hatte, der sich in Erdlöchern zu verbergen pflegt, verschwendete ich keine Zeit damit, Steine umzudrehen. Ich suchte nur nach Erdlöchern. Nach zehn oder fünfzehn Minuten hatte ich noch immer keines gefunden. Aber da die Hitze mir bereits zuviel wurde, beschloss ich widerwillig, zu meinem Wagen zurückzukehren. Ich ging sehr langsam, noch immer den Boden absuchend, und ich hatte schon die Straße erreicht und wollte eben den Fuß darauf setzen, als ich plötzlich, keine dreißig Zentimeter von dem Teerzementstreifen entfernt, die Sandhöhle eines Skorpions entdeckte.

 

Ich legte meine Beutetrommel und das Netz neben mir auf den Boden und machte mich daran, mit meiner kleinen Schaufel ganz vorsichtig den Sand rings um das Höhlenloch wegzuschaben. Dies war eine Prozedur, die mich immer wieder aufs neue faszinierte. Es war wie bei einer Schatzsuche - einer Schatzsuche, die eben das Maß an Gefahren barg, das einem das Blut in Wallung brachte. Ich spürte, wie mir das Herz bis zum Hals schlug, als ich mit meiner kleinen Schaufel tiefer und tiefer in den Sund eindrang.

 

Und plötzlich... da war sie!

 

Oh, gütiger Himmel, was für ein Mordsexemplar! Ein riesiges Skorpionweibchen, zwar nicht ein Opisthophthalmus, wie ich sofort sah, dafür aber ein Pandinus, der andere große afrikanische Höhlenbohrer. Und auf seinem Rücken hingen - das war zu schön, um wahr zu sein! - eins, zwei, drei, vier, fünf... insgesamt vierzehn winzige Babies. Die Mutter war mindestens fünfzehn Zentimeter lang. Ihre Kinder hatten die Größe kleiner Revolverkugeln. Jetzt hatte sie mich gesehen - das erste menschliche Wesen, das sie je in ihrem Leben erblickt hatte. Sie hatte ihre Scheren weit geöffnet, und ihr Schwanz war - wie ein Fragezeichen - hoch über dem Rücken erhoben, bereit zuzustechen. Ich nahm das Netz, schob es geschwind unter sie und fing sie ein. Sie wand und krümmte sich und schlug mit dem Schwanzende wild nach allen Seiten um sich. Ich sah, wie ein großer, dicker Gifttropfen durch die Maschen meines Netzes in den Sand fiel. Rasch beförderte ich sie mitsamt ihrer Brut in meine Beutetrommel und verschloss den Deckel. Dann holte ich die Flasche mit Äther aus dem Wagen und goss davon reichlich durch die kleine Gazeöffnung im Deckel der Trommel, bis die Watte innen gut durchtränkt war.

 

Wie prächtig würde sich dieses Weibchen in meiner Sammlung aus-nehmen! Die Jungen würden natürlich, sobald sie starben, von ihr herabfallen, aber ich gedachte sie später mit Klebstoff wieder an den mehr oder weniger richtigen Stellen zu befestigen, und dann würde ich der stolze Besitzer eines riesigen Pandinus-Weibchens mit vierzehn Sprösslingen auf dem Rücken sein! Ich war entzückt. Ich nahm die Beutetrommel (ich spürte, wie das Weibchen drinnen tobte) und legte sie zusammen mit dem Netz und der kleinen Schaufel in den Kofferraum. Dann nahm ich wieder am Lenkrad Platz, steckte mir eine Zigarette an und fuhr weiter.

 

Je zufriedener ich bin, um so langsamer fahre ich. Ich fuhr jetzt sehr langsam, und ich muss wohl noch gut eine weitere Stunde gebraucht haben, bis ich Bir Rawd Salim erreichte, das auf halber Strecke lag. Es war alles andere als ein verlockender Ort. Links gab es nur eine einzige Zapfsäule und eine Holzbude. Rechts drei weitere Buden, jede von der Größe eines Gartenschuppens. Der Rest war Wüste. Keine Menschenseele war zu erblicken. Es war zwanzig Minuten vor zwei Uhr nachmittags. Die Temperatur im Wagen betrug 41 Grad.

 

Über dem Unsinn mit dem abgekochten Wasser vor der Abfahrt aus Ismailia hatte ich völlig vergessen, noch zu tanken. Jetzt zeigte meine Benzinuhr weniger als zehn Liter an. Ich hätte sparsam fahren können - aber trotzdem. Ich hielt neben der Zapfsäule an und wartete. Niemand erschien. Ich drückte auf die Mehrklanghupe, und die vier abgestimmten Hörner des Lagonda tönten ihr herrliches «San già mille e tre! », über die Wüste hin. Niemand erschien. Ich drückte noch einmal auf die Hupe.

 

schmetterten die Hörner. Das Mozartmotiv klang prächtig in dieser Umgebung. Doch es erschien immer noch niemand. Die Einwohner von Bir Rawd Salim scherten sich offensichtlich einen Dreck um meinen Freund Don Giovanni und die 1003 Frauen, die er in Spanien entjungfert hatte.

 

Schließlich, nachdem ich das Mehrklanghorn nicht weniger als sechsmal hatte ertönen lassen, öffnete sich die Tür der Bude hinter der Zapfsäule, und ein ziemlich großer Mann zeigte sich. Er blieb auf der Schwelle stehen und knöpfte sich mit beiden Händen die Hose zu. Er ließ sich dabei Zeit, und erst als er fertig war, blickte er auf zu meinem Lagonda. Durch das offene Fenster erwiderte ich seinen Blick. Ich sah, wie er den ersten Schritt in meine Richtung tat... sehr, sehr langsam... Dann machte er einen zweiten Schritt...

 

Mein Gott! dachte ich sofort. Den haben die Spirochäten erwischt! Er hatte den trägen, wackligen Gang, den schlenkernden, stelzenden Schritt eines Mannes mit lokomotorischer Ataxie. Bei jedem Schritt hob er das Knie vor sich hoch in die Luft und setzte dann den Fuß heftig wieder auf den Boden, als wolle er ein gefährliches Insekt zertreten.

 

Ich dachte: Es wäre besser, hier zu verschwinden. Es wäre besser, den Motor anzulassen und so schnell wie möglich hier abzuhauen, bevor er mich erreicht. Aber ich wusste, dass ich das nicht konnte. Ich musste Benzin haben. Ich saß im Wagen und starrte auf diese Schreckensgestalt, die mühsam über den Sand herangestapft kam. Er musste die ekelhafte Krankheit schon Jahre und jahrelang haben, sonst hätte sie sich nicht zur Ataxie entwickelt. Tabes dorsalis nennt man das in Fachkreisen. Pathologisch bedeutet diese Bezeichnung, dass das Opfer an einer Degeneration des Rückenmarks im unteren Teil der Wirbelsäule leidet. Doch, oh, meine Freunde, und ach, meine Feinde, in Wirklichkeit ist es viel schlimmer als das: Es ist ein schleichender und unerbittlicher Verfall der entscheidenden Nervenfasern des Körpers, hervorgerufen durch die Gifte der Syphilis.

 

Der Mann - der Araber, wie ich ihn nennen werde - blieb genau neben der Wagentür auf meiner Seite stehen und glotzte durch das Fenster. Ich lehnte mich etwas zur anderen Seite hin und betete, dass er bloß nicht noch einen Millimeter näher kommen möge. Zweifellos war er einer der lädiertesten Menschen, die ich je gesehen habe. Sein Gesicht glich einer zernagten und von Würmern zerfressenen alten Holzschnitzerei. Bei diesem Anblick fragte ich mich, an wie vielen anderen Krankheiten außer der Syphilis der Mann wohl noch leiden mochte.

 

«Salaam», murmelte er.

 

«Machen Sie den Tank voll», wies ich ihn an.

 

Er rührte sich nicht. Mit großem Interesse inspizierte er das Innere des Lagonda. Ein fürchterlicher Kloakengeruch wehte von ihm herüber.

 

«Los! », sagte ich scharf. «Ich möchte Benzin haben! »

 

Er sah mich an und grinste. Es war mehr eine hämische Grimasse als ein Lächeln, ein unverschämtes, spöttisches Grinsen, das zu sagen schien: «Ich bin der König der Zapfsäule von Bir Rawd Salim! Rühr mich an, wenn du es wagst! » In einem seiner Augenwinkel hatte sich eine Fliege niedergelassen. Er machte keinen Versuch, sie zu verjagen.

 

«Sie möchten Benzin? », fragte er herausfordernd.

 

Ich war nahe daran, ausfallend zu werden, beherrschte mich aber gerade noch rechtzeitig und antwortete höflich: «Ja, bitte, ich wäre Ihnen sehr dankbar. »

 

Ein paar Sekunden lang beobachtete er mich verschlagen, um sicherzugehen, dass ich mich nicht über ihn lustig machte. Dann nickte er, als sei er jetzt mit meinem Benehmen zufrieden. Er wandte sich ab und begab sich langsam zum hinteren Ende des Wagens. Ich langte nach meiner Flasche Glenmorangie-Whisky im Türfach, schenkte mir einen kräftigen Schluck ein und trank langsam. Das Gesicht dieses Mannes war weniger als einen Meter von meinem entfernt gewesen. Sein stinkender Atem war in den Wagen geströmt... und wer weiß, wie viele Billionen fliegender Viren mit ihm hineingeströmt waren? Bei solchen Gelegenheiten ist es eine feine Sache, sich Mund und Kehle mit einem Tropfen Whisky von den Highlands zu sterilisieren. Außerdem ist der Whisky ein Trost. Ich leerte das Glas und schenkte mir noch eines ein. Bald fühlte ich mich nicht mehr so beunruhigt. Mein Blick fiel auf die Wassermelone, die neben mir auf dem Sitz lag. Eine Scheibe davon würde jetzt sehr erfrischend sein. Ich nahm mein Messer aus dem Futteral und schnitt ein dickes Stück heraus. Dann holte ich mit der Messerspitze sorgfältig alle schwarzen Kerne hervor, die ich säuberlich in den Rest der Melone fallen ließ.

 

Ich saß da, trank den Whisky und aß die Melone. Beides war köstlich.

 

«Benzin ist fertig», sagte der grässliche Araber und erschien wieder am Fenster. «Ich sehe jetzt Wasser nach und Öl. »

 

Mir wäre es lieber gewesen, wenn er seine Hände vom Lagonda gelassen hätte, aber um keinen Streit zu riskieren, schwieg ich. Er ging schwerfällig zum vorderen Ende des Autos und sah dabei ungefähr so aus wie ein betrunkener SA-Mann, der im Zeitlupentempo im Stechschritt zu marschieren versucht.

 

Tabes dorsalis, so wahr ich lebe!

