Weil sie uns nicht ins Maul fallen will, so wollen wir uns durch Nackenschläge rächen, und doch heißt es nicht ganz und gar eine Sache afterreden, wenn man Mängel und Fehler daran findet. Die finden sich an allen Dingen, sie mögen noch so schön und bewundernswürdig sein. Überhaupt genommen haben Hoheit und Größe diesen sichtlichen Vorzug, daß sie sich herablassen, wenn es ihnen gefällt, und so ziemlich die Wahl haben, hoch oder niedrig zu stehen. Denn man fällt nicht von jeder Höhe herab; es gibt deren, von welchen man herabsteigen kann, ohne zu fallen. Wohl deucht es mich, daß wir ihr einen zu großen Wert beilegen und auch die Entschlossenheit derjenigen überhoch schätzen, von welchen wir gesehen und gehört haben, daß sie die Hoheit verachtet oder sich derselben freiwillig begeben haben. Das Wesen der Hoheit bringt ersichtlicherweise so vielen Vorteil nicht, daß man derselben ohne Wunder nicht entsagen könnte. Ich finde es viel schwerer, das Unglück zu ertragen. Mit einem Mittelmaß von Glück hingegen zufrieden zu sein und Größe und Hoheit zu fliehen, daran sehe ich nichts Schwieriges. Das ist eine Tugend, deucht mich, zu der ich, ob ich gleich nur ein Gimpel bin, mich ohne große Anstrengung hinaufschwingen könnte. Was sollten es nicht diejenigen, welche noch den Ruhm in Anschlag bringen, der mit dieser Entbehrung verbunden ist, und vielleicht mehr Ehrgeiz besitzen als Verlangen und Empfindung nach Größe und Empfänglichkeit für ihren Genuß? Um so mehr, da der Ehrgeiz mit seinen Begierden gern auf Schleifwegen einhergeht.

Ich stärke Herz und Sinn zur Geduld und schwäche sie gegen ihre Begierden. Mir bleibt ebensoviel zu wünschen übrig als einem andern, und ich lasse meinen Wünschen ebensoviel Freiheit und Unbesonnenheit. Bei alledem ist mir's noch niemals eingefallen, mir Reiche und Kronen zu wünschen noch die Höhe der Herrscherstellen. So vornehme Dinge mir zu wünschen, dazu hab' ich mich zu lieb. Wenn ich denke, zu wachsen, so geht es immer im niedrigen Wachstum, unter Messer und Schere, dergleichen sich für mich schickt, an Entschlossenheit, an Klugheit, an Gesundheit, an Schönheit und auch wohl an Reichtum. Aber das hohe Ansehen und die mächtige Größe erdrücken meine Einbildungskraft. Und als Cäsars Widerspiel würde ich lieber der Zweite oder Dritte in meiner Provinz als der Erste in der Hauptstadt sein; und gewiß und wahrhaftig wäre ich lieber der Dritte als der Erste an Amt und Würden in Paris. Ich mag nicht so arm und unbekannt sein, daß ich mich mit dem Schweizer an der Tür herumkabeln müßte noch mir durch das dicke Gedränge, welches Verehrung um mich sammelt, den Weg öffnen lassen. Die Mittelstraße, auf welche mein Schicksal mich versetzt, ist ganz nach meinem Geschmack. Auch bewies ich durch meine Aufführung, daß ich nicht sowohl suchte als vielmehr vermied, über die Stufen des Glücks hinwegzuschreiten, auf welche der liebe Gott mich durch meine Geburt versetzte. Alle natürliche Verfassung ist an sich gleich gerecht und leicht. So habe ich eine etwas träge Seele und messe das gute Glück nicht nach seiner Höhe, sondern nach der Leichtigkeit, mit welcher ich es erreichen kann.

Aber, bin ich auch nicht hochherzig, so bin ich doch offenen Herzens, und es befiehlt mir, seine Schwachheit dreist bekanntzumachen. Wenn ich eine Vergleichung anstellen sollte zwischen dem Leben des L. Thorius Balbus, eines biedern, schönen, gelehrten, gesunden Mannes, dem alle Arbeiten von Genuß und Vergnügen reichlich zu Gebote standen, der ein ruhiges unabhängiges Leben führte, dessen Seele fest war gegen Tod, gegen Aberglauben, gegen Schmerzen und was sonst noch für Sorgen des Lebens sein mögen, der endlich in einer Schlacht, mit den Waffen in der Hand, zur Verteidigung seines Vaterlandes starb, und dem Leben des Marcus Regulus, groß und herrlich und weltkundig wie sein treffliches Ende, das erste ohne Namen und Würde, das andere exemplarisch und in höchstem Grade berühmt: so würde ich gewiß wie Cicero darüber sprechen, wenn ich mich ebensogut auszudrücken verstünde. Sollte ich aber eine Anwendung davon auf mein eigenes Leben machen, so würde ich auch sagen, das erste sei ebensosehr meinen Wünschen und Fähigkeiten gemäß, weil ich meine Wünsche nach meinen Fähigkeiten einschränke, wie das zweite weit über dieselben hinaus; an dieses zweite reicht nur meine Bewunderung, jenes erste möchte meine Nachahmung gern erreichen.

Kehren wir wieder zu unserer zeitlichen Größe zurück, von welcher wir ausgingen. Ich bin des Befehlens und Gehorchens müde. Otanes, einer der Sieben, welche recht hatten, auf das Persische Reich Anspruch zu machen, ergriff eine Maßregel, die ich auch gern ergriffen hätte. Er überließ seinen Mitwerbern sein Recht, dazu durch Wahl oder durchs Los zu gelangen, mit dem Bedinge, daß er und die Seinigen in diesem Reich ohne alle Unterwürfigkeit und Herrlichkeit leben könnten, ausgenommen gegen die alten Gesetze, und jede Freiheit genießen sollten, welche diesen nicht widerspräche. Er mochte ebensowenig befehlen, als unter Befehlen stehen.

Das sauerste und schwerste Handwerk der Welt ist nach meiner Meinung die würdige Verwaltung des Königtums. Ich entschuldige an einem König viel mehr Fehler, als man gewöhnlich zu tun pflegt, wenn ich die ungeheure Last seiner Pflichten erwäge, vor der ich erschrecke. Es ist schwer, bei einer so ungemessenen Gewalt das rechte Maß zu halten. Gleichwohl ist es selbst für solche Personen, deren Herz und Geist nicht von der höchsten Vortrefflichkeit sind, ein sonderbarer Reiz zur Tugend, auf einen Platz gestellt zu sein, woselbst man keine edle Handlung ausübt, die nicht in Rechnung gebracht werde und auf welchem jede, auch die geringste Wohltat auf so viele Menschen Einfluß hat; wo Geschicklichkeit im Benehmen, wie bei den Predigern, hauptsächlich an das Volk gerichtet ist, an einen Richter, der es nicht sehr genau nimmt, der leicht zu täuschen und leicht zu befriedigen ist. Es gibt wenige Dinge, die wir ganz richtig beurteilen können, weil es wenige gibt, an welchen wir nicht auf eine oder die andere Weise einen persönlichen Anteil nehmen. Das Herrschen und das Gehorchen, die Herrlichkeit und die Untertänigkeit sind zu gegenseitiger Eifersucht und Widerspenstigkeit verbunden; sie müssen sich beständig einander beengen. Ich glaube keiner von beiden, wenn sie mir die Rechte der andern erklären will. Laß die Vernunft darüber sprechen, welche unparteiisch und unbestechbar ist, wenn wir es nur dahinbringen können, ihre Stimme zu vernehmen. Es ist noch keinen Monat her, als ich zwei Werke von Schottländern durchblätterte, die sich über diesen Gegenstand zankten. Der Volksfreund setzt den König tiefer herab als einen Kärrner; der Königsfreund erhebt ihn an Gewalt und Machtvollkommenheit einige Klafter hoch über die Gottheit.

Die Beschwerlichkeit der Größe aber, welche ich wegen einiger Veranlassungen, die mir kürzlich darüber aufstiegen, hier zu bemerken mir vorgesetzt habe, besteht in folgendem. In dem Umgang mit Menschen ist vielleicht nichts lustiger anzuschauen als der Eifer um Ehre und Tapferkeit, womit wir in Leibes-oder Geistesübungen einer dem andern zuvoreifern. Daran nimmt die Fürstengröße niemals wahren Anteil. In der Tat ist es mir oft vorgekommen, als behandle man dabei aus übergroßem Respekt die Prinzen niedrig und verächtlich. Denn was mich in meiner Kindheit unendlich verdroß, daß meine Gegner nie Ernst aus der Sache machten, weil sie mich für unwürdig hielten, ihre Kräfte gegen mich anzuwenden, das widerfährt den Fürsten alle Tage, weil sich jedermann für unwürdig hält, sich mit ihnen zu messen. Wenn man es ihnen nur im geringsten anmerkt, daß sie in irgendeiner Sache gern den Vorzug haben möchten, so beeifert sich gleich jedermann, ihnen solchen zu lassen, und schlägt lieber seinen eigenen Ruhm in die Schanze, als daß er ihnen den ihrigen nicht ganz lassen sollte. Man beut gegen sie gerade nur so viel Kraft auf, als nötig ist, sie mit Ehren gewinnen zu lassen. Welchen Anteil haben sie an einem Gefecht, wo jedermann für sie ficht? Mich deucht, ich sehe die Ritter der Vorwelt mit bezauberten Leibern und Waffen zum Ringen und Fechten in die Schranken treten. Crisson, der mit dem Alexander um die Wette lief, ließ ihn mit Fleiß überwinden. Alexander schalt ihn darüber; aber er hätte ihn dafür sollen geißeln lassen. In dieser Hinsicht sagte Carneades: Fürstenkinder lernen nichts gründlich als Pferde behandeln; denn in allen anderen Übungen gibt jeder ihnen nach und gewonnen. Ein Pferd aber, welches weder ein Schmeichler noch Hofschranz ist, wirft den Sohn eines Königs ebensogut ab als den Sohn eines Karrenschiebers. Homer hat sich genötigt gesehen, die Venus, eine so zarte, süße Heilige, im Kampf vor Troja verwundet werden zu lassen, um ihren Mut und ihre Dreistigkeit preisen zu können; Eigenschaften, die niemandem zukommen, der von aller Gefahr befreit ist. Man stellt die Götter vor, wie sie sich erzürnen, fürchten, fliehen, eifersüchtig sind, wehklagen, etwas heftig wünschen und hitzig werden, um sie mit den Tugenden zu beehren, welche unter uns aus diesen Unvollkommenheiten entspringen. Wer nicht teil an der Beschwerlichkeit und dem Wagnis nimmt, kann auch keinen Teil an der Ehre und dem Vergnügen nehmen, welche auf gewagte Handlungen erfolgen. Es ist ein Elend, so allvermögend zu sein, daß sich gleich jedes Ding nach seinem Willen fügt. Der Stand der Großen entfernt sie zu weit von aller Geselligkeit und Gesellschaft und stellt sie zu sehr allein. Diese so gar mühelose Leichtigkeit, alles unter seinen Willen zu beugen, ist eine Feindin aller Arten von Vergnügen. Das heißt fortgleiten, aber nicht gehen, schlafen, aber nicht leben. Man stelle sich einen Menschen vor, der mit Allmacht begabt wäre; er wäre dadurch höchst unglücklich. Er wird gedrungen werden, um Hindernisse und Widerstand wie um Almosen zu bitten. Sein Wesen und sein Vermögen besteht in Dürftigkeit. Die guten Eigenschaften der Fürsten sind erstorben und verloren; denn man erkennt jene nicht als durch Vergleichung, und diese sind über alle Vergleichungen hinaus. Sie haben nur wenige Kunst vom Lobe, weil sie mit beständigem und gleichförmigem wahrem Beifall betäubt werden. Haben sie mit dem Dümmsten ihrer Untertanen zu schaffen, so haben sie nicht die geringste Gelegenheit, sich einen Vorteil über ihn zuzuschreiben; denn wenn er sagt: "Es ist ja mein Herr", so meint er damit zur Genüge gesagt zu haben, daß er selbst die Hand dazu geboten, sich überwinden zu lassen. Diese Eigenschaft erstickt und vernichtet alle andern wahren und wesentlichen Eigenschaften; sie sind alle im Königtum vergraben, und man läßt ihnen, um sich eigenen Wert zu geben, nichts übrig als Handlungen, die sich unmittelbar auf sie selbst beziehen und ihnen zu den Verrichtungen ihres königlichen Amtes behilflich sind. Sie sind so sehr Könige, daß sie weiter nichts als Könige sind. Dieser fremde Schein, welcher sie umringt, verbirgt sie und entzieht sie unserm Gesicht. Unser Blick wird durch dieses grelle Licht gebrochen und verstreut. Der Senat sprach dem Tiberius den Preis der Beredsamkeit zu. Dieser schlug ihn aus, weil er dafür hielt, ein so wenig freies Urteil, wenn er es auch verdient hätte, könne ihm keine Ehre machen.

So wie man ihnen alle Vorzüge der Ehre einräumt, so bestärkt und bestätigt man sie auch in allen Fehlern und Lastern, die sie an sich haben, nicht bloß durch Beifall, sondern auch durch Nachahmung. Alexanders ganzes Gefolge trug den Hals schief wie er. Die Schmeichler des Dionysius traten sich in seiner Gegenwart auf die Füße, stießen sich an die Köpfe und warfen alles um, was ihnen vor die Füße kam, um dadurch anzudeuten, sie hätten alle ein ebenso kurzes Gesicht als er. Auch Bruchbänder haben zuweilen zu fürstlichen Gnaden und Gunsten empfohlen. Und weil der Herr seine Gemahlin haßte, so erlebte Plutarch, daß die Hofschranzen den ihrigen, die sie liebten, den Scheidebrief gaben. Was noch mehr ist, der Ehebruch hat seine Zeit gehabt, wo er, wie alle übrigen Liederlichkeiten, in Ehren und Ansehen stand. Desgleichen Falschheit, Gotteslästerung, Grausamkeit, Ketzerei, Aberglauben und Unglauben, Weichlichkeit und noch schlimmere Laster, wenn es schlimmere Laster gibt. Noch gefährlicher war dieses Beispiel als das der Schmeichler des Mithridates, die, weil ihr Herr auf die Ehre Anspruch machte, ein guter Arzt zu sein, sich von ihm schneiden und brennen ließen; denn jene ließen ihre Seelen schneiden und brennen, welche doch ein edlerer und zarterer Teil ist. Aber um zu enden wie ich anfing: Als der Kaiser Adrian mit dem Philosophen Favorinus über die Erklärung eines Worts stritt, gab ihm Favorinus ziemlich bald recht. Seine Freunde beschwerten sich darüber: "Was wollt ihr denn", antwortete der, "sollte er nicht gelehrter sein als ich? Er hat dreißig Legionen zu seinem Befehl." Augustus schrieb Verse gegen den Asinius Pollio. "Ich", sagte Pollio, "lasse das wohl bleiben. Es wäre nicht klüglich, gegen den zu schreiben, der meine Acht unterschreiben kann." Die Leute hatten beide recht. Als Dionysius dem Philoxenus in der Dichtkunst und dem Plato in der Wohlredenheit nicht gleichkommen konnte, schickte er jenen in die Steinbrüche und ließ diesen als Sklaven auf der Insel Ägina verkaufen.

Man muß seinen Willen beschränken.

