Dienstag
Wie immer vor dem Sex haben wir beide Heizdecken im Bett eine halbe Stunde vorher angemacht. Mein Mann hat ganz hochwertige Heizdecken gekauft, die reichen auf beiden Seiten vom Scheitel bis zur Sohle. Für mich muss man da etwas mehr investieren. Ich habe wahnsinnige Angst, dass so ein Ding anfängt zu glühen und ich nach dem Einschlafen bei lebendigem Leibe verbrenne oder am Rauch ersticke. Unsere Heizdecken schalten sich angeblich nach einer Stunde automatisch ab. Wir legen uns in das vierzig Grad warme Bett nebeneinander hin und starren an die Decke. Der Körper entspannt sich in der Wärme. Ich fange da schon an, tief zu atmen, und grinse in mich rein, in erregter Vorfreude. Dann drehe ich mich um und küsse ihn, meine Hand fährt sofort in seine XXL-Yogahose. Kein Reißverschluss oder so, wo sich Haare oder Vorhaut verfangen könnten. Erst fasse ich seinen Schwanz nicht an, sondern rutsche weiter in die Hose zu den Eiern. Die halte ich wie einen Beutel voll Gold und wiege sie leicht in der Hand. Ab hier betrüge ich meine männerhassende Mutter. Die hat versucht mir beizubringen, dass Sex etwas Schlechtes ist. Hat bei mir aber nicht gewirkt.
Tief einatmen und ausatmen. Das ist der einzige Moment am Tag, wo ich richtig durchatme. Sonst hab ich nur flache Schnappatmung. Immer auf der Lauer, immer kontrolliert, immer aufs Schlimmste gefasst. Beim Sex verändere ich komplett meine Persönlichkeit. Meine Therapeutin Frau Drescher meint, ich würde mich unbewusst abspalten, weil meine feministische Mutter mich zum asexuellen Wesen erziehen wollte. Und nur um sie nicht zu verraten, müsste ich im Bett jemand anderer werden. Das funktioniert sehr gut. Dann bin ich völlig frei. Mir ist nichts peinlich. Die Geilheit auf zwei Beinen. Ich fühle mich dann nicht mehr wie ein Mensch, eher wie ein Tier. Ich vergesse alle Pflichten und Probleme, bin nur mein Körper und nicht mehr mein anstrengender Geist. Ich rutsche langsam mit dem Gesicht in seinen Schritt. Und rieche seinen männlichen Geruch. Ich finde, der ist nicht sehr weit weg vom weiblichen. Wenn er sich nicht direkt vorm Sex geduscht hat, und wann macht man das schon, wenn man so lange zusammen ist wie wir, hat der eine oder andere Urintropfen schon angefangen zu gären zwischen Eichel und Vorhaut. Es riecht wie die Küche meiner Oma, nachdem sie auf dem Gasherd Fisch gebraten hat. Augen zu und durch. Es ekelt mich ein wenig, gleichzeitig aber erregt mich dieser Ekel.
Wenn ich schnell alles sauber gelutscht hab, riecht da nichts mehr. Wie eine Kuh ihr Kalb sauber leckt. Ich vergrabe mein Gesicht schnuppernd im weichen Hodensack, reibe meine Wange den hochgestreckten Schaft entlang. Steif wird er schon beim Küssen auf den Mund. Mein Mann Georg ist viel älter als ich, bin mal gespannt, wie lange das noch so gut funktioniert mit der Erektion. Ich küsse die Leisten, oder wie das heißt, wo die Beine am Rumpf festgewachsen sind. Spätestens da höre ich ihn leicht stöhnen und nach mehr verlangen. Im Moment geht es nur ums Bedienen. Ich überlege genau, welchen Rhythmus was haben muss, um ihn in den Wahnsinn zu treiben. Erst mal nur ärgern. Bei den Leisten bleiben, die Eier immer noch fest mit der Hand umschlossen. Vom Küssen langsam ins Lecken übergehen. Ich mache laute Schmatzgeräusche, damit er nicht nur fühlt, sondern auch hört, was ich da mache. Unter dem Sack ertaste ich die Verlängerung des Schwellkörpers, der bis zum Damm geht. Sagt man beim Mann überhaupt Damm? Dort ist eine Linie zu erkennen, die aussieht wie zusammengewachsene Schamlippen, ja, ja, alles das Gleiche. Eigentlich befriedige ich ihn, wie ich es gerne mag, ich stelle mir vor, er hätte eine Vagina. Nur eben so lang gezogen und rausstehend, weit rausstehend! Ich drücke fester auf den Sack und massiere den Schwellkörper dahinter.
Damit ich auch was davon habe, reibe ich meine Vagina an seinem Knie. Wenn ich etwas den Rücken wölbe, passt das zentimetergenau. Von den Leisten wandert meine Zunge langsam rüber zum Schaft. Ich lecke ihn komplett feucht und atme darauf, damit er an den feuchten Stellen die Kühle spürt. Vom Schaft drücke ich meine Zunge runter zu den Eiern. Ich sauge beide Eier in den Mund und spiel mit ihnen rum. Ich habe gelernt, dass ich drauf achten muss, dass sich die Hodenleiter nicht verdrehen. Hab ich schon mal gemacht bei ihm, hat ihm sehr wehgetan! Unter dem Sack massiere ich mit der Zunge den Damm und lasse etwas Spucke für meinen Finger am Poloch. Ich mache meine Zunge ganz fest und spitz und fahre mit ihr von unten über den Damm und die Hodenhaut zwischen die Eier bis ganz nach oben zur Eichel und reibe zugleich mit dem Zeigefinger langsam um die Rosette. Ich mache meine Lippen und die Eichel vorher mit Spucke nass. Wenn ich anfange, an der Eichel zu saugen, öffne ich die Lippen nur ein kleines bisschen, damit es schön eng ist für ihn. Und lasse nur die Spitze der Eichel rein und wieder raus. Rein und wieder raus. Rein und wieder raus. Rein und wieder raus. Ich lasse immer weiter Spucke nachlaufen. Das habe ich bei irgendeinem Mann früher gelernt: dass es wehtut, wenn es trocken wird und reibt. Ich nehme den Schwanz immer tiefer in den Mund. Beim Runterschieben umschließe ich mit engen Lippen komplett den ganzen Schwanz. Beim Hochgehen sauge ich noch dran. Durch den Unterdruck schnalzt es, wenn ich oben angekommen bin. Mit dem Mund nehme ich immer die Vorhaut mit hoch, über die Eichel. Die Zunge drehe ich jetzt immer im Kreis drum herum. Die Eichel beult von innen meine Wange. In Pornofilmen reißen die Frauen den Männern immer mit der Hand die Vorhaut vor und zurück. Vor allem das Zurückreißen geht für meinen Mann gar nicht. Ihm tut das richtig weh. Keine Ahnung, warum die so was in Pornofilmen trotzdem immer zeigen. Ich habe mal in einem Sexbuch gelesen, dass die Frau auch lieber, wenn sie es ihm mit der Hand macht, die linke nehmen soll, wenn sie Rechtshänderin ist. Weil man dann nicht zu feste zugreift und mehr Gefühl in die Sache legen kann.
Leider kann ich nicht wie die Frauen im Pornofilm diesen Trick mit dem ganz Reinstecken, also am Kotzezäpfchen vorbei. Hab mehrmals fast gekotzt und es dann schnell wieder drangegeben. Man muss ja nicht alles nachmachen von Pornofilmen! Auch habe ich schon oft im Leben versucht zu schlucken. Klappt auch nicht bei mir. Finde den Geschmack und die Konsistenz hinten im Rachen beim Schlucken so ekelhaft, dass ich es einfach nicht runterkriege. Ich hab dann ganz starken Würgereiz, klingt auch nicht gerade angenehm für den Mann. Nur mit riesiger schauspielerischer Leistung wäre das zu bewerkstelligen, finde ich zu anstrengend. Würde ich bei einem One-Night-Stand wahrscheinlich hinkriegen, aber meinen Mann kann ich so nicht verarschen. Der weiß ja, dass ich das hasse, also will er auch nicht, dass ich das mache. Das Einzige, was ich leisten kann: Er kommt in meinem Mund, aber ich drücke mit der Zunge das schießende Sperma wieder raus.
Manchmal brauchen der Mund und das Kiefergelenk eine Pause, dann nehme ich den nass gelutschten Schwanz in die Hand und ziehe die Vorhaut vorsichtig immer wieder nach oben über die Eichel. Da wär ich jetzt selber nicht drauf gekommen. Ich habe aber mal meinen Mann, als wir zusammenkamen, darum gebeten, sich selbst zu befriedigen. Wenn man frisch zusammen ist, macht man ja noch so lustige Sachen. Und hab mir dann davon ganz viel abgeguckt. Im Laufe der Zeit habe ich dann festgestellt, je näher ich mit meinen Händen und Füßen seiner Selbstbefriedigung komme, umso besser für ihn. Gegen jahrzehntelange Sexsozialisation kommt man mit eigenen Ideen nicht an. Also besteht meine Herausforderung darin, so nah wie möglich an seine Selbstbefriedigung zu kommen, mit mehr Mitteln natürlich. Er kann nur die Hand einsetzen. Ich: Zunge, Mund und und und. Wenn ich mit der Hand weitermache, hebe ich den Sack an in Richtung Schwanz, während ich mit der anderen Hand Richtung Eichel reibe. Sodass er das Gefühl hat, dass ich alles fest umschlossen habe.
Mittlerweile liegt er da wie ein Käfer auf dem Rücken und gibt sich mir vollkommen hin. Breitbeinig, die Arme von sich gestreckt, die Augen verdreht, wie in Trance. Ich habe ein starkes Machtgefühl, wenn er da so liegt. Ich könnte ihm die Kehle durchschneiden, und er würde es noch nicht mal bemerken. Zwischendurch falle ich immer wieder aus der Rolle der Sexdienerin raus und betrachte die Szene wie eine Außenstehende. Dann muss ich kurz schmunzeln, weil es alles lustig erscheint, was wir da machen. Das wische ich aber schnell wieder weg und mache mit dem gebotenen Ernst weiter.
Meistens fangen wir so an, dass einer den anderen bedient. Wenn wir in der 69er-Stellung was machen, stellen wir immer wieder fest: Ist zwar schön, wenn man so genau die Teile alle sieht, man ist aber vom Bedienen so abgelenkt, dass man nicht mehr richtig annehmen kann. Entweder oder! Nicht, dass wir da je offen drüber gesprochen haben. Das ergibt sich wortlos. Unsere Sexverständigung. Während ich bediene, achte ich immer darauf, dass ich mich auch irgendwo reiben kann, weil er ja sonst meilenweit voraus ist in seiner Geilheit und ich dann mühevoll hinterherhinke. Während ich meinem Kiefergelenk die Pause gönne und mit vollem Einsatz beider Hände die ganze verfügbare Haut auf- und abschiebe, sitze ich mit meiner Vagina breitbeinig auf seinem Oberschenkel und sau da alles ein. Wir steigern uns jedes Mal in einen richtigen Rausch rein, mich macht das sehr stolz, was ich so alles kann mit meinem Mann.
Außer der Heizdecke muss aber für mich immer noch eine Maßnahme getroffen werden. Ich habe unglaubliche Angst, dass mich unsere Nachbarn beim Sex hören könnten. Also gehört es zum Vorspiel dazu, dass alle Türen und Fenster geschlossen sind. Nur dann kann ich absolut locker sein. Ganz selten ist es vorgekommen, dass ich mich auf meinen Mann verlassen habe und er doch ein Fenster vergessen hat. Wenn ich das nach dem ganzen Sexgeschrei feststelle, werde ich ganz rot vor Scham. Und es ist auch eine volle Belästigung für die Nachbarn. Für diese Einstellung werde ich ständig von meinem Mann verarscht. Therapeutisch betrachtet, ist es aber für ihn sehr einfach, diese Rolle einzunehmen, weil er sich ja drauf verlassen kann, dass ich die Verklemmte von uns beiden bin. Jeder nimmt die Rolle in der Partnerschaft ein, die noch frei ist. Ich belege die der Panischen, Zwanghaften, Schamhaften. Dann kann er der Lockere und Exhibitionistische sein. Ich achte ja für ihn darauf, dass ihn keiner hört. Ich schließe Fenster, Türen und Gardinen. Manchmal gehe ich im Dunkeln im Bademantel vors Haus, sage ihm, er soll sich auf dem Bett räkeln, mit Licht an, damit ich draußen testen kann, ob man reingucken kann. Manchmal kommen mir unsere Gardinen nämlich zu dünn vor. Sie sind aus Kravattenseide, braunes Paisleymuster.
Im Winter reicht uns manchmal die Heizecke nicht aus, sodass wir als zusätzliche Wärmequelle in unserem Kellerloch seine Infrarot-Rückenschmerz-Lampe nehmen, ein ganz großes, breites, teures Modell. Und wenn wir dann so rot angeleuchtet werden wie in einem Schaufenster in Amsterdam, mache ich mir sehr große Sorgen, dass die Seidengardine für Vorbeigehende zwei schwitzende, ineinander verkeilte Köper preisgibt. Er weiß, dass ich einen Ratsch im Kappes habe, wie wir sagen. Ich muss von draußen kontrollieren, ob man uns bei diesen Lichtverhältnissen sehen kann. Wie oft im Leben ich schon festgestellt habe, dass Menschen sich offensichtlich gar keine Gedanken machen, was deren 100-Watt-Birne für Schattenspiele an die Fenster wirft. Ein gesunder Mensch würde sich ja eventuell freuen, einer Frau dabei zugucken zu dürfen, wie sie sich entkleidet. Ich denke nur: O Gott, das darf mir nicht passieren, das muss ich auf jeden Fall für mich ausschließen.
Ich befriedige also grade meinen Mann. Es kann vorkommen, dass er minutenlang daliegt und alles geschehen lässt. Meistens liegt er auf dem Rücken, weil er seit vielen Jahren Rückenschmerzen hat und ich somit auch, denn ich kann mich in meinen Mann so gut reinfühlen, dass ich davon auch Rückenschmerzen kriege. Er hasst es, vor mir schwach zu sein. Wir sind auch nur zusammen, weil ich mir ausgedacht habe, dass er irrsinnig stark ist. Wenn ich ihn täglich frage: »Wie geht’s deinem Rücken?«, kastriere ich ihn. Aber ich will doch höflich sein. Will zeigen, dass ich Anteil nehme. Das ist ein Problem, das auftauchen kann, wenn man mit Älteren zusammen ist. Es geht nicht um mein Verhalten, sondern darum, dass er es so schlimm findet, an meiner Seite Rückenschmerzen zu haben.
Dass er einfach so daliegt, ist, glaube ich, für ihn auch neu. Früher hatte er immer Frauen, die er bis zum Abwinken bedienen musste, und dann blieb nicht mehr viel für ihn übrig. Na, vielen Dank, liebe Frauenbewegung! So war das doch auch nicht gedacht. Dass nur noch die Frauen kommen und die Männer gucken müssen, wo sie bleiben. Er liebt es, wenn ich seine Sexdienerin bin. Ich wiederhole alles, was ich kann und gerade beschrieben habe, mal in schnellem und dann in langsamem Rhythmus. Ich muss gar nicht mehr nachdenken, alles geht wie von allein, wie auf Droge.
Wenn wir mitten dabei sind, vergesse ich Zeit und Raum. Das ist der einzige Moment am Tag, an dem ich abschalten kann. Ich glaube wirklich, dass es eher am Atmen als am Sex an sich liegt, aber vielleicht auch an beidem. Im Gegensatz zu dem, was meine Mutter wollte, habe ich in der Therapie über die Jahre gelernt, dass ich auch ein sexuelles Wesen bin. Ich lerne ganz langsam, meine eigene Lust überhaupt wahrzunehmen.
Früher, also die ganzen letzten Jahre mit meinem Mann, war es bei uns wie das dumme Klischee, dass die Frau nie Lust hat und der Mann ständig und überall will! Wenn dann aber die richtigen Knöpfe gedrückt waren, dachte ich jedes Mal: Warum komm ich nicht selber auf die Idee? Warum verführe ich ihn nicht mal, warum muss er das immer bei mir machen? Für ihn war es sehr erniedrigend, andauernd einen Korb zu kriegen und der Initiator für unseren Sex zu sein. Hat oft zum Streit geführt. Ich hätte lügen müssen, wenn ich behauptet hätte, dass ich Lust auf Sex hatte. Hatte ich kein einziges Mal. Habe nur mitgemacht, um ihm einen Gefallen zu tun und weil ich wusste, dass unsere Beziehung sonst den Bach runtergeht. Das weiß ja jeder: Wenn es im Bett nicht mehr läuft, ist es nur eine Frage der Zeit, bis alles den Bach runtergeht. Davon bin ich fest überzeugt. Wenn aber die Anfangslähmung überwunden war, bin ich jedes Mal steil gegangen. Und jedes Mal der Satz danach: Wieso erinnerst du mich nicht einfach daran, was ich für einen Spaß daran habe, dann lass ich mich auch nicht so bitten!
Dank meiner Therapeutin fange ich jetzt immer öfter selbst an. Sage zweimal die Woche: »Heute wieder?« Beim Vorspiel kann ich nur so selbstlos sein, weil ich genau weiß, dass ich das alles immer noch und nöcher zurückkriege, später. Egal, wie viel Mühe ich mir gebe, ihn so versaut wie möglich zu befriedigen, an seine Blasekunst komme ich nicht ran. Sehr oft frage ich ihn, ob er das, was ich für ihn mache, wirklich ansatzweise so gut findet wie ich das, was er bei mir macht. Ein Dilemma. Wir werden es nie rausfinden.
Wenn ich das Gefühl habe, dass es jetzt aber auch mal reicht mit der Bedienung, höre ich langsam auf. Das versteht er immer richtig und kümmert sich dann sehr dankbar um mich. Er macht meine Beine breit und legt sich mit dem Kopf dazwischen, damit er alles ganz genau sieht. Er untersucht mich Millimeter für Millimeter, wie ein Frauenarzt. Sagt man bei Erwachsenen auch Doktorspiele? So ist das jedenfalls. Besser, man hat wenigstens am gleichen Tag geduscht. Wer so nah guckt und riecht, bemerkt jede Unreinheit. Er nimmt meine Hand und legt sie auf meine Vagina. Ich weiß genau, was das bedeutet. Er möchte, dass ich mich für ihn selbst befriedige. Das mache ich für mich alleine nie. Meine Mutter hat mich sehr feministisch erzogen. Ich glaube, da ist irgendwas schiefgelaufen in der Erziehung, und ich bin eine Art sexuelle Katholikin geworden. Ich habe mich noch nie selbst befriedigt. Das Einzige, das im weitesten Sinne unter Selbstbefriedigung fällt, ist ein ganz verschämtes Im-Schamhaar-Rumkratzen. Ich glaube, ich betuppe mich dann selbst. Ich denke erst, ach, es juckt etwas im Schritt, dann kratz ich mich in meinem kurz geschorenen Schamhaar, meistens wenn ich im Bett liege, und merke, dass mich das erregt, und höre schnell wieder damit auf. Aus irgendeinem bescheuerten, unmodernen Grund mach ich dann nicht weiter. Ich verwechsle meine Geilheit im Schritt oft mit irgendeiner Krankheit, will es einfach nicht zugeben.
Wenn wir ein paar Tage keinen Sex hatten und ich manchmal dieses heimliche Kratzen im Bett unter der Bettdecke gemacht habe, tut die Geilheit irgendwann richtig weh, ich will aber nicht wahrhaben, dass ich geil bin, und denke lieber, ich habe einen Pilz oder eine Blasenentzündung oder dass ich mich mit Herpes angesteckt habe. Obwohl ich total immun dagegen bin, sonst hätt ich das ja schon längst gehabt. Sagt man doch so bei Herpes, entweder man kriegt das, oder man kriegt das nicht, und ich scheine immun zu sein. Wenigstens gegen etwas. Diese Gedanken an irgendeine Krankheit bleiben im Kopf, bis ich dann irgendwann Sex habe, auf Initiative meines Mannes natürlich, plötzlich sind alle Beschwerden weggebumst.
Wenn aber mein Mann das möchte, mach ich für ihn die größte Selbstbefriedigungsshow aller Zeiten. Wenn er zuguckt und mich dazu auffordert, dann gebe ich Vollgas. Ich reibe, und ich schubber, was das Zeug hält. Er guckt mir kein einziges Mal ins Gesicht. Ich bestehe ja dann auch nur aus Vagina! Ich bin meine Vagina. Er bleibt mit dem Kopf zwischen meinen Beinen und guckt ganz genau zu, wie ich alles abrufe, was ich je über Selbstbefriedigung im Internet und auf DVD gesehen habe. Seine Augen, seine Nase, sein Mund sind nur ein paar Zentimeter von meinen inneren Schamlippen entfernt. Ich mache kreisende Bewegungen auf meiner Klitoris, ich klappe die Schamlippen auseinander, reibe mich dazwischen, und ab und zu schiebe ich ein oder zwei Finger rein und ficke mich damit selber. Auch wenn mich das jetzt eher belustigt als aufgeilt, spätestens wenn ich sehe, wie sehr ihn das erregt, erregt es mich zurück.
Länger hält er das nicht mehr aus und will mit seinem Schwanz machen, was meine Finger da tun. Ich liege vor ihm, komplett nackt, und mache die Beine so weit auseinander, wie es geht. Er rutscht nach vorne und peitscht ein paarmal mit seinem harten Schwanz gegen meine Vagina. Ich glaube, das hat er sich auch in einem Pornofilm abgeguckt. Finde ich aber auch richtig gut, wenn er das bei mir macht. Ohne dass ich jetzt erklären könnte, warum oder was das genau soll. Ein paarmal draufgepatscht und rein. Ich komme meistens schon sehr schnell. Ein paar Stöße reichen. Und das war’s dann bei mir. Meine Mutter und führende Feministinnen haben mich so erzogen, dass es einen vaginalen Orgasmus nicht gibt. Sie sitzen immer zwischen Georg und mir und flüstern mir ins Ohr: »Es gibt keinen vaginalen Orgasmus!« Jetzt, mit dreiunddreißig, muss ich leider ganz alleine rausfinden, dass das nicht stimmt. Beim Sex habe ich das immer gespürt und für ein psychisches Kommen gehalten. Ich dachte: Nur weil ich die Vorstellung so geil fand, gestoßen zu werden, der Gedanke, jajajaahh, er ist in mir, er füllt mich aus, ohne Berührung der Klitoris, würde ich kommen. Weil mir ja aus politischen Gründen sehr überzeugend eingetrichtert wurde, dass es ein anderes Kommen außer dem klitoralen nicht gibt! Ist doch klar, dass man dann irgendwann denkt, dass man verrückt ist oder auf jeden Fall eine starke Einbildungskraft besitzt. Im Bett habe ich gespürt, dass meine feministische Erziehung meilenweit an der Realität vorbeigeht. Ganz klammheimlich und hinter dem Rücken meiner Mutter und dem von Alice Schwarzer habe ich gedacht: Die haben unrecht! Ich spüre das doch fast jedes Mal: Es gibt ja wohl einen vaginalen Orgasmus! Verfickt noch mal! Habe jetzt auch die wissenschaftliche Bestätigung gelesen in Geo Kompakt Nr. 20. Mein Lieblingsheft. Es heißt: »Liebe und Sex«. Ich habe viel daraus gelernt, noch viel mehr als aus der Emma. Alice Schwarzer sitzt immer beim Sex zwischen mir und meinem Mann und flüstert mir ins Ohr: »Ja, Elizabeth, das denkst du nur, dass du jetzt einen vaginalen Orgasmus hast, das bildest du dir nur ein, um dich deinem Mann und seinem Machtschwanz zu unterwerfen.« Aus der besagten Geo Kompakt habe ich gelernt, dass die Frau zwei Wege hat, einen Orgasmus zu kriegen, auch auf beiden Wegen gleichzeitig. Der vaginale Orgasmus wird, jetzt mal laienhaft formuliert, durch die Nervenbahnen der Gedärme ans Hirn weitergeleitet, der klitorale durchs Rückenmark. Ich spüre manchmal ein extremes Kommen, das ist dann wahrscheinlich auf beiden Wegen gleichzeitig. Ich habe auch das Gefühl, dass ich am schnellsten komme, wenn ich es mir nehme, wie ich es brauche. Also ich meine, dass ich eigentlich seine Stoßbewegungen vollführe, ich haue mich gegen seinen Schwanz, mehr als dass er mich stößt. Dann ist es für mich genau der richtige Rhythmus. Und eine Sache von Sekunden, bis ich komme. Ich bin sehr laut, jedes Mal flippe ich vollkommen aus. Und fertig. Er muss immer sehr drauf achten, dass er nicht kommt, weil es ihn natürlich wahnsinnig erregt, wenn ich mir nehme, was ich will. Er steht darauf, wie geil mich sein Schwanz macht. Aber wahrscheinlich redet er sich das nur ein, und in Wirklichkeit mache ich mich selber geil. Also muss er sich mal ganz kurz richtig konzentrieren und an seine katholische Mutter denken oder was, bis ich fertig bin. Damit er nicht vor mir kommt und es das dann war. Ich bin sehr dankbar dafür, dass er es so ernsthaft betreibt mit dem Vortrittlassen. Ich schätze, dass es in sieben Jahren Beziehung nur dreimal passiert ist, dass er zu früh gekommen ist und sich mein Kommen durch Schwanz damit erledigt hatte. Das hat er aber jedes Mal noch und nöcher mit Finger, Zunge und Zeh wiedergutgemacht. Ich hab ja dann richtig was davon, von seinem schlechten Gewissen.