 

Die einzige andere Krankheit, die diesen eigenartigen Stelzschritt hervorruft, ist chronische Beriberi. Na gut - wahrscheinlich hatte er die auch noch. Ich schnitt mir noch ein Stück von der Wassermelone ab und konzentrierte mich eine Minute lang darauf, die Kerne mit dem Messer herauszupolken. Als ich wieder aufblickte, sah ich, dass der Araber die Kühlerhaube auf der rechten Seite geöffnet hatte und sich über den Motor beugte. Kopf und Schultern waren außer Sicht, Hände und Arme ebenfalls. Was um alles in der Welt tat dieser Mensch da nur? Der Prüfstab für das Öl lag auf der anderen Seite. Ich klopfte gegen die Windschutzscheibe. Er schien es nicht zu hören. Ich steckte den Kopf aus dem Fenster und rief: «He! Kommen Sie mal wieder zum Vorschein! »

 

Langsam richtete er sich auf, und als er seinen rechten Arm aus den Eingeweiden des Motors zog, sah ich, dass er in seinen Fingern etwas hielt, das lang und schwarz und gewunden und sehr dünn war.

 

Guter Gott! dachte ich. Er hat da drinnen eine Schlange gefunden! Er kam herum zum Fenster, grinste mir entgegen und streckte mir das Ding hin. Erst jetzt, als ich es näher betrachtete, erkannte ich, dass es mitnichten eine Schlange war - es war der Keilriemen meines Lagonda!

 

Die schlimmsten Visionen überfielen mich bei dem Gedanken, hier, an diesem entlegenen Ort und bei diesem widerwärtigen Mann, festgehalten zu sein. Ich saß da und starrte stumpf auf meinen gerissenen Keilriemen.

 

«Sie sehen», sagte der Araber, «er hing nur noch an einem Faden. Ein Glück, dass ich es gemerkt habe. »

 

Ich nahm ihm den Riemen aus der Hand und untersuchte ihn eingehend. «Sie haben ihn durchgeschnitten! », schrie ich.

 

«Durchgeschnitten? », antwortete er sanft. «Warum hätte ich ihn durchschneiden sollen? »

 

Um ganz ehrlich zu sein, ich konnte gar nicht beurteilen, ob er ihn durchgeschnitten hatte oder nicht. Wenn ja, dann hatte er sich auch die Mühe gemacht, die gekappten Enden mit irgendeinem Instrument so zu zerfasern, dass es so aussah wie ein gewöhnlicher Riss. Trotzdem war ich überzeugt, dass er ihn durchgeschnitten hatte. Und wenn das der Fall war, konnte ich mir die Folgen gar nicht finster genug ausmalen.

 

«Ich nehme an, es ist Ihnen klar, dass ich nicht ohne Keilriemen weiterfahren kann? », sagte ich.

 

Er grinste wieder mit seinem fürchterlich verstümmelten Mund und zeigte dabei einen Gaumen voller Geschwüre. «Wenn Sie jetzt weiterfahren», sagte er, «wird Ihr Motor in drei Minuten kochen. »

 

«Was schlagen Sie also vor? »

 

«Ich werde Ihnen einen neuen Keilriemen besorgen. »

 

«Wirklich? »

 

«Natürlich. Hier gibt's ein Telefon, und wenn Sie das Gespräch bezahlen, rufe ich in Ismailia an. Und wenn sie in Ismailia keinen haben, rufe ich in Kairo an. Kein Problem. »

 

«Kein Problem! », schrie ich und stieg aus dem Wagen. «Und wann, bitte sehr, wird der Keilriemen in dieser gottverlassenen Einöde eintreffen? »

 

«Es gibt ein Postauto, das kommt jeden Morgen gegen zehn durch. Sie würden ihn morgen haben. »

 

Der Mann hatte auf alles eine Antwort. Er brauchte dabei nicht einmal nachzudenken, ehe er antwortete.

 

Dieses Schwein! dachte ich. Der hat bestimmt nicht das erste Mal einen Keilriemen durchgeschnitten.

 

Ich war jetzt sehr auf der Hut und beobachtete ihn genau.

 

«Für einen Wagen dieses Typs werden sie in Ismailia kaum einen Keilriemen haben», sagte ich. «Man muss ihn von der Vertretung in Kairo kommen lassen. Ich werde selbst dort anrufen. » Dass es ein Telefon gab, beruhigte mich etwas. Die Telefonmasten waren der Straße die ganze Strecke durch die Wüste gefolgt, und ich konnte die beiden Drähte sehen, die vom nächstgelegenen Mast in die Bude führten. «Ich werde die Vertretung in Kairo bitten, dass man sofort jemanden herschickt», sagte ich.

 

Der Araber blickte die Straße entlang in Richtung des etwa 320 Kilometer entfernten Kairo. «Wer wird schon sechs Stunden hierher und sechs Stunden wieder zurückfahren, nur um einen Keilriemen zu bringen? », meinte er. «Mit der Post geht's genauso schnell. »

 

«Zeigen Sie mir das Telefon», sagte ich und ging auf die Hütte zu. Dann kam mir ein ekelhafter Gedanke, und ich blieb stehen.

 

Ich konnte doch unmöglich das verseuchte Telefon dieses Menschen benutzen! ? Ich müsste die Hörmuschel an mein Ohr pressen, und die Sprechmuschel würde mit ziemlicher Sicherheit meinen Mund berühren. Und was gab ich schon darauf, dass die Ärzte behaupteten, es sei unmöglich, sich bei Sekundärkontakten die Syphilis zu holen. Eine syphilitische Sprechmuschel ist und bleibt eine syphilitische Sprechmuschel, und niemand würde mich je dazu bringen, sie auch nur in die Nähe meiner Lippen zu bringen. Vielen Dank. Nicht einmal betreten würde ich seine Hütte.

 

Ich stand in der flimmernden Nachmittagshitze und betrachtete den Araber mit seinem grässlich entstellten Gesicht, und der Araber erwiderte meinen Blick so kühl und ungerührt, wie man es sich nur vorstellen kann.

 

«Sie möchten selbst telefonieren? », fragte er.

 

«Nein», sagte ich. «Können Sie englisch lesen? »

 

«Oh, ja. »

 

«Sehr gut. Ich werde Ihnen den Namen der Vertretung und die Marke dieses Wagens aufschreiben, und auch meinen Namen. Man kennt mich dort. Sie erzählen den Leuten in Kairo dann, was ich brauche. Und hören Sie... sagen Sie ihnen, sie sollen sofort auf meine Kosten einen Wagen losschicken. Ich komme für alle Unkosten auf. Und wenn sie es nicht tun wollen, dann sagen Sie ihnen, sie müssen den Keilriemen unbedingt rechtzeitig nach Ismailia schaffen, damit sie das Postauto noch erreichen. Verstehen Sie? »

 

«Kein Problem», sagte der Araber.

 

Also schrieb ich alles Nötige auf ein Blatt Papier und gab es ihm. Er ging mit seinen langsamen Stampfschritten zur Bude und verschwand darin. Ich schloss die Kühlerhaube des Wagens. Dann stieg ich wieder ein, setzte mich hinter das Steuer und dachte nach.

 

Ich goss mir noch einen Whisky ein und steckte mir eine Zigarette an. Es musste doch irgendwelchen Verkehr auf dieser Straße geben. Irgend jemand würde doch sicher vor Einbruch der Nacht hier vorbeikommen. Aber würde mir das etwas nützen? Nein - wenn ich nicht bereit war, per Anhalter zu fahren und den Lagonda und mein ganzes Gepäck der gnädigen Obhut dieses Arabers zu überlassen! Und war ich dazu bereit? Ich wusste es nicht. Wahrscheinlich ja. Aber falls ich gezwungen war, die Nacht über dazubleiben, würde ich mich im Auto einschließen und versuchen, solange wie möglich wach zu bleiben. Auf keinen Fall würde ich auch nur einen Fuß in den Schuppen setzen, in dem diese Kreatur hauste. Erst recht nicht würde ich sein Essen anrühren. Ich hatte Whisky und Wasser, eine halbe Wassermelone und eine Tafel Schokolade. Das reichte.

 

Die Hitze war ziemlich schlimm. Das Thermometer im Wagen zeigte immer noch gut 40 Grad. Draußen in der Sonne war es noch heißer. Der Schweiß floss mir in Strömen. Mein Gott, ausgerechnet hier eine Panne! Und ausgerechnet diese Gesellschaft!

 

Etwa nach einer Viertelstunde kam der Araber wieder aus der Hütte. Ich beobachtete jeden seiner Schritte.

 

«Ich habe mit der Werkstatt in Kairo gesprochen», sagte er und schob sein Gesicht durch das Wagenfenster. «Keilriemen kommt morgen mit dem Postauto. Alles geregelt. »

 

«Haben Sie gefragt, ob man nicht sofort jemanden schicken kann? »

 

«Sie sagten, unmöglich», antwortete er.

 

«Haben Sie auch bestimmt gefragt? »

 

Er neigte den Kopf zur Seite und bedachte mich wieder mit diesem verschlagenen, unverschämten Grinsen. Ich wandte mich ab und wartete, dass er ging. Erblieb stehen, wo er war. «Wir haben Gästehaus», sagte er. «Sie können da schlafen sehr gut. Meine Frau wird Essen machen, aber Sie müssen bezahlen. »

 

«Wer ist außer Ihnen und Ihrer Frau noch hier? »

 

«Noch ein Mann», sagte er und wies mit einer Handbewegung in Richtung der drei Buden auf der anderen Straßenseite. Ich drehte mich um und sah in der Türöffnung der mittleren Baracke einen Mann stehen, einen kleinen, dicken Mann, der schmutzige Khakihosen und ein schmutziges Hemd anhatte. Er stand völlig bewegungslos im Schatten der Türöffnung, seine Arme hingen baumelnd herab. Er blickte zu mir herüber.

 

«Wer ist das? », fragte ich.

 

«Saleh. »

 

«Was macht er hier? »

 

«Er hilft. »

 

«Ich werde im Wagen schlafen», sagte ich. «Und es ist nicht nötig, dass Ihre Frau mir Essen macht. Ich habe selbst etwas. » Der Araber zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und ging wieder auf den Schuppen mit dem Telefon zu. Ich blieb im Wagen. Was konnte ich sonst tun? Es war kurz nach halb drei. In drei oder vier Stunden würde es anfangen, ein bisschen kühler zu werden. Dann konnte ich mich ein bisschen umsehen, ob ich vielleicht ein paar Skorpione aufspürte. Bis dahin musste ich mich mit allem abfinden. Ich langte in den Fond des Wagens, wo ich meine Bücherkiste stehen hatte, und nahm ohne hinzusehen das erste heraus, das mir unter die Finger kam. Die Kiste enthielt dreißig oder vierzig der besten Bücher der Welt, und man konnte jedes davon hundertmal lesen. Sie wurden bei jedem Lesen nur besser. Welches ich ergriff, war Nebensache. Es stellte sich heraus, dass es die Naturgeschichte von Selborne war. Ich schlug es aufs Geratewohl auf.