Im Vergleich mit gewöhnlichen Menschen rühren mich wenige Dinge, oder um besser zu sagen, fesseln mich wenige. Denn es ist ganz recht, sich von ihnen rühren zu lassen, wenn sie uns nur nicht besitzen. Ich tue mein möglichstes, dieses schon von Natur bei mir ziemlich große Privilegium der Unempfindlichkeit durch Studieren und Nachdenken zu vergrößern. Gar selten will ich daher etwas mit Wärme und bin auf wenig Dinge leidenschaftlich erpicht. Mein Gesicht ist hell, aber ich hefte es auf wenige Gegenstände. Mein Sinn ist zart und weich; meine Fassungskraft aber und ihre Anwendung ist hart und spröde. Es hält hart, ehe ich mich zu etwas verbinde. Soviel ich kann, beziehe ich gern alles auf mich selbst, und selbst hierin möchte ich gern meine Neigung zügeln und im Zaum halten, um nicht von ihr fortgerissen zu werden. Denn am Ende kann ich diese Neigung nicht anders als durch Vergünstigung anderer befriedigen, und das Glück hat darüber ein größeres Recht als ich selbst. Dergestalt, daß selbst in Ansehung der Gesundheit, auf welche ich einen so hohen Wert setze, es mir wohl nötig wäre, sie nicht so heftig zu wünschen und so ängstlich darauf bedacht zu sein, daß ich die Krankheiten unerträglich finde. Man muß in dem Hasse widriger und der Liebe zu angenehmen Empfindungen. Mäßigung beobachten. Auch schreibt Plato einen Mittelweg unter beiden vor.

Was aber solche Empfindungen anbelangt, die mich zerstreuen und an andere heften, so widersetze ich mich ihnen gewiß aus allen Kräften. Meine Meinung ist, man müsse sich andern Menschen borgen und nur sich selbst zum Eigentum geben. Ich könnte es nicht ausstehen, wenn mein Wille und meine Zuneigung sich so leicht verpfänden und anweisen ließen. Ich bin von Natur und durch Gewohnheit zu weichlich:

 

Fugax rerum, securaque in otia natus.1

 

Ein Ringen, wobei ich starken, steifen Widerstand fände, der zuletzt meine Gegner obsiegen machte, ein Ausgang, welcher mein warmes Streben mit Schande überhäufte, würden mein Herz wahrscheinlich bitter nagen. Wenn ich mich so leicht anließe wie andere, so würde meine Seele niemals die Stärke haben, die Unruhen und Gemütsbewegungen zu ertragen, welche denjenigen auf dem Fuße folgen, die sich mit vielerlei Dingen abgeben. Sie würde alsbald durch solche innerliche Bewegungen verrenken. Brachte man mich zuweilen dahin, fremde Geschäfte zu betreiben, so versprach ich solche in die Hände zu nehmen, aber nicht in Lunge und Leber; mich damit zu beladen, nicht, sie mir einzuverleiben; allerdings dafür zu sorgen, aber nicht mich dafür in Feuer und Flammen zu setzen. Ich gab darauf Achtung, aber ich brütete nicht darüber. Ich habe genug damit zu tun, den innern Drang, der mir so nahe in meinen Adern liegt, zu leiten und zu ordnen, ohne fremden Drang auf mich zu nehmen, unter welchem ich erliegen würde, und bin ich schon geplagt genug mit meinen wesentlichen eignen und natürlichen Angelegenheiten, ohne fremde von den Gassen und Zäunen hereinzurufen. Wer da weiß, wieviel er sich selbst schuldig, zu wieviel Pflichten er gegen sich verbunden ist, findet, daß die Natur ihm einen hinlänglich schweren Auftrag gegeben hat, der keinen Müßiggänger voraussetzt. Du hast reichlich zu schaffen in deinem eigenen Hause, entferne dich von demselben nicht. Die Menschen vermieten sich. Ihre Kräfte dienen nicht ihnen selbst, sondern denjenigen, denen sie sich zu Knechten machen. Ihre Mietsherren wohnen daheim, sie sind in fremden Häusern. Diese gewöhnliche Stimmung gefällt mir nicht. Wir müssen mit der Freiheit! unserer Seele bedächtiglich umgehen und sie niemals verpfänden als bei gerechten Veranlassungen. Und die sind gar nicht häufig, wenn wir sie richtig beurteilen. Man sehe nur die Leute, die so gelehrig sind, sich einnehmen und hinreißen zu lassen, die sind allezeit fertig, zu kleinen Dingen wie zu großen, bei solchen, die sie nichts angehen, wie bei solchen, die sie betreffen. Sie mischen sich ohne Unterschied in alles, wo es nur etwas zu tun gibt, und sind wie ohne Leben, wenn sie ohne unruhige Bewegung sind. In negotiis sunt, negotii causa.2 Sie suchen Geschäfte, um geschäftig zu sein. Das geschieht nicht sowohl deswegen, weil sie gehen wollen, sondern weil sie sich nicht ruhig halten können; nicht mehr und nicht weniger, wie ein von der Höhe herabgewälzter Stein sich so lange fortbewegt, bis er die Tiefe erreicht hat. Beschäftigung ist für eine gewisse Art Leute ein Zeichen der Geschicklichkeit und Würde. Ihr Geist sucht Ruhe in der Schaukel wie die Kinder in der Wiege. Sie können sich rühmen, gegen ihre Freunde ebenso dienstfertig als sich selbst überlästig zu sein. Niemand verteilt sein Geld unter andere, jedermann seine Zeit und sein Leben. Mit nichts in der Welt sind wir so verschwenderisch als mit diesen Dingen, womit allein zu geizen nützlich und löblich wäre. Ich denke hierin ganz verschieden. Ich lebe in mich selbst gekehrt, wünsche gewöhnlich nur schwach, was ich wünsche, und wünsche wenig. So beschäftige und verwende ich mich auch selten und gleichmütig. Alles, was andre wollen und lenken, wollen sie mit Heftigkeit und Gewalt. Es gibt auf dem Wege des menschlichen Lebens der schlimmen Stellen so viel, daß man um größerer Sicherheit willen nur leicht und oberflächlich auftreten muß; daß es besser ist, hinüberzugleiten als einzusinken. Die Wollust selbst ist schmerzhaft in ihrer Tiefe:

 

Incedis per ignes

Suppositos cineri doloso.3

 

Der Rat von Bordeaux erwählte mich zum Maire seiner Stadt, als ich fern von Frankreich und noch ferner von solchen Gedanken war. Ich verbat es. Man belehrte mich aber, daß ich unrecht habe, und der Befehl des Königs kam hinzu. Es ist ein Amt, das um so herrlicher scheinen muß, weil dabei kein anderer Gehalt oder Gewinn ist als die Ehre der Verwaltung. Es dauert zwei Jahr, kann aber durch eine neue Wahl verlängert werden, was jedoch selten geschieht. Bei mir geschah es und war vorher nur zweimal geschehen. Vor einigen Jahren dem Herrn de Lansac und neuerdings dem Herrn von Biron, Marschall von Frankreich, an dessen Stelle ich kam. Mir folgte Herr von Matignon, gleichfalls Marschall von Frankreich. Ich war ganz ruhmselig über eine solche edle Genossenschaft.

 

Uterque bonus pacis bellique minister.4

 

Das Glück wollte durch diesen sonderbaren Umstand, den es selbst veranlaßte und der gar nicht unbedeutend war, teil an meiner Erhebung nehmen. Denn Alexander wies die Gesandten von Korinth, die ihm die Bürgerschaft ihrer Stadt antrugen, verächtlich ab; als sie ihm aber vorstellten, auch Bacchus und Herkules ständen auf ihrer Rolle, nahm er das Anerbieten mit freundlichem Dank an.

Bei meiner Ankunft gab ich mich treu und gewissenhaft, so wie ich mich fühle und wie ich bin, zu erkennen, ohne Gedächtnis, ohne wachsamen Fleiß, ohne Erfahrung und ohne starke Tätigkeit, so auch ohne Haß, ohne Ehrsucht, ohne Geldgeiz und ohne Gewalttätigkeit; damit die Bürger richtig unterrichtet wären und wüßten, was sie von meiner Anführung zu erwarten hätten. Und weil die Kenntnis von meinem seligen Vater und sein ehrenvolles Andenken sie allein zu diesem Schritt gebracht hatte, so fügte ich mit klaren Worten hinzu, daß es mir sehr leid tun sollte, wenn irgend etwas einen so starken Eindruck auf meinen Willen machte, als ehedem ihre Angelegenheiten und ihre Stadt auf den seinigen gemacht hätten, während er solche in ebender Stelle, wozu sie mich berufen, regierte. Ich erinnerte mich, ihn in meiner Kindheit als einen alten Mann gesehen zu haben, dessen Seele gar sehr durch die öffentlichen Geschäfte hin und her getrieben wurde; der die sanfte Luft seines Hauses vergaß, wo ihn die Schwäche seiner Jahre schon lange Zeit vorher hingeheftet hatte; der seiner Haushaltung vergaß und seiner Gesundheit und gewiß sein Leben nicht achtete, das er in ihrem Dienst auf langen und mühsamen Reisen beinahe verloren hätte. Aber so war er, und diese Art zu denken entstand bei ihm aus einer großen natürlichen Güte des Herzens. Ich habe niemals eine liebreichere, menschenfreundlichere Seele gekannt. Diese Art zu handeln und zu leben, die ich an einem andern rühme und preise, mag ich selbst nicht gern befolgen, und bin darüber nicht ohne Entschuldigung. Er hatte sagen gehört, man müsse sein Selbst dem Nächsten zuliebe vergessen, und das Einzelne komme gegen das Ganze in keine Betrachtung.

Der größte Teil aller Regeln und Vorschriften der Welt nimmt diese Wendung, um uns aus unserer Ruhe, auf öffentliche Stellen, zum Dienst der bürgerlichen Gesellschaft zu treiben. Sie meinen, was Rechtes getan zu haben, wenn sie uns von uns selbst abwendig machen und zerstreuen, in der Voraussetzung, daß wir nur zu fest an uns selbst hielten, durch ein zu natürliches Band, und haben nichts versäumt, was zu diesem Behuf gesagt werden konnte. Denn es ist für die Weisen nichts Neues, die Dinge so zu predigen, wie sie nützlich, nicht wie sie eigentlich an und für sich sind. Die Wahrheit hat bei uns ihre Hindernisse, ihre Beschwerden und ihre Unvertragsamkeit. Wollen wir uns nicht oft betrügen, so müssen wir oft betrügen, die Augen verbinden und unsern Verstand betäuben, um solche zu berichtigen und zu verbessern. Imperiti enim judicant, et qui frequenter in hoc ipsum fallendi sunt, ne errent.5 Wenn sie uns vorschreiben, drei, vier, fünfzig Rangordnungen von Dingen lieber zu haben als uns selbst, so ahmen sie die Kunst der Bogenschützen nach, welche, um einen gewissen Punkt zu erreichen, weit über die vorgesetzte Grenze wegzielen. Wer ein krummes Stück Holz gerademachen will, biegt es nach der gegenseitigen Richtung.

Ich bin der Meinung, man habe im Tempel der Pallas, so wie bei allen übrigen Religionen, äußerliche anscheinende Mysterien gehabt, die man dem Volke zeigte, und andere geheimere und erhabenere Mysterien, welche nur den Eingeweihten kund gemacht wurden. Es ist wahrscheinlich, daß in diesen auch der eigentliche wahre Punkt der Freundschaft angegeben war, die man sich selbst schuldig ist; nicht jener falschen Freundschaft, welche uns den Ruhm, die Gelehrsamkeit, den Reichtum und dergleichen Dinge wie Glieder unseres Wesens mit übermäßiger, unbegrenzter Selbstliebe umfassen läßt; noch einer schwachen, törichten Freundschaft, wobei es geht wie bei dem Efeu, der die Wände verdirbt, an welche er sich heftet, sondern einer heilsamen, vernünftigen Freundschaft, die gleich nützlich und angenehm ist. Wer ihre Pflichten kennt und ausübt, hat wirklichen Sitz im Rat der Musen, hat die Spitze der menschlichen Weisheit und unserer Glückseligkeit erstiegen. Dieser, weil er genau weiß, was er sich selbst schuldig ist, findet in seiner Rolle, daß er den Gebrauch anderer Menschen und der Welt auf sich anwenden muß, und um das zu können, der öffentlichen Gesellschaft die Dienste und Pflichten zu leisten hat, die ihm obliegen. Wer ganz und gar nicht für andere lebt, lebt nur für sich. Qui sibi amicus est, scito hunc amicum omnibus esse.6 Die hauptsächlichste Pflicht, welche wir auf uns haben, besteht darin, daß ein jeder sich wohl betrage. Darum sind wir hier. So wie derjenige, welcher vergäße, selbst wohl und heilig zu leben und damit seine Schuldigkeit getan zu haben glaubte, wenn er andere dahin wiese und führte, ein Narr wäre, ebenso schlägt derjenige, nach meiner Meinung, einen ganz falschen Weg ein, welcher versäumt, für sich selbst ruhig und glücklich zu leben und sein Leben nur zum Dienst anderer verwendet.

Ich will damit nicht, daß man den Ämtern, welche man übernimmt, Aufmerksamkeit, Mühwaltung, Worte und Schweiß, ja selbst im Notfall sein Blut versagen soll:

 

Non ipse pro caris amicis,

Aut patria, timidus perire.7

 

Aber es muß nur zufälliger-und erborgterweise geschehn, so daß der Geist ruhig und kräftig bleibt, nicht untätig, jedoch ohne Verdruß und Leidenschaftlichkeit. Tätigkeit an sich selbst kostet dem Geist so wenig, daß er sogar im Schlaf tätig ist. Aber man muß ihn mit Behutsamkeit in Tätigkeit setzen, denn der Körper trägt die Lasten mit, die man dem Geist auflegt, gerade nach ihrem Gewicht. Der Geist vergrößert und erschwert solche oft auf seine Kosten, indem er solche nach eigenem Gefallen ausdehnt. Man verrichtet ähnliche Dinge mit verschiedener Anstrengung und verschiedener Willensäußerung. Eins tun und das andre nicht lassen. Wie viele Menschen wagen sich nicht täglich in Kriege, die sie nichts angehen, und laufen und ringen nach den Gefahren der Schlachten, deren Verlust ihnen den nächsten Schlaf nicht beunruhigen wird? Ein anderer ist in seinem Hause außer aller Gefahr, die er nicht einmal mit anzusehen gewagt hätte, viel heftiger besorgt über den Ausgang dieses Krieges, und beunruhigt seine Seele weit mehr damit als der Soldat, welcher darin Leib und Leben wagt. Ich habe mich mit öffentlichen Ämtern befaßt, ohne mich darüber selbst nur einen Nagel breit aus dem Gesicht zu verlieren, und mich andern geben können, ohne mich mir selbst zu nehmen. Lebhaftigkeit und Heftigkeit des Verlangens hindert die Ausführung dessen, was wir übernehmen, mehr, als es solche befördert. Es erfüllt uns mit Ungeduld nach dem Ausgang, der entweder widrig sein oder sich verzögern kann, und mit Bitterkeit und Argwohn gegen diejenigen, mit welchen wir zu tun haben. Wir führen niemals eine Sache wohl, welche uns ängstlich im Kopfe liegt und treibt:

 

Male cuncta ministrat

Impetus.8

 

Wer dabei nichts anwendet als kalten Verstand und Geschicklichkeit, kommt weit leichter zurecht. Er verstellt sich, biegt ein, gibt nach mit Leichtigkeit, so wie es die Gelegenheit verlangt. Er harrt, ohne sich zu quälen, ohne sich zu betrüben, und ist fertig und bereit zu einem neuen Unternehmen. Ein solcher Mann hält immer den Zügel fest in der Hand. Der hingegen, welchen die Heftigkeit und Gewalt seiner Absicht berauscht, begeht notwendigerweise viel Unbesonnenheit und Ungerechtigkeit. Die Gewalt seines Verlangens reißt ihn fort. Es sind gewagte Bewegungen, die, wenn das Glück nicht viel dabei tut, nichts fruchten. Die Philosophie verlangt, daß wir bei Bestrafung der empfangenen Beleidigung allen Zorn beiseite setzen. Nicht damit die Rache geringer sei, sondern vielmehr im Gegenteil treffender und wichtiger, welches nach ihrer Meinung durch Heftigkeit vermindert würde. Nicht nur macht der Zorn, daß wir dunkel sehen, sondern, an sich selbst schon, ermüdet er die Arme desjenigen, welcher straft. Sein Feuer lähmt und verzehrt alle Kraft. So ergeht es auch der Übereilung. Festinatio tarda est.9 Die Eile schlägt sich selbst ein Bein unter, verwickelt sich und hält sich auf. Ipsa se velocitas implicat.10 Zum Beispiel, nach allem was ich aus der Erfahrung sehe, hat der Geiz keinen größeren Widersacher als sich selbst. Je angestrengter und heftiger er arbeitet, je unfruchtbarer ist er. Gewöhnlicherweise häuft er viel schneller Reichtümer zusammen, wenn er sich hinter das Bild der Freigebigkeit versteckt.