Abgesehen von diesen drei Ausnahmen, ist er immer dran, nachdem ich gekommen bin. Dann bin ich wieder, wie am Anfang, seine Dienerin. Das ist das einzige Mal, dass ich beim Sex spreche. Leider kann ich keinen Dirty-Talk. Aus dem gleichen Grund wahrscheinlich, aus dem ich mich auch nicht selbst befriedige. Alles meine Mutter schuld! Wie immer. Ich frage: »Wie willst du kommen?« Gibt ja nicht sooo viele Möglichkeiten. Er wählt aus folgenden Angeboten aus: Hand, Mund, Vagina – aber ich ficke ihn, sitze also oben, auch schon wegen seinem Rücken – und ganz selten, weil schon mal sehr schmerzhaft für mich gewesen: in meinem Arsch. Wenn ich mich mit meiner Vagina auf ihn draufsetzen soll, will er meistens, dass ich es rückwärts mache. Damit er meinen Arsch greifen und angucken kann. Er zieht dann meine Pobacken auseinander, damit er genau sehen kann, wie sein Schwanz sich in meiner Vagina bewegt.
Er erzählt mir genau, was er sieht. Im Gegensatz zu mir kann er Dirty-Talk sehr gut. Er bedauert sehr, dass ich selber leider nicht sehen kann, wie die Haut meiner Vagina seinen Schwanz umschließt, wenn ich hochgehe. Er sagt, es sieht aus, als wäre meine Vaginahaut die Mütze für den Schwanz, die Haut bleibt etwas hängen und wird um den ganzen Schwanz rum lang gezogen. Ein paarmal in unseren gemeinsamen sieben Jahren hat er mit diesem Auseinanderreißen meiner Pobacken die Polochhaut etwas angerissen und mich leicht damit verletzt. Ich sage dann am nächsten Tag nach meinem Toilettengang: »Bitte nächstes Mal nicht ganz so feste die Pobacken auseinanderreißen, ist was kaputtgegangen, danke.« Er hat direkt ein schlechtes Gewissen und gelobigt Besserung. Passiert eben im Eifer des Gefechts!
Habe oft das Gefühl, dass geiler Sex öfter mal an der Verletzung vorbeischrappt. Auch beim Aufspreizen meiner Vagina, damit er sie voll untersuchen kann, reißt manchmal die empfindliche Haut. Bis zu einem gewissen Grad macht mich ein leichter Schmerz noch geiler, weil ich mir dann einrede, er hat sich aus lauter Geilheit nicht mehr unter Kontrolle und kann seine Kräfte nicht mehr einschätzen. Das klingt jetzt so wie bei einem Downsyndrom-Mann. So ist das aber bei mir im Kopf beim Sex. Wenn es gerade auszuhalten ist, warte ich, bis wir fertig sind, und beschwere mich erst dann sehr freundlich. Sehr oft hat er auch meine harten, erregten Nippel geknickt, das tut vielleicht mal weh! Ganz vorsichtig möchte ich ihm das beibringen, dass es mir wehgetan hat, weil er sonst ein zu schlechtes Gewissen hat und nächstes Mal zu vorsichtig ist. Das will ich auch nicht. Und er soll auf keinen Fall dauerhaft das Gefühl haben, dass er ein Grobian ist.
Jetzt soll er ja kommen. Mit den Jahren habe ich einen Trick entwickelt, den ich zum ersten Mal in dem Film Chicken Ranch von Nick Broomfield gesehen habe. Da wenden ihn Prostituierte bei ihren betrunkenen Freiern an, damit der Fick schneller vorbei ist und der Stundenlohn steigt. Sobald ja der Mann gekommen ist, war’s das mit dem Ständer, dann hat die Prostituierte für das gleiche Geld schneller frei. Diesen Trick wende ich auch am Ende vom Sex mit meinem Mann immer an. Wenn ich gekommen bin, sehe ich meistens nicht richtig ein, warum das jetzt noch Ewigkeiten weitergehen soll. Ich habe über die Jahre extrem gut meine Scheidenmuskulatur trainiert. Ich kann mich innen um ein Vielfaches enger machen, als ich es normalerweise bin. Keine Ahnung, ob man durch die Geburt eines Kindes ein minibisschen ausleiert, mein Gynäkologe sagt, man leiert nicht aus, bildet sich alles zurück, wie es vorher war. Auf jeden Fall ist es für das Engegefühl des Mannes auch nicht unbedingt förderlich, dass ich beim Sex so viel Flüssigkeit produziere. Beim Vorspiel ist das immer sehr willkommen, hinterher beim Kommenwollen mit vaginaler Reibung am Schwanz eher hinderlich. Wenn er reinsteckt, bevor ich richtig feucht bin, merke ich ihm an seiner Reaktion an, dass ihn das geiler macht, weil dann die Reibung stärker ist. Jedenfalls habe ich ja, wenn ich schon gekommen bin, auch nicht mehr so die große Lust und will, dass es bald zu Ende geht. Außer es ist Weihnachten oder unser Jahresjubiläum oder so, dann würde ich mich noch hinreißen lassen, ihn ganz lang nach meinem Kommen zu befriedigen. Also kneife ich alles, was ich an Scheidenmuskulatur habe, zusammen, und sofort, aber wirklich sofort, kommt er, da kann der gar nichts gegen machen. Das gibt mir immer ein sehr wohliges Gefühl, dass ich mit meinem inneren festen Klammergriff um seinen Schwanz selber in der Hand habe, wann Feierabend ist. Toll. Nachdem er ziemlich viel beim Kommen rumgeschrien hat, frage ich fast immer im Scherz, ob er jetzt gekommen sei.
Ich finde, dass die Lautstärke doch sehr das sexuelle Gefühl steigert, es betont das Animalische und Rauschhafte. Früher, am Anfang unserer Beziehung, war ich die Einzige, die immer geschrien hat, bis ihm die Ohren abgefallen sind. Mittlerweile schreit auch er mir die Ohren ab. Das macht großen Spaß.
Ich bin sehr gegen Nachspiel. Ich werde vom Sex sehr hibbelig und will sofort aufstehen und was machen, wie zum Beispiel mich waschen. Nicht weil ich mich dreckig fühle, sondern weil ich anfällig bin für das Frauenleiden Nummer eins: Blasenentzündung. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich diese Entzündung besonders häufig nach Sex bekomme. Also sind ganz unwissenschaftlich in meinem Kopf die männlichen Bakterien schuld. Die wasche ich mir schnell weg und lasse meinen Mann wie immer am Tatort liegen, weil er sofort nach dem Sex in eine tiefe Entspannung fällt und fest schläft, manchmal stundenlang. How does a cliché become a cliché? Habe gelesen, dass dieses unterschiedliche Verhalten von Mann und Frau nach dem Sex völlig normal ist und an den Hormonen liegt. Das beruhigt mich sehr, das wissenschaftlich begründet zu sehen, weil ich mir vorher jahrelang anhören musste, wie unromantisch ich sei, wenn ich immer sofort aufspringe und aufräume, zum Beispiel. In dem Artikel stand, dass dieser Witz, den alle machen über den kleinen Tod des Mannes und die Hyperaktivität der Frau nach dem Sex, mit der Ausschüttung von unterschiedlichen Hormonen zu tun hat. Ich liebe Wissenschaft, weil die schlechtes Gewissen wegmacht. Seitdem wir das wissen, darf ich, ohne böse angeguckt zu werden, sofort aus dem Bett raus und was machen. Er schläft schon tief und fest, ich schalte beide Heizdecken aus, damit er nicht im Schlaf durch die schmorende Heizdecke erstickt! Und schnappe mir ein Stofftier meiner Tochter, das auf unserem Schlafzimmerboden rumliegt, einen Orang-Utan, und halte ihn von unten an meine Vagina, damit das Sperma auf dem Weg ins Badezimmer nicht rausläuft. Das kommt komischerweise nie in einem Film vor, nachdem ein Paar Sex hatte, dass immer irgendwann die ganze Suppe wieder aus der Frau rausgelaufen kommt. Das nervt vielleicht mal! Ich lächele vor mich hin. Es gibt nach dem Sex keine Probleme im Kopf. Ich denke immer nach dem Sex, lockerer und freier geht nicht, und dann setzt er immer noch einen drauf, wir setzen noch einen drauf. Kurz vor dem Badezimmer steht unser Rattanwäschekorb, wir sind sehr für alte, dunkelbraune Sachen, in Vorbereitung auf unseren Tod, da kommt der Orang-Utan rein, und ab ins Bad. Falls meine Tochter das Stofftier da drin finden würde, wäre das Sperma bis dahin schon getrocknet. Ein Kind würde das sowieso eher für Rotze halten, bestimmt. Ich setze mich verkehrt rum auf unser Bidet und wasche mich, so wie ich es schon als Kind in der Blechtrommel gesehen habe.
Meine Mutter hat uns Kindern ständig nicht jugendfreie Filme gezeigt. Sie war der Meinung, bei Kunstfilmen könne es kein FSK geben. Das sitzt seitdem so tief in meinem Kopf, dass ich mir nach dem Sex, hockend über dem Bidet, immer vorkomme wie das Dienstmädchen aus der Blechtrommel, Katharina Thalbach, die als nachträgliche Empfängnisverhütung versucht, das Sperma ihres Arbeitgebers mit Wasser rauszuspülen. Die Bilder gehen, glaube ich, aus meinem Kopf niemals wieder weg. Nach dem gründlichen Abwaschen mit Seife spüle ich noch mal mit klarem Wasser nach.
Ich schnappe mir das für die Umwelt luftgetrocknete, kratzige Handtuch und trockne mich im Schritt viel zu feste ab. Ich möchte schnell fertig werden. Gleich kommt mein Kind von der Schule, dann wollen wir bald essen. Es ist noch nichts gemacht.
Im Spiegel betrachte ich mich nackt. Nach dem Sex sehe ich am besten aus, weil dann die Gesichtszüge komplett entspannt sind. Die Brüste sind massivst durchblutet und ein minibisschen größer, die Nippel stehen steif ab, die Pupillen sind wie im Drogenrausch geweitet, die inneren Schamlippen und die Klitoris sind dick und geschwollen, von der Reibung und der Geilheit, und hängen zwischen den äußeren Schamlippen raus. Am Hals und zwischen den Brüsten habe ich meine typischen roten Orgasmusflecken. Die kann man nicht faken. Da freut sich mein Mann immer sehr drüber, über diese roten Flecken auf meiner weißen Haut. Er hat immer große Angst, dass ich was faken könnte. Mach ich aber nicht, muss ich auch nicht. Ich kämme mich, damit ich nicht so derangiert aussehe, wenn Liza heimkommt. Mit Make-up-Entferner und einem Wattestäbchen wische ich die Sexschmiererei unter meinen Augen weg. Und falte zwei Blatt Klopapier in die Unterhose, bevor ich sie hochziehe. Bloß nicht mehr, das bringe ich auch meinem Kind für Toilettengänge bei, für die Umwelt.
Ich schleiche mich noch mal so leise, wie es geht, in den begehbaren Schrank neben unserem Schlafzimmer, krame gemütliche Kleidung heraus für den Abend. Ich muss gleich, vor dem Abendessen mit der Familie, noch kurz zu meiner Therapeutin Frau Drescher. Da darf ich hin, egal, wie ich angezogen bin. Das ist ja das Schöne. Egal, wie ich aussehe, egal, wie ich rieche, ich kann immer dahin, egal, in welchem Zustand. Sagen das nicht die Spinner über ihren Gott, normalerweise? Aber die sind sich nicht ganz sicher und waschen sich doch lieber für ihn, falls er doch nicht so lieb ist, wie sie ihn erfinden.
Frau Drescher wünscht sich sogar, dass ich auch mal bei ihr zur Toilette gehe, groß, das traue ich mich aber noch nicht. Wir arbeiten dran!
Und dann laufe ich nach oben in die Küche. Auf dem Weg dahin schließe ich wieder alle Türen, damit ich gleich mit meiner Tochter Lärm machen kann, ohne Georg zu wecken. Ich weiß, dass mein Mann mindestens eine Stunde schläft. Ich rede mir ein, dass ich ihn so geschafft habe. Dann kann ich ihn besser schlafen lassen, weil ich stolz bin. In dieser Stunde koche ich was Gesundes. Und durch tiefes Atmen schaffe ich, dass diese roten Durchblutungsflecken am Hals weggehen, die soll mein Kind nicht sehen. Kinder wollen nicht, dass Erwachsene Sex haben. Von unserem Brettchenstapel ziehe ich das mit der Brenngravur Knoblauch und Zwiebeln raus und von dem magnetischen Messerhalter das Mühlenmesser mit der Eddingschrift Knoblauch. Seit ich nicht mehr rauche, habe ich so gute Geruchs- und Geschmacksknospen, dass ich bei Obst rausschmecken kann, was vorher mit dem Messer geschnitten wurde, und davon, wenn es Zwiebeln oder Knoblauch waren, fast kotzen muss. Wenn Sachen, die eigentlich süß schmecken sollten, herzhaft schmecken, könnte ich durchdrehen. Ist auch erst so, seit ich älter geworden bin, früher war ich lockerer. Viel lockerer!
Unter der Spüle in der Holzkiste wohnen die Zwiebeln. Das hat meine Oma immer gesagt: »Now, where do the onions live?« Meine Exschwiegermutter hat mir einen guten Trick beigebracht, wie man am besten ganz fein Zwiebeln schneidet. Zum Braten in der Pfanne, als Basis von fast jedem Gericht, das ich koche, sollen sie so fein gewürfelt sein, dass sie sich beim Braten fast auflösen. Ich schäle die Zwiebel, schneide Kopf und Po ab und strecke dann die Zunge raus, nur die Spitze, das reicht, weil sich die Säure, die von der Zwiebel aufsteigt, die nächste feuchte Stelle sucht. Das wäre bei geschlossenem Mund das Auge und fühlt sich unangenehm an. Ich weine sehr ungern. Gar nicht erst anfangen, sonst hör ich nie wieder auf. Aber so fängt die Zunge vor dem Auge die ganze Säure ab. Das Auge brennt nicht, und ich muss gar nicht erst anfangen zu weinen. Ich drehe die Zwiebel mit dem abgeschnittenen Kopf zu mir, schneide waagerecht und senkrecht ganz oft eng nebeneinander tief ein und schneide dann von der Seite die kleinen Würfel ab. Die schmeiße ich in die Pfanne mit dem Bioolivenöl und dünste sie, bis sie glasig werden. Aus dem Kühlschrank nehme ich den Wirsingkopf, das schönste Gemüse überhaupt. Mit einem großen, sehr scharfen Messer schneide ich den Wirsing in der Mitte durch und gucke mir die Schnittfläche genau an. Er wird von außen nach innen immer hellgrüner. Ich setze zwei Keilschnitte an, um den harten Strunk zu entfernen, werfe ihn in die Biotonne unter der Spüle und schneide den ganzen Wirsing in dünne Streifen. Am Anfang denke ich jedes Mal, es ist zu viel, wenn es aber dann in der Pfanne dünstet, reduziert sich das Volumen. Ich werfe eine Handvoll von meiner besonderen Zutat dazu: Biogemüsebrühe ohne Hefeextrakt. Das war sehr schwierig zu finden. Auch im Bioladen gibt es nur Brühe mit Hefeextrakt, und das ist das moderne Greenwashing-Wort für Glutamat. Ich, als gute Mutter, kann Glutamat in unserer Küche nicht dulden.
Ich habe mehrmals ein Experiment gemacht, als es noch Fleisch bei uns gab, das war vor der Jonathan-Safran-Foer-Ära: Ich habe echte Hühnerbrühe aus ganzem Huhn und Knochen gemacht. Kam mittelmäßig an in der Familie. Am nächsten Tag habe ich eine Biotütenhühnersuppe aus dem Bioladen serviert, und alle waren begeistert. Das liegt nur an dem Geschmacksverstärker Glutamat beziehungsweise Hefeextrakt, klingt so schön harmlos. Wenn ich meine Familie an diesen Geschmacksstoff gewöhne, schmeckt denen nur noch das Verstärkte und die ganzen natürlichen Sachen nicht mehr. Deswegen will ich da nichts mit zu tun haben.
In die Pfanne schütte ich das besondere Biobrühepulver ohne Glutamat, hab ich im Internet gefunden, noch etwas Wasser, das durch Verdampfen das Gemüse garen soll, einen ganzen Becher Sahne drüber, ein Stück Butter, viel Salz, viel Pfeffer, Abendessen fertig.
Es klingelt an der Tür, ich mache Liza auf. Auf dem Weg zur Tür denke ich: Kochen hilft gegen Verrücktwerden. Gemüse hilft, nicht verrückt zu werden.
»Wie war’s in der Schule?«
»Gut.«
Wenn die reinkommt mit Teenagerjacke, Röhrenjeans und Stiefel, kann ich gar nicht glauben, wie groß sie ist. Das soll mein Kind sein? Toll. Ich habe es geschafft, sie ist aus dem Gröbsten raus, sagt man dazu. Ich habe es geschafft, dass sie noch lebt. Das ist in unserer Familie gar nicht so üblich. Einer meiner Brüder war mit sechs schon tot, der andere mit neun, der dritte mit vierundzwanzig, da muss ich meine Tochter erst noch hinkriegen! Aber ich habe schon mehr geschafft als meine Mutter. Mein Kind lebt noch. Also hundert Prozent meiner Kinder sind älter als sechs geworden. Sie hatte fünf, drei sind tot. Eins davon war jünger, als meine Tochter jetzt ist, also hat sie zwanzig Prozent ihrer Kinder vor dem achten Lebensjahr verloren.
Ich spüle die Sachen schnell weg, die ich für das Kochen dreckig gemacht habe. Der Zwiebelgeruch muss nicht ganz weggewischt werden, weil das Brett ja nur dafür benutzt wird. Wir sind so spießige Trickser zu Hause!
»Kannst du deine Jacke bitte nicht auf den Boden schmeißen, jedes Mal wenn du reinkommst?«
»Warum nicht?«
»Wo ist denn dein Diener, der dir alles aufhebt?«
Sie zeigt auf mich.
Wir müssen beide lachen. Sie hebt die Jacke auf und hängt sie an unsere handgeschnitzte Kindergarderobe, die mir nur bis zum Knie geht.
»Kannst du bitte den Tisch decken.«
»Oh, nee.«
»Sonst kriegst du nichts zu essen.«
»Okay.«
Sie stampft demonstrativ zur Arbeitsfläche, schwingt sich wie am Reck hoch, sie schiebt die Spitze vom Stiefel als Unterstützung in den Griff der Schublade und steht oben drauf.
Sie fragt: »Was gibt es denn?«
»Wirsing.« Ich hebe den Deckel der Pfanne an.
»Nur?«
Sie verdreht die Augen und lässt kurz die Zunge raushängen.
»Ja.«
Ich lache sie an. Es ist ein alter Trick von mir, eine große Portion von nur einem Gemüse zu machen. Sie kommt mit Hunger aus der Schule, und auch wenn sie sich noch so viel beschwert über das von mir ausgesuchte Gemüse, sie isst sich dann eben richtig satt daran, einfach weil es nichts anderes gibt. Das macht mich als Mutter sehr glücklich. Das Kind muss gesund ernährt werden. Da müssen viele Vitamine in den Bauch. Dafür mache ich alles. Weil ich mein Kind liebe.
Man denkt sich ja im Laufe der Jahre Sachen aus, wie das so laufen soll, wie man eine gute Mutter darstellt. Und wenn ich darstellen schreibe, meine ich auch: darstellen. Wie bin ich am besten, damit ich für mein Kind am besten bin? Ich möchte bodenständig sein, so viel zu Hause wie möglich. Damit sie einen möglichst langweiligen, immer wiederkehrenden Alltag hat, das, was ich als Kind nie hatte. Und darauf basierend in die Welt hinausziehen, weil es zu Hause so langweilig ist.
In meiner Kindheit war alles viel zu aufregend, ständig Umzüge, ständig wechselnde Väter, dass mir nichts anderes übrig blieb, als häuslich zu werden, gegen Reisen und Aufregung zu sein. Immer frisch kochen. Sehr selten Essen bestellen, höchstens viermal im Jahr, nie nie niemals, nur über meine Leiche zu McDonald’s.
Bei uns wird immer am Esstisch gegessen, mit allen, die anwesend sind. Keiner darf während des Essens ans Telefon gehen, lesen oder singen. Ich weiß nicht, warum, aber dieses Singen scheint ein großes Problem zu sein, meine Tochter und auch mein Stiefsohn wollen immerzu singen bei Tisch. Das ist strengstens untersagt, weil sonst kein Essen in den Mund reingeht. Das sind jetzt eher die unwichtigeren Sachen, mit denen ich meinem Kind eine gute Mutter vorspiele. Davor auf der Liste steht: Ich signalisiere ihm zu jeder Sekunde des Tages durch mein Verhalten, dass es ein Wunschkind ist und ein Kind der Liebe. Das stimmt auch. Ich zeige ihr, dass ich es gut finde, dass sie geboren wurde. Dass ich stolz auf sie bin, wie sie ist, was sie kann, und sage ihr regelmäßig, dass ich sie liebe. Sage ihr, dass sie schlau und schön ist. Und sehr lustig. Alles lernen kann, wenn sie nur will. Ich versuche ihr durch Taten zu signalisieren, dass ich es auch okay finde, wenn sie nicht so wird wie ich, dass ich sie dann trotzdem liebe, egal, was für einen Wahnsinn sie in ihrem Leben noch abfackeln wird. Das hat meine Mutter bei mir nicht gemacht, sie hat mir immer signalisiert: Entweder du bist so wie ich, oder ich liebe dich nicht. Das wird nicht von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das verhindere ich. Ha!
Liza holt drei Teller aus dem Regal, hockt sich hin, legt die Teller auf der Arbeitsfläche ab und springt runter, flink wie ein Affe. Sie muss die auseinandergepflückten Zeitungen, die Zeit und den Freitag, die einzigen Zeitungen, die wir lesen, zur Seite räumen, damit sie unsere Seite des Esstischs decken kann. Es hätten sieben Personen Platz. Wir benutzen aber nur ein Ende des Tischs, damit wir ganz nah beieinandersitzen. Ich zwinge sie, den Tisch zu decken, weil ich es in einem Erziehungsbuch von Jesper Juul gelesen habe. Mein erster Impuls wäre immer, alles für sie zu machen, um ihr zu zeigen, wie sehr ich sie liebe. Dann würde sie aber wohl nie was lernen und könnte mit sechzehn keine Wäsche waschen oder Spülmaschine einräumen. Ich muss meinem ersten Impuls widerstehen und sie quälen, Sachen zu machen, die sie eigentlich in unserem Haushalt gar nicht machen müsste. In dem Erziehungsbuch steht, dass man einem Kind alles beigebracht haben muss, bis es zwölf ist, damit es zur Not allein wohnen könnte, danach ist es zu spät fürs Beibringen. Das mache ich jetzt schnell die verbleibenden fünf Jahre. Tisch decken, Kleidung falten, Zimmer aufräumen und Toilette putzen.
Georg kommt von unten hoch. Er sieht verschlafen aus, ich grinse ihn an, das soll heißen: Ich kann grad nicht sprechen, weil das Kind im Raum ist, aber das war geil mit dir. Er grinst zurück. Er trägt seine locker sitzende, lange, weiße Unterhose mit Eingriff. Ich mache ihm oft dafür Komplimente, weil er dann aussieht wie ein Cowboy, der freihat, und das gefällt mir. Wenn ich ihm über den Po streichele, was ich auch oft mache, wenn das Kind nicht guckt, fühlt sich der Stoff unglaublich weich an, er ist schon hundertmal gewaschen worden und an vielen Stellen fast durchsichtig.