 

«... Wir hatten in diesem Dorf vor mehr als zwanzig Jahren einen schwachsinnigen Jungen, an den ich mich noch gut erinnere. Von Kind auf fühlte er sich stark zu Bienen hingezogen. Er ernährte sich von ihnen, er beschäftigte sich mit ihnen - sie waren der einzige Gegenstand seines Interesses. Und so wie viele Menschen dieser Art selten mehr als einen Gesichtspunkt kennen, so widmete dieser Knabe alle seine geringen Fähigkeiten diesem einen Gegenstand. Im Winter verschlief er seine Zeit in seines Vaters Haus am Kamin in einem Zustand der Betäubung, und nur selten kam er hinter dem Kamin hervor. Im Sommer aber ging er auf den Feldern und an den sonnenbeschienenen Ufern des Flusses um so lebhafter seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Honigbienen, Hummeln, Wespen waren seine Beute, wo immer er sie fand. Er hatte keinerlei Angst vor ihren Stichen, sondern ergriff sie einfach nudis manibus, beraubte sie ihrer Waffen und sog ihre Körper aus, der Honigsäckchen wegen. Manchmal verwahrte er eine Anzahl dieser Gefangenen zwischen Hemd und Haut, manchmal sperrte er sie in Flaschen. Er war ein richtiger Merops apiaster oder Bienenvogel und eine Plage für alle, die Bienen hielten; denn er schlich sich in ihre Bienengärten, hockte sich vor die Bienenhäuschen, klopfte mit den Fingern an die Bienenkörbe und griff sich die Bienen, wie sie herauskamen. Es war allgemein bekannt, dass er um des Honigs willen, den er so leidenschaftlich begehrte, ganze Bienenkörbe umstieß. Wo Met bereitet wurde, strich er um die Wannen und Kessel herum und bettelte um einen Schluck Bienenwein, wie er zu sagen pflegte. Und wenn er herumlief, pflegte er mit den Lippen ein summendes Geräusch zu machen, das ganz dem Surren der Bienen glich... »

 

Ich blickte von meinem Buch auf und sah mich um. Der regungslose Mann auf der anderen Straßenseite war verschwunden. Es war niemand mehr zu sehen. Das Schweigen war unheimlich, und die Stille, die Totenstille, und die Trostlosigkeit der Umgebung hatten etwas Beklemmendes. Ich wusste, dass ich beobachtet wurde. Ich wusste, dass jede kleine Bewegung, die ich machte, dass jeder Schluck, den ich von meinem Whisky trank, dass jeder Zug an meiner Zigarette aufmerksam zur Kenntnis genommen wurde. Ich hasse Gewalttätigkeit und trage nie eine Waffe bei mir. Aber jetzt hätte ich eine brauchen können. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, den Motor anzulassen und die Straße weiter hinunterzufahren, bis der Motor kochte. Aber wie weit wäre ich, schon gekommen? Bei dieser Hitze und ohne Kühlung ganz bestimmt nicht sehr weit. Einen Kilometer vielleicht, allenfalls zwei...

 

Nein - hol's der Teufel, dachte ich. Ich würde bleiben, wo ich war, und mein Buch lesen.

 

Es muss ungefähr eine Stunde später gewesen sein, als ich einen kleinen dunklen Fleck bemerkte, der sich in großer Entfernung auf der Straße aus Richtung Jerusalem auf mich zu bewegte. Ich legte das Buch zur Seite, ohne den Fleck aus den Augen zu lassen. Ich sah, wie er größer und größer wurde. Ein Wagen offenbar, der mit großer Geschwindigkeit fuhr, mit wirklich erstaunlich hoher Geschwindigkeit. Ich stieg aus dem Lagonda, eilte an den Straßenrand und blieb dort stehen, bereit, dem Fahrer ein Halt-Signal zu geben.

 

Der Wagen kam näher und näher, und als er noch knapp einen Kilometer entfernt war, verlangsamte er sein Tempo. Plötzlich erkannte ich die Form des Kühlers. Es war ein Rolls-Royce! Ich hob den Arm, und der große grüne Wagen, an dessen Steuer ein Mann saß, bog von der Straße ab und hielt neben meinem Lagonda an.

 

Ich war außer mir vor Freude. Wäre es ein Ford oder ein Morris gewesen, hätte mich das auch schon gefreut, aber ich wäre nicht so völlig außer mir gewesen. Die Tatsache, dass es ein Rolls war - ebenso gut hätte es ein Bentley getan, oder ein Isotta, oder ein anderer Lagonda -, war gewissermaßen die absolute Garantie dafür, dass ich alle erforderliche Hilfe bekommen würde. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber unter den Leuten, die ein sehr teures Automobil besitzen, besteht so etwas wie eine enge Brüderschaft. Sie respektieren sich automatisch, und der Grund, weshalb sie sich respektieren, liegt ganz einfach darin, dass Reichtum stets Reichtum respektiert. Tatsache ist, dass es niemanden auf der Welt gibt, den ein sehr reicher Mensch mehr respektiert als einen anderen sehr reichen Menschen - weshalb sie einander ständig suchen, wohin sie auch reisen. Sie benutzen alle möglichen Erkennungssignale. Bei den Frauen ist das Tragen großer Juwelen vielleicht das am stärksten verbreitete Erkennungszeichen. Aber auch das teure Automobil gilt als ein solches, und zwar bei beiden Geschlechtern. Es ist ein reisendes Plakat, eine öffentliche Deklaration des Überflusses, und als solche ist es zugleich eine Mitgliedskarte für jenen exklusiven, inoffiziellen Klub der «Gewerkschaft der Sehr-Reichen-Leute». Ich selbst bin schon seit langer Zeit Mitglied und hoch erfreut darüber. Wenn ich einem anderen Mitglied begegne, wie es nun gleich der Fall sein würde, spüre ich sofort einen Funken überspringen: ich respektiere den anderen. Wir sprechen die gleiche Sprache. Er ist einer von uns. Ich hatte also guten Grund, außer mir vor Freude zu sein.

 

Der Fahrer des Rolls-Royce stieg aus und kam auf mich zu. Es war ein kleiner dunkelhaariger Mann mit olivfarbener Haut, und er trug einen makellosen weißen Leinenanzug. Wahrscheinlich ein Syrer, dachte ich. Vielleicht aber auch ein Grieche. In der Hitze dieses Tages wirkte er so kühl und frisch wie nur denkbar.

 

«Guten Tag», sagte er. «Haben Sie Ärger? »

 

Ich begrüßte ihn. Dann erzählte ich ihm nach und nach alles, was passiert war.

 

«Mein lieber Freund», sagte er in perfektem Englisch. «Aber mein lieber Freund, wie überaus betrüblich. Welch ein schreckliches Missgeschick. Das ist hier wirklich kein Ort, wo man sich gern festgehalten sieht. »

 

«Nein, nicht wahr? »

 

«Und Sie sagen, ein neuer Keilriemen ist ganz bestimmt unterwegs hierher? »

 

«Ja», antwortete ich, «wenn man sich auf den Besitzer dieses Etablissements verlassen kann. »

 

Der Araber, der aus seinem Schuppen herausgetreten war, noch ehe der RollsRoyce zum Stehen gekommen war, gesellte sich nun zu uns, und der Fremde verhörte ihn schnell auf arabisch über die Schritte, die er für mich unternommen hatte. Ich hatte den Eindruck, die beiden kannten sich recht gut, und es war eindeutig, dass der Araber vor dem Neuankömmling in Ehrfurcht erstarrte. Er kroch in seiner Gegenwart sozusagen am Boden.

 

«Also... das scheint in Ordnung zu sein», sagte der Fremde schließlich und wandte sich wieder mir zu. «Aber offenkundig kommen Sie hier vor morgen früh nicht weg. Wohin wollten Sie? »

 

«Nach Jerusalem», sagte ich. «Und der Gedanke, die Nacht an diesem verdammten Ort hier zu verbringen, ist mir nicht eben angenehm. »

 

«Das will ich meinen, mein lieber Herr. Das stelle ich mir in der Tat äußerst unbehaglich vor. » Er lächelte mir zu. Seine Zähne waren ungewöhnlich weiß. Dann nahm er ein Etui heraus und bot mir eine Zigarette an. Das Etui war aus Gold, und die beiden Außenseiten schmückten zwei diagonal verlaufende grüne Jadestreifen. Wirklich, ein wunderschöner Gegenstand. Ich akzeptierte die Zigarette, und er gab mir Feuer. Dann steckte er sich selbst eine an.

 

Der Fremde machte einen langen, tiefen Zug. Dann legte er den Kopf nach hinten und blies den Rauch nach oben in die Sonne. «Wir werden beide einen Hitzschlag bekommen, wenn wir hier noch lange herumstehen», sagte er. «Erlauben Sie, dass ich einen Vorschlag mache? »

 

«Aber selbstverständlich. »

 

«Ich hoffe wirklich, Sie werden ihn nicht vermessen finden, da er von einem völlig Fremden kommt... »

 

«Aber ich bitte Sie... »

 

«Sie können hier nicht gut bleiben, und deshalb würde ich vorschlagen, dass Sie mit zurückkommen und die Nacht als Gast in meinem Haus verbringen. »

 

Da! Der Rolls-Royce lächelte meinem Lagonda zu - lächelte ihm zu, wie er niemals einem Ford oder einem Morris zugelächelt hätte!

 

«Sie meinen, in Ismailia? », fragte ich.

 

«Nein, nein», antwortete er lachend. «Ich wohne sozusagen um die Ecke, dort drüben. » Er deutete mit der Hand in die Richtung, aus der er gekommen war.

 

«Aber Sie wollten doch bestimmt nach Ismailia? Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen Ihre Pläne ändern. »

 

«Ich wollte ganz und gar nicht nach Ismailia», sagte er. «Ich bin hierher gekommen, um die Post zu holen. Mein Haus - das überrascht Sie vielleicht - ist hier ganz in der Nähe. Sehen Sie den Berg dort? Das ist der Maghara. Ich wohne unmittelbar dahinter. »

 

Ich blickte zu dem Berg hinüber. Er lag ungefähr fünfzehn Kilometer nördlich, eine gelbe Felsmasse, vielleicht siebenhundert Meter hoch.

 

«Ist das Ihr Ernst? Sie haben mitten in dieser... dieser Einöde ein Haus? », fragte ich.

 

«Sie glauben mir nicht? », meinte er lächelnd.

 

«Selbstverständlich glaube ich Ihnen», antwortete ich. «Mich überrascht nichts mehr. Außer vielleicht», und hier erwiderte ich sein Lächeln, «außer, dass ich mitten in der Wüste einen Fremden treffe, und er behandelt mich wie einen Bruder. Ich bin überwältigt von Ihrem Angebot. »

 

«Unsinn, mein lieber Freund. Meine Motive sind durchaus egoistisch. Zivilisierte Gesellschaft kann man in dieser Gegend nicht so ohne weiteres haben. Ich bin entzückt bei dem Gedanken, einen Gast zum Dinner zu haben. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle - Abdul Aziz. » Er machte eine schnelle kleine Verbeugung.

 

«Oswald Cornelius», sagte ich. «Es ist mir ein Vergnügen. » Wir schüttelten uns die Hand.

 

«Ich lebe sonst in Beirut», sagte er.