Ein gewisser von Adel, ein sehr redlicher Mann und mein Freund, hätte sich fast den Kopf durch eine zu leidenschaftliche Anstrengung und Tätigkeit in Geschäften eines Prinzen, seines Herrn, verwirrt. Sein Herr schilderte sich selbst gegen mich auf folgende Art: "Ich sehe die Wichtigkeit der Ereignisse so gut wie ein anderer; bei solchen aber, denen nicht mehr zu helfen ist, entschließe ich mich auf der Stelle, sie geduldig zu leiden. Gegen andre treffe ich die nötigen Vorkehrungen, welches ich vermöge der Lebhaftigkeit meines Geistes auf der Stelle tun kann, und erwarte sodann in Ruhe, was daraus werden mag." In der Tat habe ich ihn auch so befunden, daß er bei wichtigen und sehr verwickelten Dingen eine große Sorglosigkeit und Freiheit im Handeln und in Gebärden behauptet. Ich finde ihn viel größer und viel fähiger bei widrigem als bei gutem Geschick. Seine Niederlagen machen ihm mehr Ruhm als seine Siege und seine Trauer mehr als sein Triumph.

Man bemerke nur, daß selbst in solchen Handlungen, die an sich gering und nichtsbedeutend sind, z.B. beim Schachspiel, beim Ballschlagen und dergleichen die gar zu große Emsigkeit und Hitze eines zu heftigen Verlangens nach Sieg, den Geist und die Glieder unmittelbar in Unordnung und Unaufmerksamkeit versetzen. Man verblendet und verwirrt sich selbst. Derjenige, der sich gegen Gewinn und Verlust mit mehr Mäßigkeit beträgt, ist immer bei sich selbst. Je weniger einer beim Spiele hitzig und leidenschaftlich ist, mit desto mehr Vorteil und Sicherheit weiß er es zu lenken.

Im übrigen verhindern wir die Ergreifung und Festhaltung der Seele, wenn wir ihr zuviel auf einmal zu umfassen geben. Einige Dinge muß man ihr bloß vorhalten, andere anheften, noch andere einverleiben. Sie mag immerhin alle Dinge sehen und empfinden, aber nähren muß sie sich nur von sich selbst. Sie muß unterrichtet sein, was sie nur berührt und was eigentlich ihres Seins und Wesens ist. Die Gesetze der Natur lehren uns, was wir genau bedürfen. Nachdem die Weisen uns gesagt haben, der Natur nach sei kein Mensch arm, wohl aber seiner Meinung nach, unterscheiden sich gleichfalls sehr fein die Begierden, welche aus der Natur entstehen, von den Begierden, welche aus der Unordnung unserer Einbildung entspringen. Wünsche, deren Ende wir absehen, sind Werke der Natur, Wünsche aber, die immer vor uns fliehen, die wir nicht erreichen können, sind unser eigenes Werk. Der Armut an Gütern ist leicht abgeholfen, der Armut der Seele unmöglich:

 

Nam si, quod satis est homini, id satis esse potesset,

Hoc sat, erat, nunc, quum hoc non est, qui credimus porro,

Divitias ullas animum mi explere potesse?11

 

Als Sokrates durch seine Stadt eine große Menge Reichtümer, Edelgesteine und kostbares Hausgerät zur Schau herumtragen sah, rief er aus: "O wie viele Dinge, deren ich nicht begehre!" Metrodorus nahm täglich an Nahrungsmitteln nach dem Gewicht nicht mehr zu sich als zwölf Unzen. Epikur noch weniger. Metrokles schlief im Winter bei einer Herde Schafe und im Sommer in den Kreuzgängen der Kirchen. Sufficit ad id natura, quod poscit.12 Cleanthes lebte von seiner Hände Arbeit und rühmte sich, daß Cleanthes, wenn er wollte, noch einen anderen Cleanthes ernähren könnte.

Wenn das, was die Natur ursprünglich und im genauesten Sinne zur Erhaltung unseres Daseins von uns fordert, so gar wenig ist (wie es denn wirklich ist, und wie wir nicht besser ausdrücken können, mit wie wenigem unser Leben erhalten werden kann, als durch die Bemerkung, daß es so wenig sei, daß es durch seine Geringfügigkeit dem Einfluß und den Schlägen des Glücks entgeht), so laß uns die Sorgen für ein Mehreres fahrenlassen, laß uns auch das noch Natur nennen, was den Stand und die Lage eines jeden von uns betrifft; laß uns nach diesem Maße uns selbst schätzen und behandeln. Bis dahin laß uns unsere Rechnungen und Lagerbücher erstrecken, denn mich deucht, daß wir bis dahin wohl zu entschuldigen stehen. Die Gewohnheit ist eine zweite Natur und nicht minder mächtig. Was mir an dem mangelt, woran ich gewohnt bin, das deucht mich, mangele mir wirklich, und mir würde es wirklich ebenso lieb sein, man nehme mir das Leben, als wenn man es mir sehr verkümmerte und mich weit von dem Zustand herabsetzte, in welchem ich seit so langer Zeit lebe. Ich bin nicht mehr in den Jahren, wo ich einen großen Glückswechsel ertragen noch mich an eine neue und ungewohnte Lebensart gewöhnen könnte; nicht einmal an eine reichere. Meine Zeit ist dahin, ein anderer Mensch zu werden. Und wie ich ein großes Glück, wenn es mir zu dieser Zeit in die Hände fiele, beklagen würde, daß es nicht in der Zeit gekommen wäre, da ich es hätte genießen können,

 

Quo mihi fortunam, si non conceditur uti?13

 

ebenso würde ich mich über einen großen Seelenerwerb beklagen. Es ist gewissermaßen besser, niemals als spät ein ehrlicher Mann zu werden oder richtig leben zu lernen, wenn man nicht mehr zu leben hat. Ich, der ich auf meiner Abreise begriffen bin, könnte es gar leicht einem Ankömmling überlassen, was ich durch den Umgang mit der Welt an Klugheit lerne. Das ist Senf, der nach vollendeter Mahlzeit aufgesetzt wird. Was soll ich mit dem Gut, mit welchem ich nichts anfangen kann? Wozu Gelehrsamkeit einem Menschen, der keinen Kopf mehr hat? Es ist Feindseligkeit und Gehässigkeit des Schicksals, wenn es uns Geschenke zuwirft, die uns einen gerechten Ärger verursachen, daß wir solche zu gehöriger Zeit entbehren mußten. Entziehet mir nur euren Arm, ich kann nicht mehr gehen! Von allen Gliedern, welche die Geschicklichkeit hat, ist mir Geduld allein hinreichend. Wozu einem Sänger die Einsicht, eine schöne Diskantstimme zu führen, wenn schon seine Lunge verfault ist? Wozu die Beredsamkeit einem Einsiedler in den Wüsten Arabiens? Zum Fallen braucht es keiner Kunst. Das Ende ergibt sich bei jeder Beschäftigung von selbst. Meine Welt sinkt unter mir weg, meine Form ist verdunstet. Ich gehöre ganz der Vergangenheit und bin verbunden, daran zu haften und meinen Abgang ihr gemäß einzurichten. Ich will dieses hier als ein Beispiel anführen, daß die neue päpstliche Verkürzung des Jahres um zehn Tage mir so spät überkommen ist, daß ich mich nicht recht darein finden kann. Ich bin noch aus den Jahren her, wo man anders rechnete. Ein so alter und langer Gebrauch hält mich fest und will mich nicht loslassen. Ich bin gezwungen, in diesem Stück ein wenig ketzerisch zu denken. Ich bin keiner Neuerung mehr fähig, selbst nicht der Verbesserung. Meine Einbildung wirft sich, trotz meinem guten Willen, immer um zehn Tage vorwärts oder um zehn Tage zurück, und murmelt mir in die Ohren: "Diese Vorschrift geht eigentlich nur die an, welche kommen sollen!" Wenn die Gesundheit selbst, welche so süß ist, zuweilen bei mir einspricht, so ist es mehr, um mir ein Bedauern einzuflößen, als sich mir zu genießen zu geben. Ich weiß nicht mehr, wo ich sie beherbergen soll. Die Zeit verläßt mich, und ohne sie besitzt man nichts. O wie wenig würde ich mir aus diesen großen Wahlwürden machen, die ich in der Welt sehe, zu welchen man nur solche Männer wählt, die auf dem Punkt stehen, davonzugehen! Bei denen man nicht sowohl darauf sieht, wie gut, als wie kurz sie verwaltet werden dürften; bei deren Antritt man schon auf den Hintritt blickt. Kurz, ich bin jetzt hier, diesen Menschen zu vollenden, nicht aber einen neuen daraus zu machen. Durch langen Gebrauch ist mir meine Form wesentlich, mein Schicksal zur Natur geworden. Ich sage also, daß ein jeder von uns Schwächlingen zu entschuldigen ist, wenn er dasjenige, was unter dieses Maß fällt, für das Seinige erachtet. Aber über dieses Maß hinaus ist auch nichts als Verwirrung. Es ist die weiteste Ausdehnung, die wir unsern Rechten erteilen können. Je mehr wir unsere Bedürfnisse und unsere Besitzungen vergrößern, um so mehr stellen wir uns den Schlägen des Glücks und den Widerwärtigkeiten bloß. Die Schranken unserer Wünsche müssen auf ein nachbarliches Ziel eingeengt und verkürzt werden, auf die Bequemlichkeiten dessen, was uns am nächsten zur Hand liegt. Und übrigens muß auch ihr Lauf nicht in gerader Linie fortgehen, die immer aus uns hinausführt, sondern in einem Kreise, dessen beide Punkte sich in uns selbst durch eine kurze Rundung berühren und endigen. Alles Treiben, bei welchem diese unerläßliche und wesentliche Bedingung nicht stattfindet, zum Beispiel das Treiben des Geizigen, des Ruhmsüchtigen und so vieler andern, welche gerade auslaufen und deren Gang sie immer vorwärts führt, ist ein irriger, kränklicher Betrieb.

Die meisten unserer Beschäftigungen sind Gaukelpossen. Mundus universus exercet histrioniam.14 Man muß seine Rolle gehörig vorstellen, aber wie die Rolle einer erborgten Person. Man muß aus dem Federbusch, aus Stern und Band keine wesentliche Sache machen noch aus dem Fremden etwas Eigentümliches. Wir wissen nicht zwischen Haut und Hemd zu unterscheiden. Es ist schon genug, das Gesicht mit Mehl weiß zu machen, die Brust bedarf dessen nicht. Ich kenne Leute, die sich in ebenso viele neue Gestalten und Wesen umformen und verwandeln, als sie Ämter übernehmen; die selbst ihrem Herzen und Eingeweiden den Hahnenkamm aufsetzen und ihre Würde bis auf ihren Leibstuhl mitnehmen. Ich kann es ihnen nicht in den Kopf bringen, daß sie das Hutabziehen, welches ihnen gilt, von demjenigen unterscheiden, welches ihrem Amte, ihrem Gefolge oder auch ihrem Maultiere widerfährt. Tantum se fortunae permittunt, etiam ut naturam dediscant.15 Sie blähen und schwellen ihre Seele und ihren natürlichen Dünkel nach dem Verhältnis auf, wie ihr Richterstuhl gesetzt ist. Der Maire und Montaigne waren allemal zwei auffallend verschiedene Personen. Wenn jemand Advokat oder Finanzier ist, muß er darum den Betrug nicht verkennen, der bei solchem Gewerbe stattfindet. Ein ehrlicher Mann ist für die Laster oder Dummheiten seines Standes nicht verantwortlich und muß dennoch die Ausübung desselben nicht von sich ablehnen. Es ist einmal die Art und Weise seines Landes und gibt ihm etwas einzubrocken. Man muß von der Welt leben und sie nutzen, wie man sie findet. Aber der Verstand eines Kaisers muß über sein Kaisertum hinausgehen und es ansehen und betrachten als eine fremde Zufälligkeit. Er muß sein Ich besonders zu genießen verstehen und sich, wie Hans und Peter, wenigstens sich selbst mitzuteilen wissen.

Ich kann mich nicht tief und völlig auf etwas einlassen. Wenn mich mein Wille einer Partei übergibt, verbinde ich mich nicht so gewaltsam mit ihr, daß mein Verstand darunter litte. Bei den gegenwärtigen Verwirrungen unseres Staates hat mich mein Vorteil ebensowenig die guten Eigenschaften unsrer Gegner verkennen lassen als die tadelhaften Eigenschaften derjenigen, mit denen ich es halte. Sie vergöttern alles, was auf ihrer Seite ist. Ich hingegen entschuldige nicht einmal die meisten Dinge, welche auf der meinigen vorgehen. Eine schöne Schrift verliert bei mir dadurch nichts von ihren Vorzügen, daß sie gegen mich zu Gericht eingegeben worden. Insofern es nicht auf den Streitknoten ankommt, habe ich mich immer im Gleichgewicht und Gleichgültigkeit erhalten. Neque extra necessitates belli, praecipuum odium gero.16 Worüber ich mir um so mehr wohl will, weil ich sehe, daß man gewöhnlich durch das Gegenteil fehlt. Utatur motu animi, qui uti ratione non potest.17 Diejenigen, welche ihren Zorn und ihren Haß weiter erstrecken, als der Zank reicht, wie die meisten zu tun pflegen, zeigen, daß solche aus andern Quellen und besondern Ursachen entspringen; geradeso, wie wenn einem Menschen noch das Fieber anklebt, nachdem er von einem Geschwür geheilt ist; was ein Merkzeichen ist, daß das Fieber von geheimen Ursachen entstanden ist. Es rührt daher, daß sie nicht bloß der Sache als Sache, und insofern sie allgemein ist und das Interesse aller und des Staats betrifft, feind sind; sondern sie bloß hassen, insofern ihnen solche allein weh tut. Das ist die Ursache, weswegen sie sich besonders entrüsten und über Gerechtigkeit und öffentliches Recht hinausgehen. Non tam omnia universi, quam ea quae ad quemque pertinere, singuli carpebant.18 Ich wünsche, daß der Vorteil auf unserer Seite sein möge, aber ich gerate nicht in Wut, wenn er's nicht ist. Ich halte mich stark an die vernünftigste Partei, aber ich mache mir kein besonderes Geschäft daraus, daß man mich vor allen andern als einen Feind des Gegenteils und über die allgemeinen Grundsätze hinaus betrachte. Ich mißbillige diese unschickliche Meinung aufs äußerste: "Er gehört zur Ligue, denn er bewundert die Geschicklichkeit des Prinzen von Guise. Er staunt über die Tätigkeit des Königs von Navarra, er ist also ein Hugenott. Er hat dieses oder jenes gegen die Sitten des Königs einzuwenden, er ist also in seinem Herzen ein Aufrührer." Ich gestatte nicht einmal der Obrigkeit, daß sie ein Buch mit Recht verurteilt habe, weil es einen Ketzer unter den besten Dichtern unserer Zeit aufführte. Dürfen wir nicht mehr von einem Diebe sagen, er sei ein fixer Kerl? Muß ein Mädchen, das sich einmal verleiht, deswegen eine Metze heißen? Nahm man in den alten weiseren Zeiten dem Marcus Manlius den prächtigen Titel Capitolinus wieder ab, den man ihm zuvor als Erhalter der Religion und öffentlichen Freiheit erteilt hatte? Erstickte man das Andenken an seine Freigebigkeit, an seine Heldentaten und die kriegerischen Belohnungen, die sich seine Tapferkeit erworben hatte, weil er nachher, trotz den Gesetzen seines Landes, nach der königlichen Würde strebte? Wenn die Menschen einen Widerwillen gegen einen Advokaten bekommen, so leugnen sie ihm tags darauf seine Beredsamkeit ab. Ich habe anderwärts über den Eifer gesprochen, welcher ehrliche Leute zu solchen Fehlern verleitet. Ich meinesteils kann wohl sagen: "Dieses macht er sehr schlecht und jenes gut." So verlangt man bei den widrigen Vorhersagungen oder Auskaufen der Sachen, daß jedweder blind und dumm an seiner Partei hängen soll; daß unser Urteil und unsere Überzeugung nicht sowohl der Wahrheit diene als vielmehr den Entwürfen unserer Wünsche. Ich möchte lieber auf der Gegenseite ausschweifen, aus Furcht, daß meine Wünsche mich bestächen. Dazu kommt, daß ich meinen Hoffnungen wenig traue.