Ich habe in Geo Kompakt (das ist ja wohl meine neue Sexbibel!) eine Theorie gelesen, die absolut auf meine Liebe zu meinem Mann zutrifft. Sie heißt »Hängebrückentheorie«. Eine Frau, in dem Test der Lockvogel, ziemlich attraktiv, stoppt ganz viele Männer in ganz normalen Situationen, in der Fußgängerzone, auf dem Bürgersteig, und stellt ihnen ein paar Fragen. Angeblich für eine wissenschaftliche Studie. Die Männer antworten brav, und sie gibt ihnen ihre Nummer, falls sie an dem Ergebnis der Umfrage interessiert sind. Das Gleiche macht sie auf einer Hängebrücke in einem Park, wo auch ständig Erwachsene drübergehen. Die Brücke bewegt sich im Wind hin und her, und auch dort stellt die Frau die gleichen Fragen und verteilt ihre Nummer an alle Männer. Das Ergebnis des Experiments: Deutlich mehr Männer von der Hängebrücke als vom Bürgersteig rufen sie nachher an. Das bedeutet, dass man schneller eine Verbindung aufbaut, wenn man in einer extremen Situation ist. Das Gefühl auf der Hängebrücke sagt den Männern, oh, wir haben das beide zusammen durchgestanden, ich finde sie sehr attraktiv. Weil man in einer extremen Situation Bindung zu dem Mitleidenden sucht. Die Hängebrücke beim Kennenlernen zwischen mir und meinem neuen Mann war: die Schwangerschaft beziehungsweise die Geburt.
Wir haben uns ganz langweilig, wie fast jedes Paar, bei der Arbeit kennengelernt. Er war Galerist und wollte meine Fotos ausstellen. Seine Frau stand kurz vor der Geburt, ich war ganz kurz nach der Geburt. Wir hatten also beide gerade mit einem anderen Partner eine Familie gegründet. So weit die Hängebrücke. Und dann ging’s ab. Wie zwei Kometen sind wir aufeinander zugeflogen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Aber ohne dass wir das bemerkt haben. Es lief praktisch in einem Programm im Hinterkopf ab, wie ein Trojaner auf einem Computer, jenseits unserer bewussten Wahrnehmung. Wir dachten einfach: Schön, wie wir uns verstehen, wir müssen unbedingt Freunde werden. Wir fühlten uns wie Seelenverwandte, rein platonisch, versteht sich.
Die Geburt war dann unsere Hängebrücke. Er wollte alles wissen von mir und unserer Geburt, es gab eigentlich kein anderes Thema. Nebenbei fingen wir an, zusammen zu arbeiten. Viel zu früh, also vor der Beendigung des Mutterschutzes, musste ich oder durfte ich meine Fotos in der Galerie von Georg ausstellen. Wegen dem Stress, dem positiven wohlgemerkt, blieb nach drei Monaten Stillen die Milch weg. So konnte ich erzwungenermaßen wieder voll arbeiten und mein damaliger Freund endlich bei der Fütterung des Vogelbabys helfen. Als mein zukünftiger Mann gebar, mit seiner damaligen Frau natürlich, war ich aufgeregter als bei meiner eigenen Geburt. Ich hatte das Gefühl, ich würde ein zweites Kind kriegen, weil ich mich dem Vater so verbunden fühlte. Die Kinder sind ja altersmäßig so nah beieinander, dass man das Zwillingsgefühl nie loswird. Alles wirkt wie vorbestimmt. Ja, ja, gibt es nicht, Vorbestimmung, Gott, Schicksal, fick dich, nur Zufall und Hängebrücken gibt es. Wir dachten, wir sind befreundet, wir haben auch niemanden angelogen, weil wir es selber einfach nicht besser wussten. Als sein Sohn auf der Welt war, wen rief er da an? Vor dem Krankenhaus stehend, wie Männer das so machen, nach der Geburt, nicht die eigene Mutter oder die Geschwister, nein, mich! Ich freute mich so für ihn. Alles war gut gegangen.
Ich hatte meinen damaligen Mann bei unserer Geburt beobachtet und gedacht: Oh, das kann man aber besser machen. Und mein zukünftiger Mann hatte seine Frau bei der Geburt beobachtet und gedacht: Oh, das kann man aber besser machen. Und wir wussten beide, wer das besser könnte. Wir! Spätestens in dem Moment, wo er auch ein eigenes Kind hatte, war unsere Liebe nicht mehr aufzuhalten. Ich dachte, er ist stärker als mein Mann. Er dachte, ich bin stärker als seine Frau. Sollte sich natürlich nachher alles als Irrtum herausstellen, wie sich fast alles immer als Irrtum rausstellt, was man am Anfang voneinander denkt, wenn man verliebt ist. Er ist der Kerl, natürlich hat er einen Sohn. Ich bin die Frau, und natürlich habe ich eine Tochter. Passt doch alles perfekt, wenn nur nicht die alten Partner wären. Die mussten wir noch aus dem Weg räumen. Aber wie? Ich stellte mir das alles ganz einfach vor. Ich habe aber auch meine Mutter als Vorbild, die Verlasserin schlechthin. Er hat als Vorbild seine bescheuerten christlichen Hardcoretreueeltern, seit mehr als fünfzig Jahren verheiratet. In der gesamten Familie null Komma gar keine Scheidung. Wie soll er da raus? Seine Frau merkte sofort alles: »Du wirst dich doch nicht in die verlieben?«
Frauen merken so was meiner Meinung nach schneller als Männer, oder wenigstens sind sie so bescheuert, das dann auch noch anzusprechen, spätestens ab da geht’s bergab. »Liebst du mich noch?« – »Äh.« Eine Sekunde zu lang überlegt. Erwischt. Was für ein schlechter Schauspieler er ist. Mann, sag doch einfach: »Klar liebe ich dich! Was für eine Frage?« Dann hätten wir etwas mehr Zeit zum Denken gehabt. So war es bei denen schon vorbei, bevor es gerettet werden konnte.
Das hatte er nämlich erst mal vor. Plötzlich bekam er die christliche Krise, Familie und alles, und wollte seine alte Familie retten. »Wir dürfen uns nicht mehr sehen, ich hab grad mit ihr ein Kind bekommen, ich muss ihr und uns noch eine Chance geben. Für das Kind.« Ich musste warten. Ich war mir in der ganzen schmerzhaften Wartezeit sicher, dass die das hinkriegen würden. So ist man doch, wenn man wirklich liebt, man ist ja dann nicht selbstsicher und sagt sich: Klar, kein Problem, du kommst sowieso wieder. Ich hatte meinem damaligen, alten Mann noch nichts sagen müssen, er wollte nichts bemerken oder hat wirklich nichts bemerkt. Viel gab es auch nicht zu bemerken.
Wir haben kein einziges Mal Sex gehabt, bevor wir unsere Partner verlassen haben, deswegen wundert mich das so, dass es so gut läuft zwischen uns. Eigentlich immer besser wird, sogar sexuell. Habe ich noch nie erleben dürfen, wie das ist, lange mit der gleichen Person Sex zu haben. Danke, Mutter!
Trotzdem bin ich mir sicher, dass man nur wegen Sex zusammenkommt, weil man denkt, das passt gut. Wegen der Gene, das riecht man, dann passt es auch akrobatisch. Wenn man eine gute Verbindung zu seinem Geruchssinn hat und nicht raucht und ihn damit zerstört, findet man schon die besten Gene beziehungsweise die geilste Akrobatik! Davon bin ich fest überzeugt. Ich muss das doch gerochen haben. Alles. Seine Sexualität. Seinen Hang zum Versorgertum. Wir haben nie darüber geredet, über Geld, über Sex, die Liebe war einfach da, und im Nachhinein macht alles Sinn. Vorher überhaupt nicht. Ich habe mal ein Zitat gelesen, ich glaube von Goethe, könnte aber auch von Yoda sein, and it goes a little something like this: Liebe und Verliebtheit ist nur der romantische philosophische Überbau, damit wir vor uns selber nicht zugeben müssen, dass wir einfach nur geil auf jemanden sind. Der hat das irgendwie besser ausgedrückt, ich finde das Zitat aber nirgendwo mehr. Vielleicht habe ich auch nur geträumt, dass ich das gelesen habe. Daran glaube ich jedenfalls ganz fest. Das ist die Erklärung für den ganzen Wahnsinn, der passiert zwischen erwachsenen Menschen.
Mein Mann sieht überhaupt nicht gut aus. Also mit Aussehen hat Liebe schon mal überhaupt nichts zu tun. Fickt euch alle, mit eurem: Mein Traummann soll so und so aussehen, Sternzeichen, Größe, Haarfarbe, nein, so geht Liebe nicht. Das Erste, was ich an ihm gesehen habe und was mir direkt negativ, aber interessant machend auffiel, war sein kaputter Ellbogen. Das erste Mal sah ich ihn in einem kurzärmeligen Hemd. Kräftige weiße, behaarte Arme und ein ganz komisch rausstehender verkrüppelter Ellbogen, irgendeine Art Überbein steht da raus, vollkommen mit Narben überzogen. Das Phantom der Oper, nur am Ellbogen!
Ich habe ihn direkt gefragt, woher das kommt. Das mache ich immer, als Fluchtreaktion, falls die Person schon bemerkt hat, dass ich starre. Das sei eine Verletzung aus der Kindheit. Er hatte sich mal den Arm gebrochen und musste immer alleine im Winter mit dem Bus zur Reha fahren. Und einmal war Glatteis, er stieg aus, mit eben verheiltem Bruch, und ist so auf den Ellbogen gestürzt, dass er mehrmals operiert werden musste, weil er sich alle Knochen darin vollständig zerschmettert hatte. Die haben den Ellbogen nie wieder rund gekriegt, und deswegen steht an einer Stelle, wie eine Haifischflosse, ein Knochen spitz raus. Das hat mich direkt sehr beeindruckt.
Nach der Armangelegenheit bemerkte ich eine große Narbe am Wangenknochen. Ich habe ihn als Zweites gefragt, wo denn die Narbe herkommt. Und die kommt vom Krebs. Er hatte, kurz bevor wir uns kennenlernten, Hautkrebs. Nichts Schlimmes. Das heißt, er wurde bei ihm früh genug entdeckt, man konnte, ohne dass er streut, das ganze Melanom entfernen, und das war’s. Außer dass im Hinterstübchen immer präsent ist, dass der Tod schon mal angeklopft hat. Direkt beim ersten Gespräch mit ihm wusste ich, wir gehören zusammen, und ich wusste auch: Ich werde ihn beerdigen. Ich werde eine trauernde Krebswitwe sein. Er erklärte mir, dass er aus einer Krebsfamilie komme. Entweder war man in der Familie schon an Krebs gestorben, oder man hatte diverse Krebsformen im Körper besiegt, aber natürlich nur kurz Aufschub bekommen. Da wusste ich schon, wo der Hammer hängt, was ich mir da ins Haus hole, mit meiner großen Liebe, auch wenn mir das nur unterbewusst klar war.
Oberirdisch dachte ich, wir würden eventuell zusammen arbeiten. Was für ein guter Galerist! Was für ein guter Mensch. Aber was für Einstiegsthemen? Das erste: Kindheitsverletzungen, das zweite: Familienkrebs. Das sagt doch schon alles über unsere Liebe. Und er fragte mich über den Autounfall in meiner Familie aus, bei dem meine drei Brüder starben. Der Tod spaziert von Anfang an neben unserer Liebe her. Wir haben auch von Anfang an beide einen Organspendeausweis besessen, Patientenverfügungen und Testamente geschrieben und unterschrieben. Das ist für uns Romantik pur.
Georg setzt sich an den Laptop, der in der Küche steht, guckt bei Spiegel Online, ob sich in der Welt was verändert hat in den letzten Minuten, Liza nörgelt die ganze Zeit rum, ihr ist langweilig.
»Was soll ich jetzt machen, Mama? Mir ist langweilig.«
»Guck doch mal, was noch fehlt. Getränke vielleicht?«
»Ja, was trinkt ihr?«
Die gleiche Antwort wie jeden Tag von uns beiden wie aus einem Mund: »Leitungswasser.«
Bei uns wird vor dem Kind aus Vorbildfunktion kein Alkohol getrunken, und alle Getränke mit Zucker sind bei uns verboten, zum einen aus ganz normaler Amerikafeindlichkeit und weil sie auch sehr ungesund sind. Warum Süßigkeiten trinken, wenn man Durst hat? Diese süßen Getränke machen den Durst nur noch schlimmer. Das ist doch wie eine Folter. Wie kann man Firmen Geld für Getränke geben, die durstig machen? Das ist doch, wie Jesus am Kreuz Essig und Galle zu trinken geben, obwohl er verdurstet. Zusätzliche Folter.
Sie klettert schon wieder mit Schuhen auf die Arbeitsfläche, um Gläser aus dem Regal zu holen, sie springt wieder runter und macht die Gläser viel zu voll, dann balanciert sie sie zum Tisch. Ich muss mich stark kontrollieren, um nichts zu sagen, schlimm, Muttersein, immer was sagen müssen, zu allem, was das Kind macht. Man sieht es immer kommen, und dann kommt es auch. Schrecklich. Schrecklich. Schrecklich.
»Bitte tust du noch ein Hitzeding auf den Tisch, mein Kind?«
Da mein Mann jetzt wieder wach ist, gebe ich meine Tochter in seine Obhut. Ich melde mich ab, die kennen das schon. Freie Beschäftigung für jeden, bis ich wieder da bin. Ich bin schnell da und wieder zurück, ist nicht weit. Ich mache die Pfanne auf dem Weg nach draußen aus, damit die beiden nicht verbrennen, da drin, ohne mich, wenn ich nicht auf sie aufpassen kann. Gasherd, ist gefährlich. Ich lasse mir von Feuer nicht noch mehr Verwandte nehmen.
»Bis gleich, ihr Spackos.«
Keiner antwortet, so ist das in einer eingespielten Familie.
Ich fahre zu meiner Therapeutin in ein anderes Viertel. Dreimal die Woche muss ich dahin, für jeweils eine Stunde beziehungsweise eine Stunde in Therapiesprache, das sind fünfzig Minuten in Menschensprache. Um meinen Alltag hinzukriegen, gehe ich in Therapie, ich glaube, ich wäre schon mehrmals gestorben ohne meine Therapeutin. Sie hat mir psychisch ganz oft das Leben gerettet. Meine Tochter Liza weiß ganz genau: Die Mama geht zu ihrer ominösen Ärztin, hat sie noch nie interessiert, was ich da eigentlich mache, ich freu mich, wenn sie so spät wie möglich fragt, ich kann es umso besser erklären, je älter sie ist. »Mama geht dahin, um dir weniger auf den Sack zu gehen, mein Kind, um dich weniger zu belasten mit ihrem Kram. Damit du freier sein kannst.«
Die Autofahrt ist meist beschwerlich. Die Therapeutin, Frau Drescher, sagt, das ist schon Teil der Therapie, ich wehre mich nämlich gegen die Unannehmlichkeiten, die eine Therapie so mit sich bringt, schon auf dem Weg dahin. Weil ich weiß, dass der Unfall bei ihr immer eine große Rolle spielt, denke ich innerlich, ich muss doch gar nicht dahin, mir geht es doch gut. Was soll das überhaupt? Ich denke mir lauter Gründe aus, warum ich nicht fahren sollte, finde sogar auf dem Weg dorthin meine Therapeutin schlecht, finde, dass sie sich maßlos überschätzt mit ihrer Couch und ihrer Psychoanalyse. Was soll das überhaupt sein, eine Analyse? Ich mache das zwar, habe aber keine Ahnung, was das soll. Krieg ich dann irgendwann ein Zeugnis ausgestellt? Wie beim Bluttest das Blutbild? Ein Psychobild? Das wäre gut, dann könnte ich das als Bedienungsanleitung meinem Mann und, wenn sie alt genug ist, auch meiner Tochter zum Lesen geben. Das würde unser aller Leben einfacher machen. Ich frag die das mal. Frau Drescher meint, diese Abwertung ihrer Person auf dem Weg dorthin gehört auch zu einer Therapie dazu. Schön, das beruhigt mich. Dann fühl ich mich direkt viel besser. Ich versuche beim Fahren alles richtig zu machen, ich muss um jeden Preis einen Unfall verhindern. Nicht unbedingt, weil ich nicht sterben will, das nicht, ich denke sogar manchmal wie so eine alte Frau, es wäre ganz gut, endlich mal seine Ruhe zu haben, die absolute Ruhe, aber weil ich ein Kind habe, bin ich von gesteigertem Wert, ich darf das vor allem meinem Kind nicht antun, dass ich sterbe oder verletzt bin, deswegen bin ich eine sehr vorausschauende Fahrerin. Ich lasse immer alle Leute rein, vor allem Frauen, um dem Vorwurf der Stutenbissigkeit zu entgehen, auch im Straßenverkehr. Ich fahre sehr defensiv, lasse große Abstände zum Vorausfahrenden, vermeide jede Art von Fehler, beherzige alles, was ich damals mit achtzehn in der Fahrschule gelernt habe, zu hundert Prozent, um zu überleben und auch andere nicht zu töten. Es geht bei mir wegen meiner Vergangenheit immer um Leben und Tod, selbst auf dem kurzen Weg zu meiner Therapie.
Auf dem Parkplatz steige ich aus dem Auto. Ich nehme alle Wertsachen mit, denn meine Therapeutin hat ihre Praxis interessanterweise in einer schlechten Gegend. Und außerdem in der elften Etage. Was für mich eine absolute Katastrophe ist. Ich habe ihr schon oft gesagt, dass ich das nicht mehr möchte. Sie soll sich doch bitte neue Praxisräume irgendwo im Erdgeschoss mieten. Dann ginge ich da lieber hin. Viel lieber. Sie lacht über mich und sagt: »Da müssen Sie wohl durch, Frau Kiehl. Ich werde mit der Praxis hierbleiben.«
Und dann will sie noch mal mit mir in aller Ruhe über meine Höhenangst und Aufzugangst, Feuer- und Qualmangst sprechen. Auch habe ich Angst, dass das viel zu hohe Haus einstürzen könnte, wenn ich gerade drin bin. Während ich in das Hochhaus komme, rede ich schon mit mir selber: »Ich kann es nicht fassen, dass ich jetzt wegen Frau Drescher in diesen Aufzug steigen muss. Ich kann es nicht fassen.« Meistens rieche ich schon unten im Treppenhaus Qualm oder Gas. Das ist ein lustiges altes Ding von mir: weil meine Mutter ihre Mutter mal halb tot auf dem Küchenboden liegend gefunden hat, vor offenem Ofen mit dem ausströmenden Gas. Sie hatte Schlaftabletten geschluckt und auch ihren jüngsten Sohn betäubt, den wollte sie nämlich mitnehmen. Meine Mutter, die damals auch ein Kind war, aber nicht. Warum auch immer! Und das ist unser großes Familiendrama, das heißt, bis der Unfall alles andere überlagert hat. Deswegen schnuppere ich überall in der Gegend rum, wie ein Tier. Ich suche die Gefahr mit der Nase. Bei anderen ist das Alarmorgan Nummer eins das Ohr, bei mir die Nase. Weil ich einfach weiß, dass meine Familie und ich durch Feuer, Qualm oder Gas ausgelöscht werden. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum ich Raucher hasse wie die Pest. Sie lösen einen Fluchtimpuls in mir aus. Jedes Mal, wenn ich eine brennende Zigarette rieche, denke ich, dass es brennt, und bekomme Todesangst, ganz kurz nur, aber es genügt, um mein Herz hüpfen zu lassen und zu viel Adrenalin auszuschütten. Sehr unangenehm.
Wenn ich auf dem Weg zu meiner Therapeutin bin, im Aufzug, kann es schon mal sein, dass es dort nach Rauch riecht, weil irgendeine süchtige Sau geraucht hat, weil Raucher meistens ja nicht warten können. Dann stehe ich da und denke erst mal, es brennt. Bis ich rausgefunden habe, dass es sich nur um Zigarettenrauch handelt, bin ich vor lauter Angst um fünf Jahre gealtert. Deswegen hasse ich alle Raucher, weil sie den Geruch von Tod verbreiten. Der steckt in ihren Haaren, in ihren Kleidern und überall, wo sie sind.
Wenn ich unten am Aufzug stehe und an den digitalen Zahlen erkenne, aus welcher Etage der Aufzug angefahren kommt, kriege ich schon Angst. So hoch ist das Gebäude? Die elfte Etage ist nicht mal die höchste in dem Haus. Der Aufzug kommt oft von noch höher angefahren. Und ich denke: Muss ich mir das wirklich antun? Was da alles passieren kann unterwegs. Der bleibt stecken, es brennt, und ich verglühe in dieser aufgeheizten Konservenbüchse, der Boden wird heiß, dass ich nicht mehr drauf stehen kann, ich setze mich, aber die Haut und das Fleisch an meinem Po verbrennen, schreiend stelle ich mich wieder hin und sehe, wie Qualm langsam in die Kabine dringt. Ich schreie, solange ich noch Luft kriege, der Rauch brennt höllisch im Hals, an den Stimmbändern, ich muss ständig husten, die Stimme wird dünner. Ich drücke die ganze Zeit den Notrufknopf. Nichts passiert. In meiner Verzweiflung und Todesangst springe ich hoch an die Decke der Kabine, um dort nach Luft zu schnappen, aber alles ist voll dunklem Qualm. Ich bin in einer Räucherkammer gefangen. Keiner rettet mich, am Ende kann ich auch nicht mehr schreien. Ich weine und lege mich völlig erschöpft zum Sterben auf den glühend heißen Boden. Ich denke an meine kleine Tochter und will nicht sterben. Dann verliere ich das Bewusstsein.
Das spiele ich jedes Mal genauso durch, wenn ich die elf Etagen hochfahren muss zu meiner Scheißtherapeutin, die meint, ihre Praxis in der elften Etage haben zu müssen. Dabei glotze ich unentwegt auf das Schild im Aufzug, das an all meinen Ängsten schuld ist: Aufzug im Brandfall nicht benutzen! Das sehe ich auch ein. Aber was ist, wenn der Brand ausbricht, wenn ich schon drin bin? Hat darüber schon mal jemand nachgedacht? Natürlich nicht. Wenn ich oben angekommen bin und tatsächlich die Tür einfach ganz normal aufgeht und ich wie eine Überlebende rausmarschiere, könnte man meinen, ich wäre dann froh und locker. Aber schon kommt das nächste Problem. Oben auf ihrer Etage raucht einer in seiner Wohnung. Wir befinden uns in der elften Etage, und er spielt mit unserem Leben! Das Gebäude scheint zu schwanken. Ich sage regelmäßig zu meiner Therapeutin, dass es nicht sicher gebaut ist. Vor allem, wenn es sehr windig ist. Dann spüre ich, wie wir alle mit dem Gebäude schwanken.
Manchmal kommt mir jemand oben im Treppenhaus entgegen. Ich bin schlagartig abgelenkt von meiner Angstvorstellung. Weil ich plötzlich denke: Was, so sieht ein Patient von meiner Therapeutin aus? Dabei ist noch gar nicht gesagt, dass er aus den Praxisräumen kommt. Ich bin völlig entsetzt, dass sie überhaupt andere Patienten hat. Ich habe mal in der Biografie über Brian Wilson gelesen, dass er seinen Therapeuten bei sich wohnen hatte. Gute Idee! Das wäre mein größter Traum, Frau Drescher bei uns zu Hause, nur für mich.
Ich bin fest davon überzeugt, dass ich ohne die Drescher nicht mehr leben würde. Ich möchte die Einzige sein. Ich kenne nur Monotheismus, von meiner Mutter natürlich. Was anderes hat die mir nicht beigebracht. Mutter ist immer schuld. Ich werde später auch an allem schuld sein für mein Kind. So ist der Lauf der Dinge.
Ich versuche so viele Informationen wie möglich zu sammeln über meine Therapeutin, in den paar Sekunden, in denen ich sie angucken darf. Meine Therapeutin umgibt sich mit einer mysteriösen Wolke der Nichtinformation. Sie sagt, ich dürfe nur so wenig wie möglich von ihr wissen. Das Einzige, was ich über sie weiß, ist, was ich sehe. Und was sie von sich preisgibt. Und das ist verdammt wenig. Vor allem im Vergleich zu dem, was ich von mir preisgebe. Fuck, ist das unfair. Aber so soll das wohl sein mit der Therapie. Muss ich ja nicht verstehen, ich habe das ja nicht studiert.