 

«Ich lebe in Paris. »

 

«Wundervoll. Und nun - wollen wir los? Sind Sie bereit? »

 

«Aber mein Wagen», sagte ich. «Kann ich ihn hier wohl beruhigt zurücklassen? »

 

«Machen Sie sich da keine Sorgen. Omar ist ein Freund von mir. Er sieht zwar nicht sehr vorteilhaft aus, der arme Kerl, aber Sie können sich auf ihn verlassen, wenn Sie bei mir zu Gast sind. Und Saleh, der andere, ist ein guter Mechaniker. Saleh wird Ihnen Ihren neuen Keilriemen einsetzen, wenn er morgen da ist. Ich werde es ihm sagen. »

 

Saleh, der Mann von der anderen Straßenseite, war unterdessen herübergekommen. Mr. Aziz gab ihm seine Anweisungen. Dann befahl er den beiden Männern, auf den Lagonda aufzupassen. Er sprach kurz und bestimmt. Omar und Saleh standen da, machten Verbeugungen und scharrten beflissen mit den Füßen im Sand. Ich ging hinüber zu meinem Lagonda, um mir einen Koffer zu holen. Ich hatte dringend einen Kleiderwechsel nötig.

 

«Ach, übrigens», rief Mr. Aziz zu mir herüber, «ich trage beim Dinner gewöhnlich einen Smoking. »

 

«Natürlich», murmelte ich, stieß schnell den Koffer zurück, den ich gewählt hatte, und nahm einen anderen.

 

«Ich tue es hauptsächlich der Damen wegen. Sie machen sich zum Dinner gern schön. »

 

Ich drehte mich jäh um und sah ihn an, aber er stieg schon in seinen Wagen.

 

«Fertig? », fragte er.

 

Ich nahm den Koffer und legte ihn auf den Rücksitz des Rolls. Dann kletterte ich neben ihn auf den Vordersitz, und wir fuhren los.

 

Während der Fahrt unterhielten wir uns beiläufig über dieses und jenes. Er erzählte mir, dass er im Teppichgeschäft sei. Er habe Niederlassungen in Beirut und Damaskus. Seine Familie, sagte er, sei schon seit Hunderten von Jahren in der Branche.

 

Ich erwähnte, dass ich auf dem Fußboden meines Pariser Schlafzimmers einen Damaszener Teppich aus dem 17. Jahrhundert liegen hätte.

 

«Nicht möglich! », rief er und kam vor Aufregung beinahe von der Straße ab. «Ist er aus Seide und Wolle und ist die Kettelung ganz aus Seide? Ist das Grundmuster aus Gold- und Silberfäden? »

 

«Ja», sagte ich. «Genau. »

 

«Aber mein lieber Freund! Einen solchen Gegenstand dürfen Sie doch nicht auf den Fußboden legen! »

 

«Er wird nur von nackten Füßen berührt», sagte ich. Das freute ihn. Offenbar liebte er Teppiche genauso sehr, wie ich Tschin-Hoa-Vasen liebte.

 

Wir bogen bald von der Teerzementstraße in einen harten, steinigen Weg ein und fuhren quer durch die Wüste auf den Berg zu. «Das ist meine Privatstraße», sagte Mr. Aziz. «Sie ist acht Kilometer lang. »

 

«Sie haben sogar Telefon», sagte ich, als ich die Masten bemerkte, die an der Hauptstraße abzweigten und seiner Privatstraße folgten.

 

Und plötzlich kam mir ein absurder Gedanke. Der Araber an der Tankstelle... er hatte auch Telefon... Erklärte sich vielleicht damit das zufällige Eintreffen von Mr. Aziz? War es möglich, dass mein einsamer Gastgeber eine schlaue Methode ausgeheckt hatte, Reisende von der Straße wegzukapern, um sich zum Dinner mit dem zu versorgen, was er «zivilisierte Gesellschaft» nannte? Hatte er dem Araber in Wirklichkeit strikte Anweisung gegeben, die Wagen aller entsprechend aussehenden Personen fahruntüchtig zu machen? <Schneide einfach den Keilriemen durch, Omar. Und dann rufst du mich schnell an. Achte aber darauf, dass es gepflegt aussehende Männer sind, die einen guten Wagen fahren. Ich komme dann schnell vorbei und sehe nach, ob es sich lohnt, ihn in mein Haus zu bitten... >

 

Das war natürlich lächerlich.

 

«Ich glaube», sagte da mein Begleiter, «Sie fragen sich, warum in aller Welt ich hier draußen in solch einer Gegend ein Haus habe. »

 

«Nun ja, ein bisschen schon. »

 

«Das fragt sich jeder», sagte er.

 

«Jeder? », sagte ich.

 

«Ja», sagte er.

 

Na, na, dachte ich - jeder.

 

«Ich wohne hier», sagte er, «weil ich ein ganz besonderes Verhältnis zur Wüste habe. Ich fühle mich genauso zu ihr hingezogen, wie ein Seemann sich zum Meer hingezogen fühlt. Kommt Ihnen das seltsam vor? »

 

«Nein», antwortete ich, «das kommt mir keineswegs seltsam vor. »

 

Er machte eine Pause und zog an seiner Zigarette. Dann sagte er: « Das ist der eine Grund. Aber es gibt noch einen anderen. Haben Sie Familie, Mr. Cornelius? »

 

«Leider nicht», antwortete ich vorsichtig.

 

«Ich schon», sagte er. «Ich habe eine Frau und eine Tochter. Beide sind, zumindest in meinen Augen, sehr schön. Meine Tochter ist gerade achtzehn. Sie war auf einem ausgezeichneten englischen Internat, und jetzt... » Er zuckte mit den Schultern. «Jetzt sitzt sie nur herum und wartet darauf, dass sie alt genug wird, um zu heiraten. Aber diese Wartezeit - was fängt man mit einem schönen jungen Mädchen in dieser Zeit an? Ich kann sie nicht allein herumlaufen lassen. Dazu ist sie viel zu begehrenswert. Wenn ich sie nach Beirut mitnehme, sehe ich, wie die Männer wie die Wölfe hinter ihr her sind. Es bringt mich fast um den Verstand. Ich weiß alles über Männer, Mr. Cornelius. Ich weiß, wie sie sich benehmen. Es stimmt natürlich, dass ich nicht der einzige Vater bin, der vor diesem Problem steht. Aber die anderen scheinen es irgendwie zu bewältigen und sich damit abzufinden. Sie geben ihren Töchtern alle Freiheit. Sie drängen sie förmlich aus dem Haus und machen die Augen zu. Ich bringe das nicht über mich. Ich kann es einfach nicht über mich bringen. Ich weigere mich, ihr zu erlauben, sich von jedem hergelaufenen Achmed, Ali und Hamil betatschen zu lassen. Und sehen Sie, das ist der andere Grund, weshalb ich in der Wüste wohne - um mein schönes Kind noch ein paar Jahre vor diesen wilden Tieren zu schützen. Sagten Sie nicht, Sie hätten überhaupt keine Familie, Mr. Cornelius? »

 

«Leider ist es so. »

 

«Oh. » Er schien enttäuscht. «Dann waren Sie also noch nie verheiratet? »

 

«Nun... nein», sagte ich. «Nein, das war ich noch nie. » Ich wartete auf die Frage, die jetzt unvermeidlich kommen musste. Sie folgte ungefähr eine Minute später.

 

«Haben Sie sich nie gewünscht, zu heiraten und Kinder zu haben? »

 

Das fragten sie einen alle. Damit umschrieb man ganz einfach die Frage: <Sie sind dann also wohl homosexuell? >

 

«Einmal», sagte ich. «Nur ein einziges Mal. »

 

«Und was ist passiert? »

 

«Sie war die einzige Frau, die es je in meinem Leben gab, Mr. Aziz... Und dann... » Ich seufzte.

 

«Sie meinen, sie starb? »

 

Ich nickte. Meine Stimme war zu erstickt, um noch antworten zu können.

 

«Mein lieber Freund», sagte er. «Ach, es tut mir ja so leid. Verzeihen Sie, dass ich so aufdringlich fragte. »

 

Schweigend fuhren wir weiter.

 

«Es ist erstaunlich», murmelte ich, «wie man nach solch einer Geschichte alles Interesse an fleischlichen Dingen verliert. Ich nehme an, es ist ein Schock. Man kommt nie darüber hinweg. »

 

Er nickte voller Mitgefühl. Er schluckte das alles.

 

«Also reise ich jetzt nur herum und versuche zu vergessen. Ich tue das schon seit Jahren... »

 

Wir hatten inzwischen den Fuß des Maghara-Berges erreicht und folgten dem Weg, der um den Berg zu der Seite führte, die von der Straße aus nicht zu sehen war - zur Nordseite. «Wenn wir die nächste Kurve hinter uns haben, können Sie das Haus sehen», sagte Mr. Aziz.

 

Wir kamen um die Kurve... und da war es! Ich blinzelte und starrte hin, und ich muss Ihnen sagen, dass ich in den ersten paar Sekunden buchstäblich meinen Augen nicht traute. Vor mir sah ich ein weißes Schloss - ganz im Ernst -, ein hohes weißes Schloss mit Zinnen, Türmchen und Türmen überall, das wie ein Märchen inmitten eines kleinen Flecks grüner Vegetation am unteren Hang des glühend heißen, kahlen gelben Berges stand! Es war phantastisch! Es kam geradewegs aus einem der Märchen Andersens oder der Brüder Grimm. Ich hatte in meinem Leben schon viele romantische Schlösser in den Tälern des Rheins und der Loire bewundert, aber noch nie zuvor hatte ich eines gesehen, das so bezaubernd, so anmutig, so märchenhaft war wie dieses! Das Grün war, wie ich bemerkte, als wir näher kamen, ein reizender Garten mit großen Rasenflächen und Dattelpalmen, und das Ganze war von einer hohen weißen Mauer umgeben, die die Wüste fernhielt.

 

«Gefällt es Ihnen? », fragte mein Gastgeber lächelnd.

 

«Es ist hinreißend», sagte ich. «Es ist, als hätte man alle Märchenschlösser der Welt in einem vereinigt. »

 

«Genau das ist es! », rief er. «Es ist ein Märchenschloss! Ich habe es eigens für meine Tochter gebaut, für meine wunderschöne Prinzessin. »

 

Und die wunderschöne Prinzessin wird in diesen Mauern von ihrem strengen und eifersüchtigen Vater, König Abdul Aziz, gefangengehalten, der sich weigert, ihr die Annehmlichkeiten männlicher Gesellschaft zu erlauben. Aber sieh nur, hier eilt Prinz Oswald Cornelius herbei, dich zu retten! Der König ahnt nichts davon, dass er die wunderschöne Prinzessin rauben und sie sehr glücklich machen wird.

 

«Sie müssen zugeben, dass es etwas Besonderes ist», sagte Mr. Aziz.

 

«Ja. »

 

«Außerdem ist es hübsch und intim. Ich schlafe sehr ruhig hier. Und die Prinzessin auch. Durch diese Fenster jedenfalls werden nachts keine unerwünschten jungen Männer einsteigen. »

 

«Sehr richtig», sagte ich.