Ich habe zu meiner Zeit eine außerordentliche Leichtgläubigkeit des Volks gesehn, sich törichterweise in seinen Hoffnungen und Vertrauen bei der Nase fassen zu lassen, an welcher Seite und Stelle es seinen Führern gut gedünkt hat, obwohl diese sich hundertmal hintereinander verrechneten, und dabei allen vorgespiegelten Gaukeleien und Traumgebilden zu glauben. Ich wundere mich nicht mehr über diejenigen, welche sich von den Affereien des Apollonius von Thyane und Mahomets ankörnen ließen. Ihr Geist und Gefühl wird ganz und gar durch ihre Leidenschaft erstickt. Ihre Überlegung hat weiter keine Wahl als unter solchen Dingen, die sie anlachen und ihrer obwaltenden Sache einen schönen Schein geben. Dies habe ich durchgängig bei dem ersten Anfalle unseres Staatsfiebers bemerkt. Der andere Anfall, welcher nachher sich geäußert und ihn nachgeahmt hat, ist noch weiter gegangen. Daraus schließe ich, daß es eine von den Volksirrtümern unzertrennliche Eigenschaft sei. Nach der ersten Meinung, welche ausbricht, drängen und stoßen sich alle und folgen Wind und Wellen. Man gehört nicht zum Ganzen, wenn man seine eigene Meinung für sich behält, wenn man nicht mit der ganzen Flotte segelt. Aber wahrhaftig, man tut der gerechten Partei unrecht, wenn man sie durch Heuchler verstärken will. Dawider habe ich mich immer laut erklärt. Dies Mittel kann nur schwachen Köpfen gefallen. Gesunde und helle schlagen nicht nur einen ehrlicheren, sondern auch einen gewisseren Weg ein, um ihren Mut zu erhalten und sich bei widrigem Geschicke zu trösten.

Der Himmel hat keine so große Zwistigkeit gesehen als die des Cäsar und Pompejus und wird in aller Zukunft keine ähnliche erblicken. Gleichwohl glaube ich an diesen beiden edlen Seelen eine außerordentliche Mäßigkeit des einen gegen den andern zu erkennen. Es war ein Neid über Ehre und Herrschsucht, der sie niemals bis zum wütenden, unvernünftigen Hasse trieb und beständig frei von Heimtücke und Verleumdung blieb. In ihrem heftigsten Streben entdecke ich noch immer eine gewisse Hochachtung des einen gegen den andern, und urteile-demnach, daß, wenn es ihnen möglich gewesen wäre, jeder von ihnen gewünscht hätte, lieber ohne als mit dem Untergang seines Nebenbuhlers zu seinem Ziele zu gelangen. Wie ganz anders verhielten sich Marius und Sulla. Das erwäge man doch! Man muß sich nicht blindlings von seinem Vorteile und seinen Neigungen hinreißen lassen. Wie ich in meiner Jugend mich dem Fortgang der Liebe widersetzte, die mir übermächtig zu werden schien, und durch Überlegung herausbrachte, es würde mir nicht angenehm sein, wenn sie mich am Ende zwänge und ganz unter ihre Gewalt brächte, so mache ich es bei allen andern Veranlassungen, wo meine Neigung sich zu heftig anläßt. Ich hänge mich an ihr Gegengewicht, sobald ich sehe, daß sie untertaucht und sich in ihrem Wein berauscht. Ich weigere mich, ihr Vergnügen so weit zu nähren, daß ich solche nicht mehr ohne blutigen Kampf zurückbringen könnte. Die Seelen, welche aus Stumpfsinn eine Sache nur halb sehen können, genießen des Glücks, daß ihnen schädliche Dinge minder Kummer machen. Es ist eine geistige Armut, welche ein Ansehen von Gesundheit hat, und zwar von einer solchen Gesundheit, die der Philosophie ganz und gar nicht verächtlich ist. Gleichwohl ist es nicht schicklich, solche Weisheit zu nennen, wie wir oft tun. Auf diese Weise verspottete jemand, vor alters, den Diogenes, welcher im tiefen Winter ganz nackt eine Schneegestalt zum Beweis seiner Geduld umarmte. Als jener diesen darüber betraf, sagte er zu ihm: "Friert dich jetzt sehr?" "Ganz und gar nicht," antwortete Diogenes. "Was glaubst du denn," fragte der andere, "Schweres und Musterhaftes zu tun?" Um die Standhaftigkeit zu messen, muß man durchaus wissen, wie weit das Leiden geht.

Aber die Seelen, welche die widerwärtigen Zufälle und die Schläge des Glücks in ihrer ganzen Stärke und Widerwärtigkeit auffassen, welche solche in ihrer natürlichen Bitterkeit, in ihrer Last und ihrem Gewicht erwägen und kosten, müssen ihre ganze Geschicklichkeit aufbieten, ihrer Ursache zu entrinnen, ihren Einfluß abzuwenden. Was tat der König Cotys? Er bezahlte das schöne und reiche Silbergeräte, das man ihm dargebracht hatte, sehr großmütig; weil es aber außerordentlich zerbrechlich war, zerbrach er es auf der Stelle selbst, um sich beizeiten eine so leichte Veranlassung des Zürnens gegen seine Bedienten zu benehmen. Auf ebendiese Weise habe ich ihnen verhütet, daß meine Angelegenheiten nicht in Unordnung gerieten und dahin getrachtet, daß meine Güter nicht mehr an die Güter meiner Verwandten oder solcher Personen grenzten, mit denen ich in genauer Freundschaft stehe, woraus sonst gewöhnlich Anlaß zu Kaltsinn und Ungeselligkeit entspringt. Ehedem liebte ich Glücksspiele in Karten und Würfeln. Seit langer Zeit habe ich mich davon losgesagt; bloß deswegen, weil, so gelassen ich auch bei meinem Verlust aussehen mochte, ich gleichwohl darüber innerlich Verdruß vermerkte. Ein Mann von Ehre, der keine Beleidigung mit kaltem Blut erdulden, keine kahle Entschuldigung für Ersatz und Vergütung annehmen darf, muß ja alles weitläufige Wortgezänk vermeiden. Ich fliehe alle mürrischen und zänkischen Gemüter wie die Pest, und alle Gespräche, welche ich nicht ohne Teilnahme und mit kaltem Blut behandeln kann, darein mische ich mich nicht, wenn mich nicht Pflicht dazu zwingt. Melius non incipient, quam desinent.19 Die sicherste Art und Weise ist also, sich vorzubereiten, ehe die Gelegenheit eintritt. Ich weiß wohl, daß einige Weise einen andern Weg eingeschlagen und sich nicht gefürchtet haben, sich über verschiedene Gegenstände lebhaft zu zanken und zu streiten. Solche Leute waren ihrer Kräfte versichert, in welcher Versicherung sie sich vor jeder feindlichen Macht gedeckt hielten und allem Nachteil die Stärke der Geduld entgegensetzten:

 

Velut rupes, vastum quae prodit in aequor,

Obvia ventorum furiis, expostaque ponto,

Vim cunctam atque minas perfert caelique marisque,

Ipsa immota manens.20

 

Laß uns diese Beispiele nicht über den Haufen werfen wollen, wir würden damit nicht zurechtkommen. Sie bestehen fest darauf und ohne sich zu beunruhigen, den Untergang ihres Landes anzusehen, welches ihren ganzen Willen besaß und beherrschte. Für unsere gewöhnlichen Seelen wird dazu zu viel Kraft und Anstrengung erforderlich sein. Cato verließ darüber das edelste Leben, das jemals gelebt ward. Wir andern kleinen Seelen müssen den Sturm schon von fern fliehen, mehr auf das Gefühl als auf die Geduld achten und den Schlägen ausweichen, welche wir nicht abwehren können. Als Zeno den Chremonides, einen Jüngling, welchen er liebte, sich nähern sah, um sich bei ihm niederzusetzen, stand er plötzlich auf, und als ihn Cleanthes nach der Ursache dieses Aufstehens fragte, versetzte er: "Die Ärzte verordnen gegen jede Geschwulst hauptsächlich Ruhe und verbieten alle Bewegungen." Sokrates sagt nicht: "Ergebet euch nicht den Reizen der Schönheit, widersteht ihr, zwinget euch zum Widerstand!", sondern: "Fliehet sie, entfernt euch aus ihrem Gesicht und ihrer Nähe: hütet euch vor ihr als vor einem starken Gifte, welches schon von ferne trifft und wirkt." Und sein guter Jünger, wenn er die seltenen Vollkommenheiten des großen Cyrus erdichtet oder erzählt (nach meiner Meinung erzählt er solche viel mehr, als er sie erdichtet), malt ihn als mißtrauisch auf seine Stärke gegen die göttlichen Schönheitsreize der berühmten Panthea, seiner Gefangenen, und überläßt den Besuch und die Bewachung derselben einem andern, dem nicht so viel freistand als ihm. Ebenso der Heilige Geist lehrt uns beten: Führe uns nicht in Versuchung! Wir beten nicht, daß unsere Vernunft durch unsere Begierden unbekämpft bleibe und obsiege; sondern daß solche selbst nicht einmal auf die Probe gestellt werden, daß wir nicht einmal in den Zustand geraten mögen, die Annäherung, Verführung und Versuchung zur Sünde auszuhalten, und bitten unsern Herrn, unser Gewissen ruhig zu erhalten, fern und völlig befreit von der Annäherung zum Bösen.

Diejenigen, welche sagen, daß sie die Leidenschaft der Rache oder irgendeine andere Art von Leidenschaft besiegt haben, sagen oft die Wahrheit in Betracht der Sache, wie sie ist, aber nicht in Betracht dessen, wie sie war. Sie sagen uns das, wenn die Ursache ihres Irrtums durch Länge der Zeit hinfällig geworden ist. Geht man aber zurück, führt man die Ursachen auf die Zeit ihrer Entstehung zurück, so sitzen sie auf dem trocknen. Wollen sie, daß ihr Fehler geringer werde, weil er älter ist, und daß ein ungerechter Anfang eine gerechte Folge habe? Wer seinem Vaterland das Beste wünscht wie ich, ohne deswegen sich abzuhärmen oder einen Leib voller Schwären zu haben, dem wird es höchst unangenehm sein, ohne dabei aus der Haut zu fahren, wenn er dasselbe mit dem Untergang bedräut oder dessen längere Dauer verderblich findet. Unglückliches Schiff, das die Winde, die Wellen und der Steuermann selbst so jämmerlich von der sichern Fahrt hin und her werfen!

 

In tam diversa, magister,

Ventus, et unda, trahunt.21

 

Wer nicht nach der Gunst der Fürsten als nach einer Sache lechzt, deren er nicht entbehren kann, achtet nicht viel auf die Kälte ihres Empfangs noch ihrer Mienen, noch auf die Unbeständigkeit ihres Wohlwollens. Wer nicht über seinen Kindern oder über seinen Ehrentiteln mit sklavischer Anhänglichkeit brütet, kann immer nach ihrem Verlust ganz gemächlich leben. Wer das Gute hauptsächlich in Rücksicht auf sein inneres Vergnügen tut, wird darüber nicht aus seiner Fassung kommen, wenn er sieht, daß die Menschen nicht nach Verdienst von seinen Handlungen urteilen. Gegen solche Übel ist ein Quentlein Geduld mehr als hinlänglich. Ich befinde mich wohl bei diesem Rezept. Es erleichtert mir dadurch gleich anfangs alle Übel und Beschwerden. Mit geringer Anstrengung besänftige ich alle Aufwallungen der Gemütsbewegungen und lasse die Dinge, welche mir lästig zu werden beginnen, dahinfahren, bevor sie mich mit sich fortreißen. Wer es nicht hindern kann, vom Lande zu stoßen, wird auch die Macht der Wellen nicht hindern. Wer seine Tür nicht verschließen kann, kann auch den Eingang nicht versagen. Wer mit dem Anfang nicht zurechtkommen kann, wird mit der Beendigung einer Sache noch weniger zurechtkommen. Wer die Erschütterung nicht verhindern kann, kann auch nicht den Einsturz verhindern. Etenim ipsae se impellunt, ubi semel a ratione discessum est; ipsaque sibi imbecillitas indulget, in altumque provehitur imprudens, nec reperit locum consistendi.22 Ich fühle beizeiten die leichten Winde, welche in meinem Inwendigen um mich her fächeln und lispeln und Vorläufer des Sturms sind.

 

Ceu flamina prima

Cum deprensa fremunt silvis, et caeca volutant

Murmura, venturos nautis prudentia ventos.23

 

Wievielmal habe ich mir ein offenbares Unrecht angetan, um dem Wagestück zu entgehen, das mir unberufene Richter nach einem Jahrhunderte von Verdruß und heimlichen schmutzigen Schlichen, die meiner Natur noch mehr zuwider sind als Folter und Feuer, zufügen könnten? Convenit a litibus, quantum licet, et nescio an paulo plus etiam, quam licet, abhorrentem esse: Est enim non modo liberale, paululum nonnunquam de suo jure decedere, sed interdum etiam fructuosum.24 Wenn wir recht vernünftig wären, sollten wir uns ebenso freuen und rühmen, wie ich eines Tages sehr aufrichtig von einem Kind von großem Hause hörte, das alle Menschen, die es um sich sah, treuherzig aufforderte, sich mit ihm darüber zu freuen, daß seine Mutter ihren Prozeß verloren habe, als wäre sie ihres Hustens oder ihres Fiebers oder sonst einer verdrießlichen Sache losgeworden. Selbst die Begünstigungen, welche das Glück mir durch Verwandtschaft und Bekanntschaft mit solchen Menschen, die im höchsten Ansehen stehen, gewährt haben könnte, habe ich sehr nach meiner Überzeugung angesehen und aufs genaueste vermieden, solche zum Nachteile anderer anzuwenden, und keinen größeren Gebrauch davon gemacht, als mich bei meinen Rechten ohne weiteres zu erhalten. Mit einem Wort: ich habe auf meiner Lebensreise dahin gestrebt, zur guten Stunde sei es gesagt, daß ich bis diesen Augenblick in Ansehung aller Prozesse noch Jungfrau bin, ob ich gleich oft sehr lockenden Anlaß gehabt hätte, sehr gerechte Prozesse anzufangen, wenn es mir beliebt hätte, dazu meine Ohren zu leihen. Ebenso jungfräulich bin ich in Rücksicht auf allen Zank und habe bald ein hübsches langes Leben hingebracht, ohne zu schelten oder gescholten zu werden und ohne mich anders als bei meinem Namen nennen zu hören. Eine seltene Gnade des Himmels!