Meine bald frühere beste Freundin ist auch mal kurz und natürlich nicht zu lange und intensiv, weil sie ja sonst an sich arbeiten müsste, zu einer Therapeutin gegangen, bei der alle, aber komplett alle ihre Freundinnen auch waren, außer mir. Was für eine geisteskranke Idee. Meine Therapeutin findet das auch. Da kann man doch gar nicht offen reden, wenn man mal ein Problem mit einer der Freundinnen hat. Die ganze Idee der Therapie ist doch, dass die Therapeutin die Leute nicht kennt, über die man redet, sich kein eigenes Bild von den Leuten machen kann, sie nur aus der Erzählung des Patienten kennt. Wenn ich schon rasend eifersüchtig bin auf alle anderen Patienten meiner Therapeutin, wie muss das dann sein, wenn man mit allen Patienten befreundet ist und sich ständig im Hausflur trifft. Oh, hallo, ich habe grad mit deiner Therapeutin über deine Abtreibung geredet. Ach so, du hattest ihr noch nichts davon erzählt, oh, Entschuldigung! Kein Wunder dann alles!
Aha, denke ich, im Flur vor der Praxis, interessant, so langweilig aussehende Patienten nimmt die also an? Die macht es ja mit jedem! Hat die denn keine Würde? Oder ich denke: Hoffentlich sind die psychischen Probleme des Patienten interessanter als seine Klamotten. Der Patient kann mir nicht in die Augen gucken, wie uncool. Hey, wir sind doch alle geistesgestört, mach dir nichts draus, da muss man sich doch in die Augen gucken können, bei meiner netten Begrüßung.
Oder schämt der sich etwa noch mehr als ich, dass er zum Therapeuten muss? Ist ja im Grunde auch ärgerlich! Wenn er weg ist, darf ich klingeln. Es gibt eine Abmachung mit allen Patienten, dass man nie zusammen in der Praxis ist. Nicht wie bei einem Hausarzt, wo alle Kranken im Wartezimmer auf einem Haufen sitzen und sich gegenseitig anstecken. Wenn ich in der Praxis bin, kann ich mir sicher sein, dass mit mir nur Frau Drescher drin ist.
Sie hat die Räume ganz komisch eingerichtet. Ich hoffe immer, dass das nicht wirklich ihr Geschmack ist. Dass sie sich dort so eingerichtet hat, um im Kopf des Patienten etwas auszulösen. Wenn nicht, wär’s echt schlimm.
Ich klingele, weil der andere Irre schon weg ist, der automatische Türsummer lässt mich rein. Sie versteckt sich wie meistens in einem Büro, das ich noch nie gesehen habe. Ich kann durch die Milchglasscheibe nur erkennen, dass sie da an einem Schreibtisch sitzt. Ganz unscharf sehe ich den großen Schreibtisch und irgendeine pastellige Farbe am Körper. Sie trägt gerne Pullis in Pastellfarben, gerne auch mit Zopfmuster. Und man sieht ein bisschen einen blonden Haarschopf. Sie sieht sehr fraulich und freundlich aus. Hat so einen Siebzigerjahre-SexAppeal. Manchmal habe ich Angst, dass sie lesbisch ist, ich werde es aber nie rausfinden. Ich fände es überhaupt nicht gut, wenn meine Therapeutin lesbisch wäre. Ich möchte gerne, dass sie all die schwierigen Sachen im Leben genauso hat wie ich: Mann, Kind, die ganze Scheiße!
Ich muss warten, bis ich dran bin. Sie braucht immer zehn Minuten zwischen den Patienten, um sich und ihre Seele, die es nicht gibt, reinzuwaschen. Ich habe keine Ahnung, was sie in den zehn Minuten macht. Ich habe sie in Verdacht, dass sie sich die Krankenakte noch mal durchliest, weil sie sich das doch unmöglich alles merken kann, all die Schwiegermütter und Exmänner, Kinder- und Tiernamen, die die Leute ihr in einem riesigen Redeschwall entgegenwerfen. Sie hat sich in den ganzen acht Jahren noch nie vertan bei mir. Ich warte immer darauf, dass sie Oliver zu meinem Mann sagt. Oder Ihr Sohn statt Ihre Tochter. Noch nie passiert. Deswegen denke ich mal, hortet sie da in ihrem Milchglaszimmer lauter Zettel über uns arme Irre, auf denen sie nach der Stunde schnell die neuen Namen ergänzt. Ich stelle mir vor, dass ihr Mann, hoffentlich ein Mann, sie abfragt nach all den Namen in unseren Familien.
Ich kann mir aussuchen, ob ich auf einem Stuhl in ihrem Flur warte oder in dem Gruppensitzungszimmer. Da stehen locker zwölf Stühle. Da finden die Gruppenpaartherapien statt. Mein Mann und ich haben uns aber lieber, um unsere Ehe zu retten, damals, eine Einzelpaartherapie geleistet. Mein Mann ist sehr gegen Gruppen, beim Tai Chi, bei Therapien, nur beim Sex hat er nichts gegen Gruppen.
Überall hängen Bilder, von denen ich glaube, dass die Drescher sie selber gemalt hat. Sie stellen nackte Menschen im Garten Eden dar. Über die Körper wandern Schlangen. Überall auf den Bildern sind bunte Blumen. Die Menschen sind nicht richtig ausgemalt, man sieht nur ihre Silhouetten. Im Gruppensitzungsraum steht ein volles Bücherregal, was mich sehr beruhigt, denn das ist für mich der Beweis, dass sie das studiert hat, mit dem sie immer in meinem Kopf rumfuhrwerkt, dass sie schlau ist, und wenn sie mal nicht weiterkommt, kann sie in ihren Büchern nachschlagen. Wenn ich viel zu früh bin, ziehe ich ein beliebiges Buch aus dem Regal, schlage es irgendwo auf und versuche zu begreifen, was da steht. Das klappt aber nie. Das scheint irre kompliziert zu sein!
Zur vollen Stunde kommt sie dann aus ihrem Büro geschlichen und sucht mich. Ich höre ihre Schritte den immer gleichen Weg abgehen. Erst im Flur, dann im Gruppenraum. Stellt sich in den Türrahmen und sagt: »So.« Und lächelt mich ermutigend an.
Ich stehe auf, schon tausendmal gemacht, gehe selbstbewusst auf sie zu, gucke ihr in die Augen, wie ich es von meinen Eltern gelernt habe, schüttele ihr die Hand und sage: »Guten Tag.«
Mir ist es sehr unangenehm, sie anzufassen. Man macht das zwar, weil es in unserer Gesellschaft dazugehört. Aber ich fasse meine Therapeutin lieber nicht an. Nicht weil ich sie ekelhaft finde, sondern weil ich finde, dass wir eine rein geistige Beziehung führen, da stört die Berührung eher. Mich jedenfalls. Hab ich aber noch nie mit ihr drüber geredet. Vielleicht sollte ich mal, dann könnten wir das abschaffen vielleicht. Viel von dem, was ich mir als Thema für die Stunde fest vornehme, vergesse ich, sobald ich diesen Aufzug benutzen muss oder sobald ich sie sehe, dann geht es plötzlich um was ganz anderes.
»Guten Tag«, sagt sie zurück. Schnell lassen wir die Hände der anderen wieder los. Ist peinlich.
Sie trägt meistens ganz fein einen Hosenanzug. Oder eine männliche Bluse, mit chic geschnittener Hose und V-Ausschnitt-Pullover drüber. Sie mag Pastellfarben. Rosé, Flieder, Lachs, Hellblau, Hellminze. Sie hat blonde lange Haare. Und Brüste. Aber richtig. Einen schönen Körper, nicht zu dünn und nicht zu dick. Sie sieht sehr gesund aus, zum Glück, sie soll nämlich noch lange leben. Erwähnte ich schon ihre Brüste? Sie hat Brüste. Das Thema Brüste spielt eine große Rolle in meiner Therapie. Mein lebensbestimmender Brustkomplex. Ich hetze dort regelmäßig über Frauen mit großen Brüsten und blonden Haaren. Meine Therapeutin hat auch große Brüste, also von mir aus betrachtet, aus der Froschperspektive, was Brüste angeht, und sie hat auch knallblonde Haare. Das ist manchmal komisch für mich, dass ich wirklich sagen soll, was ich denke. Ich frage regelmäßig nach, ob ihr das nicht zu weit geht. Sie ist da aber ganz unterstützend. Es geht ja nicht um ihre Gefühle oder Empfindlichkeiten. Sie hat das ja studiert. Sie steht über den Dingen. Ich muss das in der Therapie raushauen dürfen, ohne an ihre Gefühle wegen der Brüste denken zu müssen.
Sie ist auch körperlich viel größer als ich, was ich sehr gut finde. Sie trägt viel Wimperntusche, pechschwarz, und hellblauen Lidschatten. Der passt perfekt zu ihren dunkelblauen Augen. Ihr ganzes Gesicht erinnert mich an Agnetha von ABBA. Sie lächelt mich immer so wissend und milde an. Sie ist auf meiner Seite. Das ist schön. Das ist so in Therapien, der Therapeut ist auf der Seite des Patienten. Sie gibt sich große Mühe, mich zu verstehen.
Sie lässt mich vorgehen in den heiligen Therapieraum. Da steht die Couch, auf der ich schon so viele Stunden verbracht habe. Es ist immer frisch gelüftet, damit es nicht nach Patient riecht. Das wollen wir nicht. Es wird versucht, die Existenz von anderen Patienten zu leugnen. Ich lasse mich aber nicht foppen. Auch nicht von Frau Drescher. Sie schließt das Fenster, ich nehme mir die Fleecedecke mit dem komischen Wüstenmuster, um mich vor all den Naturgewalten zu schützen, die gleich auf mich einprasseln. Dann lege ich mich hin. Auf das Kissen für meinen Kopf legt sie jedes Mal ein frisches kleines Tüchlein in Hellblau. Das mache ich oft komplett nass, wenn ich mit frisch gewaschenen Haaren komme. Sie hat mir erzählt, dass es nicht schlimm ist, da jeder Patient ein frisches bekommt. Es liegt ein Stück feinster Baumwollstoff zwischen dem direkten Kopffetttalgkontakt der einzelnen Patienten. Wo Frau Drescher diese Tüchlein aufbewahrt, ist mir bis jetzt ein Rätsel. Am Fußende der schwarzen Ledercouch liegt eine Matte, wie sie normalerweise vor der Tür im Treppenhaus liegt. Die hat sehr kratzige Borsten. Frau Drescher merkt oft, dass sie mich kratzen, sie erlaubt mir, die Matte wegzulegen, mach ich aber nie, es soll direkt zur Sache gehen. Ich verheimliche einfach die ganze Stunde, dass mich ihre Fußmatte piesakt. Vor allem im Sommer mit nackten Beinen.
Wenn ich daliege, warte ich, bis sie die Tür geschlossen und sich hinter mich gesetzt hat. Die Tür ist schalldicht isoliert, was mir in meinem Verfolgungswahn sehr gut gefällt. Ich liege dort, in meiner ewig gleichen Leichenstellung, die Arme und Hände sind über der Decke, die soll ja nicht denken, dass ich da heimlich fummele. Und die Finger sind ineinander verschränkt, wie es Betende tun. Auch wenn ich sehr gegen Beten bin. Ich kann an die Decke gucken: weiße Raufaser. Nach links an die Wand: weiße Raufaser.
Wenn ich über meine Füße hinweggucke, steht da, an die Wand angelehnt, ein riesiges Gemälde. Keine Ahnung, warum es lehnt und nicht hängt. Was mir Agnetha damit sagen will? Ich denke ja immer, sie will mir mit allem was sagen, aber bei dem Bild weiß ich nicht, was. Vielleicht: Hey, schau her, liebster Patient, ich bin auch nur ein unvollkommener Mensch, ich mache manchmal nur halbe Sachen, lalala.
Auf dem Bild sieht man einen total schlecht gemalten überdimensional großen Teufel. Einen nackten Mann, der auf dem Boden hockt, ich gucke ihm immer zwischen die Beine, aber der Sack hängt nicht unten raus. Um seinen Kopf herum fliegen ganz viele kitschige kleine Vögelchen. Während ich über meine neusten Probleme rede, zerbreche ich mir ständig den Kopf darüber, warum sie gerade dieses Bild ausgesucht hat, um es den Patienten an das Fußende zu stellen. Wahrscheinlich ist sie selber auch einfach verrückt. Das jedenfalls glotze ich Stunde um Stunde an. Ich habe es schon verwischt gesehen, weil ich geheult habe, ich habe es schon zitternd gesehen, weil ich eine Panikattacke hatte. In jedem erdenklichen Zustand musste ich mir ein Bild vom Teufel angucken, dem Vögelchen um den Kopf herumfliegen. Was will sie damit bewirken?
Wenn ich nach rechts gucken würde, das mache ich aber nie, dann würde ich einen Raum vollgestopft mit Geschmacklosigkeiten sehen. Zwei Gummibäume, eine schwarze Achtzigerjahre-Vase, die einen Meter hoch ist. Darauf hat sie einen rund geschliffenen Halbedelstein der lilafarbenen Sorte gelegt. Die ganze lange Fensterbank steht voll mit nutzlosem Zeug. Eine Stahlschildkröte mit bösen Augen, eine Art Aschenbecher, voll mit schwarzem Sand, ein Gekko aus Stoff, gefüllt mit Trockenerbsen. Ich glaube, die Style-Sozialisation von Agnetha muss in den Achtzigern stattgefunden haben. Da würde ich mich festlegen. Aber was weiß ich. Komisch. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, wie alt sie ist. Auf jeden Fall ist sie älter als ich. Ganz sicher. Ich habe auch mal gelesen, dass Psychologen oder Psychiater, wo ist eigentlich der Unterschied?, ihre Patienten foppen, indem sie sich komplett anders einrichten, als sie es zu Hause tun. Der Patient soll was haben, an dem er sich reiben kann. Das funktioniert mit der Einrichtung von Frau Drescher jedenfalls super gut. Wenn sie mal ein Bild abhängt oder umhängt, kriege ich eine Krise. Ich komme rein, bemerke sofort die Veränderung und frage sie völlig entgeistert, was das solle. Warum es nötig sei, ständig alles zu verändern. Wo das Bild sei? Wann es zurückkomme? So, wie sie mich dann anguckt, weiß ich ganz genau, dass heute schon fünf Patienten vor mir genauso reagiert haben. So viel zu meiner tollen Individualität!
Dann geht’s los.
»Ich muss mich erst einmal entschuldigen bei Ihnen, Frau Drescher, nur falls Sie schon was riechen. Ich sage es lieber direkt, besser, als wenn ich mir die ganze Stunde Gedanken mache, ob Sie was merken oder nicht.«
»Richtig, Frau Kiehl, lieber sagen, es soll Sie ja nichts belasten oder ablenken hier bei mir, lieber räumen wir direkt am Anfang alles aus dem Weg. Was soll ich denn schon bemerkt haben?«
»Ich hatte grad, kurz bevor ich zu Ihnen gekommen bin, Sex. So, jetzt ist es raus. Ich habe mich nur sehr schlampig gewaschen, Sie haben ja mal gesagt, ich muss nicht immer perfekt zu Ihnen kommen.«
»Schön. Mit wem denn?«
»Haha, wollen Sie mich veräppeln? Mit wem wohl? Mit meinem Georg. Natürlich.«
»Ja, ist ja schon gut. Ich frage nur wegen Ihrer Sexphantasien in letzter Zeit.«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Fühlen Sie sich denn jetzt gut?«
»Hä, natürlich, was denken Sie denn? Nach Sex mit Georg fühle ich mich immer gut. Das wundert mich ein bisschen, dass wir überhaupt noch Sex haben, weil wir doch schon so lange zusammen sind. In jeder anderen Beziehung war meine Freude am Sex ungefähr nach drei Jahren weg. Hier hält es schon seit sieben Jahren. Das wundert mich. Und ich habe Angst, dass es bald verloren geht. Sie wissen ja: Sobald der Sex verschwindet, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Liebe auch flöten geht!«
»Ja? Denken Sie, so läuft das?«
»Ja, das denke ich, so war das bis jetzt bei jeder einzelnen Beziehung von mir, seit ich dreizehn war. Genauso läuft das. Ich versuche immer rauszufinden, wieso das mit Georg schon so lange so gut läuft. Und jetzt sag ich Ihnen mal was, Frau Drescher, ich glaube, ich lasse mich von seinem Geld bumsen. Das glaube ich. Weil er der Erste ist, der mehr Geld hat als ich, hält das so lang, deshalb finde ich ihn immer noch sexy, jetzt nicht in einem gut aussehenden Sinne, sondern in einem Bumssinn. Da bin ich fest von überzeugt!«
»Diese Theorie kenne ich ja schon von Ihnen. Reden Sie nicht da die Liebe, die Sie für Ihren Mann empfinden, zu klein? Sie reduzieren sie auf Geld und Sex. Ich glaube, so halten Sie sich die tiefen Gefühle fern von Ihrem Herzen, dann ist es nicht ganz so schlimm, falls es mal doch kaputtgeht oder falls er sterben sollte.«
»Die Theorie kenn ich auch schon von Ihnen. Wir kommen da nicht weiter. Heute im Viertel habe ich kurz gedacht, ich hätte meinen Vater gesehen.«
»Und? Was haben Sie dann gemacht?«
»Einfach weitergegangen. Ich grüß den doch nicht. Sie wissen doch, ich will den nie wiedersehen, wenn’s geht. Da kann ich doch nicht einfach Hallo sagen, auf der Straße, dann geht die gleiche Scheiße doch wieder von vorne los, mit seiner scheiß Frau, also meiner bösen Stiefmutter. Sie haben das doch letztens so gut gesagt, wie war das noch mal? Sie meinten, ich hätte jetzt das Gefühl, lang genug meinen Eltern passiv ausgeliefert gewesen zu sein, die ganze Zeit als Kind und Jugendliche. Und jetzt, obwohl es mich oft sehr schmerzt, entscheide ich mich, aktiv zu sein, mich aktiv von ihnen zu trennen, dann können sie mir wenigstens nicht weiter wehtun. Ja. Genau. Und Sie haben gesagt: Man kann die Eltern durch Trennung nur außen loswerden, im Inneren bleiben sie immer da, weil es ja die Eltern sind. Horror!«
»Das spüren Sie auch mittlerweile, Frau Kiehl? Dass Sie sie nur außen loswerden? Nicht wahr?«
»Na klar, aber ich finde es allemal besser, mich aktiv von ihnen zu trennen, für immer, ich weiß, Sie mögen das Wort nicht gern, ›für immer‹, ich darf das aber sagen, weil ich es so meine, auch wenn Sie das nicht wollen, dass ich das sage, auch wenn ich sie innerlich nie loswerde, wie so einen scheiß Virus! Geht eben nicht einfach so weg. Das Elternaids. Und auch wenn ich für immer daran leide, ich halte die Entscheidung trotzdem für richtig. Weil ich endlich mal aktiv sein kann. Ich will nicht jeden Geburtstag immer wieder als scheiß alte Erwachsene darauf warten, ob mein Vater jetzt an meinen Geburtstag gedacht hat oder nicht. Er schafft es bis heute, mir die Geburtstage zu versauen, nur weil ich ständig daran denken muss, wie er mich früher, als ich ein Kind war, vergessen hat. Ja, gut, er hat nicht mich vergessen, sagen Sie immer, er hat nur meinen Geburtstag vergessen, ja, aber als Kind fühlt sich das so an, als hätte er mich, seine Tochter, komplett vergessen.«
»Verbinden Sie denn auch noch was Gutes mit ihm?«
»Ungern.«
»Irgendetwas Gutes wird Ihnen doch einfallen.«
»Ja, wenn es sein muss. Er hat meinem toten Bruder und mir Pfannekuchenbacken beigebracht. Mit allem Drum und Dran. Ein Ei pro Person, ein bisschen Sprudel in den Teig, damit er fluffig wird, hochwerfen und ganz oft nicht wieder in die Pfanne treffen. Wir haben immer auf der Arbeitsfläche gesessen und ihm bewundernd zugeguckt, das war das Leckerste für uns, seine Pfannekuchen. Typisch Scheidungskind, der Elternteil, der weg ist, ist immer das Wunder, der Elternteil, bei dem man lebt, you take it for granted. Unser Lieblingsessen war das wenige, was unser Vater kochen konnte, Pfannekuchen und Currys, nicht die tausend Gerichte der Mutter. Die viel, viel, viel besser kochen konnte. Und Currys meinte der wohl eher für die Lebensplanung, für später. Wir sollten ja nicht unser Leben lang nur Pfannekuchen essen. Er hat uns das aber mit den echten trockenen, einzelnen Gewürzen beigebracht, nicht mit so Pfuschmischungen aus dem Glas. Nein, mit Kurkuma, Koriander, Garam Masala und allem, viel zu scharf für Kinder. Der wollte uns zeigen, was für ein harter Kerl er war, fällt mir grad auf, wie bescheuert! Vor Kindern. Mit scharfem Essen angeben. Ts!«
»Da bin ich aber froh, dass Sie was Positives über die Lippen bekommen haben. Wenn Sie beschlossen haben, jemanden loswerden zu wollen, neigen Sie nämlich dazu, nur noch das Schlechte zu sehen. Wie bei Ihrer Freundin. Als hätten Sie ein schlechtes Gewissen, dass Sie eigentlich denken, Sie dürfen nicht gehen, und dann im Nachhinein alles schlechtreden. Aber so schlecht kann es nicht sein, sonst wären Sie ja nicht befreundet.«
»Ich sehe aber nur noch das Schlechte.«
»Das ist Ihre Legitimation dafür, gehen zu dürfen. Sie haben Angst vor der Rache der Verlassenen, weil Sie es sich eigentlich selber nicht erlauben, sich zu trennen, ganz gleich, von wem.«
»Ja, richtig. Dafür habe ich ja Sie. Sie helfen mir, wegzukommen von den Leuten, die schlecht für mich sind.«
»Wenn Sie meinen. Es ist aber trotzdem interessant, dass Sie Hilfe brauchen, um Menschen zu verlassen.«
»Ist aber so. Ohne Sie hätte ich meine Eltern nicht verlassen, noch wäre ich bald imstande dazu, endlich mal meine beste Freundin zu verlassen.«
»Ich möchte aber darauf hinweisen, dass ich Sie nicht zu solchen Schritten ermutige.«
»Ich weiß, das sagen Sie jedes Mal. Ich weiß. Ich weiß. Ich komme bei Ihnen selber drauf. Sie sagen mir natürlich nicht: ›Machen Sie das und das.‹ Morgen ist übrigens wieder eine Elizabeth-Überforderung geplant.«
»Sie gehen wieder ins Bordell mit Ihrem Mann? Sie wissen ja, was ich davon halte.«
»Ja, weiß ich. Aber ich komm damit besser von meiner Mutter weg, und ich komme meinem Mann viel näher. Das ist erwiesen, Frau Drescher, empirisch, Sie können mich nicht davon abbringen. Nur weil es vielleicht unter Ihren Patienten ungewöhnlich ist, solch eine Ehehygiene zu betreiben, bin ich nach wie vor sehr vom Nutzen überzeugt. Genauso wie mein Vater mir jedes Mal auf der Schulter sitzt, wenn ich Pfannekuchen für die Kinder mache. Alles muss perfekt sein, für Papa, damit er seine Tochter liebt, alles funktioniert nur über Leistung. Genauso habe ich meine Mutter auf der anderen Schulter sitzen, wenn ich meinem Mann einen blase. Sie hasst Männer. Sie hasst Schwänze. Als ich ein Kind war, hat sie mir ständig erzählt, dass Männer nur zum Kinderzeugen gut sind, sie hatte jedenfalls null Spaß an Sex. Von ihr habe ich das schon mal nicht gelernt, leider. In dieser Hinsicht gehe ich auf jeden Fall fremd, wenn ich mit Georg ins Bordell gehe, morgen. Bei dem Gedanken daran kriege ich aber auch direkt Durchfall.«
»Wollen Sie gehen? Ich warte gerne.«
»Nein, nein, danke. Sie wissen doch. Ich kann nicht woanders als zu Hause groß.«
»Da müssen wir aber noch mal dran arbeiten, Frau Kiehl. Eigentlich müssten Sie ja wissen, dass es nicht schlimm ist, wenn Sie hier bei mir die Toilette benutzen, es ist menschlich, wissen Sie, Gerüche zu hinterlassen.«
»Ja, ja, dann will ich eben nicht menschlich sein. Nicht weiter darüber reden, dann wird der Drang nur noch schlimmer. Und ich werde ganz sicher nicht, egal, wie schlimm es wird, bei Ihnen die Toilette benutzen. Nur pinkeln geht. Mehr schaff ich nicht.«
»Wie lange sind Sie jetzt bei mir? Acht Jahre. Und immer noch so wenig Vertrauen auf dem Gebiet. Die anderen Patienten gehen auch hier.«
»Ja, toll, von Ihren anderen Patienten will ich auf dem Gebiet erst recht nichts hören. Iiihhh. Sie sind so ekelhaft, das jetzt ins Spiel zu bringen. Also wirklich, jetzt wird mir auch noch schlecht bei dem Gedanken.«
»Ich kann nur immer wieder anbieten, dass Sie herzlich eingeladen sind, die Toilette hier auch zu benutzen.«
Mein Darm macht ganz schreckliche Geräusche.