 

«Früher war hier eine kleine Oase», fuhr er fort. «Ich kaufte sie der Regierung ab. Wir haben reichlich Wasser für das Haus, den Swimmingpool und die drei Morgen Garten. »

 

Wir fuhren durch das Haupttor, und ich muss sagen, es war wundervoll, plötzlich in ein Miniaturparadies aus grünen Rasenflächen, Blumenbeeten und hohen Palmen zu kommen. Alles machte einen sehr gepflegten Eindruck. Wassersprüher drehten sich auf den Rasenflächen. Als wir vor dem großen Portal des Hauses anhielten, stürzten sofort zwei Diener in blütensauberen Galauniformen und knallroten Fes heraus, um uns die Wagentüren zu öffnen. Zwei Diener? Aber wären auch zwei gekommen, wenn sie nicht zwei Leute erwartet hätten? Ich bezweifelte es. Es sah mehr und mehr so aus, als bewahrheitete sich meine seltsame kleine Theorie von der Kaperung des Dinnergastes. Es war alles sehr amüsant.

 

Mein Gastgeber führte mich durch den Haupteingang ins Haus. Sofort überkam mich dieses angenehme Frösteln, das man auf der Haut spürt, wenn man aus großer Hitze unvermittelt in einen klimatisierten Raum kommt. Ich stand in der Halle. Der Fußboden war aus grünem Marmor. Rechts von mir führte ein breiter Bogengang in einen großen Saal, und ich hatte den flüchtigen Eindruck von kühlen weißen Wänden, schönen Gemälden und hinreißenden Louis-quinze-Möbeln. Welch ein Ort, an dem ich mich da unversehens inmitten der Wüste Sinai wiederfand!

 

Eine Frau kam jetzt langsam die Treppe herabgeschritten. Mein Gastgeber hatte sich abgewandt, um mit den Dienern zu sprechen, und sah sie nicht sogleich. Als sie die unterste Stufe erreicht hatte, blieb sie stehen und ließ ihren nackten Arm wie eine weiße Anakonda auf das Treppengeländer gleiten. Und da stand sie nun und sah mich an, als wäre sie Königin Semiramis auf den Stufen Babylons und ich ein Bewerber, an dem sie vielleicht Geschmack finden würde - vielleicht aber auch nicht. Ihr Haar war blauschwarz, und sie hatte eine Figur, die mich veranlasste, mir die Lippen mit der Zunge zu befeuchten.

 

Als Mr. Aziz sich umdrehte und sie sah, sagte er: «Oh, Liebling, da bist du ja. Ich habe einen Gast mitgebracht. Sein Wagen versagte. An der Tankstelle. Welch ein Missgeschick! Ich bat ihn, mit herzukommen und über Nacht zu bleiben. Mr. Cornelius... meine Frau. »

 

«Wie reizend», sagte sie gelassen und trat auf mich zu. Ich ergriff ihre Hand und führte sie an meine Lippen. «Ihre Freundlichkeit überwältigt mich, Madame», murmelte ich. Von ihrer Hand stieg der Duft eines teuflischen Parfüms auf. Es war ein fast ausschließlich animalischer Duft. Die geheimnisvollen, erotisierenden Sekrete des Pottwals, des Moschushirsches und des Bibers vermischten sich in ihm, durchdringend und unsagbar aufreizend: sie dominierten über eine leichte Spur von reinen Pflanzenölen - Limone, Kajeput und Zeroli. Es war süperb! Und noch etwas anderes fiel mir in diesem ersten Moment auf: als ich ihre Hand nahm, ließ sie sie nicht schlaff wie ein rohes Stück Fischfilet auf meiner Handfläche liegen, wie es andere Frauen tun, nein, sie legte ihren Daumen unter meine Hand und bedeckte sie mit ihren anderen Fingern und konnte so - und ich schwöre, sie tat es auch - einen zarten, doch vielsagenden Druck auf meine Hand ausüben, als ich den konventionellen Kuss auf ihren Handrücken hauchte.

 

«Wo ist Diana? », fragte Mr. Aziz.

 

«Sie ist draußen am Swimmingpool», sagte die Frau. Dann wandte sie sich mir zu: «Möchten Sie auch ein bisschen schwimmen, Mr. Cornelius? Sie müssen von dem langen Warten an dieser schrecklichen Tankstelle ja ganz erschöpft sein. »

 

Sie hatte riesige Samtaugen, so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten, und wenn sie mir zulächelte, bewegte sich ihre Nasenspitze etwas nach oben, und ihre Nasenflügel weiteten sich.

 

Im gleichen Augenblick kam Prinz Oswald Cornelius zu dem Schluss, dass ihm an der schönen Prinzessin, die im Schloss des eifersüchtigen Königs gefangengehalten wurde, nicht ein Deut gelegen war. Er würde statt ihrer die Königin rauben.

 

«Also... », sagte ich.

 

«Ich werde schwimmen», sagte Mr. Aziz.

 

«Lassen Sie uns doch alle schwimmen», sagte seine Frau. «Wir leihen Ihnen eine Badehose, wenn Sie keine dabeihaben. »

 

Ich fragte, ob ich zuerst auf mein Zimmer gehen könnte, um mir ein sauberes Hemd und eine saubere Hose zu holen, die ich nach dem Bad anziehen wolle. «Aber gewiss», sagte meine Gastgeberin und gab einem der Diener Anweisung, mir den Weg zu zeigen. Er führte mich zwei Treppen hinauf, und wir betraten ein geräumiges weißes Schlafzimmer, in dem ein ungewöhnlich großes Doppelbett stand. An der einen Seite führte eine Tür in ein wohlausgestattetes Badezimmer mit einer taubenblauen Badewanne und einem dazu passenden Bidet.

 

Wohin man auch blickte, alles war peinlich sauber und entsprach absolut meinem Geschmack. Während der Diener meinen Koffer auspackte, ging ich zum Fenster und blickte hinaus. Ich sah die weite, glühende Wüste wie ein gelbes Meer aus der unendlichen Ferne des Horizonts heranbranden, bis sie auf die weiße Gartenmauer genau unter mir traf. Und dort, innerhalb der Mauer, erblickte ich den Swimmingpool, und neben dem Pool lag ein Mädchen im Schatten eines großen rosa Sonnenschirms auf dem Rücken. Das Mädchen hatte einen weißen Badeanzug an und las in einem Buch. Sie hatte lange, schlanke Beine und schwarzes Haar. Es war die Prinzessin.

 

Was für eine Szenerie, dachte ich. Das weiße Schloss, der Komfort, die Sauberkeit, die Klimaanlage, die beiden atemberaubend schönen Frauen, der Ehemann als Wachhund und ein ganzer Abend, um meine Strategie zu entfalten! Die Situation war auf so vollkommene Weise für mich geschaffen, dass es unmöglich gewesen wäre, sie zu verbessern. Die vor mir liegenden Aufgaben reizten mich außerordentlich. Eine einfache plumpe Verführung amüsierte mich nicht mehr. Solche Geschichten bieten keinen Raum für künstlerische Entfaltung; und ich kann Ihnen versichern, hätte ich die Fähigkeit besessen, den eifersüchtigen Wachhund Mr. Aziz mit Hilfe eines Zauberstabs die ganze Nacht verschwinden zu lassen, ich hätte es nicht getan. Ich begehrte keine PyrrhusSiege.

 

Begleitet von dem Diener, verließ ich das Zimmer. Wir gingen die erste Treppe hinunter, und dann, auf der Etage unter meiner eigenen, blieb ich stehen und fragte beiläufig: « Schläft die ganze Familie auf dieser Etage? »

 

«Oh, ja», sagte der Diener. «Dort ist das Zimmer des Herrn - » er zeigte auf eine Tür - «und daneben das von Mrs. Aziz. Miss Diana schläft gegenüber. »

 

Drei getrennte Schlafzimmer. Alle sehr nahe beieinander. Praktisch uneinnehmbar. Ich verstaute die Information in meinem Gehirn und ging nach unten zum Pool. Mein Gastgeber und meine Gastgeberin waren schon da.

 

«Das ist meine Tochter Diana», sagte Mr. Aziz.

 

Das Mädchen im weißen Badeanzug stand auf, und ich küsste ihr die Hand. «Hallo, Mr. Cornelius», sagte sie.

 

Sie benutzte dasselbe schwere, animalische Parfüm wie ihre Mutter - Ambra, Moschus und Bibergeil! Welch ein Duft - aufreizend, schamlos und wunderbar! Ich schnüffelte danach wie ein Hund. Sie war, dachte ich, noch schöner als die Mutter, wenn das überhaupt möglich war. Sie hatte die gleichen riesigen Samtaugen, das gleiche schwarze Haar und den gleichen Gesichtsschnitt. Aber ihre Beine waren zweifellos länger, und an ihrem Körper war etwas, das ihm, im Vergleich zu dem ihrer Mutter, einen leichten Vorteil verschaffte: Er hatte mehr Linie, war schlangenhafter und mit Sicherheit auch sehr viel geschmeidiger. Doch in den Augen der älteren Frau, die wahrscheinlich 37 war, aber nicht älter als 25 aussah, glomm ein Funke, den die Tochter nicht im Entferntesten bieten konnte.

 

Eene - meene - mu - eben noch hatte Prinz Oswald geschworen, er würde nur die Königin rauben und sich nicht um die Prinzessin kümmern. Aber nun, da er die Prinzessin in Fleisch und Blut gesehen hatte, wusste er nicht mehr, welche er vorziehen sollte. Beide von ihnen versprachen, jede auf ihre Weise, ungezählte Freuden - die eine unschuldig und eifrig, die andere erfahren und unersättlich. In Wahrheit hätte er sie am liebsten beide gehabt - die Prinzessin als Horsd'æuvre und die Königin als Hauptgang.

 

«Suchen Sie sich in der Umkleidekabine doch bitte selbst eine Badehose aus, Mr. Cornelius», sagte Mrs. Aziz.

 

Ich ging also in das Badehäuschen und tat es, und als ich wieder herauskam, planschten die drei schon im Wasser. Ich machte einen Kopfsprung und schwamm zu ihnen hin. Das Wasser war so kalt, dass ich nach Luft schnappen musste.

 

«Das habe ich mir gedacht», sagte Mr. Aziz lachend, «dass Sie überrascht sein würden. Es ist gekühlt. Ich halte es auf 18 Grad. Das ist in diesem Klima erfrischender. »

 

Später, als die Sonne allmählich am Himmel versank, saßen wir alle in unserem nassen Badezeug herum, während uns ein Diener blasse, eiskalte Martinis brachte. An diesem Punkt begann ich sehr langsam, sehr vorsichtig die beiden Damen auf meine spezielle Art zu verführen. Normalerweise, wenn ich freie Hand habe, bereitet mir das keine besonderen Schwierigkeiten. Das hübsche kleine Talent, das ich nun einmal besitze - die Fähigkeit, eine Frau mit Worten zu hypnotisieren -, lässt mich nur selten im Stich. Natürlich ist es mit Worten allein nicht getan. Die Worte selbst sind unverfänglich, oberflächlich, werden nur mit dem Mund gesprochen, während die eigentliche Botschaft, das ungehörige und erregende Versprechen, von allen Gliedern und Organen des Körpers ausgeht und durch die Augen übermittelt wird. Mehr als das kann ich Ihnen über die Art, wie es gemacht wird, offen gestanden nicht sagen. Der springende Punkt ist, dass es wirkt. Und es wirkt wie spanische Fliegen. Ich glaube, ich könnte mich der Frau des Papstes gegenübersetzen, wenn er eine hätte, und wenn ich mir genug Mühe gäbe, würde sie sich in spätestens einer Viertelstunde mit geöffneten Lippen und vor Verlangen glänzenden Augen über den Tisch zu mir beugen. Es ist nur ein kleines Talent, kein großes, aber ich bin trotzdem dankbar, dass es mir mitgegeben wurde. Und ich habe jederzeit mein Bestes getan, es nicht brachliegen zu lassen.