Unsere größten Beunruhigungen entstehen aus lächerlichen Gründen und kommen von ebensolchen Triebfedern. Wieviel Unheil begegnete nicht unserm letzten Herzog von Burgund durch den Streit über einen Karren mit Schafshäuten. War nicht der Stich eines Petschaftes die erste und vornehmste Ursache der entsetzlichsten Verheerung, welcher dieser Erdball jemals erlitten hat. Denn Pompejus und Cäsar sind nur Abkömmlinge zweier andern, und ich habe zu meiner Zeit gesehen, daß die weisesten Köpfe dieses Königreichs sich mit großer Feierlichkeit und auf öffentliche Kosten versammelt haben, um über eine Vereinigung zu ratschlagen, deren wahre Entscheidung gleichwohl hauptsächlich von der Willkür eines Damenkabinetts und von dem Eigensinn dieses oder jenes Weibleins abhing. Die Poeten, welche Griechenland und Asien wegen eines Apfels in Feuer und Flamme geraten ließen, sahen diese Wahrheit trefflich ein. Man betrachte doch, warum jener seine Ehre und sein Leben auf die Spitze des Schwerts und des Dolchs setzt. Man frage ihn, woher seine Wut entsteht. Er kann nicht, ohne zu erröten, darauf antworten; so eitel und geringfügig ist die Veranlassung.

Beim Einschiffen kam es nur auf eine kleine Grille an; nach der Abfahrt aber faßt jedes Segel Wind. Nunmehr kommt es auf große Zurüstungen und Reisebedürfnisse an, und alles wird schwerer und wichtiger. Es ist viel leichter, nicht einzusteigen als wieder herauszusteigen. Man muß grade das Widerspiel vom Schilfrohr halten, welches anfangs einen langen geraden Halm erzeugt, hernach aber, gleichsam als ob es sich durch schnelles Wachstum erschöpft hätte, setzt es Schüsse und dicke Knoten als Ruhepunkte, welche beweisen, daß es nicht mehr die vorige Kraft und Beständigkeit hat. Man muß vielmehr leise und kalt beginnen und seinen Atem und seine Kraftschwinge bis zum wichtigsten Punkt und bis zur Vollendung des Geschäfts aufsparen. Wir leiten die Geschäfte bei ihrem Anfang und haben sie in unserer Gewalt. Nachher aber, wenn sie erst in Schwung gesetzt sind, leiten sie uns und reißen uns hin, dann müssen wir ihnen folgen. Unterdessen ist hiermit nicht gesagt, daß mich dieser Rat von aller Schwierigkeit befreit habe und daß ich nicht oft alle Hände voll zu tun gehabt hätte, meine Leidenschaften zu zügeln. Sie fügen sich nicht immer unter das Maß der Veranlassung und treten oft heftig und hitzig genug ein. Gleichwohl kann man aus diesem Rate guten Nutzen und Früchte ziehen. Nur diejenigen nicht, welche beim Richtighandeln sich mit keinem Nutzen, keiner Frucht begnügen, wenn dabei nicht Ruhm und Ehre einzuernten ist. Denn im Grunde macht ein jeder über Nutzen und Frucht die Berechnung nach seiner eignen Weise. Ihr seid zufriedener, aber nicht höher geschätzt, wenn ihr euch reiflich besinnt, bevor ihr beginnt und ehe die Materie des Handelns sichtbar war. Indessen ist auch, nicht nur in dieser Sache, sondern in allen übrigen Pflichten des Lebens, der Weg derjenigen, deren Augenmerk die Ehre ist, sehr verschieden von der Bahn, auf welcher sich diejenigen halten, welche auf Ordnung und Vernunft sehn. Ich finde verschiedene Menschen, welche sich ohne alle Bedächtigkeit wütend in die Schranken stürzen und im Laufe immer matter werden. Wie Plutarch sagt, daß diejenigen, welche aus Blödigkeit nachgebend sind und alles bewilligen, was man von ihnen fordert, auch wieder sehr leicht ihre Zusage vergessen und ihr Wort brechen. So auch diejenigen, welche leicht in Zorn und Zank geraten, hören ebenso leicht wieder auf und werden gut. Eben die Schwierigkeit, welche mich abhält, etwas zu beginnen, würde mich auch treiben, dabei fest zu beharren, wenn ich einmal im Gange und warm geworden wäre. Es ist eine üble Art. Ist man aber einmal auf dem Wege, so muß man fortgehen oder platzen. Beginne mit Kälte, sagte Bias; aber verfolge mit Hitze! Aus dem Mangel der Klugheit verfällt man in den Mangel des Mutes, welcher noch weniger erträglich ist.

Die meisten Verträge nach unsern heutigen Streitigkeiten sind schimpflich und lügenhaft. Wir suchen nur den Dingen einen hübschen Anstrich zu geben und verraten gleichwohl unsere wahren Absichten, deren wir nicht Wort haben wollen. Wir verkleistern die Tatsache. Wir wissen wohl, wie wir es gesagt und gemeint haben, das wissen auch die, die dabeistehen und unsere Freunde, denen wir unsern Vorteil haben zu verstehen geben wollen. Es geschieht auf Kosten unserer Freimütigkeit und auf Kosten der Ehre unserer Tapferkeit, daß wir unsre Meinung ableugnen und in der Falschheit Kaninchenlöcher suchen, um uns zu vertragen. Wir strafen uns selbst Lügen, um uns aus dem Handel zu ziehen, wenn wir andere Lügen gestraft haben. Es kommt nicht darauf an, ob unsere Handlungen oder Worte anders ausgelegt werden können, sondern darauf, daß wir bei unserer wahren, aufrichtigen Erklärung und Deutung beharren, es möge uns auch kosten, was es wolle. Es kommt hier auf Tugend und Gewissenhaftigkeit an. Das sind keine Teile, die man verlarven darf. Solche elende Behelfe und Ausflüchte laßt uns der juristischen Schikane überlassen. Die Entschuldigungen und Genügeleistungen, welche ich täglich machen sehe, um Übereilungen zu beschönigen, kommen mir noch häßlicher vor als die Übereilungen selbst. Besser wäre es, seine Widersacher noch einmal beleidigen, als sich selbst durch solche Vergütung beleidigen. Ihr habt ihm im aufgebrachten Zorn getrotzt, und nun bei kaltem und besserm Verstand wollt ihr ihn besänftigen und schmeicheln. Also leistet ihr eine Genugtuung, die größer ist, als eure Beleidigung war. Ich finde für einen Ehrenmann keine Worte, die so demütigend wären, als wenn er seine Worte zurücknimmt, besonders wenn man ihn zu dieser Zurücknahme zwingt, weil ihm Eigensinn und Halsstarrigkeit noch eher zu übersehen stehn als blöde Feigherzigkeit. Meinen Leidenschaften kann ich ebenso leicht ausweichen, als es mir schwer ist, solche zu mäßigen. Exscinduntur facilius animo, quam temperantur.25 Wer nicht bis zu dieser stoischen Unverwundbarkeit reichen kann, der rette sich beizeiten in den Schoß meiner niedrigen Fühllosigkeit. Was jene Helden aus Tugend taten, dahin suche ich mich durch meine Stimmung zu bringen. Die Gewitter schweben in der mittlern Luft. Die beiden äußern Enden, der Philosoph und der Bauer, treffen in Rache und Glückseligkeit zusammen.

 

Felix, qui potuit rerum cognoscere causas,

Atque metus omnes et inexorabile fatum

Subiecit pedibus, strepitumque Acherontis avari!

Fortunatus et ille, deos qui novit agrestes,

Panaque, Silvanumque senem, Nymphasque sorores.26

 

Alle Dinge sind bei ihrer ersten Entstehung zart und schwach. Gleichwohl muß man ihren Anfang mit offenen Augen betrachten; denn, so wie man an einem Dinge, solange es noch klein ist, das Gefährliche nicht bemerkt, so entdeckt man auch nachher, wenn es angewachsen ist, kein Gegenmittel mehr dawider. Mir wären eine Million Querstriche begegnet, die mir täglich schwerer zu verdauen geworden wären, hätte ich meinem Ehrgeiz den Zügel gelassen, als es mir leicht geworden ist, den natürlichen Hang zu hemmen, der mich dahin leitete:

 

Jure perhorrui

Late conspicuum tollere verticem.27

 