»Daran sind Sie jetzt schuld, wegen Ihrem ganzen Gequatsche darüber. Themawechsel. Ihre komischen Einladungen immer. So. Wo waren wir stehen geblieben? Die wichtigen Sachen! Mann!«
Mein Darm macht weiter schlimme Geräusche. Ich versuche das Unmögliche, ich versuche es zu ignorieren.
»Ja, genau, wir waren da stehengeblieben, dass ich es gut finde, meinem Mann was Gutes zu tun und dabei meine Mutter zu betrügen. Ich fühle mich dann frei und locker und glücklich, wenn ich das Gegenteil mache von dem, wozu sie mich erzogen hat. Sie war eben auch mit ihrem Männerhass voll auf dem Holzweg! Dafür muss ich acht Jahre zu Ihnen gehen, um festzustellen: Der Mann ist überhaupt nicht der Feind. Vor allem nicht der eigene. In meinem Fall ist leider die Mutter der Feind! Mein Mann ist der viel größere Feminist als meine Mutter.«
»Ja, das glaube ich allerdings auch.«
Sie lacht. Ich denke insgeheim, dass ich dafür da bin, meine Therapeutin zum Lachen zu bringen. Selbst die schrecklichsten Dinge versuche ich ihr lustig zu verpacken, damit sie bei der Arbeit an mir auch Spaß hat. Ich möchte so gerne einzigartig sein, alle anderen Patienten ausstechen. Die Klügste, die Lustigste, die Bravste, die Beliebteste sein. Ich möchte die Patientin sein, die meine Therapeutin am schnellsten am weitesten reinlässt in die Psyche, damit sie die besten und schnellsten Erfolge mit mir erzielt. Mit mir. Mit mir. Mit mir. Ich nehme mich selber sehr hart ran, ich erzähle ihr alle ekelhaften Seiten an mir, gerade das Schlechte, das Böse, alles muss raus, damit sie Materie zum Kneten hat. In der Therapie ist Selbstschutz völlig fehl am Platz. Sie ist voll auf meiner Seite, sie will nur helfen. Also: alles in die Waagschale und geknetet, nicht lange rumfackeln, nicht zaudern, überlegen, darf ich das erzählen? Alles raus damit, um den Heilungsprozess zu beschleunigen, um alle Lernprozesse von ihr so schnell wie möglich zu übernehmen, damit ich für immer eine gute Frau für meinen Mann bin und eine möglichst gute Mutter für Liza.
In der Stunde unterhalten wir uns zum hundertsten Mal über die Verbindung Sex und Eltern. Alles gut machen müssen, damit die Eltern einen lieben, und wie sauer ich immer noch bin auf meine Eltern, dass sie mir mit so viel Mist im Kopf rumgepfuscht haben. Ich erzähle ihr von dem Ausflug morgen und dass ich stolz bin, dass ich ganz offensichtlich besser blasen kann als jede Nutte. Ich erkläre Frau Drescher, wie wir die aussuchen, die Damen. Georg und ich sind eigentlich beide zu höflich für das Rotlichtviertel. Wir haben schon ganz oft mit unattraktiven Frauen geschlafen, weil wir uns nicht getraut haben, bei Ansicht zu sagen, nein, das ist nichts für uns. Wir sind zu weich für so was. Dann schlafen wir lieber mit einer Hässlichen und zahlen ihr ganz viel Geld dafür, circa dreihundertfünfzig Euro die Stunde, weil sie ja gleichzeitig zwei Kunden befriedigen muss, als ihr zu sagen, dass sie uns nicht anspricht. Ich bin da härter im Nehmen als mein Mann. Er ekelt sich nachher richtig und versucht unter der Dusche die Bilder der viel zu dicken Frau wegzuwaschen. Ich muss dann immer lachen über uns, wie bescheuert wir sind, so feige zu sein und nicht wie jeder Freier einfach zu sagen, was wir denken.
Mittlerweile haben wir uns ein Zeichen ausgedacht, wenn der eine oder der andere die Frau oder ihren Körper abstoßend findet. Wir sagen dann: »Oh, hier ist es aber ziemlich warm drin.« Weil ich uns auch nicht so besonders hübsch finde, nehme ich es nicht so schwer, dass eine nicht hübsch ist. Für mein Lebensbuch, in das ich alle Besonderheiten, die ich erlebe, mental eintrage, ist es ganz gut, mal mit einer Dicken geschlafen zu haben oder aus Versehen auch mal mit einer mit riesigen Silikonbrüsten. Mein Mann kann das nicht so gut.
Wir suchen auch niemals junge Prostituierte aus. Die sind noch so unsicher. Und so zappelig mit ihren Händen. Die Frauen, die wir für einen Dreier aussuchen, müssen mindestens achtundzwanzig oder so sein. Gerne auch viel älter. Bis zu fünfzig ist für uns vorstellbar. Viele Freier suchen ja extra junge Frauen aus zum Bumsen. Die denken wohl, dass sich die Jugend durch den Schwanz überträgt. Ist aber nicht so.
Bin ich eigentlich lesbisch, wenn ich ständig voll erigiert mit Frauen rummache? Egal, ob ich das jetzt will oder mein Mann. Lässt sich oft nicht auseinanderklamüsern, wenn man sich liebt und zusammen ist. Die Unterteilung in »das will ich, und das will er« ist schwer. Mein Mann will jedenfalls keinen Mann anfassen, leider, sonst könnten wir unsere sexuellen Abenteuer einfach umdrehen. Mal eine Frau, mal ein Mann, und immer mein Mann und ich mit ihnen im Bett. Wenn ich aber mit einem bezahlten Mann – falls wir einen finden würden, der nicht voll schwul aussieht – was mache im Bett, will Georg schon mal auf keinen Fall mitmachen. Zugucken eventuell, was ich aber im Kopf schon komisch finde.
Mit Frau Drescher rede ich auch zum hundertsten Mal darüber, wie stolz ich bin, dass ich meinen Mann manchmal alleine in den Puff schicke, und wie das bei mir das absolute Begehren nach ihm weckt. Verrückt! Was das für einen Effekt haben kann. Seinen Mann zu einer anderen zu schicken. Ich versuche immer weniger Kontroletti zu werden, ich will von mir los. Ich bin sonst so streng. Wenn ich einmal lockerlasse, ihn alleine in den Puff schicke, geht’s mir so gut wie noch nie! Und dass mein Mann immer noch Angst hat vor mir, weil ich früher, oder sagen wir ehrlicherweise: bis vor Kurzem noch, regelmäßig ausgerastet bin, vor Eifersucht, aus Angst, ihn zu verlieren. Großes Thema: Was Drescher wohl meint, wie lange ich mich jetzt gut benehmen muss, damit er keine Angst mehr vor mir hat, wie lange, wie viele Jahre ich ihm jetzt beweisen muss, dass ich viele von den bösen, hässlichen, aggressiven Stellen in mir mit ihrer Hilfe rausoperiert habe, bis in seinem Empfinden das Gute das Schlechte überlagert.
Zwischendurch frage ich wie immer: »Haben wir noch was Zeit?« Sie antwortet oft: »Ja. Ein paar Minuten noch.«
Dann kriege ich noch ein paar Themen unter. Ich frage sie, wie lange das wohl noch dauert, bis ich beim Blasen nicht mehr an meine Mutter denken muss, die mir ins Ohr flüstert, dass er mich gerade erniedrigt. Dabei stimmt das doch nicht. Er bläst mir auch ständig einen.
Und irgendwann antwortet Frau Drescher auf meine Zeitfrage: »So, die Zeit ist jetzt um.«
Ich schwinge mich hoch, setze mich auf, atme einmal richtig durch, mache Anstalten, die Decke zu falten, und Frau Drescher sagt mir wie immer: »Lassen Sie ruhig. Ich mache das schon.«
Das gehört nämlich wohl zu ihrem Nächster-Patient-Ritual, die Decke falten, über den Stuhl legen, als wäre ich nie da gewesen. Hoffentlich mag sie mich so wie ich sie.
Ich verabschiede mich, überlebe wie immer die Aufzugfahrt nach unten und höre laute Musik im Auto auf dem Weg zurück zu Liza und Georg. Ich bin eine brave Mutter und Ehefrau. Ich versuche meine dreckige Psyche zu reinigen, für unsere gesunde Zukunft, als Familie, als Liebespaar.
Ich fahre die hässliche Straße entlang, nach Hause. Auf dem Stück Wiese, vor den paar Bäumen auf der Strecke, suche ich immer wie eine Wahnsinnige Häschen oder Eichhörnchen. Manchmal sind welche da. Nachts habe ich schon mal einen Fuchs gesehen. Die glücklichsten Momente in meinem Leben sind, wenn ich wilde Tiere sehe. Das sind in meinem Fall meistens ganz normale deutsche Waldtiere, weil ich ja nie weit wegfahren würde. Ich bin aus gegebenem Anlass gegen weite Reisen. Wenn ich ein Eichhörnchen sehe, bin ich noch glücklicher als nach dem Sex mit meinem Mann. Ich weiß nicht, warum wir dann eigentlich nicht eher auf dem Land leben, in der Nähe von einem Wald, wo ich die Chance hätte, mehr wilde Tiere zu entdecken. Diese starken Gefühle, die ich dann habe, wenn ich ein Reh oder ein Eichhörnchen sehe, sind überwältigend. Ich bin dann nicht mehr ich, und das ist wunderschön für mich. Die Zeit bleibt stehen, ich halte die Luft an und lächele. Ich habe, wie ein Jäger, ein ganz gutes Auge entwickelt. Ich bemerke jede Bewegung im Gebüsch. Auf der Autobahn ist ein Auge zwar auf der Straße, um das Leben meiner Familie zu retten, das andere Auge aber ist auf den Feldern in der Nähe des Waldes. Da sehe ich immer die meisten Rehe. Dann hat ganz kurz mein Leben einen Sinn. Ich versuche das auch unseren Kindern zu vermitteln, das klappt aber leider überhaupt nicht. »Ja, ja, Mama, toll, ein Reh. Flipp doch aus.« Ich kann nicht erklären, warum ich diese Glücksmomente nicht versuche zu vermehren, indem ich im Wald wandere oder eine Försterausbildung mache. Ich bin ein großer Anhänger von Glück durch Verknappung. Gerade weil es so selten ist, dass man ein wildes Tier sieht, macht es wahrscheinlich das Glück so riesig. Ich habe auch schon oft beobachtet, dass es bei anderen Erwachsenen genauso ist. Ich kenne viele Erwachsene in der Stadt, die völlig begeistert darüber berichten, dass sie ein Eichhörnchen in ihrem Garten gesehen haben. Und wenn es mehrmals kommt, reden sie sich ein, dass es ihre Nähe sucht!
Heute ist leider kein wildes Tier zu sehen auf dem Grünstreifen, schade. Nächstes Mal vielleicht. Die glücklichen Momente in meinem Leben sind wirklich sehr selten. Bevor ich diesen deprimierenden Trampelpfad in meinem Kopf noch weiterdenken kann, bin ich wieder zu Hause.
Ich mache ganz kurz die Flamme wieder an. Sobald es brutzelt, nehme ich die Pfanne vom Herd und stelle sie auf das Hitzeding auf dem Tisch.
»Essen ist fertig.«
Ich muss es wie immer dreimal sagen, damit mein Mann vom Computer hochguckt und zu Tisch kommt, meine Tochter und ich sitzen schon. Keiner darf anfangen, bis alle sitzen. Alles ist streng reglementiert bei uns. Manieren, Manieren, Manieren, vielleicht hilft es ja später bei was.
»Guten Appetit.«
Kind nimmt sich zuerst. Sie möchte seit Neuestem auch uns auftun. Das bedeutet zwar, dass viel danebengeht, aber es bedeutet auch, dass sie lernt, wie man auftut, das ist ja eins meiner Ziele als gute Mutter.
Mein Mann und ich besprechen den morgigen Tag, meine Tochter beschwert sich sofort, dass keiner mit ihr spricht. Das ist das neue Ding, sich beschweren, dass keiner mit einem spricht. Alles kommt und geht in Phasen, hab ich in den letzten Jahren gelernt, wenn das Kind was macht, was wahnsinnig nervt oder einem große Sorgen macht, es wächst sich ständig raus und wird durch was neues Nerviges oder Sorgenerregendes ersetzt. Nichts bleibt. Es kommt immer was Neues und überlagert das Alte.
»Okay, wie war dein Tag in der Schule?«, fragt mein Mann seine Stieftochter.
»Sehr gut. Wir haben heute die neuen AGs gewählt.«
»Ja, und weiter? Was hast du denn gewählt? Nasepopeln und Pupsen?«
Großes Gelächter bei der Tochter.
Wenn er sie zum Lachen bringt, bin ich gerührter als auf meiner eigenen Hochzeit. Ich glaube, gerade weil er nicht der Vater ist. Ich lache auch gar nicht mit. Ist ja Kinderhumor, nur zu verstehen von Kindern. Ich überspiele meine Rührung mit einem aufgesetzten Stirnrunzeln. Wenn sich die Mutter von dem Humor distanziert, ist es noch lustiger für das Kind.
Wir essen alle drei sehr schnell. Zu schnell. Habe schon mehrmals irgendwo gelesen, dass man den Happs im Mund dreißig Mal kauen soll. Das finde ich aber, wenn ich es tatsächlich ausprobiere, ekelhaft. Ich habe dann so einen dünnflüssigen Brei in meinem Mund, der mich an nichts mehr von dem erinnert, was ich reingeschaufelt hab. Bis jetzt hat auch niemand was am Magen gehabt in unserer ganzen großen Familie, alle fressen am Tisch ganz schnell. Habe auch schon mehrmals versucht, dem Kind das mit dem oft Kauen beizubringen, aber wenn ich es selber nicht mache, bringt das wohl nichts. Also lass ich das laufen. Ich kann nicht alles perfekt machen. Nur fast alles.
Wir springen sofort nach dem Essen auf und räumen gemeinsam die Spülmaschine ein. Mir kommt das sehr schlecht für die Umwelt vor, dass wir die täglich benutzen. Mir wurde schon oft von meinem Mann und anderen Leuten erzählt, dass, obwohl die Spülmaschine Strom verbraucht und Wasser und Seife abpumpt, das besser für die Umwelt sei, als selber mit der Hand abzuspülen. Geht überhaupt nicht in meinen Kopf rein, aber ich mache das jetzt einfach so mit, auch wenn ich es kein bisschen glauben kann.
Der Umweltschutz macht mich wahnsinnig. Er kommt mir oft nicht logisch vor. Ich möchte gerne einmal alles bis ins kleinste Detail durchdacht haben, damit ich weiß, wie ich mich und wie wir uns in Zukunft zu Hause richtig verhalten. Ich möchte auf keinen Fall zu den Leuten gehören, die nichts machen, nur weil es die anderen auch nicht tun. Und ich möchte mich nicht selbst betrügen. Dass man sich einredet, man würde wahnsinnig viel für die Umwelt tun, und in Wirklichkeit machen die Maßnahmen, die man trifft, alles nur schlimmer. Diesen Gedanken fände ich unerträglich. Meistens haben alle Umweltmaßnahmen auch mit Selbstbeschneidung zu tun, man darf einfach Dinge, die andere tun, ohne nachzudenken, nicht mehr machen. Es geht darum, sich selber nicht so ernst zu nehmen in seinem luxuriösen Lebensstil, sondern kürzerzutreten auf vielen Gebieten. Damit die Welt so bleibt, wenigstens, wie wir sie kennen. Selbstbeschneidung erfordert eiserne Disziplin, weil einen niemand kontrolliert, es gibt ja keinen Umweltbeauftragten, leider, der in die Wohnung kommt und den Trockner wegnimmt, weil er sinnlos ist und superschlecht für die Umwelt. Nein, es ist so: Der steht da, aber wir dürfen ihn nicht benutzen, Wäsche muss luftgetrocknet werden, sonst verschwenden wir Energie.
Die Spülmaschine ist eingeräumt. Nach jedem Teil hat das Kind gesagt: »So, fertig.«
Und wir: »Nein, du bist nicht fertig. Dies noch. Das noch.«
Bei Kindern gibt es irgendwie keine große Aufgabe, die gelöst werden muss. Sondern jede große Aufgabe wird in viele kleine Aufgaben aufgeteilt, und nach jeder Kleinigkeit wird schlappgemacht. Die Eltern schleifen das Kind da durch. Damit es im Idealfall später in der eigenen Wohnung kein Messie wird.
Meine Eltern haben das bei mir nicht geschafft. Die großen Themen, die man seinem Kind mitgeben muss: mit Geld umgehen lernen, Wohnung sauber halten, waren bei mir ein voller Griff ins Klo. Ich frage mich, wie die das heute begründen würden. Wahrscheinlich würden sie sich selber niemals die Schuld dafür geben. Ich kann sie aber auch nicht mehr fragen, weil ich sie ja verlassen habe. Ich habe beschlossen, dass meine Eltern es nicht verdienen, Kinder zu haben. Ich bin jetzt dreiunddreißig Jahre alt, und mit neunundzwanzig habe ich mich von ihnen verabschiedet. Also jetzt nicht im wörtlichen Sinne mit: »Auf Wiedersehen, ich verlasse euch.« Sondern einfach den Kontakt abgebrochen. Und zwar für immer. Das heißt, ich gehe auch nicht zu ihrem Geburtstag, und ich schicke auch keine Karte, auf ihre Beerdigung werde ich nicht gehen, ich besuche sie nicht, wenn sie Hodenkrebs haben. Ja, ich glaube, meine Mutter hat auch Hoden. Kein Grabbesuch, einfach keine Eltern mehr!
Das kommt mir selber vor wie ein riesiges Tabu. Ständig werde ich geplagt von schlechtem Gewissen, weil wir doch alle in einer Gesellschaft aufwachsen, in der man auch als Hardcoreatheist lernt, dass man die Eltern ehren soll und so weiter und so fort. Warum soll man die Eltern ehren, wenn sie einem nur Schlechtes angetan haben? Ich versuche mir dauerhaft einzureden, dass das Leben ohne Eltern besser ist und sie mich als Tochter nicht verdient haben. An Weihnachten wird es unerträglich, dann werde auch ich, als der Antichrist schlechthin, schmerzhaft sentimental und spüre körperlich, wie schrecklich es ist, Weihnachten feiern zu müssen, als hätte man keine große Kernfamilie, also ohne die alte Generation vor mir. Das kommt mir so falsch vor, dass ich regelmäßig in Tränen ausbreche. Trotzdem kein Grund, irgendwas zu ändern, mein Entschluss steht fest, ich lebe ohne meine Eltern weiter. Ich darf das, man darf jeden verlassen, wenn man rausgefunden hat, dass er schlecht für einen ist, das muss ich mir immer selber sagen, zur Beruhigung, habe ich von meiner Therapeutin gelernt, weil ich sonst oft denke, es ist ungeheuerlich, was ich da mache. Auch wenn ich das weiterdenke und mir vorstelle, dass mir selber das mit meiner Tochter passieren könnte. Schrecklich.
Frau Drescher hat mir beigebracht, dass ich meiner Tochter nicht die Großeltern nehmen darf. Auch wenn ich entschieden habe, dass sie für mich schlechte Eltern waren, könnten sie für meine Tochter gute Großeltern sein. Ich bezweifle das zwar, aber gut, wenn die meint, die wird das ja wohl wissen. Familie! Ich habe nur eine, dadurch ist man noch lange nicht Experte. Also höre ich auf sie. Ich arrangiere gegen meinen Willen Treffen zwischen meiner Tochter und ihren Großeltern, die meine Exeltern sind. Andere müssen bei den Übergaben helfen, weil ich mir auch in meinen Dickschädel gesetzt habe, dass ich sie tatsächlich mit eigenen Augen nie mehr sehen will, wenn es irgendwie geht, bis sie sterben. Und danach natürlich erst recht nicht!
Sie können meine Tochter bei ihrem Vater abholen, ich nehme meiner Tochter die Großeltern nicht, nur weil ich wegen meiner Kindheit auf sie sauer bin. Ja, ja, Frau Drescher. Alles klar, mach ich. Anstrengend, das Leben. Fuck!
Weihnachten muss ich das vor meiner kleinen Familie gut verbergen, dass ich meine Eltern dann am meisten vermisse. Aber jetzt nicht unbedingt genau diese Eltern. Sondern eher Eltern im Allgemeinen. Die Eltern einer Freundin von mir sagen ihr jedes Mal, wenn sie Weihnachten nach Hause kommt: »Boah, bist du dick geworden.« Ich habe ihr geraten, einfach nicht mehr dahin zu gehen, aber sie holt sich weiter jährlich ihre Dosis Selbsterniedrigung ab. Da komm ich nicht drüber. Kann bei ihr auch was mit dem Erbe zu tun haben. Ich glaube, wenn mein Mann nicht mit seinem Aufkreuzen in meinem Leben mein Erbe überflüssig gemacht hätte, würde ich da auch noch regelmäßig hintuckern. Ich glaube ganz fest daran, dass die Erbschaft viele kranke Familien zusammenhält, dass sie die Kinder zur Selbsterniedrigung zwingt.
Mit meinem früheren Mann war ich hoch verschuldet. Mein neuer Mann hat als Erstes all meine Schulden bezahlt, und dadurch werde ich nie das Gefühl los, dass er mich wie ein altes Kamel meinem Exmann abgekauft hat. Ich glaube, ich habe mich auch tatsächlich kaufen lassen, weil ich dringend Sicherheit brauchte, weil ich von meinem Trauma so durcheinander war, dass ich psychisch nicht auch noch ein schuldenbeladenes Leben verkraftet hätte. Georg ersetzt nicht nur das finanzielle Erbe des Vaters, sondern damit auch psychisch beide Elternteile. Frau Drescher hält das natürlich für eine Überforderung meines neuen Mannes, hat sie wahrscheinlich wieder mal recht. Dann bearbeite ich das eben auch noch mit ihr.
Ich bringe die Tochter ins Bett. Seit sieben Jahren immer das Gleiche, wie im Gefängnis: erst ins Bad, Zähneputzen, Toilette. Bei Zähneputzen bin ich so hart, als ginge es um Leben und Tod. Ich rede mir ein, dass es nur Asis passiert, dass die Kinder Löcher in den Zähnen bekommen. Vor allem in den Milchzähnen, das geht gar nicht. Erstens müssen immer ganz drastisch die Süßigkeiten reduziert werden. Und es muss jeden Tag mindestens einmal geputzt werden. Ganz lang. Ich habe mich eines miesen Tricks bedient, um diese Mundhygiene gegen den natürlichen Widerstand des Kindes durchzudrücken. Ich habe den gleichen Trick benutzt, den sonst Leute verwenden, um moralisches Verhalten durchzusetzen, indem sie einfach einen Gott erfinden und behaupten, dass er alles sieht und man deswegen mal besser lieb ist.