 

Wir vier, die beiden bestrickend schönen Frauen, der kleine Mann und ich, saßen also im Halbkreis neben dem Swimmingpool, räkelten uns in Liegestühlen, nippten an unseren Drinks und spürten die warme Sechs-Uhr-Sonne auf unserer Haut. Ich war gut in Form. Ich brachte sie immer wieder zum Lachen. Bei der Geschichte von der gefräßigen alten Herzogin von Glasgow, die in die Pralinenschachtel griff und dabei von einem Skorpion gezwickt wurde, den ich in der Schachtel aufbewahrt hatte, fiel die Tochter vor Lachen aus dem Liegestuhl. Und als ich in allen Einzelheiten das Innere meines Spinnenzucht-Hauses beschrieb, das ich in meinem Park in der Nähe von Paris unterhielt, schüttelten sich die beiden Damen in einer Mischung von Abscheu und Vergnügen.

 

In diesem Stadium stellte ich fest, dass die Augen von Mr. Abdul Aziz gutgelaunt und wohlwollend zwinkernd auf mir ruhten. <Na, na>, schienen die Augen zu sagen, <es freut uns, zu sehen, dass Sie doch nicht ganz so desinteressiert an Frauen sind, wie Sie mich im Auto glauben machen wollten... Oder liegt es vielleicht an dieser anregenden Umgebung, dass Sie Ihren großen Kummer langsam vergessen...?> Mr. Aziz lächelte mir zu und zeigte dabei seine blendendweißen Zähne. Es war ein freundliches Lächeln. Und ich lächelte freundlich zurück. Was für ein freundlicher kleiner Mann er doch war! Er war wirklich hoch erfreut, dass ich den Damen soviel Aufmerksamkeit widmete. So weit, so gut.

 

Die nächsten Stunden will ich hier kurz zusammenfassen, denn erst nach Mitternacht passierte etwas wirklich Ungeheuerliches. Ein paar kurze Bemerkungen sollen genügen, um das, was sich bis dahin ereignete, zu schildern.

 

Um sieben Uhr verließen wir gemeinsam den Swimmingpool und begaben uns ins Haus, um uns zum Dinner umzukleiden.

 

Um acht Uhr versammelten wir uns im großen Salon, um noch einen Cocktail zu nehmen. Die beiden Damen waren fabelhaft zurechtgemacht und glitzerten vor Juwelen. Beide hatten tief dekolletierte, ärmellose Abendkleider an, die garantiert von irgendeinem großen Pariser Couturier stammten. Meine Gastgeberin trug Schwarz, ihre Tochter ein blasses Blau, und der Duft jenes berauschenden Parfüms war überall um sie zu spüren. Welch ein Paar! Die ältere hatte jene leicht nach vorn gewölbten Schultern, wie man sie nur bei den leidenschaftlichsten und erfahrensten Frauen antrifft. Genau wie eine große Reiterin vom ständigen Sitzen auf Pferderücken O-Beine bekommt, entwickelt eine der Leidenschaft ergebene Frau eigenartig gerundete Schultern, weil sie so oft Männer umarmt. Es handelt sich gewissermaßen um eine «beruflich bedingte» Deformierung - die edelste von allen.

 

Die Tochter war noch nicht alt genug, um sich dieses einzigartige Ehrenzeichen erworben zu haben, doch bei ihr genügte es, dass ich zurücktrat und die Form ihres Körpers unter dem engen Seidenkleid studierte und die hinreißenden, gleitenden Bewegungen ihrer Schenkel beobachtete, wenn sie sich durchs Zimmer bewegte. Auf ihrem halb entblößten Rücken konnte man eine feine Linie kleiner, zarter goldener Haare sehen, die das Rückgrat hinauflief, und als ich hinter ihr stand, konnte ich kaum der Versuchung widerstehen, mit den Knöcheln meiner Finger an dieser entzückenden Wirbelsäule auf und ab zu fahren.

 

Um halb neun begaben wir uns ins Speisezimmer. Das nun folgende Dinner war in der Tat auserlesen köstlich, doch ich werde hier keine Zeile damit vergeuden, die Speisen oder die Weine zu beschreiben. Während der Mahlzeit fuhr ich fort, ganz behutsam und listig die Gefühle und Empfindungen der beiden Frauen zum Schwingen zu bringen, und ich wandte dabei alle meine Fähigkeiten an. Als das Dessert hereingetragen wurde, schmolzen sie vor meinen Blicken dahin wie Butter an der Sonne.

 

Nach dem Dinner gingen wir wieder in den Salon, wo Kaffee und Cognac warteten, und spielten dann, einem Vorschlag des Gastgebers folgend, einige Partien Bridge.

 

Gegen Ende des Abends war ich mir sicher, dass ich gute Arbeit geleistet hatte. Die alte Magie hatte mich nicht im Stich gelassen. Beide Damen brannten darauf, meinem nächsten Wink Folge zu leisten - falls die Umstände es erlauben sollten. Darin täuschte ich mich ganz gewiss nicht. Es war eine unübersehbare Tatsache - man hätte schon blind sein müssen, um es nicht zu bemerken. Das Gesicht meiner Gastgeberin strahlte vor Erregung, und wenn sie mir über den Kartentisch hinweg einen Blick zuwarf, wurden diese riesigen Samtaugen größer und größer, die Nasenflügel weiteten sich, und der Mund öffnete sich leicht, um zwischen den Zähnen die Spitze einer feuchten, rosa Zunge freizugeben. Es war ein herrlich lasziver Anblick, und mehr als einmal brachte er mich beim Kartenspiel ganz aus dem Konzept. Die Tochter war weniger mutig, doch ebenso direkt. Jedes Mal, wenn sich unsere Augen begegneten, und das war oft genug, hob sie eine Winzigkeit die Brauen, als stelle sie eine Frage. Und dann lächelte sie ein kurzes, schlaues kleines Lächeln, als beantworte sie sich die Frage selbst.

 

Mr. Aziz blickte auf seine Uhr. «Ich denke, es ist Zeit, dass wir alle zu Bett gehen», sagte er. «Es ist nach elf. Wie ist es, meine Lieben? »

 

Und da passierte etwas Eigenartiges. Sogleich, ohne auch nur im geringsten zu zögern und ohne einen weiteren Blick in meine Richtung zu werfen, standen beide Damen auf und schritten zur Tür! Es war schon erstaunlich, und ich war völlig verblüfft. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Es war die schnellste Reaktion, die ich je gesehen hatte. Und dabei hatte man nicht etwa das Gefühl, dass Mr. Aziz hier ein Machtwort gesprochen hatte. Seine Stimme hatte, für mich jedenfalls, freundlich wie immer geklungen. Aber jetzt schaltete er auch bereits das Licht aus und bedeutete mir damit unmissverständlich, mich ebenfalls zurückzuziehen. Welch eine Enttäuschung! Ich hatte zumindest damit gerechnet, dass mir entweder die Ehefrau oder die Tochter noch etwas zuflüstern würde, bevor wir uns für die Nacht trennten, nur drei, vier schnelle Worte, die mir sagten, wohin ich gehen sollte und wann. Statt dessen stand ich nun wie ein Narr am Kartentisch, während die beiden Damen aus dem Raum glitten.

 

Mein Gastgeber und ich folgten ihnen die Treppe hinauf. Auf dem Absatz der ersten Etage standen Mutter und Tochter Seite an Seite und warteten auf mich.

 

«Gute Nacht, Mr. Cornelius», sagte meine Gastgeberin.

 

«Gute Nacht, Mr. Cornelius», sagte die Tochter.

 

«Gute Nacht, lieber Freund», sagte Mr. Aziz. «Ich hoffe sehr, dass Sie alles haben, was Sie brauchen. »

 

Sie wandten sich ab, und mir blieb nichts anderes übrig, als langsam, widerstrebend die zweite Treppe hinaufzugehen und mich in mein Zimmer zu begeben. Ich trat ein und schloss hinter mir die Tür. Die schweren Brokatvorhänge waren schon von einem Diener zugezogen worden, aber ich öffnete sie wieder und beugte mich aus dem Fenster, um ein bisschen in die Nacht hinauszusehen. Die Luft war still und warm, und über der Wüste schien ein kleiner Mond. Der Swimmingpool unter mir sah im Mondlicht wie ein enormer Spiegel aus, der flach auf dem Rasen lag, und daneben erkannte ich die vier Liegestühle, in denen wir am Nachmittag gelegen hatten.

 

Na gut, dachte ich. Und jetzt?

 

Ich wusste, dass es etwas gab, was ich in diesem Haus auf keinen Fall tun durfte - mich aus meinem Zimmer wagen und durch die Flure streifen. Das wäre Selbstmord gewesen. Ich hatte im Laufe vieler Jahre gelernt, dass es drei Sorten Ehemänner gab, bei denen man niemals unnötige Risiken eingehen durfte: die Bulgaren, die Griechen und die Syrer. Aus irgendeinem Grund hatten sie nichts dagegen, wenn man ziemlich offen mit ihren Frauen flirtete, aber sie alle würden jeden Mann auf der Stelle umbringen, wenn sie ihn im Bett ihrer Gattin erwischten. Mr. Aziz war Syrer. Ein gewisses Maß an Vorsicht war deshalb unerlässlich. Wenn jetzt irgend etwas geschehen sollte, durfte es nicht von mir kommen, sondern musste von einer der beiden Frauen ausgehen, denn nur sie wussten, was hier sicher und was hier gefährlich war. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass die Art und Weise, wie mein Gastgeber die beiden vor vier Minuten zur Ordnung gerufen hatte, kaum auf weitere Schritte in naher Zukunft hoffen ließ. Das Ärgerliche war nur, dass ich so höllisch in Fahrt gekommen war.

 

Ich zog mich aus und duschte lange und kalt. Das half. Dann vergewisserte ich mich, dass die Vorhänge fest zugezogen waren, denn ich habe bei Mondlicht noch nie gut schlafen können. Ich ging zu Bett und lag eine Stunde oder so da und las noch ein bisschen in Gilbert Whites Naturgeschichte von Selborne weiter. Das half ebenfalls. Endlich, irgendwann zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens, war ich langsam fähig, ohne allzu viel Bedauern das Licht auszumachen und mich auf den Schlaf vorzubereiten.