Alle öffentlichen Handlungen sind ungewissen und verschiedenen Auslegungen bloßgestellt, denn gar zu viele Köpfe urteilen darüber. Einige sagten von meiner Bürgermeisterführung (und ich will hier wohl ein Wort darüber sprechen, nicht weil es der Rede wert ist, sondern weil es zu einem Pröbchen meines Betragens in solchen Dingen dienen kann), ich habe mich dabei betragen wie ein Mann, der zu schwer in Bewegung zu setzen ist und sich der Sachen nicht mit gehöriger Wärme annimmt, und die haben gar großen Schein für sich. Ich versuche es, meine Seele und meine Gedanken in Ruhe zu erhalten. Cum semper natura, tum etiam aetate jam quietus.28 Und wenn sie sich zuweilen durch einen starken, tiefen Eindruck in Unordnung bringen lassen, so geschieht das gewiß gegen meinen Willen. Aus dieser natürlichen Untätigkeit muß man gleichwohl keinen Beweis für mein Unvermögen ziehen wollen (denn Mangel an Sorgfalt und Mangel an Verstand sind zwei verschiedene Dinge), noch weniger aber daraus schließen, ich sei unerkenntlich und undankbar gegen die Bürgerschaft gewesen, welche alle äußern Mittel, die sie in Händen hatte, hervorsuchte, mir ihr Wohlwollen zu bezeugen, sowohl bevor sie mich kannte als nachher. Auch tat sie weit mehr für mich, da sie mir mein Amt abermals auftrug, als da sie mir solches zuerst beilegte. Ich will ihr alles mögliche Liebe und Gute. Und gewiß, hätte sich die Gelegenheit dazu gezeigt, so würde ich nichts unterlassen haben, um ihr Dienste zu erweisen. Ich war für sie so tätig als für mich selbst. Es ist eine gute kriegerische, großmütige Bürgerschaft, dabei gleichwohl des Gehorsams und der Zucht fähig, wovon sich ein guter Gebrauch machen läßt, wenn sie gut angeführt wird. Andre sagen, die Zeit meiner Verwaltung sei hingegangen, ohne merkwürdige Spuren zu hinterlassen. Gut das! Man klagt meine Unterlassung zu einer Zeit an, wo fast jedermann des Zuvieltuns überwiesen war. Bei Dingen, die ich mit Entschlossenheit angreife, habe ich ein Ansehen von Mut und Hitze, diese Hitze aber ist eine Feindin der Beharrlichkeit. Wer sich meiner bedienen will, wo ich ihm nützen kann, der gebe mir Geschäfte, wozu Kraft gehört und Freiheit, welche geradewegs und in Kürze ausgeführt werden können. Erfordert die Ausführung lange Zeit, Spitzfindigkeit, viel Mühe und Kunst und krumme Wege, so tut man besser, man wendet sich an einen andern. Alle Ämter, welche wichtig sind, sind deswegen noch nicht schwer. Ich war darauf vorbereitet, mich ein wenig härter anzugreifen, wenn es sehr nötig gewesen wäre. Denn es steht in meinem Vermögen, ein wenig mehr als gewöhnlich und als ich gern tun möchte, zu tun. Soviel ich weiß, versäumte ich kein Geschäft, das meine wohlverstandene Pflicht von mir forderte. Diejenigen, welche der Ehrgeiz unter die Pflichten mischt und ihnen sein Siegel aufdrückt, habe ich leicht vergessen. Da sind solche, welche am meisten in Aug und Ohr zu fallen pflegen und den Menschen zufriedenstellen. Es ist dabei mehr Schein als Gehalt. Die Menschen meinen, man schlafe, wenn man kein Geräusch macht. Meiner Gemütsart ist alles Lärmen und Aufsehen zuwider. Ich ersticke gern eine Unruhe, ohne mich selbst zu beunruhigen, und möchte gern Unordnung bestrafen, ohne mich dabei zu ärgern. Ist es nötig, daß ich in Zorn und Flamme ausbreche, so nehme ich das Ansehen und die Larve an. Meine Sitten sind weichlich und viel mehr kahnicht als sauer. Ich tadle keine Obrigkeit, welche schläft, wenn nur diejenigen, die unter ihrer Aufsicht stehen, ebensogut schlafen als sie. Die Gesetze schlafen auch. Ich, meinesteils, lebe nur ein sanft hingleitendes Leben, schattig und stumm. Neque submissam et abiectam, neque se efferentem.29 Mein Schicksal will es so. Ich bin in einer Familie geboren, welche ohne Geräusch und Aufsehen lebte und seit langem Gedenken nur nach dem Ruhm der Biederkeit strebte. Unsere heutigen Menschen sind dergestalt zu Gewühle und Schimmer gebildet, daß die Güte, die Mäßigkeit, die Billigkeit, die Beständigkeit und dergleichen ruhige dunkle Eigenschaften nicht mehr geachtet werden. Rauhe, ungeschlachte Körper fühlt man bald; zartgeschliffene schlüpfen unmerklich durch die Hand. Krankheit empfindet man, Gesundheit wenig oder gar nicht; so wie man auch Dinge weniger fühlt, die uns wohl, als die uns weh tun. Es heißt für seinen Ruhm und eigenen Nutzen und nicht fürs allgemeine Beste arbeiten, wenn man das, was man in seinem Ratskabinettchen abtun konnte, aufschiebt, um es auf öffentlichem Markt zu verrichten, und am hellen Mittag das, was man die Nacht vorher hätte abmachen können; auch wenn man eifrig ist, dasjenige selbst zu beschicken, was ein Amtsgenosse ebensogut beschicken konnte. So machten einige griechische Wundärzte die Operationen ihrer Kunst auf aufgeschlagenen Bühnen, vor den Augen der Vorübergehenden, um dadurch mehr Kundschaft und Gewinn zu erlangen. Einige Leute glauben, man werde die guten Verordnungen nicht verstehen, wenn sie solche nicht mit Posaunenton ausrufen lassen. Der Ehrgeiz ist nicht das Laster kleiner Wichte noch solchen Taten angemessen, als die unsrigen sind. Man sagte dem Alexander: Dein Vater wird dir ein großes, ruhiges und friedliches Reich hinterlassen. Der Knabe ward neidisch auf die Siege seines Vaters und auf die Gerechtigkeit seiner Regierung. Ruhig und friedlich hätte ihm die Regierung der ganzen Welt nicht genügt. Alcibiades beim Plato will lieber jung, schön, reich, edel, gelehrt und im höchsten Grade der Vollkommenheit sterben, als auf halbem Wege am Leben bleiben. Diese Krankheit ist vielleicht bei einer so starken, erhabenen Seele zu verzeihen. Wenn aber kleine Zwergseelen ihnen nachäffen wollen und denken ihren Namen weit umher zu verherrlichen, weil sie irgendeinen Prozeß richtig geschlichtet, die Wache in den Toren einer Stadt in Ordnung gehalten haben, so zeigen sie um desto mehr ihr nacktes Hinterteil, je mehr sie hoffen, den Kopf in die Höhe zu recken. Ihr bißchen Rechttun hat weder Leib noch Leben, es stirbt schon wieder im ersten Mund und gelangt nicht von einer Ecke der Gasse zur andern. Erzählt nur dreist davon euerm Sohn und euerm Bedienten, wie jener Mann bei den Alten, welcher, da er keine anderen Zuhörer seines Eigenlobs und kein anderes Echo seiner Tapferkeit hatte, sich gegen seine Hausmagd herausstrich und ausrief: "O Kathrine, was hast du für einen tapfern und geschickten Herrn!" Wenn euch niemand anhören will, so ruft euch selbst zum Zeugen; wie ein gewisser mir bekannter Ratsherr, der mit saurer Mühe und Schweiß ein sehr wortreiches und ebenso schales Referat zutage gewirkt hatte und nun aus der Ratsstube nach dem Pißwinkel ging, woselbst man ihn ganz andächtig zwischen den Zähnen murmeln hörte: "Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre!" Wer nicht anders kann, zahlt sich aus seinem Beutel. Der Nachruhm prostituiert sich nicht für einen erbärmlichen Preis. Die seltnen exemplarischen Handlungen, welchen er rechtmäßigerweise gebührt, würden die Gesellschaft dieser unzählbaren Menge von Alltagshandlungen nicht neben sich dulden. Laßt noch so viele Marmortafeln, ein renovatum est, euren Vor-und Zunamen und Titel aufhängen, wenn ihr etwa eine alte Mauer ausbessern oder einen verschlammten Bach habt reinigen lassen; die Inschrift wird von euch sprechen, aber kein Mensch von irgend schlichtem Verstand. Der Nachklang folgt nicht immer auf alles, was Gutes geschah, wenn nicht Schwierigkeiten oder auffallende Umstände damit verbunden waren. Ja selbst die bloße Achtung gebührt, nach der Meinung der Stoiker, keiner Handlung, wenn solche nicht tugendhaft ist. Diese wollen nicht einmal, daß man demjenigen Dank wisse, der sich aus Mäßigung einer alten triefäugigen Vettel enthält. Diejenigen, welche die vortrefflichen Eigenschaften des Scipio Africanus gekannt haben, verweigern ihm den Ruhm, welchen Panätius ihm zuschreibt, daß er keine Geschenke genommen, weil es ein Ruhm sei, der nicht sowohl ihm als seinem Jahrhundert gebühre. Wir haben den Genuß, welcher sich zu unseren Vermögensumständen paßt; warum wollten wir uns noch den der Größe anmessen? Unser Genuß ist natürlicher und um so dauerhafter und sicherer, als er niedriger ist. Täten wir es nicht aus Gewissenhaftigkeit, so laßt uns wenigstens aus Ehrgeiz dem Ehrgeiz entsagen. Weg mit diesem Hunger nach Ruhm und Ehre, der so kriechend und schlingelhaft ist, daß er uns alle Art von Leuten anbetteln läßt. Quae est ista laus, quae possit e macello peti?30 Das Scherflein sei auch noch so gering, das sie uns zuwerfen können! Also geehrt zu werden, ist wahre Schande. Laßt uns doch lernen, nicht nach mehr Ehre zu geizen, als wir deren fähig sind. Sich wegen jeder nützlichen und unschuldigen Handlung aufblähen, geziemt nur Leuten, denen so etwas außerordentlich und selten scheint. Sie wollen solche Handlungen so teuer anschlagen, als sie ihnen zu stehen kommen. In ebendem Maße, wie eine gute Handlung Aufsehen erregt, in ebendem Maße dinge ich ab von ihrer Güte und gerate auf den Argwohn, daß sie mehr des Aufsehens wegen als ihrer Güte halber erzeugt worden. Ausgekramt ist schon halb bezahlt. Solche Taten haben viel mehr Würde, die der Hand des Werkmeisters entwischen, ohne Geräusch und gleichsam ohne Vorsatz, und die hernach erst irgendein Ehrenmann aufhebt, dem Schatten entzieht und solche ihrer innern Güte wegen ans Tageslicht stellt. Mihi quidem laudabiliora videntur omnia, quae sine venditatione, et sine populo teste fiunt31, sagt einer der ruhmsüchtigsten Menschen von der Welt. Ich hatte nur zu bewahren und fortzupflanzen, welches Geschäfte sind, die im stillen und ohne Geräusch verrichtet werden. Etwas Neues einführen ist sehr glänzend. Aber in dieser Zeit, wo wir nichts Angelegentlicheres zu tun haben, als uns gegen alle Neuerungen zu verteidigen, ist das verbotene Arbeit. Es ist zuweilen ebenso verdienstlich, sich von gewissen Dingen zu enthalten, als sie zu unternehmen und auszuführen. Dabei ist aber weniger Trompetenschall, und das wenige Verdienst, das ich habe, liegt vielleicht alles auf dieser Seite. Kurz zu sagen, alle Gelegenheit und Veranlassung bei diesem Amt stimmten ganz gut zu meiner Gesinnung, welches mir denn sehr lieb und angenehm war. Möchte wohl ein Mensch deswegen krank sein, um seinen Arzt recht geschäftig zu sehen? Und müßte man nicht dem Arzt die Rute geben, der uns die Pest an den Hals wünschte, um uns seine Kunst zu zeigen? Ich habe niemals den gottlosen, obgleich ziemlich gewöhnlichen Wunsch gehabt, daß die Unruhen und Krankheiten der Verhältnisse dieser Stadt meine Verwaltung ehren und in ein hohes Licht stellen möchten. Ich habe von Herzen gern ihre Unschwierigkeit und Leichtigkeit auf meine Schultern genommen. Wer sollte mir nicht die sanfte, stille Ruhe, die während meiner Amtsführung vorwaltete, Dank wissen? Wenigstens kann er mir den Anteil nicht rauben, der auch mir während dieser Zeit am Glück gebührte. Und ich bin nun einmal so, daß ich ebenso gern glücklich sein mag als weise und daß ich das, was mir gelingt, ebenso gern der bloßen Gnade Gottes als der Vermittelung meiner eigenen Ratschläge verdanke. Ich hatte der Welt meine Untätigkeit in öffentlichen Geschäften offenherzig genug bekanntgemacht. Ungeschicklichkeit ist nicht mein größter Fehler, sondern daß ich damit nicht einmal unzufrieden bin und ihr nicht abzuhelfen suche, in Rücksicht der Lebensart, die ich mir vorgeschrieben habe. Ich habe mir bei dieser Verwaltung freilich selbst nicht einmal Genüge geleistet. Aber so ungefähr bin ich doch dahingelangt, zu leisten, was ich mir versprach; auch habe ich das übertroffen, was ich denen versprach, mit welchen ich zu tun hatte. Denn ich verspreche gern etwas weniger, als was ich vermag und was ich hoffe, leisten zu können. Ich bin versichert, daß ich niemanden beleidigt oder zum Haß Anlaß gegeben habe, sondern daß man mich dort ungern vermißt; obgleich ich nicht ängstlich danach strebte:

 

Mene huic confidere monstro!

Mene salis placidi vultum, fluctusque quietos

Ignorare!32

 

Fußnoten

1 Ovid, Trist. III, 2, 9: Leicht und flüchtig, zur ruhigen Muße geboren.

 

2 Seneca, Epist. 22: Sie sind in Geschäften um der Geschäfte willen.

 

3 Horaz, Od. II, 1, 7: Du gehst über Feuer, das die Asche heuchlerisch birgt.

 

4 Vergil, Aen. XI, 658: Beide im Frieden und Kriege des Landes Mehrer und Sorger.

 

5 Quintilian, Inst. II, 17: Inkompetente Richter sind am urteilssüchtigsten. Deswegen müssen sie oft getäuscht werden, damit sie nicht irren.

 

6 Seneca, Epist. 6: Wer sein eigener Freund ist, der, wisse, ist ein Freund aller Menschen.

 

7 Horaz, Od. IV, 9, 51: Für Freunde und für Vaterland furchtlos den Tod zu leiden.

 

8 Statius, Theb. X, 704: Ein übler Ratsmann ist die Heftigkeit.

 

9 Quintus Curtius IX, 9, 12: Eilen fördert nicht.

 

10 Seneca, Epist. 44: Eile stolpert über ihr eigenes Bein.

 

11 Lucilius bei Nonius Marcellus, V.: Denn was dem Menschen genug ist, genügte ihm daran, so wäre es genug; nun aber, da das nicht ist, wie sollen Schätze dann mein Herz befriedigen?

 

12 Plutarch: Die Natur sorgt hinlänglich für das, was sie fordert.

 

13 Horaz, Epist. I, 5, 12: Wozu das Glück, wenn ich seiner nicht genießen darf?

 

14 Petronius, Fragment: Die ganze Welt spielt ein Possenspiel.

 

15 Quintus Curtius III, 2, 18: So sehr lassen sie sich vom Glück hinreißen, daß sie sogar die Natur darüber verlernen.

 

16 In Kriegsnot ausgenommen, ist Haß und Zwietracht sonst nie meine Sache.

 

17 Cicero, Tusc. disp. IV, 25: Wer der Vernunft nicht Folge leisten kann, überlasse sich der Leidenschaft.

 

18 Livius XXXIV, 36: Nicht alle tadelten alles, sondern jeder, was jedem eignete und anging.

 

19 Seneca, Epist. 72: Lieber sollten sie nicht anfangen als aufhören.

 

20 Vergil, Aen. X, 693: Wie ein Fels, der hinaustritt ins weite Meer, den Furien des Sturmes und den Wogen die eherne Stirn beut, gegen das Dräuen des Himmels stet und unwankend.

 

21 Angeblich nach Buchanan: Das dahin der Steuermann, dorthin Wind und Woge führen.

 

22 Cicero, Tusc. disp. IV, 18: Wenn sie einmal von der Vernunft abgewichen sind, rollen sie in ihrem Verlaufe fort: die Schwäche, selbst sich überlassen, gerät immer unvorsichtiger in die hohe See hinaus und findet nirgend einen Stand und Ruhepunkt.

 

23 Vergil, Aen. X, 97: Wie das erste Wehn und Säuseln, das im Wald verfangen dumpfmurmelnd umherirrt, den Schiffern den kommenden Sturm prophezeiend.

 

24 Cicero, De off. II, 18: Es ist Pflicht soviel als Recht ist, und ich weiß nicht, ob nicht noch ein wenig mehr als Recht ist, Streit und Prozeß zu vermeiden. Denn es ist nicht nur großmütig, bisweilen von seinem Recht etwas nachzulassen, sondern es ist sogar bisweilen nützlich.

 

25 Leichter ist's, sie auszurotten, als zu mäßigen.

 

26 Vergil, Georg. II, 490: Glücklich, wer vermag zu kennen die Gründe der Dinge und wer jegliche Furcht und das unerbittliche Schicksal unter den Füßen hat und des schlingenden Acherons Wogen! Glücklich auch, wer der Fluren Götter verehret, Pan und den alten Silvan und die verschwisterten Nymphen.

 

27 Horaz, Od. III, 16, 18: Immer scheute ich mich, den stolzen Nacken auch der Ferne sichtbar zu erheben.

 

28 Cicero, De Petit. Consul. II: Gleichmütig und ruhig, wie immer von Natur, so jetzt durch das Alter.

 

29 Cicero, De off. 1, 34: Weder kriechend und weggeworfen noch hochstrebend.

 

30 Cicero, De fin. II, 15: Welch Lob ist das, das man auch vom Fischmarkt holen kann?

 

31 Cicero, Tusc. disp. II, 26: Jede Handlung dünkt mich um so ruhmvoller, je mehr sie ohne Geräusch und Schau des Volkes geschieht.

 

32 Vergil, Aen. V, 849: Ich mich vertrauen diesem Ungeheuer? Ich soll nicht wissen, was des Meeres glatte Stirn und seiner Wellen Schlummer mir verbirgt?

Von Hinkenden.

Vor zwei oder drei Jahren verkürzte man das Jahr in Frankreich um zehn Tage. Wie manche Veränderung muß auf diese Verbesserung folgen? Es hieß eigentlich, Himmel und Erde auf einmal bewegen. Dessenungeachtet ist nichts aus seiner Stelle gerückt. Meine Nachbarn treffen die Zeit ihrer Aussaat und ihrer Ernte, die rechte Stunde zu ihren Geschäften, die glücklichen und unglücklichen Tage gerade in eben der Ordnung, wie solche seit undenklichen Zeiten bestimt waren. So wie wir die Unordnungen bei unsern Geschäften nicht gewahr wurden, so bemerkten wir auch die Verbesserung nicht; so viel Ungewißheit mischt sich in alles! So sehr ist unser Gewahrwerden grob, dick und stumpf. Man sagt, diese Verbesserung hätte auf eine weniger unbequeme Weise vorgenommen werden können, wenn man nach dem Beispiel des Augustus einige Jahre nacheinander die Schalttage weggelassen hätte, welche so immer Tage der Unordnung und der Verwirrung sind, bis man endlich dahin gekommen wäre, die ganze Schuld zu tilgen, was man eigentlich durch diese Verbesserung nicht getan hat. Denn noch bleiben wir immer um einige Tage im Rückstand, und wenn man durch ebendieses Mittel für die Zukunft gesorgt hätte, indem man nach der Umwälzung so vieler Jahre diesen Schalttag immer ausgeworfen hätte, so daß unsere Verrechnung hinfort niemals über 24 Stunden hätte betragen können. Wir haben keine andere Zeitrechnung als das Sonnenjahr, nach welchem sich die Welt schon seit so vielen Jahrhunderten gerichtet, und dennoch ist es eine Berechnung, zu deren völligen Festsetzung wir noch nicht gelangt sind; meistens von der Beschaffenheit, daß wir noch immer in Zweifel stehen, welche Form ihr die andern Nationen auf verschiedene Weise gegeben haben und welchen Gebrauch sie davon machen. Ob etwa, wie einige sagen, die Gestirne, indem sie älter werden, näher gegen uns zusammenrücken und uns selbst über die Stunden und Tage in Ungewißheit versetzen? Sagt doch Plutarch bei Gelegenheit der Monate, die Sternkunde habe noch zu seiner Zeit die Bewegung des Mondes nicht genau bestimmen können. So sind wir also vortrefflich daran, wenn wir über vergangene Dinge Buch führen wollen!

Eben dachte ich so darüber nach, wie ich oft zu tun pflege, was die menschliche Vernunft für ein freies und unbestimmtes Werkzeug ist. Gewöhnlich sehe ich, daß die Menschen bei Tatsachen, die man ihnen vorlegt, lieber die Vernünftelei als die Wahrheit aufsuchen. Sie gleiten über Voraussetzungen hin, untersuchen aber sehr sorgfältig Folgerungen. Sie lassen die Begebenheiten beiseite liegen und jagen den Ursachen nach. O der armseligen Ursächler! Die Kenntnis der Ursachen geht bloß denjenigen an, welcher die Dinge zu führen hat, keineswegs uns, die wir sie immer zu leiden haben, für die sie nur zum richtigen Gebrauch da sind, nach unserm Bedürfnisse, ohne ihr Wesen und ihren Ursprung zu durchdringen. Der Wein ist einem Menschen nicht schmackhafter, der seine wesentliche Kraft kennt. Umgekehrt vielmehr. Sowohl der Körper als die Seele unterbrechen und verändern das Recht, welches sie auf den Gebrauch der Welt und sich selbst haben, wenn sie die Meinung der Gelehrsamkeit daruntermischen. Die Wirkungen betreffen uns allerdings, die Mittel aber keineswegs. Bestimmung und Verteilung ist Sache der Regierung und Herrschaft, wie es Sache der Unterwerfung und der Lehrjahre ist, solche anzunehmen. Um wieder auf unsere Weise zu kommen: Gewöhnlich fängt man damit an: Wie geschieht das? Man sollte aber sagen: Geschieht es? Wir sind vermögend, uns tausend andere Welten zu denken, ihre Grundlage und Zusammensetzung vorzustellen. Dazu gehört weder Stoff noch Grundlage. Laßt der Vorstellung ihren Lauf, sie baut ebensowohl ins Leere als ins Volle, auf Nichts als auf Sein.