Ich habe meiner Tochter, als sie kleiner war, ständig von Karius und Baktus erzählt. Das sind zwei Bakterienmännchen, die von der deutschen Regierung oder was erfunden wurden, um bei den Kindern die Zahnhygiene durchzusetzen. Die kommen auch in Kinderbüchern vor, es geht um reine Panikmache. Es wird erklärt, wie sie sich von den Essensresten im Mund ernähren und dann mit ihren Ausscheidungen Löcher in die Zähne fräsen und ätzen. Das habe ich Liza immer und immer wieder erzählt: »Wenn du nicht putzt, kommen Karius und Baktus mit Hammer und Sichel und klopfen dir Löcher in die Zähne, und die Löcher tun dann weh, und dann musst du zum Zahnarzt, und dann muss der bohren, um das Loch zu reinigen, bevor er es zumachen kann, mit Füllmasse.«
Der Vergleich mit Gott ist insofern schlecht, weil es Karius und Baktus ja tatsächlich gibt, gewissermaßen, und es auch tatsächlich Konsequenzen hat, wenn man nicht putzt. Bei Gott gibt es nie welche. Gott sieht nicht alles und bestraft auch nichts, weil es ihn einfach nicht gibt. Das Kind hat das mit dem Zähneputzen so verinnerlicht, dass es, wenn es mal spät geworden ist und ich es schlafend ins Bett legen möchte, mit Klamotten, trotzdem aufschreckt und die Zähne noch putzt, weil in seiner Paranoiavorstellung über Nacht ganz viele Löcher entstehen. Umso besser. Liza wird es mir mal danken. Oder wahrscheinlich nicht. Wenn Freunde von uns mit ungefähr gleich alten Kindern uns erzählen, dass ihr Kind ein Loch im Zahn hat, tue ich so, als wäre es ganz normal, in Wirklichkeit denke ich aber dann, o Gott, was für eine schlechte Mutter ist das denn! Ich hole mir richtig einen darauf runter, dass mein Kind noch kein Loch im Zahn hat. Mein Verdienst, ganz alleine mein Verdienst. Ha!
Danach gehen wir ins Kinderzimmer, ich lege mich neben das Kind und lese vor. Wir lesen grad Gullivers Reisen.
Sie fragt: »Mama, warum flüsterst du?«
Keine Ahnung, ich muss selber überlegen, warum. »Ehm, damit es spannender ist?«
»Hör auf damit.«
Ich lese weiter, ohne zu flüstern. Dann mache ich an einer schlechten Stelle Schluss und lasse mich meistens noch zu einer Leseverlängerung überreden. Hab ich von Jan-Uwe Rogge gelernt. Man soll immer konsequent und hart sein, aber dem Kind auch manchmal beibringen, dass es mit Charme und guten Argumenten die Härte der Eltern aufbrechen kann. Es soll lernen zu überzeugen. Das lernt sie bei mir.
Ich singe ihr nach dem Lesen jeden Abend die beiden Lieder vor, die ich ihr beim Stillen schon vorgesungen habe, damit sie Konstanten im Leben kennenlernt, das, was ich nie hatte. Erst: »Schlaf, Kindchen, schlaf«, danach das englische Kinderlied »Bah, Bah, Black Sheep«, darin geht es um ein Schaf, das seine eigene Wolle zu den Kunden nach Hause bringt, keine Ahnung, was uns das sagen soll.
Schließlich muss ich bei ihr liegen bleiben, bis sie eingeschlafen ist. Wir wohnen in einer Art Kellerverlies. Es gibt nur zwei Fenster zur Straße, am Wohnzimmer und an der Küche. Die Vorbesitzer der Wohnung bauten in all den Jahren, die sie da wohnten, immer weiter an, höchstwahrscheinlich illegal. Das würde kein Bauamt mehr erlauben, was die da abgefackelt haben. Lange, schmale Gänge ohne Fenster, minikleine Zimmer ohne Fenster, alles extrem fußkalt, weil es ja bis unter die Erde gebaut ist, wie ein Hasenbau, jeder verläuft sich darin, auch Liza noch manchmal. Es ist eine richtig anale Wohnung, die Flure und die Zimmer sind wie unterirdische Gedärme.
Ich mache mir langsam Sorgen, ob diese Wohnung uns Glück bringt. Als wir frischverliebt einzogen, war uns die Vorgeschichte egal. Jetzt, wo die erste Verliebtheit weg ist, kommt mir die Geschichte unserer Vorbesitzer schlimmer vor. Man denkt, frischverliebt, man ist immun gegen alles Schlechte, wenn sich aber der Alltag in die Liebe eingeschlichen hat, merkt man, dass man doch nicht so besonders ist, wie man am Anfang so arrogant dachte, plötzlich ist das schlechte Schicksal anderer auch für uns denkbar. Sie hatte Geld, aus Bankgeschäften, er war nur einfacher Arbeiter. Sie baut körperlich ab. Er erst mit, dann bekommt er eine neue Leber und ist plötzlich wieder richtig gesund und munter. Er haut ab, weil er sie nicht mehr erträgt.
Und in so eine Wohnung ziehen wir ein, ohne einmal nachzudenken! In einem Film würde jeder denken: Oho, nicht da einziehen, da ist doch der Ärger vorprogrammiert. Oder man weiß es nicht und zieht deswegen ein. Aber doch nicht sehenden Auges.
Liza liegt da und tut so, als würde sie einschlafen wollen. Ich habe als gutes Vorbild die Augen geschlossen und atme tief, erst aus, dann ein, habe ich mal von einer Masseurin gelernt, um mich selber bei Panikattacken zu beruhigen. Man schläft dann besser ein, weil man plötzlich denkt, man hat das Leben doch im Griff. Wahnsinn. Das zeigt auch mal, wie schlecht man sonst den ganzen Tag atmet. Ich horche darauf, ob sich ihre Atmung verändert, von so tun, als ob man schläft, zu wirklich tief und fest schlafen. Plötzlich spricht sie in die Dunkelheit hinein.
»Mama, gibt es den Hitler eigentlich noch?«
»Wie kommst du denn jetzt auf den?« Oh, Mann, bitte schlaf endlich ein. Schlimm.
»In der Schule hat ein Kind das zum anderen gesagt, als die sich gestritten haben. Du bist ja so schlimm wie Hitler.«
»Nein, mach dir keine Sorgen. Der hat sich vor langer, langer Zeit selber umgebracht.«
»Da bin ich aber froh. Dann kann ich jetzt einschlafen. Wäre der denn sonst, wenn der sich nicht umgebracht hätte, im Gefängnis?«
»Klar wäre der dann im Gefängnis. Der hat so viele Menschen umgebracht.«
»Mama, kennen wir jemanden, der im Gefängnis ist?«
»Warum?«
»Ich würde gern mal jemanden im Gefängnis besuchen. Ich will mal sehen, wie das da drin aussieht.«
»Nee, leider nicht. Aber vielleicht bald.«
Ich würde mich so gerne an dem Herausgeber der Zeitung rächen, die aus dem Unfall in unserer Familie damals ihr widerliches Blutgafferkapital geschlagen hat. Ich würde sofort eine Untergrund-Terrororganisation gründen, wenn ich keinen Mann und kein Kind hätte. Ich habe mir geschworen, sobald mein Kind aus dem Gröbsten raus ist, mich umzubringen, weil ich mich sowieso umbringen will, und dann die Hauptverantwortlichen mitzunehmen. Wenn ich mich traue. Wenn der Plan funktioniert und ich nicht sterbe, gehe ich für den vorsätzlichen Mord an mindestens drei Personen ins Gefängnis, wer weiß, wer da sonst noch in der Gegend rumspringt, am falschen Ort zur falschen Zeit, dann kannst du jemanden besuchen im Gefängnis, mein Kind. Vielleicht gehe ich doch nicht mit, weil ich es meiner Tochter nicht antun kann und auch ein bisschen nicht meinem Mann. Ich habe aber für alle Fälle schon im Testament geschrieben, dass er sich gerne sofort eine neue Frau suchen darf, dass ich will, dass er das macht, er braucht doch immer eine Absolution von mir. Auch gerne eine Frau mit großen Brüsten, das muss ich ja nicht mehr miterleben, über kurz oder lang würde das doch sowieso passieren.
Liza atmet schon tiefer. Ich kann im Dunkeln ihre langen Wimpern erkennen. Es ist wirklich lustig, wie jede Mutter denkt, ihr Kind sei das schönste. Dabei stimmt das sicher nicht. Kann ja nicht. Ich löse ganz langsam mit angehaltenem Atem meine Finger aus dem Klammergriff meiner Tochter. Den komplizierten Klammergriff mit angehaltenem Atem zu lösen ist jedes Mal wie eine Geburt. Das Kind will aber nicht aus der Mutter raus. Es wacht auf. Klar. Dafür hat es ja die komplizierte Fingerkonstruktion gebaut, als Alarmanlage, wenn ich versuche zu entkommen.
Sie macht die Augen auf. Immer der gleiche Satz: »Mama, noch ein bisschen.«
»Ja, aber lass meine Finger jetzt los, sonst weck ich dich gleich beim Weggehen wieder.«
Immer das Gleiche. Hab ich früher nicht gehabt. Gefangen in einer Zeitschleife. Ich löse meine Finger aus ihren. Lege mich diesmal ohne Körperkontakt etwas weiter weg von ihr. Ich weiß genau, dass sie jetzt vier normale Atemzüge macht und danach anfängt, sehr tief ein- und auszuatmen, sie klingt dann wie ein alter, besoffener Mann, das Zeichen für mich, dass sie eingeschlafen ist. Endlich. Und plötzlich zuckt sie heftig. Das kenne ich, sie ist entweder gefallen oder aufgeschlagen, hinter ihren Augen. Freier Fall oder noch schlimmer: Aufprall. Das habe ich auch oft. Und mein Mann auch. Kurz bevor man richtig eingeschlafen ist, rabumms, durchzuckt es einen, weil man was kurzes Schreckliches geträumt oder gesehen hat. Das muss ich unbedingt Agnetha noch fragen, was das eigentlich soll, warum unser Hirn das mit uns macht. Bevor ich sterbe, muss ich sie das unbedingt fragen.
Das Kind schläft. Endlich. Ich darf gehen. Ich bin frei, habe kinderfrei. Meine Schultern entspannen sich. Eine große Last fällt mir von den Schultern. Wenn Kinder schlafen, sehen sie am schönsten aus. So unschuldig und glatt, wie neugeboren. Das kann doch nicht sein, dass man sich immer Kinder wünscht, und wenn sie endlich da sind, ist man froh, wenn sie schlafen oder woanders sind, und dieser Gedanke macht einem jedes Mal wieder ein schlechtes Gewissen, jedes Mal. Ich trainiere meine Bauchmuskeln, indem ich lautlos, auf dem Rücken liegend, die Beine ausstrecke und meine Bauchmuskulatur meinen Oberkörper, ohne Schwung zu holen, hochzieht. Wenn ich sitze, kreuze ich die Beine und stehe mit Gegendruck der Beine aus dem Schneidersitz auf. Rausschleichen. Auf die Parkettbodenplanke im Türrahmen achten, die quietscht, wenn man drauftritt. Und gerettet. Ich atme tief aus und renne die Treppe hoch.
Georg sieht mir die Anspannung an. »Was ist?«
Jeden Abend die gleiche Frage, nachdem ich sie ins Bett gebracht habe. »Ich kann das nicht ertragen, wenn sie mich nicht weglässt. Es ist irgendwie ein schönes Gefühl, aber auch schrecklich, so gebraucht zu werden. Weißt du doch.«
»Maamaa.«
Fuck. Sie ist wieder wach. Ich renne die Treppe runter und schnauze sie an: »Was ist, Manno?« Ich denke natürlich, sie beschwert sich wieder, dass ich zu früh gegangen bin, dass sie noch nicht richtig eingeschlafen war. Das behauptet sie ganz oft, obwohl sie tief und fest geschlafen hat: dass sie noch nicht eingeschlafen sei.
Sie guckt mich ganz besorgt an und flüstert verschlafen: »Die andere Tür ist noch einen Schlitz auf, kannst du sie bitte zumachen, das macht mir Angst.« Und dann: »Mein Po juckt ganz doll.«
Ich wieder. So aufbrausend und mit blank liegenden Nerven. Typisch. Ich muss mich wieder mal bei meinem Kind entschuldigen.
»Das mit dem Po klären wir morgen. Wie wär’s mal mit waschen morgen früh vor der Schule? Dann geht das bestimmt wieder.«
Wie bringt man Kindern bei, sich vernünftig den Po abzuwischen? Ich habe das Gefühl, dass ich mit dreiunddreißig noch immer besser werde darin, wie soll ein Kind das perfekt beherrschen? Ich will ihr keinen Putzfimmel anerziehen und ständig von Hygiene quatschen. Sie soll sich nicht vor sich selber ekeln. Sie soll frei sein. Freier als ich. Kein Mensch spricht je darüber: über die Kunst, sich ordentlich den Po abzuwischen. Mir hat das keiner beigebracht. Meine Mutter Elli jedenfalls nicht. Wir heißen alle Elizabeth in der Familie, alle Frauen jedenfalls, das einzige Geschlecht, das zählt in unserer Familie, leider. Alle haben versucht, einen leichten Anflug von Individualität in die Namen zu bringen. Wenn wir schon alle gleich heißen, hat wenigstens jede einen eigenen Spitznamen. Elli jedenfalls ist da viel zu verklemmt gewesen. Sie hat uns Kindern immer erzählt, dass sie niemals kackt und auch nie furzt. Das hat mich als Kind schwer beeindruckt, ich kam mir gleichzeitig aber so ekelhaft vor, weil ich selbst es nicht stoppen konnte. Sie hat uns erzählt, dass es bei ihr ätherisch verdampft, durch die Haut sozusagen. Das hatte sie wiederum von ihrer Mutter, Liz, unserer geistesgestörten Oma aus Camden. Die bis heute so tut, als wäre sie die eigentliche Königin von England. Da passt der Name Elizabeth perfekt. Die hat auch noch nie gekackt und gefurzt. Wie schön für sie. Also von denen kann man in normal menschlichen Dingen schon mal keine Hilfe erwarten. Das muss man sich alles selber beibringen.
Man kann auch sonst niemanden mit so fiesen Themen belästigen. Da heißt es, selber kreativ werden und raten, wie es wohl die anderen alle machen. Früher habe ich einfach nur einmal gewischt, egal, ob es geklebt hat oder nicht, und die Unterhose hochgezogen. Ich habe mir einfach nicht genug Gedanken gemacht. Heute läuft das so: Ich wische einmal, zweimal, gucke mir genau an, wie das Papier danach aussieht. Meistens ist noch was dran. Dann wische ich so lang, bis auf dem Papier nicht eine Spur zu erkennen ist. Tut mir leid, Greenpeace, ich verbrauche dabei viele Blätter Papier. Aber wenigstens Danke-blauer-Engel-Papier! Da geht es schon wieder um Verzicht. Alles, was gut ist für die Umwelt, bedeutet: Verzicht. Früher, als mir die Umwelt noch egal war, habe ich das dickste, weichste, weißeste Papier benutzt, das ich finden konnte, am besten noch mit hellblauer Farbe drin. Engländerin halt. Habe ich abgestellt, wird nie wieder aktiviert!
Wenn also mit bloßem Auge keine Spur mehr zu erkennen ist, kommen noch zwei Spuckerunden, um ganz sicher zu sein. Weil feuchte Tücher aus gesundheitlichen und umwelttechnischen Gründen nicht infrage kommen. Sie bauen sich, wenn überhaupt, biologisch viel langsamer ab als normales Papier und sind so mit Chemie vollgepumpt, dass man das doch nicht in die Nähe seines Körperzentrums lassen will. Also lieber nicht. Kommen meistens von den schlimmsten Firmen sowieso. Ich spucke auf ein paar zusammengeknüllte Tücher und reibe mit der Spucke noch mal richtig sauber. Das wiederhole ich zur Sicherheit noch einmal. Dadurch entstehen diese hässlichen kleinen feuchten Papierröllchen, die sich durch Reibung ablösen. Und die wasche ich mit der Hand und Wasser aus dem Waschbecken wieder ab. Ich nehme das Handtuch und tupfe liebevoll das Wasser weg, und fertig. Picobello. Selber ausgedacht und beigebracht. Hab noch nie mit jemandem drüber gesprochen. Bescheuerte Welt. Alles muss man sich selber ausdenken.
Das mit der Kinderzimmertür hätte ich auch vorher sehen können. Das ist eine mir bekannte Angst, und es gehört eigentlich zum Zu-Bett-geh-Ritual, dass ich die Tür schließe. Vergesse ich eigentlich nie. Liza hat in ihrem Zimmer zwei Türen, und die eine zu unserem Zimmer muss geschlossen sein, sonst hat sie Angst, dass da jemand oder etwas durchkommt. Sie schläft auf dem Boden, ihr Zimmer ist ein stilisiertes Meer, mit Piratenschiff drauf. Eigentlich könnte sie in dem Piratenschiff schlafen, will sie aber nicht, wollte sie noch nie. Sie schläft immer auf dem blau gestrichenen Dielenboden, der das Meerwasser darstellen soll, auf einer Luftmatratze. Wenn man neben ihr liegt, muss man auch auf einer Luftmatratze liegen, weil man ja sonst im Meer untergeht. Und seit ich mich abends immer dazulegen muss, hat man schon ein komisches Gefühl von Ausgeliefertsein, wenn man da so schutzlos auf dem Boden liegt. Vom Boden aus betrachtet, wirkt die Tür riesig und hoch und bedrohlich, vor allem wenn sie einen Spaltbreit offen ist.
Ich habe mir oft Sorgen gemacht über all die wechselnden Kinderängste, die Liza hat. Sie hat Angst, dass Schlangen in der Wohnung wohnen, giftige oder würgende. Sie hat Angst, dass ein Tiger bei uns im Garten lebt und durch die Scheibe in ihr Zimmer springt. Sie hat Angst vor Einbrechern. Und Angst vor Menschen, die Kinder klauen. Angst vor Geistern. Hexen. Wölfen. Füchsen. Dachsen. Skeletten. Echsen. Aber nur abends. Nie tagsüber. Frau Drescher sagt, das seien die inneren Ängste, die ein Kind nach außen kehrt. Kinder haben Angst vor dem eigenen Bösen in sich. Wenn sie mal sauer sind auf die Eltern und sich klammheimlich wünschen, dass die Eltern tot sein sollen, haben sie direkt danach wieder ein schlechtes Gewissen und projizieren das Böse in sich lieber auf ein böses Tier, das sie angreifen und gefährden könnte, dann bleiben sie weiter unschuldig und lieber Opfer als Täter.
Mein erster Impuls, als meine Tochter mit diesen Ängsten anfing, war, ihr zu erzählen, dass das alles Quatsch ist mit den Tieren im Garten und im Haus. Es gibt keine Geister, mein Kind, kein Mensch auf der ganzen Welt hat jemals einen Geist gesehen, jedenfalls kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat. Ich habe dann von meiner Therapeutin erfahren, dass das der völlig falsche Ansatz ist. Wenn ich dem Kind ständig erzähle, dass all seine Ängste Quatsch sind, also versuche der Sache mit vernünftigen Argumenten beizukommen, wird das Kind irgendwann einfach aufhören, mir davon zu erzählen. Und würde dann zwar immer noch genauso viele Ängste mit sich rumtragen, aber es einfach verheimlichen, weil die ja Quatsch sind und es sich nicht lächerlich machen will. Und dann muss es ganz alleine damit klarkommen, wodurch die Ängste eher größer und unkontrollierbarer werden. Das habe ich als gute Mutter gelernt und sofort umgesetzt. Das heißt, ich nehme sie mit ihren Ängsten ernst. Das ist übrigens eine Sache, die mir in der Beziehung mit meinem Mann genauso wie bei der Erziehung meiner Tochter aufgefallen ist: dass das Naheliegendste, und wenn es noch so gut gemeint ist, falsch ist und eher alles schlimmer macht. Ich horche oft in mich rein, denke mir eine Lösung aus und liege dann völlig daneben, wenn ich mich bei Profis rückversichere. Darum empfehle ich jedem, der ein Kind hat oder einen Mann oder eine Frau, eine Therapie zu machen. Wenn man sich das nicht leisten kann, bitte wenigstens einen Ratgeber lesen.
Seitdem ich eines Besseren belehrt wurde, rede ich mit Liza darüber, wie die Hexe genau aussieht, die unter dem Schrank wohnt, ich guck sie mir auch manchmal an, da unterm Schrank, sie ist so groß wie eine Ratte, das sagen wir ihr auch ins Gesicht, eine Hexe kann das ab, und wir überlegen gemeinsam, ob sie überhaupt unbedingt böse sein muss, weil sie bis jetzt ja gar nichts Böses gemacht hat, obwohl sie die ganze Zeit bei uns wohnt, ähnlich wie auch die meisten Terroristen. Wenn die Hexe an einem Abend besonders aufdringlich ist, frage ich Liza, ob ich sie aus dem Fenster werfen soll. Mein Kind erteilt mir den Auftrag, dann öffne ich das Fenster, und unter viel kindlichem Gelächter fuchtel ich unter dem Schrank rum, lass mir ein paarmal in den Finger beißen, halte die Hexe dann mit beiden Händen im Nacken und am Rücken fest, damit sie mich mit den Zähnen nicht erwischen kann, bugsiere sie aus dem Fenster und werfe sie in hohem Bogen in den Garten, mit der Bitte, in dieser Nacht draußen zu bleiben. »Morgen lassen wir dich dann wieder rein, du freche, kleine, miese Monsterhexe.« Meine Tochter lacht und guckt mich dankbar an. Dann kann sie schlafen. Und ich bin meiner Therapeutin unendlich dankbar, weil ich auf so eine Scheiße von alleine nie gekommen wäre.
Ich schließe Lizas Tür, die zu unserem Schlafzimmer geht, die zum Wohnzimmer muss aufbleiben, damit wir sie hören, schleiche dann nach oben und hoffe inständig, dass sie sich nicht noch mal meldet heute!
Ich setze mich neben meinen Mann und muss ein paarmal tief durchatmen. Ich wechsele meine Persönlichkeit von der Mutter zur Hure. Bis mein Kind morgen früh aufsteht und ich wieder Mutter sein muss, bin ich abwechselnd Ehefrau und Hure. Obwohl ich nachts eher wieder Mutter bin, wenn ich schlafe. Ich schlafe mit Alarmohren. Seit sieben Jahren, das hat mir auch keiner gesagt, bevor ich ein Kind bekommen habe. Jetzt erst mal nur Hure, weil mein Mann und ich verabredet sind heute Abend, wenn das Kind endlich schläft und die Erwachsenenzeit des Tages anfängt.
Wir werden unseren morgigen Puffbesuch planen. Das war vor vielen Jahren die Idee von meinem Mann. Er hatte Lust, mal mit einem anderen Körper als meinem zu schlafen. Musste ich erst mal lange drüber nachdenken. Kam mir erst ziemlich pervers vor, und als meine eigene Mutter würde ich sagen: »Spinnst du, du perverses Männerschwein, das hättest du wohl gerne!«
Als die Frau meines Mannes habe ich gesagt: »Klar, können wir gerne mal ausprobieren.« Ich möchte für meinen Mann die coolste Frau sein, die er sich vorstellen kann. Ich möchte ihm das schenken, weil er mir auch so viel geschenkt hat. Alles, was er hat, teilt er mit mir. Geld. Zeit. Wohnung. Alles. Ich dürfte auch alles anziehen von ihm, passt mir aber nicht. Ich mache dafür alles für ihn, was ich kann, bis zur Selbstaufgabe. Für immer. Hoffentlich schaffe ich das. Das ist jedenfalls der Plan. Er soll aber nicht merken, dass es Selbstaufgabe ist, ist ja unsexy. Ich spiele vor, dass mir ein Puffbesuch mit ihm nichts ausmacht. Ich bin eine gute Schauspielerin. Und habe dann aber totale Angst davor. Wenn ich sage, ich mach was, dann mach ich das auch. Deswegen habe ich Angst, weil klar ist, dass ich das machen muss, wenn ich zugesagt habe.
Als wir das erste Mal drüber sprachen, bekam ich sofort Durchfall. Alle aufregenden Sachen schlagen bei mir sofort auf den Darm. Mein Mann kennt das schon, ich renne einfach wortlos, peinlich berührt und lachend aus aufregenden Diskussionen weg und schließe mich im Gästeklo ein. So wird das heute Abend bei unserer Planung bestimmt auch enden. Ich kenne mich doch. Wir knien beide auf unserem großen Designersofa, das ist wirklich sehr groß. Wenn ich da mit ausgestreckten Beinen drauf sitze, mit dem Rücken an der Rückenlehne, kommen meine Füße nicht an das Ende der Sitzebene. Das Sofa ist noch aus seiner ersten Ehe. Nicht nur die Menschen sind Patchwork in unserem Leben, auch die Möbel. Wir knien und gucken einander an. Er weiß, dass es immer schwer ist für mich, darüber zu reden, weil ich ständig schwanke zwischen meiner Mutter und meinem Mann.