 

Ich war gerade im Begriff, einzudösen, als ich ganz leise Geräusche hörte. Ich erkannte sie sofort. Es waren Geräusche, wie ich sie schon oft in meinem Leben gehört hatte, und trotzdem waren es für mich immer noch die aufregendsten und vielversprechendsten Geräusche der Welt. Sie bestanden aus einer Reihe leichter, leiser metallischer Klänge, Metall, das zart gegen anderes Metall kratzte. Und sie stammten, sie stammten jedes Mal von jemandem, der sehr langsam, sehr vorsichtig von draußen die Türklinke herunterdrückte. Ich war augenblicklich hellwach. Aber ich rührte mich nicht. Ich öffnete nur die Augen und starrte zur Tür. Ich weiß noch, wie sehr ich mir in jenem Moment wünschte, der Vorhang hätte wenigstens einen Spaltbreit offengestanden und wenigstens einen kleinen, dünnen Streifen Mondlicht hereingelassen, damit ich zumindest einen Schatten des Schattens jener zauberhaften Gestalt hätte erblicken können, die nun gleich eintreten würde. Doch der Raum war dunkel wie ein Verlies.

 

Ich hörte nicht, wie die Tür geöffnet wurde. Keine Angel quietschte. Aber plötzlich wehte ein kaum merklicher Luftzug durchs Zimmer und brachte die Vorhänge zum Rascheln, und einen Augenblick später hörte ich, wie ganz leise Holz an Holz schlug, als die Tür vorsichtig geschlossen wurde. Dann hörte man das Klicken des Türschnäppers, als die Klinke losgelassen wurde.

 

Als nächstes hörte ich Füße, die auf Zehenspitzen über den Teppich auf mich zukamen.

 

Eine entsetzliche Sekunde lang dachte ich daran, dass es ebenso gut Mr. Abdul Aziz sein konnte, der mit einem langen Messer in der Hand auf mich zuschlich, doch dann beugte sich ganz unvermittelt ein warmer, geschmeidiger Körper über mich, und eine Frauenstimme flüsterte mir ins Ohr: «Um Gottes willen keinen Laut! »

 

«Mein Geliebtes», sagte ich und fragte mich, welche von ihnen es war, «ich wusste, du... » Augenblicklich verschloss mir ihre Hand den Mund.

 

«Bitte! », flüsterte sie. «Kein Wort mehr! »

 

Ich widersprach nicht. Meine Lippen hatten Besseres zu tun. Und die ihren auch.

 

Hier muss ich innehalten. Das sieht mir ganz und gar nicht ähnlich - ich weiß. Aber nur dieses eine Mal erspare man mir eine detaillierte Beschreibung der großen Szene, die nun folgte. Ich habe meine Gründe dafür, und ich bitte darum, sie zu respektieren. Es wird Ihnen auf alle Fälle nicht schaden, zur Abwechslung einmal die eigene Phantasie spielen zu lassen, und wenn Sie wollen, werde ich Ihre Phantasie ein wenig stimulieren, indem ich einfach und wahrheitsgemäß berichte, dass mich von den vielen Tausenden und Tausenden von Frauen, die ich in meinem Leben genossen habe, keine einzige so nahe an die letzten Abgründe der Ekstase trieb wie diese Dame aus der Wüste Sinai. Ihre Wendigkeit war unglaublich. Ihre Leidenschaft war überwältigend. Ihre erotische Skala war unermesslich. Bei jeder neuen Wendung wusste sie mit einem anderen faszinierenden Manöver aufzuwarten. Und wie um all dem die Krone aufzusetzen, war ihr Stil überdies so raffiniert und exotisch, wie ich es noch nie erlebt hatte. Sie war eine große Künstlerin. Sie war ein Genie.

 

All das, werden Sie wahrscheinlich sagen, weist eindeutig darauf hin, dass es sich bei meiner Besucherin um die ältere der beiden Frauen gehandelt haben muss. Sie irren sich. Es wies auf gar nichts hin. Wahres Genie ist angeboren. Es hat sehr wenig mit Alter zu tun. Und ich kann Ihnen versichern, dass ich in jenem stockdunklen Zimmer nicht mit Sicherheit feststellen konnte, welche von beiden es war. Ich hätte darauf keinen Penny gewettet. Einmal, nach einer besonders stürmischen Kadenz, war ich sekundenlang überzeugt, dass es die Mutter sei. Es musste die Mutter sein! Dann änderte sich plötzlich das gesamte Tempo, und die Melodie wurde so kindlich und unschuldig, dass ich unversehens versucht war zu schwören, dass es die Tochter sei. Es musste die Tochter sein!

 

Es machte mich wahnsinnig, dass ich die richtige Antwort nicht wusste. Es quälte mich. Es beschämte mich aber auch, denn ein Kenner, ein großer Kenner, sollte schließlich immer den Jahrgang erraten können, ohne das Flaschenetikett zu sehen. Aber hier war ich wirklich ratlos. Einmal griff ich nach meinen Zigaretten, entschlossen, das Geheimnis im Licht eines Streichholzes zu lösen, aber ihre Hand war wie der Blitz bereit, und Zigaretten und Streichhölzer wurden quer durch das Zimmer geschleudert. Mehr als einmal begann ich, ihr die Frage ins Ohr zu flüstern, aber ich brachte nie mehr als drei Worte heraus, ehe ihre Hand wieder hochschoss und auf meinen Mund klatschte. Ziemlich heftig übrigens.

 

Also gut, dachte ich. Lassen wir das für den Augenblick. Morgen früh, unten bei Tageslicht, werde ich genau wissen, welche von euch es war. Ich werde es am Glühen des Gesichts, an der Art, wie deine Augen meinem Blick begegnen, und an hundert anderen kleinen verräterischen Zeichen erkennen. Ich werde es auch an dem Abdruck erkennen, den meine Zähne links am Hals, über der Linie des Ausschnitts, hinterlassen haben. Ganz schön böse, dieser Trick, dachte ich, und so geschickt abgepasst - mein hinterlistiger Biss wurde auf dem Höhepunkt ihrer Leidenschaft verabreicht -, dass sie seine Bedeutung nie auch nur eine Sekunde lang durchschaute.

 

Es war, ohne jede Einschränkung, eine absolut denkwürdige Nacht. Es mussten mindestens vier Stunden vergangen sein, als sie mich zum letzten Mal wild umarmte und dann so rasch aus dem Zimmer glitt, wie sie hereingekommen war.

 

Am nächsten Morgen erwachte ich erst nach zehn. Ich stieg aus dem Bett und zog die Vorhänge auf. Es war wieder ein strahlender, heißer Wüstentag. Ich nahm in aller Ruhe ein Bad und kleidete mich dann so sorgfältig an wie immer. Ich fühlte mich gelöst und munter. Der Gedanke, dass ich immer, obwohl schon in mittleren Jahren, eine Frau allein mit der Kraft meiner Augen in mein Zimmer zwingen konnte, machte mich sehr glücklich. Und was für eine Frau! Es würde faszinierend sein, herauszufinden, welche von beiden es gewesen war. Bald würde ich es wissen.

 

Langsam stieg ich die zwei Treppen hinab.

 

«Guten Morgen, lieber Freund, guten Morgen! », sagte Mr. Aziz und erhob sich hinter einem kleinen Schreibtisch im Salon, an dem er gesessen und etwas geschrieben hatte. «Hatten Sie eine gute Nacht? »

 

«Ausgezeichnet, danke», antwortete ich und achtete darauf, dass es nicht selbstgefällig klang.

 

Er kam auf mich zu, blieb dicht vor mir stehen und lächelte mit seinen blendendweißen Zähnen. Seine lebhaften kleinen Augen blieben auf meinem Gesicht haften und glitten langsam darüber hin, als suchten sie etwas.

 

«Ich habe gute Nachrichten für Sie», sagte er. «Vor fünf Minuten rief man aus Bir Rawd Salim an und sagte, Ihr neuer Keilriemen sei mit dem Postwagen eingetroffen. Saleh setzt ihn gerade ein. Er ist in einer Stunde fertig. Wenn Sie also gefrühstückt haben, bringe ich Sie hin, und Sie können Ihre Reise fortsetzen. »

 

Ich sagte ihm, wie dankbar ich sei.

 

«Es wird uns leid tun, dass Sie uns verlassen», sagte er. «Es war uns allen eine sehr große Freude, Sie hier gehabt zu haben, eine sehr große Freude. »

 

Ich frühstückte allein im Speisezimmer. Anschließend kehrte ich in den Salon zurück, um eine Zigarette zu rauchen, während der Hausherr weiter an seinem Schreibtisch arbeitete.

 

«Verzeihen Sie bitte», sagte er. «Ich muss hier noch ein paar Sachen fertig machen. Es dauert nicht lange. Ich habe dafür gesorgt, dass Ihr Koffer gepackt und in den Wagen gebracht wird. Sie brauchen sich also um nichts mehr zu kümmern. Nehmen Sie doch inzwischen Platz und genießen Sie in Ruhe Ihre Zigarette. Die Damen müssen jede Minute herunterkommen. »

 

Seine Frau erschien zuerst. Sie schwebte ins Zimmer und wirkte mehr denn je wie die berückende Königin Semiramis vom Nil. Das erste, was mir an ihr auffiel, war der blassgrüne Chiffonschal, den sie sich lässig um den Hals geschlungen hatte! Lässig, aber sorgfältig! So sorgfältig, dass nirgends die Haut des Halses zu sehen war. Sie ging sogleich auf ihren Mann zu und küsste ihn auf die Wange. «Guten Morgen, mein Liebling», sagte sie.

 

Du raffiniertes, schönes Biest, dachte ich.

 

«Guten Morgen, Mr. Cornelius», sagte sie fröhlich, kam herüber und nahm mir gegenüber in einem Sessel Platz. «Haben Sie gut geruht? Ich hoffe sehr, Sie hatten alles, was Sie brauchten. »

 

Noch nie in meinem Leben hatte ich die Augen einer Frau so funkeln sehen wie an jenem Morgen die ihren, noch nie ein so strahlendes Frauenantlitz.

 

«Ich hatte eine ganz ausgezeichnete Nacht, ich danke Ihnen», antwortete ich und wollte damit andeuten, was ich wusste.

 

Sie lächelte und zündete sich eine Zigarette an. Ich warf einen Blick zu Mr. Aziz hinüber, der immer noch, den Rücken zu uns gekehrt, emsig schrieb. Er beobachtete seine Frau oder mich nicht im geringsten. Er war, dachte ich, genau wie all die anderen bedauernswerten Ehemänner, denen ich Hörner aufgesetzt hatte. Keiner von ihnen hätte geglaubt, dass es ihm passieren konnte, jedenfalls nicht vor der eigenen Nase.

 

«Guten Morgen, alle zusammen! », rief die Tochter und kam ins Zimmer gestürmt. «Guten Morgen, Papa! Guten Morgen, Mami! » Sie gab den beiden einen Kuss. «Guten Morgen, Mr. Cornelius! » Sie trug eine rosa Hose und eine rostfarbene Bluse, und ich will verflucht sein, wenn sie sich nicht ebenfalls achtlos-achtsam einen Schal um den Hals geschlungen hatte! Einen Chiffonschal!