 

Dare pondus idonea fumo.1

 

Ich finde fast allenthalben, daß man sagen sollte: Es ist nichts daran, und möchte oft diese Antwort gebrauchen; aber ich wage es nicht. Denn man schreit, das sei bloß der Einwand der Geistesschwachheit und Unwissenheit, und gewöhnlich muß ich das Gaukelspiel so mitmachen und so eitel hin über nichtige Gegenstände und Erzählungen mitsprechen, woran ich nicht den geringsten Glauben habe. Dazu kommt noch, daß es wirklich ein wenig hart und zanksüchtig ist, geradezu eine vorgelegte Tatsache zu leugnen; und wenige Leute ermangeln, besonders von Dingen, die schwer zu glauben sind, zu behaupten, sie hätten solche gesehen oder Zeugen anzuführen, deren Ansehen unserm Widerspruch Einhalt tut. Zufolge dieser Gewohnheit wissen wir den Grund und die Vermittelung von tausend Dingen, welche niemals statthatten. So zankt sich die Welt über tausend Fragen, bei welchen das Für und Wider gleich falsch ist. Ita finitima sunt falsa veris ... ut in praecipitem locum non debeat se sapiens committere.2 Wahrheit und Lügen sind ähnlich an Gestalt, am Gange, an Geschmack und an Schritt; wir betrachten sie mit einerlei Augen. Ich finde, daß wir nicht nur feigherzig sind, uns gegen die Täuschungen zu verteidigen, sondern daß wir sogar geneigt sind und suchen, uns von ihnen fangen zu lassen. Wir mögen uns gern in Eitelkeit verwickeln, weil sie unserm Wesen angemessen ist.

Ich habe die Entstehung vieler Wunderwerke unserer Zeit mitangesehen. Ob sie gleich bei ihrer Geburt wieder ins Nichts sinken, so sehen wir doch, was für einen Schwung sie genommen haben würden, wenn sie nur eine gewisse Zeit überlebt hätten. Denn man darf nur das rechte Ende eines Knäuels finden, um so viel davon abzuwickeln, als einem beliebt. Und nichts ist von der geringsten Kleinigkeit weiter entfernt als die geringste Kleinigkeit von der größten Sache der Welt. Nun wissen aber die ersten, welche sich ein Geschäft aus dem Anfang befremdlicher Vorfälle machen, indem sie ihre Geschichte ausstreuen, recht gut, wo die Schwierigkeit der Überzeugung liegt, und wissen daher solche schwache Seiten mit falschen Urkunden auszustopfen. Außer der insita hominibus libidine alendi de industria rumores3, machen wir uns auch natürlicherweise ein Gewissen daraus, was man uns geliehen hat, ohne Zinsen und ohne Zugabe von unserm Eigenen weiterzubefördern. Erst wird der Irrtum einzelner zum Irrtum aller, und hernach bewirkt der Irrtum aller den Irrtum des einzelnen. So geht es mit diesem ganzen Gebäude. Jeder trägt zu seiner Erdichtung das Seinige bei, so daß der entfernteste Zeuge davon näher unterrichtet ist als der nächste und der zuletzt unterrichtete fester überzeugt als der erste. Es ist ein ganz natürlicher Fortschritt. Denn jeder, der eine Sache glaubt, hält es für einen Liebesdienst, andere davon zu überzeugen. Um nun dieses zu bewerkstelligen, befürchtet er nicht, etwas von seiner eigenen Erfindung hinzuzutun, damit er dem Widerstand und Mangel begegne, welchen er in der Glaubenskraft eines andern voraussetzt. Ich selbst, der ich besonders gewissenhaft bin, nicht zu lügen, und mich nicht sehr darum bekümmere, demjenigen, was ich sage, Glauben und Ansehen zu erwerben, bemerke dennoch, wenn ich etwas erzähle, ich mag nun durch den Widerspruch, wenn ich etwas vortrage oder durch meine eigene Erzählung warm werden, daß ich immer meinen Gegenstand verschönere und vergrößere, sei es durch die Stimme, durch Sprache der Hände oder durch die Kraft und den Nachdruck der Worte, und selbst durch Zusätze und Vermehrungen. Freilich verliert dadurch die reine Wahrheit; sobald mich aber auch der erste, der beste, darauf zurückführt und mich um die nackte dürre Wahrheit befragt, gebe ich alle meine Bemühungen auf und sage ihm solche ohne Vergrößerung, ohne Rednerschmuck und Verschönerung. Die lebendige und laute Sprache, wie gemeiniglich die meinige ist, artet leicht in Übertreibung aus. Die Menschen sind gewöhnlich auf nichts so sehr bedacht, als ihren Meinungen Eingang zu verschaffen. Wo uns die gemeinen Mittel abgehen, nehmen wir unsere Zuflucht zum Befehlen, zur Gewalt, zu Feuer und Schwert. Es ist ein Unglück, daß es dahin gediehen ist, daß wir die Menge der Gläubigen und den großen Haufen, worunter die Narren den Weisen in so großer Zahl überlegen sind, für den besten Prüfstein der Wahrheit halten. Quasi vero quidquam sit tam valde, quam nil sapere, vulgare.4 Sanitatis patrocinium est, insanientium turba.5 Es ist schwer, sein Urteil gegen die allgemeine Meinung rein zu erhalten. Die erste Überzeugung von einem Gegenstand fängt bei den Einfältigen an, von da wird sie den Klügern mitgeteilt durch Ansehen, Zahl und Alter der Zeugnisse. Ich glaube nicht Hunderten, was ich nicht einem glauben kann, und beurteile die Meinungen nicht nach den Jahren. Es ist noch nicht lange her, daß einer unserer Prinzen, bei dem die Gicht eine schöne Anlage und einen herrlichen Kopf verdorben hatte, sich durch die Nachricht, die man ihm von den Wunderkuren eines Priesters gegeben hatte, der durch bloße Worte und Gebärden alle Krankheiten heilen sollte, bewegen ließ, eine große Reise zu unternehmen, um den Wunderdoktor aufzusuchen. Die Kraft seiner Einbildung vermochte auf einige Stunden die Schmerzen seiner Füße einzuschläfern und zu betäuben, daß er sich ihrer zu einem Dienste bedienen konnte, den zu leisten sie seit langer Zeit verlernt hatten. Wenn das Glück noch fünf oder sechs solche Begebenheiten hervorbrachte, wer hätte dem Wunderwerk widersprechen wollen? Man fand nachher bei dem Werkmeister derselben so viel Einfalt und so wenig Kunst, daß man ihn jeder Ahndung für unwürdig hielt. So würde man bei den meisten solcher Dinge verfahren, wenn man auf ihren Ursprung zurückginge: Miramur ex intervallo fallentia.6 So stellt uns unser Auge oft in der Ferne sonderbare Gestalten vor, welche wieder verschwinden, wenn wir uns ihnen nähern: Nunquam ad liquidum fama perducitur.7

Es ist erstaunlich, aus wie geringfügigen Anfängen, aus was für nichtigen Ursachen gewöhnlich so berufene und allgemeine Sagen entstehen. Eben dadurch wird ihre Untersuchung gehindert. Denn während man die Ursachen untersucht und die wichtigen Zwecke, die eines so großen Ruhmes würdig wären, tritt man über die Wahrheit hinweg. Die Ursachen und Veranlassungen sind oft so klein, daß sie sich unserm Auge entziehen. Und was die Wahrheit anbetrifft, so gehört ein sehr kluger und aufmerksamer und scharfsinniger Erforscher dazu, um sie bei solchen Umständen zu entdecken; auch muß er sehr gleichgültig sein und keine Partei angenommen haben. Bis auf diese Stunde verbergen sich alle diese Wunderbegebenheiten und erstaunlichen Geschichten vor mir.

Ich habe auf dieser Welt kein so auffallendes Ungeheuer noch Wunder gesehen als mich selbst. Durch Zeit und Umgang gewöhnt man sich an alles Befremdende; aber je mehr ich mit mir umgehe und mich kennenlerne, je mehr erschrecke ich vor meiner Mißgestalt, je weniger kann ich mich in mich selbst finden.

Dergleichen Zufälle hervorzubringen und zu erzeugen ist ein Vorrecht des Ungefährs. Als ich vorgestern in ein Dorf kam, das ein paar Stunden weit von meinem Gute liegt, fand ich die Stätte noch ganz warm von einem Wunder, das daselbst gescheitert war; wodurch die Nachbarschaft seit mehreren Monaten hingehalten ward, weswegen schon die benachbarten Provinzen in Bewegung gerieten und Leute von allerlei Ständen in dichten Haufen herbeiliefen. Ein junger Mensch des Ortes hatte sich in einer Nacht in seinem Hause die Kurzweil gemacht, eine Geisterstimme nachzuäffen, ohne an etwas anderes dabei zu denken, als einen augenblicklichen Spaß zu machen. Da es ihm aber etwas besser glückte, als er erwartet hatte, so machte er, um der Posse mehr Hebel anzusetzen, mit einer Dirne aus dem Dorfe, einem gänzlich dummen unverständigen Dinge, Gesellschaft. Endlich vereinigten sich ihrer drei von ähnlichem Alter und ähnlicher Unverschämtheit zu diesem Spiel und wurden aus Hauspredigern öffentliche Prediger, versteckten sich unter dem Altar der Kirche, ließen sich nicht anders als bei Nacht hören und verboten, Licht herbeizubringen. Von Worten, welche auf die Bekehrung der Welt und Ankündigung des Jüngsten Tages hinausliefen (denn das sind Dinge, hinter deren Wichtigkeit und Heiligkeit der Betrug sich am leichtesten verbirgt), gingen sie zu einigen Erscheinungen und Spukereien über, die so einfältig und lächerlich waren, daß der Betrug für ein Kinderspiel fast zu grob gewesen wäre. Hätte indessen das Glück nur ein wenig hilfreiche Hand dabei leisten wollen, wer weiß, wie weit dies Gaukelspiel angewachsen sein würde? Jetzt sitzen die armen Teufel im Gefängnis, werden vermutlich die allgemeine Einfalt allein abbüßen müssen, und wer weiß, ob nicht irgendein Richter die seinige an ihnen rächen wird! Hier sieht man den dummen Betrug klar, weil er entdeckt ward; aber bei vielen ähnlichen Dingen, die unsre Kenntnisse übersteigen, wäre ich sehr der Meinung, wir hielten unser Urteil zurück und verwürfen ebensowenig, als wir billigten.

Es entsteht viel Mißbrauch in der Welt, oder dreister gesagt, aller Mißbrauch in der Welt entsteht daher, daß man uns lehrt, uns vor dem Geständnis unserer Unwissenheit zu fürchten, und uns anhält, alles für wahr anzunehmen, was wir nicht imstande sind zu widerlegen. Wir sprechen von allen Dingen in entscheidendem Ton. Der römische Kanzleistil erforderte, daß selbst dasjenige, was ein Zeuge mit seinen Augen gesehen zu haben versicherte und ein Richter nach seinem innigsten Wissen und Gewissen verordnete, mit der Formel ausgedrückt wurde: Mich deucht. Man bringt mir einen Widerwillen gegen die wahrscheinlichsten Sätze bei, wenn man mir solche als unfehlbar aufstellt. Ich habe gern solche Worte, welche die Verwegenheit unserer Behauptungen mildern und mindern: vielleicht, gewissermaßen, zum Teil, man sagt, ich glaube, und dergleichen. Hätte ich Kinder zu erziehen gehabt, ich würde ihnen alle diese Frageweise, nicht entscheidende Antworten in den Mund gelegt haben: Was will das sagen? Ich versteh' es nicht; es mag sein; ist das möglich? – wodurch sie viel mehr im sechzigsten Jahre die Sprache der Schüler geführt, als im zehnten Jahre die Lehrmeister gespielt hätten, wie sie jetzt tun. Wer sich von der Unwissenheit heilen will, muß sie eingestehen.

Iris ist Thaumantis Tochter. Bewunderung ist der Grund aller Philosophie, Nachforschung ihr Fortschritt, Unwissenheit ihr Ende. Ja, es gibt eine tapfre, edelmütige Unwissenheit, welche an Ehre und Kühnheit der Gelehrsamkeit nichts nachgibt, eine Unwissenheit, welche an sich zu erkennen nicht wenig Gelehrsamkeit erfordert als die Erkenntnis der Gelehrsamkeit. Ich sah in meiner Kindheit einen Rechtshandel über einen sonderbaren Vorfall, welchen Corras, Parlamentsrat von Toulouse, drucken ließ. Zwei Menschen nämlich machten Anspruch darauf, eine Person zu sein. Ich erinnere mich noch (weiter aber erinnere ich mich auch nichts mehr), daß es mir damals so vorkam, derjenige, welcher für strafbar erklärt wurde, habe seinen Betrug so wunderbar, so weit über unsere Einsicht und die Einsicht dessen, welcher Richter war, getrieben, daß ich den Ausspruch sehr gewagt fand, der ihn zum Strange verurteilte. Laßt uns doch eine Urteilsformel einführen, welche sagt: Der Gerichtshof sieht die Sache nicht ein. Alsdann verfahren wir freimütiger und offenherziger als Areopagiten, welche, da man in sie drang, über eine Sache abzuurteilen, die sie nicht zu entwickeln vermochten, den Bescheid gaben, die Parteien sollten nach hundert Jahren wieder vorsprechen.

Die Hexen in meiner Nachbarschaft geraten in Lebensgefahr durch die Lehren jedes neuen Schriftstellers, der Träume für Tatsachen ausgibt. Die Beispiele, welche uns die Heilige Schrift von dergleichen Dingen gibt, diese sehr gewiß und unwidersprechlichen Zeugnisse, auf unsere neueren Vorfälle anzuwenden, von denen wir doch weder Ursachen noch Mittel sehen, dazu gehört ein höherer Verstand als der unsrige. Es ziemt vielleicht nur diesem einzigen allmächtigen Zeugnis, uns zu sagen: Dieses ist Zauberei und dieses, jenes aber ist es nicht. Gott selbst müssen wir glauben, nichts ist vernünftiger, aber nicht jemanden unter uns, der sich über seine eigene Erzählung verwundert (und notwendigerweise darüber verwundern muß, wenn er nicht ganz von Sinnen ist), er mag nun die Handlung eines andern oder seine eigene berichten.