Er lächelt mich an. Das beruhigt mich.
Er sagt: »Ich habe schon einen Plan. Willst du ihn wissen?«
»Klar.«
Ich denke, wir planen zusammen! Natürlich hat er schon einen Plan. Ihm macht das Spaß, drüber nachzudenken, mir macht es Angst, und wenn ich grad mutig und locker und frei bin und es mir keine Angst macht, dann macht es mich aufgeregt. Und ich hasse es auch, aufgeregt zu sein. Mir kann man es nicht recht machen. Ich wäre nicht gern mit mir zusammen oder womöglich noch mit mir verheiratet. Horror!
»Wir können ja um elf ein spätes Frühstück nehmen in dem Café nebenan, Café Fleur. Die haben da WLAN, hab schon angerufen. Wir nehmen den Laptop mit. Ich gehe alleine in den Sexclub um die Ecke und gucke, welche Frauen da sind. Vielleicht können wir sie nachher dann gemeinsam im Internet angucken.«
Wir haben das ja schon öfters gemacht, und aus Erfahrung wissen wir, dass das Geschäft tagsüber brummt im Puff und nicht, wie man sich das als Laie vielleicht vorstellt, am verruchten Abend oder in der Nacht. Das Hauptgeschäft in diesem Edelpuff läuft in der Mittagspause, wenn die Männer dahin gehen, von der Arbeit aus. Kurz. Am Wochenende und am Abend hat das Etablissement zu, weil die Freier dann alle auf Familie machen müssen und nicht wegkommen, ohne Verdacht zu erregen.
Meistens mögen die im Puff nicht, wenn ich als Frau direkt mitkomme. Mein Mann muss erst alleine rein. Ganz normal erst mal, wie ein Freier, der sich umguckt. In dem Preissegment, in dem wir uns bewegen, wird Diskretion großgeschrieben. Er wird meistens in einen Raum geführt, ohne dass ihn irgendein anderer Freier sieht, und dann kommen einzeln die Frauen rein, drehen sich einmal im Kreis, sagen, wie sie heißen, wirken meistens sehr gelangweilt, weil da ja noch kein Geld fließt, die wissen ja nicht, wie viel sie später mal an uns verdienen werden. Sie schätzen ihn falsch ein, als einen Hochstapler, der nur mal umsonst Beratungsgespräche in Anspruch nimmt und sich dann zu Hause für umme einen auf sie runterholt. Wenn er erzählt, dass er gerne seine Frau mitbringen würde, ob das für die jeweilige Frau in Ordnung ginge, lächeln sie ihn mitleidig an, weil sie denken: Ja, du armer Irrer, das hätten viele gern. Haben sie schon oft gehört: »Ich bring später meine Frau noch mit.« Und dann kommt keiner. Er muss dann jede Einzelne fragen, ob sie es auch mit einem Pärchen machen würde. Manche machen das, manche nicht. Ich weiß nicht, was die dagegen haben können. Egal. Ist eben so.
Mein Mann checkt die Körper ab. Er mag nicht, wenn sie kräftiger sind und einen dicken Bauch haben. Für mich wären Dicke kein Problem. Und er mag keine operierten Frauen. Das versucht er bei dem kurzen Kennenlerngespräch mit geschultem Blick auszuschließen. Neben den richtigen Körpern versucht er freundliche und lustige Prostituierte auszuwählen.
Ab hier fängt es an, interessant zu werden. Er muss jemanden aussuchen, den seine Frau sympathisch findet. Erst mal darf sie keine riesigen Brüste haben, weil er ja genau weiß, dass seine Frau einen großen Brustkomplex hat. Bis wir uns kennengelernt haben, hatte ich nie über meine Brustgröße nachgedacht. Dachte, alles an mir ist normal über gut bis schön. Dieser Mann war der Erste, bei dem ich Angst hatte, ihn zu verlieren. Ich habe mich ständig in die unmöglichsten Situationen reingesteigert. Wenn er abends nicht da war, habe ich versucht, mehr über seine Vergangenheit rauszufinden. Ich habe mir erst Mut angetrunken und dann schielend vor zu viel Alkohol seine alten Fotokisten durchwühlt und viele Fotos von alten Freundinnen gefunden. Die gingen zurück bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr. Er ist heute fünfzig. Fast so alt wie mein Vater.
Meine Eltern haben sich getrennt, als ich fünf war. Leider hatte mein Vater auch schnell wieder eine neue Frau. Eine schlechte neue Frau, jedenfalls für uns Kinder. Sie versaute jede Minute, die wir mit unserem geliebten Vater hatten. Ich habe meinen Vater immer so vermisst, selbst wenn ich bei ihm war. Er bedeutete Schutz, männliche Geborgenheit, alles in einem. Ich habe ihn so geliebt, mit seinem roten Sportauto, das meine Mutter immer schlechtreden wollte. Ich liebte ihn, sein Auto, dass er reich war, klug, männlich, in Herrensocken, Sandalen und kurzer Hose, am Rücken behaart. Das ist mein Schönheitsideal bei Männern. Mit Krampfadern, Besenreisern, Blutschwämmchen am Rumpf. Habe ich alles recherchiert, wie die Dinge, auf die ich stehe, heißen. Nicht bei Google, sondern bei Ecosia, für die Umwelt.
Meine Therapeutin bescheinigt mir einen fetten Vaterkomplex. Davon haben bis jetzt auch schon viele alte Männer profitiert. Mein Vater hat durch seine Abwesenheit in meiner Kindheit dafür gesorgt, dass die alten Männer durch meinen Körper immer Nachschub an Frischfleisch bekommen. Ich interessiere mich kein bisschen für Jüngere oder Gleichalte. Nur Alte, Alte, Alte. Je älter, desto besser. Da fühle ich mich geborgen und begehrt. Und all die alten Männer sind meinem Vater dankbar. Beide Seiten haben auch viel davon. Sehr viel! Mein Mann sagt jedes Mal, wenn ich zur Therapie fahre: »Ihr könnt gerne alles bearbeiten da, aber richte deiner Therapeutin aus, bitte nicht den Vaterkomplex wegmachen. Sonst verlässt du mich nachher noch!«
Der running gag unserer Beziehung. Er hat recht. Sobald ich meinen Vaterkomplex nicht mehr habe, brauche ich meinen Mann nicht mehr. Der Komplex soll mich also gerne in den Tod begleiten. Ich will ihn mit ins Grab nehmen. Sagt man ja so, auch wenn ich niemals ein Grab haben werde. Ich werde ganz sicher nicht auf einem christlichen Friedhof in der Erde liegen. Nur über meine Leiche. In mein Testament habe ich geschrieben, dass derjenige, der es umsetzen muss, dafür sorgen soll, dass ich erstens verbrannt werde und dass zweitens meine Asche ganz normal am Abholtag der Müllabfuhr, also im Moment mittwochs, in den Hausmüll, schwarze Tonne, geworfen wird. Auf gar keinen Fall mach ich diesen ganzen Hype um die Grabpflege mit, ablaufende Mietzeiten, Leichenwasser im Grundwasser und alles.
Es gibt viele Sachen, die ich vollkommen verändert habe, seit ich mit meinem neuen Mann zusammen bin. Ich stelle mich, meinen Geist, meinen Körper, alles, infrage. Weiß nicht, ob das jetzt an meinem Mann liegt oder nicht, vielleicht vielmehr an dem Unfall in unserer Familie und der dazugehörigen Therapie.
Ich mache mich regelmäßig fertig, meine Therapeutin versucht mir das abzutrainieren. Beim Durchwühlen seiner privaten Fotokisten zum Beispiel habe ich mich selbst mit der niederschmetternden Erkenntnis gequält, dass Georg wohl eher auf große Brüste steht. Ständig habe ich ihm das vorgeworfen, ihn zur Rede gestellt. Ich kann nicht einmal in diesem Wahnzustand meine Fresse halten. Er solle es endlich zugeben. Ich wüsste es längst! Egal, was er sagte, um mich aufzubauen, ich glaubte ihm nicht.
Das gehört zu den vielen Tretminen unserer Beziehung, die ich in der Erde unter uns verbuddelt habe und jetzt nicht mehr rauskriege. Ich kann das kaum jemals zurückdrehen. Ungeschehen machen. Die Ausraster waren schrecklich. Für ihn vor allem. Er wusste nicht ein noch aus. Was ich eigentlich habe, wo das Problem liege. Er fragte mich immer wieder: »Warum willst du mir beweisen, dass ich dich nicht attraktiv finden kann? Dass ich dich nicht begehre? Dass ich dich nicht liebe? Hör doch auf damit!« Ich habe einfach mit aller Kraft versucht eine glückliche Liebe schlechtzumachen. Immer Beweise gesucht, warum er mich nicht liebt, anstatt auf ihn zu hören oder ihn an seinen Taten zu messen, die immer das Gegenteil von dem aussagten, wovor ich mich ständig fürchtete.
Das alles muss mein Mann bedenken, wenn er eine Frau für mich aussucht. Nicht zu kleine Brüste, das wäre zu auffällig, und auf keinen Fall zu große, damit er nie in Verdacht gerät, rückfällig zu werden. Und wir wollen ja nicht nur mit der Prostituierten schlafen, sondern auch reden und eine lustige Zeit verbringen. Heißt, wir sind sehr anspruchsvolle Puffgänger. Es kann auch passieren, dass Georg eine so sympathisch und lustig findet, dass es dann wieder egal ist, dass sie eher nicht so gut aussieht oder eben doch große Brüste hat und operiert ist. Wir versuchen bei jedem Puffbesuch als das freundlichste Freierpärchen wieder rauszugehen. Fair Trade und Bio, mit sehr viel Trinkgeld.
Das ist unser Plan für den nächsten Tag. Wenn wir so einen aufregenden Ausflug planen, spukt mir meine Mutter jedes Mal im Kopf rum und sagt: »Mach das nicht! Warum überforderst du dich so für deinen Mann. Gib doch zu, dass das nichts für dich ist.« Ich sehe aber, wie sich mein Mann freut, er bedankt sich die ganze Zeit bei mir. Und weil ich dann selber denke: Wow, bin ich locker. Meine Mutter hat mir gar nichts zu sagen! Ich werde irgendwann schon alleine von der Planung geil. Ich würde das aber nie zugeben. Das muss mein Mann irgendwie spüren und aufgreifen. Bei ihm ist das Prozedere ähnlich, nur dass er es sagen kann.
Ich würde das gerne bei mir abschaffen, diese Verklemmtheit, dass ich meine Geilheit nicht artikulieren kann. Auch kann ich nicht sagen, was ich will. Er fragt oft, er will es gerne wissen. Im Bett. Fände es sogar geil, wenn ich mal was verlangen würde. Aber ich kann nicht. Ich bin sprachlos auf dem Gebiet. Ich mache einfach nur alles mit, was er will. Alles. Und werde jedes Mal von allem, was er macht, geil. Was Eigenes kommt da nicht. Fast so, als könnte ich nur geil werden, wenn ich sehe, wie geil ich und mein Körper ihn machen, therapeutisch sagt man dazu: spiegeln. Meine Geilheit existiert nur, wenn ich seine Geilheit spiegele.
Ich werde aber verhindern, dass wir heute Abend Sex haben. Hatten wir ja schon am Nachmittag. Ich mag keine Maßlosigkeit auf dem Gebiet. Wir sind ja keine zwanzig mehr! Außerdem müssen wir uns auch ein bisschen aufsparen, wie Fußballspieler für das schwere Spiel morgen. Außerdem habe ich nicht gerne Sex, wenn das Kind da ist. Außerdem, außerdem, außerdem. Ich finde immer viele Argumente gegen Sex und wenige dafür. Das Kind darf die Eltern niemals beim Sex erwischen. Kind und Sexualität müssen streng getrennt werden, damit man das Kind nicht überfordert. Wir sind ja keine Lehrer an der Odenwaldschule! Das Kind ist jetzt sieben Jahre auf der Welt, und wir haben es geschafft, dass es uns noch nie erwischt hat. Nicht im Elternbett, nicht auf der Couch, nicht nachts, nicht tagsüber. Da sind wir sehr stolz drauf. Ich kenne nur Menschen, die großen Schaden davongetragen haben, wenn sie mal aus Versehen ihre Eltern erwischt haben. Das möchte ich meiner Tochter auf jeden Fall ersparen.
Wir sitzen da und reden über den Puffbesuch, und auf einmal bemerke ich ein starkes Kribbeln und Jucken am Poloch. Ist das Geilheit? Kann nicht sein. Das habe ich noch nie so gehabt. Achtung, Krankheit. Ich denke sofort: Danke, lieber nicht vorhandener Gott, oder auch: Danke, liebe Mutter, dass du mich vor dem Ausflug morgen rettest. Ich habe sofort einen Verdacht, was das sein könnte. Aber eben nur einen Verdacht, weil ich es im Erwachsenenalter noch nie hatte. Ich nehme meinem Mann den Laptop weg, er surft auf der Seite des Puffs, guckt sich die Damen an, die da online sind, was nicht viel bringt, weil Prostituierte eh machen, was sie wollen. Nur weil sie online auf einem Foto sind, heißt das noch lange nicht, dass sie auch gerade da arbeiten oder morgen da sind. Man muss persönlich auftauchen und direkten Augenkontakt suchen, egal, wie unangenehm einem das ist. Anonym am Computer ist nicht. Also Augen auf und durch.
Ich drehe den Laptop so zu mir, dass Georg den Bildschirm nicht sehen kann. Klicke bei Safari auf »Privates Surfen«. Und gebe bei Wikipedia »Würmer bei Kindern« ein. Nur so ein Verdacht. Lese den ganzen informativen Eintrag bis zu dem Punkt, wo der Schnelltest beschrieben ist: Man soll mit der Klebeseite vom Tesafilm einmal auf das Poloch titschen und gucken, ob kleine weiße, dünne, sehr agile Würmer kleben geblieben sind. O Gott, wie im Horrorfilm, mach, dass das nicht wahr ist. Ich gehe zurück auf die Puffseite, klicke das »Private Surfen« wieder weg, lege den Laptop auf die Couch und springe auf. In der Küche haben wir eine eigene Schublade für Tesafilm, Paketklebeband und Kleber. Ich schnappe mir eine Rolle, aber eigentlich kenne ich schon das Ergebnis des Tests, bei dem Jucken, das kann doch nichts anderes sein. Ich schließe mich auf dem Gästeklo ein. Wir haben da drin alle hässlichen Achtzigerjahrefliesen in Maisgelb überstrichen, was sehr schön aussieht. Gerade die überstrichenen Fugen mag ich. Wie unsere Beziehung wird dieses Zimmer immer genauso bleiben; wie alles, was wir für unsere Wohnung gemacht haben, bleibt auch das einfach genauso. Frau Drescher sagt zwar, dass eine Beziehung, eine Liebe, immer mitwachsen muss, sonst reißt sie. Mag ja sein, dann mach ich das eben für die Beziehung, aber auf keinen Fall wird was in der Wohnung geändert.
Seit dem Unfall bin ich strikt gegen räumliche Veränderungen. Menschen machen das, weil ihnen so schnell langweilig wird, deswegen gucken sie auch gerne Krimis, ich fühle mich aber durch das, was passiert ist in unserer Familie, alt und aufgewühlt und brauche Ruhe und keine Veränderung. Außer vielleicht mal Sex mit jemand anderem. Aber sonst kann alles so bleiben, wie es ist. Die Wohnung und die Beziehung sind für die Ewigkeit angelegt, auf jeden Fall lebenslänglich.
Ich setze mich aufs Klo und pinkele erst mal. Ich pinkele, schon seit ich bewusst pinkele, extra laut. Ich mag keine Frauen, die extra leise pinkeln. Ich habe als Jugendliche mal ein Buch gelesen, da beschrieb ein Mann, wie er seine Angebetete beim Pinkeln belauscht und wie ihn das erregt, wie laut sie dabei gezischt und geplätschert hat. Könnte ja sein, dass es bei meinem Mann genauso ist. Würde ich aber nie mit ihm drüber sprechen, dann wäre das ja kaputt. Pinkeln, so laut es geht, kacken, so leise es geht. Wasser laufen lassen, damit er nichts hört. Und immer lüften, damit er nichts riecht. Das heißt aber auch, dass ich nie wirklich hier wohne. Ich denke immer darüber nach, wie ich ihm gefallen könnte. Ich will doch für immer mit ihm zusammenbleiben. Das heißt, es gibt eigentlich nie eine häusliche Entspannung, weil das ja direkt hässlichstes Sichgehenlassen wäre.
Ich bin mit dem lauten Pinkeln schnell fertig, weil ich ja gar nicht wirklich musste, und tupfe mich ordentlich ab. Früher habe ich mir an den Schamlippen regelmäßig wehgetan, weil ich zu feste gewischt habe. Das mache ich heute nicht mehr, habe in der Therapie teilweise gelernt, netter zu mir zu sein, auch zu meinen inneren Schamlippen. Aber nicht auf jedem Gebiet, leider.
Nach dem freundlichen Abtupfen kommt der Klebestreifentest. Ich wickele mir den Film dreimal um den Finger mit der klebenden Seite nach außen, halte mit den Schneidezähnen fest, beiße am Rand etwas ein und reiße das Tesaband mit den Fingern durch. Diese Bewegung habe ich von meiner Mutter gelernt, das habe ich sie als Kind so oft machen sehen. Sie hat viel mit dem Mund gemacht. Das hat mich als Kind schwer beeindruckt. Ich habe sie auch sehr oft mit einem großen Mund voll mit Reißzwecken gesehen, mit einem Mund voller Nägel auf einer Leiter, da habe ich gedacht, so werde ich auch. Und: hat geklappt. Ich bin leider sehr wie meine Mutter geworden. Es ist schrecklich, wie meine Mutter zu sein. Sie ist eine sehr unglückliche, aggressive Frau. Ich jetzt auch. Schlechte Gene und schlechtes Vorbild.
Als ich meiner ganzen Familie erzählen musste, dass ich weder meinen Vater noch meine Mutter jemals wiedersehen will, waren alle sehr empört. Normal! Vor allem die Familie mütterlicherseits hielt mir Vorträge, ich solle das doch noch mal überdenken. Ich sagte ihnen, dass ich das vorher schon oft überdacht hätte und immer zum gleichen Schluss käme: Mein Leben ist ohne meine Eltern besser als mit. Sie gehören für ihren Lebenswandel bestraft, für immer. Die haben kein Kind verdient. Und erst recht haben sie nicht meinen toten Bruder als Kind verdient. Der Arme, was der alles durchmachen musste! Als deren Kind. Der hat so sehr seinen Vater vermisst, viel mehr als ich. Und dadurch, dass mein lieber Bruder tot ist, werden die Vorwürfe unerträglich schwer und stark. Ich muss die Fackel hochhalten, auch für ihn.
Die ganze Familie sagte Sachen zu mir wie »Aber deine Mutter liebt dich doch so«. Ja, sage ich da, zu sehr liebt sie mich, sie lässt mich nicht los. Sie will alles bestimmen und kontrollieren. Ich darf nur so sein, wie sie es will, sonst soll ich lieber nicht sein. Ich habe meinen Verwandten gesagt: »Sie umarmt mich, und wenn ich nur ein bisschen Abstand gewinnen will, um ich selber zu sein, autonom, und mich einen Schritt aus der Umarmung löse, sehe ich an meinem Körper runter und sehe, dass alles am Bauch aufgeschnitten und zerfetzt ist, von ihrer Umarmung.«
»Aber deine Mutter hat dich doch so geliebt. Sie war doch so eine gute Mutter für dich.« Ja, ja. Wenn ihr dabei wart, hat sie den kreativen lustigen Kinderclown gespielt, die Kinderfreundliche, die mit den starken Nerven. Aber wenn wir mit unserer Mutter alleine waren, hat sie die überforderte Bestie rausgelassen. Dann hat sie nur rumgeschrien. Sie hatte meist die Nerven blank liegen. Hat man eben mit so vielen Kindern zu Hause. Hab ich ja schon bei einem Kind! Was ich aber nicht mache, und deswegen, denke ich, bin ich hoffentlich wenigstens ein minibisschen besser als meine Mutter: Ich schlage mein Kind nicht. Sie hat sich bestimmt damals eingeredet, dass sie keine körperliche Gewalt anwendet, dass sie ihre Kinder nicht schlägt. Hat sie aber. Das geht so, falls jemand das zu Hause nachmachen will: Man hält den Arm des Kindes ganz fest in der Erwachsenenhand und schickt mit aller Kraft eine Art Stromstoß durch den kleinen Körper. Man benutzt den ganzen Kinderkörper als Peitsche. Man holt aus mit dem kleinen, leicht auszukugelnden Ärmchen und schwingt mit aller Kraft in die entgegengesetzte Richtung. Dadurch fliegt der Körper fast vom Arm ab, und das tut einem Kind so weh, dass es lange danach kaum Luft kriegt. Ich kann mich noch erinnern, dass ich meine Mutter völlig erstaunt anguckte, nachdem sie das bei mir gemacht hatte. Ich konnte nie begreifen, wie meine Kinderclownmutter mir das antun konnte.
Die Verwandten denken, ich lüge, wenn ich denen meine Wahrnehmung meiner eigenen Mutter erkläre. Das können die sich einfach nicht vorstellen, dass sie zwei Gesichter hat. Das habe ich auch von meiner Mutter gelernt: Wenn ich ausrasten muss, habe ich mich immer absolut unter Kontrolle, bis ich mit meinem Mann allein zu Hause bin. Home sweet home. Und sobald die Tür zu ist, geht’s los. Es kann passieren, dass er den ganzen Abend nicht bemerkt, dass ich rasend bin. Ich spare es mir auf, bis wir alleine sind, damit ja niemand mein wahres Ich sieht. Das hat Mutter mit uns Kindern auch gemacht. Lange nachdem wir Mist gebaut hatten, kam die Strafe, ohne Zeugen. Die perfekte Selbstkontrolle des Racheengels.
Bei uns wird nur gedroht: Wenn du das und das nicht machst, meistens Zähneputzen vorm Ins-Bett-Gehen, schlimmere Probleme haben wir meistens nicht mit unseren Kindern, dann gibt es keine Geschichte abends im Bett. Das zieht bis heute!
Und wenn ich das gedroht habe, was selten vorkommt, aber manchmal eben doch, dann muss ich das auch durchziehen. Das läuft dann auf ein grausames Schauspiel zwischen Mutter und Tochter hinaus. Ich hasse es selber, das machen zu müssen, aber ich bleibe dann dabei, auch wenn Tränen fließen, weil ich aus Erziehungsbüchern gelernt habe, dass die Kinder Halt bekommen, wenn sie sich auf die Konsequenz der Eltern verlassen können. Ich meine immer, es gefällt dem Kind auch, wenn man dabei bleibt, was man gesagt hat. Kann aber auch sein, dass ich mir das nur einbilde, weil es so schrecklich ist, konsequent sein zu müssen. Es tut mir manchmal körperlich weh, wenn sie da im Bett weint und nur eine Geschichte von ihrer Mutter will, und die fällt aus, nur weil ich gedroht habe, dass sie ausfällt. Wie schizophren das ist. Oft möchte ich einfach nur aufgeben. Als Mutter. Und erst recht als Stiefmutter.
Ich habe mir schon ganz oft gewünscht, dass Max, mein Stiefsohn, mit dem Flugzeug abstürzt, hat aber zum Glück oder leider, keine Ahnung, nie geklappt. Da sieht man mal, wie gut das funktioniert, das ganze Wünschen. Ich dachte immer, wenn ich es schon nicht hinkriege, dass wir zusammen klarkommen, dann würde sich das Problem von allein lösen, wenn er abstürzt. Ich würde natürlich meinem Mann durch die Trauer helfen und ihn dann irgendwann ablenken von seinem Schmerz. Und meine Tochter würde ihm auch dabei helfen, den Verlust zu überwinden. Sein Leben würde es auch einfacher machen. Trauriger, ja, aber auch einfacher.
Ich glaube, meine Sehnsucht nach dem Tod des Kindes ist so groß, weil ich so gerne die Expartnerin loswerden würde. Sie drückt immer noch regelmäßig bei meinem Mann die Du-hast-mich-verlassen-Knöpfe, und ich gucke ihm dabei zu, verachte ihn dafür, dass er reinfällt, und wir können niemals frei sein, noch weniger frei, als wir es mit gemeinsamen Kindern wären.