 

«Haben Sie gut geschlafen? », fragte sie und hüpfte wie eine junge Braut auf meine Sessellehne und setzte sich so hin, dass ihr einer Oberschenkel fast an meinem Unterarm ruhte. Ich lehnte mich zurück und betrachtete sie eingehend. Sie erwiderte meinen Blick und zwinkerte! Sie zwinkerte tatsächlich! Ihr Gesicht glühte und funkelte genau wie das ihrer Mutter, und wenn es überhaupt einen Unterschied gab, schien sie noch zufriedener mit sich als die Mutter.

 

Ich war einigermaßen verwirrt. Nur eine von ihnen hatte das Mal meines Bisses zu verbergen, und doch hatten beide ihren Hals mit einem Schal bedeckt. Ich räumte ein, dass es Zufall sein konnte, aber nach ihren Gesichtern zu urteilen, ließ es vielmehr auf eine Verschwörung schließen. Es kam mir so vor, als hätten sie sich abgesprochen, damit ich nicht hinter die Wahrheit käme. Was für eine durchtriebene Geschichte! Und wozu das alles?

 

Und wie gingen sie sonst bei ihren seltsamen Plänen und Machenschaften zu Werke? Ich hätte es zu gern gewusst. Hatten sie in der vergangenen Nacht vielleicht um mich gelost? Oder wechselten sie sich einfach ab bei der «Betreuung» ihrer Besucher? Ich musste so schnell wie möglich wiederkommen, sagte ich mir. Ich musste sie noch einmal besuchen, nur um zu sehen, was beim zweiten Mal passieren würde. Vielleicht konnte ich in ein oder zwei Tagen von Jerusalem aus herüberkommen. Ich nahm an, es würde nicht schwer sein, mich noch einmal einladen zu lassen.

 

«Sind Sie fertig, Mr. Cornelius? », fragte Mr. Aziz und erhob sich von seinem Platz am Schreibtisch.

 

«Ja, ich bin fertig», antwortete ich.

 

Die Damen gingen uns, schlank und lächelnd, nach draußen voran, wo der große grüne Rolls-Royce wartete. Ich küsste ihnen die Hand und flüsterte beiden «Tausend Dank! » zu. Dann ließ ich mich auf dem Vordersitz neben meinem Gastgeber nieder, und wir fuhren los. Mutter und Tochter winkten. Ich ließ mein Fenster herunter und winkte zurück. Dann verließen wir den Garten und waren in der Wüste, folgten dem steinigen gelben Weg, der sich um den Fuß des Maghara-Bergs wand, und die Telefonmasten eilten mit.

 

Während der Fahrt unterhielt ich mich mit meinem Gastgeber angeregt über dieses und jenes. Ich gab mir alle Mühe, so aimable wie möglich zu sein, denn ich hatte jetzt nur noch das eine Ziel, mich wieder ins Haus einladen zu lassen. Wenn es mir nicht gelang, ihn dazu zu bringen, mich zu bitten, dann musste ich ihn bitten. Ich würde es erst im letzten Augenblick tun. «Auf Wiedersehen, mein lieber Freund», würde ich sagen und voller Sympathie seinen Arm ergreifen. «Erlauben Sie mir die Freude, wieder einmal bei Ihnen vorbeizuschauen, wenn ich zufällig in der Nähe bin? » Und er würde selbstverständlich ja sagen.

 

«Habe ich übertrieben, als ich Ihnen erzählte, meine Tochter sei wunderschön? », fragte er mich.

 

«Sie haben untertrieben», sagte ich. «Sie ist eine hinreißende Schönheit. Ich gratuliere Ihnen. Aber Ihre Frau ist genauso schön. Als ich so zwischen den beiden stand, hätte ich fast den Boden unter den Füßen verloren», fügte ich lachend hinzu.

 

«Das habe ich bemerkt», sagte er und lachte mit. «Es sind zwei sehr unartige Mädchen. Sie lieben es, mit anderen Männern zu flirten. Aber warum sollte ich etwas dagegen haben. Es ist ja so harmlos. »

 

«Durchaus», sagte ich.

 

«Ich finde, es ist lustig und spaßig. »

 

«Es ist charmant», sagte ich.

 

In weniger als einer halben Stunde hatten wir die Hauptstraße Ismailia-Jerusalem erreicht. Mr. Aziz bog mit dem Rolls-Royce auf den schwarzen Teerzementstreifen ein und sauste mit 125 Stundenkilometern auf die Tankstelle zu. In wenigen Minuten würden wir dort sein. Also versuchte ich jetzt, dem Thema eines erneuten Besuches ein wenig näher zu kommen, ganz vorsichtig nach einer Einladung zu angeln. «Ich kann Ihr Haus einfach nicht vergessen», sagte ich. «Ich finde es einfach phantastisch. »

 

«Es ist hübsch, nicht wahr? »

 

«Ich nehme an, Sie fühlen sich ab und zu recht einsam da draußen, nur Sie drei? »

 

«Es ist nicht schlimmer als anderswo», sagte er. «Die Menschen sind überall einsam. Eine Wüste oder eine Stadt - es macht wirklich keinen großen Unterschied. Außerdem haben wir ja Gäste, wissen Sie. Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie viele Menschen doch von Zeit zu Zeit vorbeikommen. Wie Sie, zum Beispiel. Es war ein großes Vergnügen für uns, Sie bei uns haben zu dürfen, mein Lieber. »

 

«Ich werde es nie vergessen», sagte ich. «Es ist selten, dass man heutzutage noch soviel Herzlichkeit und Gastfreundschaft erlebt. »

 

Ich wartete darauf, dass er mich aufforderte, wiederzukommen, doch er tat es nicht. Es entstand ein kleines Schweigen, ein etwas unbehagliches kleines Schweigen. Um es zu überbrücken, sagte ich: «Ich glaube, Sie sind der fürsorglichste Vater, von dem ich je in meinem Leben gehört habe. »

 

«Ich? »

 

«Ja. Indem Sie hier am Ende der Welt ein Haus erbauten und allein wegen Ihrer Tochter darin wohnen, um sie zu beschützen. Ich finde das bemerkenswert. »

 

Ich sah ihn lächeln, aber er hielt die Augen auf die Straße gerichtet und sagte nichts. Zwei Kilometer vor uns waren jetzt die Tankstelle und die Hütten zu sehen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und im Auto wurde es heiß.

 

«Nur wenige Väter würden in ihrer Fürsorge so weit gehen», fuhr ich fort.

 

Wieder lächelte er, aber diesmal schien er mir irgendwie verlegen. Und dann sagte er: «Ganz soviel Lob, wie Sie mir da spenden, verdiene ich nicht, wirklich nicht. Um ganz offen mit Ihnen zu sein, meine hübsche Tochter ist nicht der einzige Grund, weshalb ich in dieser komfortablen Einsiedelei lebe. »

 

«Ich weiß. »

 

«Sie wissen? »

 

«Sie haben es mir erzählt. Sie sagten, der andere Grund sei die Wüste. Sie lieben sie, sagten Sie, wie ein Seemann das Meer. »

 

«Das sagte ich. Und es ist vollkommen richtig. Aber es gibt noch einen dritten Grund. »

 

«Ach, und welcher wäre das? »

 

Er antwortete mir nicht. Er saß ganz still mit den Händen am Steuer, die Augen fest auf die vor uns liegende Straße gerichtet.

 

«Verzeihen Sie», sagte ich. «Ich hätte nicht danach fragen sollen. Es geht mich nichts an. »

 

«Nein, nein, es ist schon in Ordnung», sagte er. «Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. »

 

Ich starrte aus dem Fenster in die Wüste hinaus. «Ich glaube, es ist heißer als gestern», sagte ich. «Es muss schon weit über 40 Grad sein. »

 

«Ja. »

 

Ich sah, wie er ein bisschen auf seinem Sitz herumrutschte, als versuchte er, es sich bequemer zu machen. Dann sagte er: «Ich sehe wirklich keinen Grund, weshalb ich Ihnen nicht die Wahrheit über das Haus erzählen sollte. Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie schwatzhaft sind. »

 

«Das ganz gewiss nicht», sagte ich.

 

Wir hatten die Tankstelle beinahe erreicht, und er drosselte die Ge schwindigkeit und fuhr nun fast im Schritttempo, um sich für das, was er zu sagen hatte, Zeit zu nehmen. Ich sah, wie die beiden Araber neben meinem Lagonda standen und uns beobachteten.

 

«Die Tochter», sagte er schließlich, «die Sie kennen gelernt haben, ist nicht meine einzige Tochter. »

 

«Ach, wirklich? »

 

«Ich habe noch eine, die fünf Jahre älter ist. »

 

«Und zweifellos genauso schön», sagte ich. «Wo lebt sie? In Beirut? »

 

«Nein, auch in dem Haus. »

 

«In welchem Haus? Doch nicht in dem, das wir gerade verlassen haben? »

 

«Doch. »

 

«Aber ich habe sie gar nicht gesehen. »

 

«Nun ja», sagte er und wandte sich mir plötzlich zu, um mein Gesicht zu beobachten, «vielleicht nicht. »

 

«Aber warum nicht? »

 

«Sie hat Lepra. »

 

Ich zuckte heftig zusammen.

 

«Ja, ich weiß», sagte er, «es ist etwas Schreckliches. Und sie hat noch dazu die schlimmste Art, das arme Mädchen. Man nennt es lepromatöse Lepra. Diese Art ist außerordentlich resistent und praktisch unheilbar. Wenn es sich um tuberkolide Lepra handelte, wäre es viel leichter. Aber das ist es eben nicht, und so ist man völlig machtlos. Wenn also Gäste ins Haus kommen, bleibt sie in ihren eigenen Räumen, im zweiten Stock... »

 

Inzwischen musste der Wagen bei der Tankstelle vorgefahren sein, denn das Nächste, an das ich mich zu erinnern vermag, ist, wie Mr. Aziz dasaß und mich mit seinen schmalen, klugen schwarzen Augen anblickte und sagte: «Aber mein lieber Freund, Sie sollten sich das nicht derart zu Herzen nehmen. Beruhigen Sie sich, Mr. Cornelius, beruhigen Sie sich! Für Sie besteht absolut kein Grund zur Sorge. Es ist keine besonders ansteckende Krankheit. Man muss schon sehr intimen Kontakt mit der kranken Person haben, um sich anzustecken... »

 

Ich stieg sehr langsam aus dem Auto und stand in der Sonne. Der Araber mit dem von Krankheit gezeichneten Gesicht grinste mich an und sagte: «Keilriemen jetzt ganz fertig. Alles in Ordnung. » Ich griff in meine Tasche nach Zigaretten, aber meine Hand zitterte so heftig, dass ich das Päckchen zur Erde fallen ließ. Ich bückte mich und hob es auf. Dann nahm ich eine Zigarette heraus und schaffte es, sie anzuzünden. Als ich wieder aufblickte, sah ich, wie der grüne Rolls-Royce, schon etwa einen Kilometer entfernt, mit großer Geschwindigkeit die Straße dahinfuhr.