Ich bin schwerfällig, halte mich ein wenig an das Vollwichtige und Wahrscheinliche und suche den alten Vorwurf zu vermeiden: Majorem fidem homines adhibent iis, quae non intelligunt.8 – Cupidine humani ingenii libentius obscura creduntur.9 Ich sehe wohl, daß man in Zorn gerät und mir unter Bedrohung entsetzlicher Schmachreden zu zweifeln verbietet. Das ist eine neue Art zu überzeugen; aber gottlob, daß mein Glaube sich nicht mit Faustschlägen lenken läßt! Mögen sie diejenigen züchtigen, welche ihre Meinung der Falschheit beschuldigen. Ich halte solche nur für schwer und kühn zu glauben und verwerfe ebensowohl als sie die Behauptung des Gegenteils, nur nicht gerade so gebieterisch. Wer seine Meinung durch Befehl und Gebot durchsetzen will, beweist dadurch, daß sie auf schwachen Gründen beruhen müsse. Kommt es auf ein Wort-und Schulgezänk an, so mögen sie ebensoviel Schein für sich haben als ihre Gegner. Videantur sane, non affirmentur modo.10 Aber in den wesentlichen Folgerungen, welche sie daraus ziehen, haben jene den Vorteil für sich. Menschen zu töten, dazu gehört eine lichtvolle, reine Einsicht, und unser Leben ist eine zu wesentliche wirkliche Sache, um es wegen solcher übernatürlichen phantastischen Begebenheiten zu verkürzen. Von Vergiftungen mit schädlichen Dingen spreche ich hier nicht; die sind Menschenmord, und zwar von der schändlichsten Gattung. Gleichwohl sagt man, müsse man selbst dabei sich nicht allemal auf das eigene Geständnis dieser Art Menschen verlassen; denn man hat mehr als einmal erlebt, daß sie sich anklagten, Personen ums Leben gebracht zu haben, welche man gesund und lebendig fand. Was andere seltsame Beschuldigungen betrifft, darauf möchte ich gern sagen, es sei genug, daß man einem Menschen von noch so unbescholtenem Charakter in menschlichen Dingen Glauben beimesse. In übernatürlichen Dingen aber kann er nur dann Glauben verlangen, wenn er dazu mit einer übernatürlichen Vollmacht ausgerüstet ist. Dieses Vorrecht, wovon es Gott gefallen hat, solches einigen unserer Zeugnisse beizulegen, muß nicht herabgewürdigt oder leichtsinnigerweise eingeräumt werden. Mir gellen die Ohren von Tausenden dergleichen Sagen: Drei Personen haben ihn an dem und dem Tage im Morgenland gesehen, drei andre am folgenden im Abendland; um diese Stunde, an diesem Ort, so und so gekleidet. Wahrhaftig, das glaubt' ich mir selbst nicht! Warum sollte ich es nicht viel natürlicher und wahrscheinlicher finden, daß zwei Menschen lügen, als daß ein Mensch, innerhalb zwölf Stunden, mit der Eile des Windes von Morgen nach Abend komme? Warum nicht natürlicher, daß unser Verstand aus seiner Stelle verrückt werde, durch die Behendigkeit unseres verrückten Geistes, als daß einer von uns auf einem Besen durch die Luft reite, bei lebendigem Leibe durch seinen Schornstein hinausfahre und von einem fremden Geist fortgeführt werde? Wozu das Suchen nach unbekannten Täuschungen von außen, da wir ja unaufhörlich von innen und von sehr naheliegenden Dingen getäuscht werden! Mich deucht, es sie verzeihlich, ein Wunderwerk zu bezweifeln, zum wenigsten so lange, als man seine Wahrheit mit natürlichen, nicht wunderbaren Mitteln bestreiten kann, und bin hierin der Meinung des heiligen Augustin: es sei besser, bei Dingen, welche schwer zu beweisen und gefährlich zu glauben sind, auf die Seite des Zweifels zu neigen als auf die Seite der Leichtgläubigkeit. Es sind einige Jahre her, daß ich durch die Länder eines souveränen Fürsten reiste, der, um mir eine Gunst zu erzeigen und meinem Unglauben einen Stoß zu versetzen, die Gnade hatte und mir, in seiner Gegenwart, an einem abgelegenen Ort zehn bis zwölf Gefangene von dieser Gattung vorführen ließ; unter andern eine alte Frau, die durch ihre Häßlichkeit und Mißgestalt freilich hexenmäßig genug aussah und von langen Zeiten her dieser Profession wegen berüchtigt war. Ich fand Beweise, freies Bekenntnis und ich weiß selbst nicht was für unmerkliche Kennzeichen an diesem beklagenswürdigen Weib und erkundigte mich und sprach so viel ich wollte, wobei ich auf alles, soviel wie möglich, die genaueste Aufmerksamkeit hatte. Auch bin ich nicht der Mensch, der sich den Verstand durch Vorurteile umwenden läßt. Kurz und gewissenhaft zu sagen: ich hätte ihr viel eher Nieswurz als einen Schierlingstrank verordnet. Captisque res magis mentibus, quam consceleratis, similis visa.11 Die Gerechtigkeitspflege hat ihre eigenen Heilmittel gegen solche Krankheiten. Die Gegengründe und Beweise, welche mir sehr ehrliche Leute sowohl dort als anderwärts oftmals anführten, haben mich niemals überzeugt, und immer fand ich eine wahrscheinlichere Auflösung als die ihrige. Freilich ist es wahr, daß ich die Beweise und andere Rechtsgründe, welche auf Erfahrungen und Tatsachen beruhen, nicht entwickeln mag. Auch haben sie kein Ende, wobei man sie angreifen könnte. Oft zerhaue ich sie wie Alexander seinen Knoten. Mit einem Wort gesagt, es heißt seine Vermutungen hoch anschlagen, wenn man um ihretwillen einen Menschen lebendig braten läßt.

Man erzählt verschiedene Beispiele der Art, wie Prästantius von seinem Vater anführt, daß solcher in einem tiefen bleiernen Schlafe geträumt habe, er sei ein Maultier und trage seiner Soldaten Gepäck, und es sei wahr gewesen, was ihm geträumt. Wenn die Hexenmeister so wirklich und wesentlich träumen, wenn die Träume sich zuweilen in Tatsachen einverleiben können, so glaube ich dennoch nicht, daß unser Wille deswegen der Gerechtigkeit verantwortlich würde. Dies sage ich als ein Mensch, der kein Richter oder Rat der Könige ist, auch sich dessen bei weitem nicht würdig hält, sondern als ein gemeiner Mensch, der zum Gehorsam gegen die öffentlichen Gesetze geboren und verpflichtet ist, sowohl in seinen Taten als in seinen Worten. Wer auf meine Träumereien zum Nachteil des geringsten Gesetzes seines Dorfes oder dessen Meinung, Gebrauch und Herkommen, Rücksicht nehmen wollte, der täte sich selbst sehr unrecht und mir ebensoviel; denn in allem, was ich sage, gebe ich keine andere Gewißheit, als daß es das ist, was mir, als ich es sagte, wirklich in Gedanken war, und meine Gedanken sind oft herumirrend und schwankend. Ich spreche von allem, um meine Meinung an den Tag zu legen, nicht um Belohnungen zu erteilen. Nec me pudet, ut istos, fateri nescire, quod nesciam.12 Ich wäre in meinem Sprechen nicht so keck, wenn ich der Mann wäre, dem Glauben gebührte. Das war es, was ich einem Großen antwortete, der sich darüber beklagte, daß ich mit meinen Vermahnungen so dringend und anhaltend wäre. Da ich finde, daß ihr auf einer Seite so stark im voraus eingenommen seid, so stelle ich euch auf der andern, soviel ich kann, das Gegenteil vor, um euren Urteil aufzuklären, nicht um ihm eine Richtung zu geben. Gott hat euer Herz in Händen und wird eure Wahl leiten. Ich bin kein so eingebildeter Mensch, daß ich nur einigermaßen verlangen sollte, meine Meinungen möchten eine Sache von solcher Wichtigkeit lenken und wenden. Zu solchen wichtigen und hohen Entscheidungen hat mein Glück und meine Umstände sie nicht abgerichtet. Wirklich habe ich nicht nur verschiedene Züge der Gemütsart an mir, sondern auch Meinungen genug, welche ich gern meinem Sohn zuwider machen möchte, wenn ich einen hätte. Sind doch die wahrsten nicht immer die angenehmsten für den Menschen, der so unbiegsamer Natur ist.

Hier gelegentlich oder nicht gelegentlich, gleichviel. Der Welsche hat ein Sprichwort, welches ungefähr so lautet: Der kennt nicht die Süßigkeit ganz, die Venus gewähren kann, der noch keine Hinkende erkannt hat. Zufall oder eine sonderbare Begebenheit haben dies Sprichwort vor langer Zeit schon zu einer Volkssage gemacht, und man braucht es zugleich vom männlichen und weiblichen Geschlecht. Denn die Königin der Amazonen antwortete dem Skythen, der ihrer in Liebe begehrte: Arista xolos oipei, Der Hinkende kann's am besten. In dieser weiblichen Republik lähmte man, um der männlichen Herrschaft zu entgehen, dem männlichen Geschlecht von Kindheit an Arme, Beine und andere Glieder, wodurch solches Vorteile über das weibliche gehabt hätte, und bediente sich desselben bloß zu solchen Diensten, wozu wir uns des weiblichen Geschlechts bedienen. Ich hätte geglaubt, die unordentliche Bewegung einer Hinkenden gäbe dem Liebeswerke ein neues Vergnügen und denen, die es versuchten, irgendeinen wollüstigen Reiz mehr; aber ich habe eben gelernt, daß selbst die Philosophie des Altertums darüber entschieden hat. Diese sagt: weil die Beine und Hüften der Hinkenden wegen ihrer Unvollkommenheit die Nahrungssäfte nicht verbrauchen, die ihnen bestimmt sind, so wären daher die Teile über solchen vollständiger, genährter und rüstiger; oder auch, weil diese Gebrechen sie verhindern, sich viel zu bewegen, so verbrauchten diejenigen, welche damit behaftet wären, weniger Kräfte, die sie dann reichlicher bei der Feier der Venus anwenden könnten. Das war auch die Ursache, warum die Griechen ihren Weberinnen nachsagten, sie wären mehr zur körperlichen Liebe geneigt als andere Weiber, wegen ihrer stillsitzenden Lebensart, wobei sie wenig Bewegung hätten. Aber worüber können wir nicht vernünfteln, wenn wir diese Art zu schließen brauchen wollen? Von den letzten ließe sich ebensogut sagen, die Erschütterung, welche ihnen ihre sitzende Arbeit gibt, errege und reize sie, wie bei vornehmen Frauen das Rütteln und Schütteln ihres Fuhrwerks.

Beweisen diese Beispiele nicht, was ich eingangs sagte, daß unsere Gründe oft den Wirkungen vorauslaufen und eine so unendliche Gerichtsbarkeit in Anspruch nehmen, daß sie über Undinge und Nichtigkeiten urteilen und erkennen? Außer der großen Gewandtheit unserer Erfindungskraft; für alle Arten von Träumereien Gründe aufzusuchen, ist auch unsere Einbildungskraft bereit und willig, einen falschen; Eindruck vom allerunbedeutendsten Scheine anzunehmen. Denn auf die bloße Autorität dieses alten bekannten Sprichworts habe ich mir vordem wohl aufgebunden, ich hätte deswegen mehr Vergnügen bei einer Frau empfunden, weil sie im sizilianischen Sechsachteltakt ging, und setzte solches mit unter ihre Reize.

Torquato Tasso sagt in seiner Vergleichung, die er zwischen Italien und Frankreich anstellt, er habe bemerkt, daß wir dünnere Waden haben als die Welschen von Adel, und gibt als Ursache davon an, daß wir unaufhörlich zu Pferde sitzen. Aus ebendieser Ursache zieht aber Suetonius eine ganz entgegengesetzte Folgerung. Denn er sagt dawider: Germanicus habe seine Waden dadurch völlig gemacht, daß er anhaltend geritten sei. Nichts schmiegt sich so leicht an alle Irrtümer als unser Verstand. Er ist wie der Schuh des Theramenes, der jedem Fuße paßt. Und er ist doppelt und vielfach, wie die Materie doppelt und vielfach ist. "Gib mir eine Drachme Silbers", sagt ein kynischer Philosoph zum Antigonus. "Das ist kein Geschenk, das ein König gibt", antwortete dieser. "Nun, so gib mir ein Talent." "Das ist kein Geschenk für einen Kyniker."

 

Seu plures calor ille vias et caeca relaxat

Spiramenta, novas veniat qua succus in herbas:

Seu durat magis, et venas adstringit hiantes;

Ne tenues pluviae, rapidive potentia solis

Acrior, aut Boreae penetrabile frigus adurat.13

 

Ogni medaglia ha il suo riverso.14 Darum sagte Clitomachus vor alters, Carneades habe die Arbeiten des Herkules übertroffen, indem er den Menschen ihren Beifall entrissen habe, das heißt die Einbildung und die Verwegenheit ihrer Urteile. Diese herzhafte Unternehmung ging Carneades, meiner Meinung nach, damals deswegen ein, weil die Leute, welche ein Gewerbe daraus machten, alles zu wissen, gar zu unverschämt waren und sich übermäßig viel herausnahmen. Man bot den Aesop neben zwei andern Sklaven aus. Der Käufer erkundigte sich bei dem ersten, was er verstände. Dieser, um sich einen Wert zu geben, versprach goldne Berge und wußte das und wußte jenes. Der zweite versprach ebensoviel und noch mehr von sich. Als die Reihe an den Aesop kam und man ihn auch fragte, was er denn könne, antwortete er: "Nichts; denn die da haben mir ja alles weggenommen, sie wissen alles." So ging es in den Schulen der Philosophie. Der Stolz derjenigen, welche dem menschlichen Geist die Fähigkeit alles zu umfassen zuschreiben, veranlaßte bei andern aus Ärger und Eifer die Meinung, daß sie gar nicht fähig wären, etwas zu fassen. Dergestalt übertrieben sie ihre Unwissenheit ebensosehr als andere ihr Vielwissen, damit man nicht leugnen könne, der Mensch halte in keinem Dinge weder Ziel noch Maß und habe keine Ruhe, bis Not und Unvermögen ihn stille stehen heißen.

 

Fußnoten

 

1 Persius V, 20: Geschickt dem Rauch Gewicht zu geben.

 

2 Cicero, Acad. II, 21: Wahres und Falsches grenzt so nahe zusammen, daß ein Weiser jede Jähe vermeiden muß.

 

3 Livius XXVIII, 24: den Menschen angeborenen Neigung, Gerüchte sorgfältig zu nähren.

 

4 Cicero, De divinat. II, 39: Als ob etwas so gewaltig gemein wäre als die Torheit.

 

5 Augustin, De civ. Dei VI, 10: Der Weisen Ansehen ist der Narren Menge.

 

6 Seneca, Epist. 118: Wir sehen das Blendwerk in der Ferne.

 

7 Quintus Curtius IX, 2: Der Ruf schließt niemals reine Rechnung ab.

 

8 Die Menschen fallen dem leichter zu, was sie nicht verstehen.

 

9 Tacitus, Hist. I, 22: So verblendet ist der Menschen Sinnesart, daß alles Dunkle um so eher von ihnen geglaubt wird.

 

10 Cicero, Acad. II, 27: Man betrachte sie, wie man will, nur bestätige man sie nicht.

 

11 Livius VIII, 18: Die Sache scheint mehr auf Rechnung des Wahnsinns als der Bosheit zu setzen.

 

12 Cicero, Tusc. disp. I, 25: Auch schäme ich mich nicht, gleich ihnen, zu gestehen, daß ich nicht weiß, was ich nicht weiß.

 

13 Vergil, Georg. I, 89: Mag nun mehrere Wege die Wärme eröffnen, geheime Poren, wo frische Säfte in Gras und Kräuter sich gießen; oder mag mehr härten und steifen die lechzenden Adern, daß nicht des Regens zuviel, nicht Glut der strahlenden Sonne oder des Nordwindes Eis die zarten Röhren verderbe.

 

14 Jedes Schaustück hat seine Kehrseite.