Auch bei meinem Exmann hoffe ich immer, dass er abstürzt. Selbst wenn meine Tochter dann ihren Vater verlieren würde. Das verwindet man irgendwann, aber ich wäre dann nicht mehr so wegen unserer gemeinsamen Tochter verbunden auf diese unangenehme Art. Dieses ewige schlechte Gewissen, diese schrecklichen alten Muster, in die man immer rutscht, das ist das Therapiedeutsch für: immer die gleichen Fehler machen, die man in der Beziehung schon immer gemacht hat.
Manchmal wünsche ich mir sogar, dass mein eigenes Kind stirbt. Ich kenne das ja, wie das ist, wenn einem was Schreckliches zustößt, wenn einen ein schlimmer Schicksalsschlag heimsucht. Und wie schön das ist, die Aufmerksamkeit, die man bekommt, das Mitleid, darin kann man sich schön einkuscheln und darf ganz lange ganz viel Scheiße bauen, ohne dass jemand das bemerkt oder sauer auf einen wird. Ich glaube, diese unnatürliche Aufmerksamkeit aller Menschen mit ihrer Betroffenheit in den Augen kann wirklich süchtig machen.
Man wurde damals auf Händen getragen, weil alle dachten: Guck mal, wie stark sie ist, so tapfer. Schön war das, dass man tapfer sein konnte, zeigen, wie stark man ist. Wann kann man das schon? Ja, genau: wenn das Schicksal zuschlägt. Und weil man nach dem Schicksalsschlag ständig auf den nächsten wartet und er wahrscheinlich nie kommen wird, sehnt man sich den bald richtig herbei, damit man endlich erlöst wird von dieser ständigen Warterei darauf und der Angst davor!
Meine Mutter will seit dem Unfall nichts Kritisches über ihre Person hören. Sie hält sich einfach die Ohren zu, wie meine beste Freundin, beide auch Telefonauflegerinnen. Das ist eben der Vorteil an so einem Schicksalsschlag, man hat danach einfach frei, was Kritik von anderen angeht. Aber wo jetzt der Unfall oder der Schicksalsschlag bei meiner Freundin liegt, hab ich nie rausfinden können. Sie wollen geschont werden. Darum gehen sie auch beide trotz Megaschaden nicht in Therapie, weil sie das einfach nicht aushalten, die Kritik, die man da hört über sich selbst.
In meinem Kopf und in meiner Vagina ist alles bereit für eine Affäre. Ich denke, ich habe mir als Vorbild für eine nichts zerstörende Affäre den Cousin und die Cousine aus der Blechtrommel ausgesucht. Die treffen sich regelmäßig, keiner merkt das, na gut, außer ein bisschen der jüdische Blechtrommelverkäufer und der Sohn der Frau, Oskar, aber sonst läuft die ganz gut, die Affäre. Mir egal, ob es Inzest ist oder nicht. Cousins sind, glaub ich, weit genug entfernt, dass es nicht ekelig wird. Die wollen beide nicht mehr voneinander, als sie kriegen. Sie treffen sich regelmäßig, haben wilden, harten Sex und gehen wieder auseinander. Beide haben verstanden, dass sie dem anderen nichts kaputt machen wollen im Leben, keiner stellt für den anderen eine tickende Zeitbombe dar. Keiner von beiden sagt zum anderen: »Sei mit mir zusammen. Sofort!« Das Gleichgewicht ist wichtig.
In deren Fall geht es gut, weil sie eine familiäre Verbindung haben, in meinem Fall habe ich mir gedacht, dass ich einen Mann aussuchen muss, der wie ich viel zu verlieren hätte. Gerne einen mit Beruf, eventuell sogar angesehenen Beruf, damit er da schon mal etwas eingeengt ist. Feste Beziehung, gerne auch verheiratet und lieber auch Kinder und mit denen allen zusammenwohnen. Ich möchte auf keinen Fall, dass das eine wilde, große Liebe wird, wie das bei meinem Mann und mir passiert ist. Ich möchte ja besser für mein Kind sein, als meine Mutter für mich war. Das bedeutet, nicht ständig die Männer verlassen, umziehen und ein Schlampenleben führen, das das Kind nachträglich so geistesgestört macht, wie ich es heute bin. Ich sage ja immer: Ich bin die Summe aller Fehler meiner Eltern.
Das hat Frau Drescher schon eine Eigentumswohnung eingebracht. Sie hat mich in der Therapie schon mal gefragt, weil mein Mann und ich ja oft Sex kaufen, ob ich sie auch als etwas Käufliches betrachte. Da habe ich ihr geantwortet: »Wir können doch nicht so tun, als hätte unsere Beziehung nichts mit Geld zu tun, Frau Drescher, so bekloppt und romantisch bin ich nun auch wieder nicht.«
Jedenfalls bleibe ich bei meinem Mann, bis ich sterbe, würde es aber gerne, bevor ich sterbe, hinkriegen, dass ich nicht heimlich, sondern erlaubt, ganz legal, wie früher bei den Hippies, mit einem anderen Mann schlafen darf. Oder auch: mit dem einen oder anderen Mann! Ich möchte das gerne tun, mit so wenig schlechtem Gewissen wie möglich. Ich stelle mir vor, dass das schlechte Gewissen, beim heimlich Machen, alles versaut. Das will ich nicht. Ich möchte gerne frei sein dabei und, während ich endlich mal einen anderen Schwanz in mir habe, die ganze Zeit denken: Ich darf das. Ich habe den coolsten Mann der Welt, er hat es mir erlaubt.
In meiner Phantasie würde meine Affäre mich nie so unter Druck setzen, dass ich meinen Mann verlassen würde. Oder aus meinem Zuhause ausziehen. Ich möchte mich nur mit einem Mann, der gerne auch noch viel älter ist als Georg, in einem Hotelzimmer treffen, kurzen, harten, wilden Sex haben und wieder nach Hause gehen. Zu Hause hätte ich dann, auch wenn Georg mir das ja erlaubt haben wird, hoffentlich trotzdem ein kleines schlechtes Gewissen und würde noch mehr in meinen Mann verliebt sein, weil schlechtes Gewissen macht manchmal Dinge aufregender, als sie vorher waren. Dass man nicht immer take it all for granted.
Ich würde versuchen, mir das Sperma von dem einen Mann auch innen rauszuwaschen, das ist meinem Mann ja nun wirklich nicht zuzumuten, und dann würde ich mit ihm schlafen, aus Dankbarkeit zu ihm zerfließen, weil ich etwas mehr Freiheit haben durfte als vorher, aber mit allen Vorteilen trotzdem! Das wär so schön. Bitte, mein lieber Mann, erlaube es mir, erlaube es uns, du musst mich mal weglassen, damit ich freiwillig wiederkomme.
Ich muss ehrlich sein, diese Formulierung stammt von Frau Drescher. Wenn ich die ganze Zeit phantasiere, wie besessen, mit anderen Männern und manchmal auch Frauen zu schlafen, habe ich danach wieder ein schlechtes Gewissen meinem Mann gegenüber. Ich bin dann viel netter zu ihm, umgarne ihn, stelle mir vor, er könnte mir an meinen roten Bäckchen ansehen, was ich mir grad im Detail vorgestellt habe. Er profitiert aber immer davon. Schon wenn ich in Gedanken fremdgehe! Wie wäre es dann, wenn ich es in echt machen würde? Die Therapeutin fragt, wie es wäre, das alles in der Phantasie zu lassen. Ich glaube, das kann ich nicht mehr lange. Ich bin dafür nicht geschaffen. Sage ich jetzt. Früher habe ich mir von meinem Mann unbedingte Treue gewünscht. Wie macht man das wieder rückgängig? Meinung geändert! Nach sieben Jahren. Haha. Und jetzt?
Früher, in der Beziehung davor, ging es mir viel besser, weil ich mich um meinen Exmann so gut kümmern konnte. Ich habe mich in meinen jetzigen Mann verliebt, weil er so stark war, jetzt geht es mir viel schlechter, weil ich kaum was zum Kümmern habe im Vergleich zu früher. Nur ein Kind und zwei Unzertrennliche. Das sind unsere Haustiere. Zwei chice Vögel mit rosa Bäckchen, auch Pfirsischköpfchen genannt oder Agapornis. Keinen Mann mehr. Dadurch bin ich auf mich selbst zurückgeworfen, und das ist nun wirklich kaum auszuhalten. Wenn ich mich kümmern konnte, konnte ich mich super von meinen eigenen Depressionen ablenken, jetzt kriege ich das volle Breitseite alles ab von mir selbst. Er ist stark und braucht keine Hilfe, leider! Und ich habe ganz klar die Gaga-Rolle in der Beziehung, was ihn in seinem Überlegenheitsgefühl noch mehr stärkt. Ich glaube zwar nicht, dass er so gesund ist, wie er immer tut, aber das wird schon bald rauskommen, in seiner Therapie, wo er ja hinmuss, nicht um sich zu heilen von seiner beschissenen geistesgestörten Familie, nein, um mit mir besser klarzukommen.
Das Einzige, wo ich was helfen könnte oder wenigstens Einfühlungsvermögen beweisen könnte, sind seine Rückenschmerzen. Aber da lässt der mich nicht ran. Das ist dem schon klar, dass das auch ein Grund war, warum ich nicht mehr mit meinem Exmann schlafen wollte, wenn man sich so viel um seinen Mann kümmert, wird er ja irgendwann zu meinem Kind, und mit seinem eigenen Kind schläft man ja eigentlich nicht. Die meisten jedenfalls nicht. Und wenn er eine Sache nicht verlieren will zwischen uns, dann ist das die Sexualität, das ist unser fester Glaube, wenn das am Arsch ist, dann ist auch der Rest am Arsch, früher oder später.
Ich halte die klebende Fingerspitze an mein Poloch und danach ganz nah an meine Augen. Wusste ich es doch! Ich habe vier von den Mistdingern erwischt, direkt beim ersten Mal. Im Internet stand, dass sie abends rauskommen und besonders jucken, weil sie sich auf der Rosette vermehren wollen. Zum Vermehren brauchen die frische Luft, wie wir. Ekelhaft! Mir wird schlecht, wenn ich sie so tanzen sehe, wie auf Speed zu Techno. Mann, sind das perverse Tiere. Ich fühle mich befallen, ich bin ein Wirt für Parasiten. Ich hasse es, Mutter zu sein. Aber genau so was gehört wohl voll dazu! Liza hat sich bei irgendeinem scheiß Kind in der Schule angesteckt, und dann hat sie’s an mich weitergegeben. Ja, oder umgekehrt, was weiß ich? Wie das so läuft?
Ich klappe mit der sauberen Hand den Klodeckel zu, setze mich drauf und spüle ab. Okay, nachdenken. Ich kann bei diesem Gejucke unmöglich schlafen. Ich will die ganze Nacht aufbleiben, ich will diese Scheißdinger nicht in unserem Bett verteilen. Plötzlich fällt mir der letzte Satz meiner Tochter wieder ein! »Mama, mein Po juckt.« Die hat das auch, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Kann man ein Kind mit Würmern in die Schule schicken? Wenn sie nicht in die Schule geht, kann ich nicht arbeiten, morgen früh. Wir können auch nicht in den Puff. Fuck. Wegen Kind und wegen Ansteckungsgefahr. Ich steck da alle mit Würmern an. Eigentlich ganz lustige Vorstellung. Was für eine Erleichterung. Danke, lieber nicht vorhandener Gott, also Mutter, in unserer Familie sind wir monotheistisch, danke für die Würmer. Ich kann nicht in den Puff. Daran, wie ich mich darüber freue, merke ich, was für eine Belastung diese Ausflüge eigentlich für mich sind. Ich gehe jetzt da raus und sage ihm, dass wir nicht in den Puff können. Super.
Aber dass ich Würmer habe, finde ich trotzdem schrecklich. Ich beneide meine Tochter, sie liegt da und schläft, obwohl sie auch Würmer hat, höchstwahrscheinlich. Ich werde mit Sicherheit nicht einschlafen können. Ich habe das starke Bedürfnis, von meinem Mann getröstet zu werden, er soll mich bemitleiden und mir helfen. Was sollen wir jetzt machen, um 21.30 Uhr? Kein Arzt hat mehr auf. Damit fährt man ja nicht ins Krankenhaus.
Ich zerquetsche die zappelnden Würmer an der gelben Wand, sie platzen auseinander, wie kleine ausgedrückte Pickelchen, ich nehme etwas Danke-Papier und wische sie weg, wickele den Tesa in das Klopapier und werfe es ins Wasser und spüle ab. Das ist zwar bestimmt schlecht für die Umwelt, geht aber jetzt grad nicht anders, weiß nicht, wohin mit vier toten Fadenwürmern, die aus mir rauskommen. Da muss mal kurz die Umwelt hintanstehen, ist ein Notfall.
Ich verlasse das Wurmlabor. Komme ins Wohnzimmer und frage:
»Juckt dein Po auch?«
»Ja, manchmal, wieso?« Er lacht.
Ha, mit seiner Frau wird es niemals langweilig. Die denkt sich jede Sekunde einen neuen Mist aus.
Atemlos durch die Zeit.
»Weil du dann auch Würmer hast.« Sehr subtil das Thema angegangen. Typisch ich.
»Hab ich nicht. Was heißt das: auch? Du hast also Würmer? Woher weißt du das? Und unterstell mir nicht, dass ich deswegen auch welche habe, ja!«
Oh, er ist richtig sauer, weil ich ihn mit in mein Wurmboot ziehen will. Ich sollte schnell nur noch von meinen Würmern sprechen, nicht von seinen, hab ich doch eigentlich in Paartherapie gelernt. Er will offensichtlich nicht mit mir zusammen Würmer haben.
»Liza hat vorm Einschlafen so was gesagt, und jetzt juckt es auch bei mir wie verrückt. Ich habe gerade bei Wikipedia geguckt und den Tesatest gemacht.«
»Ja, das kenn ich auch noch von früher, als ich Kind war. Wir hatten als Kinder ständig Würmer.«
»Wir auch. Ich dachte, ich könnte das verhindern für mein Kind. Weil sie doch jetzt schon sieben Jahre ist und nie welche hatte. Ich dachte, wir kriegen nie welche. Das ist ja so ekelhaft. Die bewegen sich die ganze Zeit, davon juckt das so. Zum Glück schläft Liza wenigstens, dann kriegt die das nicht mehr mit. Ich kann doch nicht einschlafen und mich von denen auffressen lassen!«
»Die fressen dich nicht auf. Du rufst jetzt in der Notapotheke an und fragst, ob du ohne Rezept Wurmmittel kriegst, du würdest das Rezept morgen nachreichen.«
Gut, sehr gut, wenigstens einer, der einen klaren Kopf bewahrt. Ich rufe die Auskunft an, finde heraus, welche Apotheke Notdienst hat, und rufe dort sehr aufgeregt an. Ich kann es nicht fassen, dass mir das passiert, scheiß Würmer, in mir!
»Guten Abend, mein Name ist Elizabeth Kiehl, meine Familie und ich haben grad am späten Abend festgestellt, dass wir Fadenwürmer haben, können Sie uns heute Abend noch, ohne Rezept, ein Mittel dagegen geben? Ich bring dann morgen vom Arzt das Rezept nach.«
»Ohne Rezept darf ich leider nichts rausgeben. Schon zu oft passiert, dass die Leute das nachher nicht bringen.«
Hab ich mir fast gedacht, in diesem scheiß Land. Woanders geht man einfach in die Tankstelle und kauft sich das, hier muss man die ganze Nacht warten, bis der Arzt aufmacht. Das kann doch nicht wahr sein! Ein Rezept für ein Wurmmittel. Was soll ich denn damit machen, Leute oder mich umbringen? Party? Mich wegschießen?
»Ja, danke trotzdem. Eine ruhige Nacht wünsch ich Ihnen noch.« Mit vielen Toten und Verletzten direkt vor ihrer scheiß Apotheke!
Ich stelle mich darauf ein, die ganze Nacht mit diesem Jucken wach zu liegen. Diese Dinger bewegen sich wie verrückt, die kringeln sich und tanzen in mir rum. Mir fällt mein Exfreund ein. Vielleicht hat er auch Würmer, wenn unser gemeinsames Kind und ich das haben. Wir waren nie verheiratet, aber wir hätten mal fast geheiratet, wenn nicht etwas Schreckliches dazwischengekommen wäre. Leider sind wir jetzt durch unser Kind für immer miteinander verbunden. Was meistens anstrengend ist.
Es ist gut, dass unser Kind keine Spannungen mitbekommt, nicht für seine Eltern mitdenken muss, wie ich das immer musste, als Scheidungskind meiner Eltern. Müssen fast alle Scheidungskinder, überlegen, was ist Mama und Papa zuzumuten. Darf ich frei bei Papa über Mama reden? Und umgekehrt? Da verkrampft man schon als ganz junges Kind. Und man weiß genau, was man erzählen darf und was nicht, je nachdem, bei wem man gerade ist. Mein Exfreund und ich kriegen das gut hin, aber die Aggressionen sind da bei mir. Der unbedingte Wunsch, den für immer loszuwerden. Mit all den alten Mustern und Knöpfen, die er immer noch drückt. Ich könnte darüber wahnsinnig werden, wenn wir wieder in eine Falle tappen und uns benehmen, als wären wir noch zusammen. Mein neuer Mann kann das von außen immer sehr gut beobachten. Der merkt das auch früher als ich. Weil ich in Wirklichkeit, wegen dem Kind, keine richtige Trennung hinkriege, wie ich das sonst gerne habe, von hundert auf null, verfallen wir immer in unsere alten Beziehungsmuster. Schlimmschlimmschlimm. Ich kämpfe seit sieben Jahren dagegen an. Wir sollen uns gut verstehen, für das Kind, aber nicht zu gut, wegen dem neuen Mann, aber auch wegen mir! Scheißkompliziertes Patchworkleben.
Aber ich muss mich heute damit beschäftigen, ob mein Exfreund jetzt auch Würmer hat. Ob er indirekt durch Mundkontakt mit mir und meinen am Körper lebenden Wurmeiern, durch Küssen des Kindes, von mir angesteckt wurde. Ich muss zur Ausrottung der Eier in meiner Tochter dafür Sorge tragen, dass seine auch ausgerottet werden.
Es war schon mal vor acht Jahren mit diesem Exfreund eine Hochzeit geplant, und ich hätte auch Ja gesagt, also ist mein Exfreund im Kopf ganz heimlich bei mir innen drin: mein Exmann.
Wir planen die ganze Hochzeit, wollen alle Leute nach England, wo ich herkomme, einfliegen. Die Hochzeit soll auf dem Land bei London in einem alten, schönen Hotel stattfinden. Ganz groß. Der Standesbeamte kommt extra für uns raus. Das Kleid wird in Deutschland genäht, Maßanfertigung. Es setzt sich aus fünf antiken Hochzeitskleidern zusammen. Die Schneiderin soll die alten hellgelben, cremefarbenen und weißen Kleider aus Spitze auseinanderschneiden und in großen Karos wild wieder zusammensetzen. Und weil wir den Stoff von fünf Kleidern verarbeiten können, habe ich mir eine lange Prinzessin-Diana-Schleppe am Rock gewünscht. Als kleines englisches Mädchen dachte ich, die beste Hochzeit aller Zeiten war die von Prinz Charles und Lady Diana, ich hatte die Hochzeit von denen als Fotokinderbuch hundertmal angeguckt. Auch der Ehering soll so aussehen wie der von Diana. Der Rockteil meines Kleides wird so schwer, dass es an der Taille eine verstärkte korsettähnliche Halterung braucht, damit er während der Hochzeit nicht runterrutscht, mit all seinen Kilos. Ich muss mehrmals zur Anprobe.
Alles, was eine Braut und ihr Bräutigam brauchen, kaufe ich in unserem Viertel. Neue chice Reisetaschen, die zum ersten Mal in unserem Leben alle zusammenpassen. Ich komme mir damit sehr erwachsen vor. Die Schminke: hellgrüner Lidschatten, pinkfarbener Lippenstift, pinkfarbenes Rouge.
Auch die ganzen Aberglaubenreliquien für die Hochzeit kann ich im Viertel erwerben. Im Englischen sagt man: Something old, something new, something borrowed, something blue, and a silver sixpence in her shoe. Das Alte: Im antiken Schmuckgeschäft kaufe ich einen minikleinen gold-silbernen Anhänger, eine silberne Eichelnuss mit goldener Haube an einer langen, zierlichen Kette, will ich unter dem Hochzeitskleid tragen, soll im Dekolleté versteckt sein, damit es niemand sieht, passt nämlich nicht zum Rest. Das Neue: ist der Schleier, den habe ich im Gegensatz zum Kleid neu gekauft. Und das Geliehene bekomme ich von meiner Mutter: eine Kette komplett aus Elfenbein, breit, mit fünf Strängen aus Elfenbeinperlen, eng am Hals anliegend, wie bei einer Prostituierten im Wilden Westen, ein Würger am Hals, mit einer großen geschnitzten Rose an der Gurgel, die aussieht wie ein wide open beaver. Das Blaue: ein klassisches Strumpfband. Dieses komische Sixpenceding habe ich den Verwandten aufgetragen, die sollen das besorgen, wehe, die vergessen das! Das stecke ich dann, wenn es sein muss, für die Trauung, aber nicht für das Tanzen nachher, in den Schuh. Ich stelle mir vor, dass ein Sixpence eine alte englische Münze ist, ich flippe schon aus, wenn Sandkörner im Schuh sind, das halte ich bestimmt nicht lange aus.
Schöne Brautwäsche noch, alles in Creme. Und in jedem Geschäft erzähle ich natürlich, wofür die Sachen sind. Die Verkäufer und Verkäuferinnen freuen sich so mit uns, wünschen viel Glück. Wohl eher für die Ehe braucht man Glück als für die Hochzeit. Die Ehe dauert doch viel länger, soll doch jahrelang halten, der Hochzeitstag ist doch nur der eine Tag.
Am Abreisetag fahre ich mit dem Taxi vor dem Schneidergeschäft vor, erkläre dem Fahrer, dass er warten solle, ich würde danach mit ihm und dem Hochzeitskleid weiter in die Nachbarstadt fahren, zu meiner Mutter. Weil das Kleid so riesig geworden ist, kann ich es unmöglich in einen Koffer stopfen für den Flug. Also soll meine Mutter das Kleid im Auto transportieren. Sie beschließt, extra für das Kleid ihre Flüge wieder abzusagen, und will mit meinen drei Brüdern Harry, Lukas, Paul und Rhea, der Freundin meines ältesten Bruders, der aber trotzdem ein Jahr jünger ist als ich, mit dem Auto fahren.
Ich war zuerst da! Das ist mir sehr wichtig. Der Älteste von den Brüdern wurde direkt nach mir geboren. Mir ist das bis heute noch ein Rätsel, wie meine Mutter das geschafft hat, direkt nach einem Kind, nämlich mir, sofort wieder fruchtbar und empfängnisbereit zu sein. Ich habe mich sein Leben lang mit ihm geprügelt und jeden Tag gehofft, dass er stirbt. Das hat mir immer ein schlechtes Gewissen gemacht, weil einem ja eigentlich beigebracht wird, dass man seine Geschwister lieb haben muss. Er war aber so nah an mich gebaut, dass ich ihn ständig als Konkurrenten sah, keine Ahnung, in was. Futter? Leistung? Liebe der Eltern? Alles zusammen wahrscheinlich.
Bis ich wissenschaftliche Texte über Geschwisterhass fand, in denen beschrieben wird, dass viele Geschwister, die direkt nacheinander geboren werden, so leben. Weil das Erstgeborene, in diesem Fall ich, nicht einsieht, warum man jetzt auf einmal die Eltern teilen soll mit jemandem, der überflüssigerweise dazugekommen ist. Erst als wir alte Teenager waren, hörte das auf. Nach unser beider Pubertät war der Hass wie verflogen, wir waren ein Herz und eine Seele. Aber bis dahin hatte ich ihm schon achttausendmal den Tod an den Hals gewünscht, weil ich Einzelkind sein wollte, bei meinen Eltern.
Ein Dachgepäckträger, mit dem man eigentlich eine Skiausrüstung transportiert, wird extra für das Kleid angeschafft. Damit es locker darin liegen kann. Wie Schneewittchen im Glassarg. Mein geliebtes Kleid im Plastikskibehälter.
Der Taxifahrer wartet draußen, hat seinen Wagen auf dem Bürgersteig direkt vor dem Schaufenster geparkt und raucht in der Sonne an den Stern gelehnt eine Zigarette. Ich dachte noch, als ich ihn so da stehen sah: nicht, dass der den Stern abbricht. Das bringt bestimmt Unglück. Ihm jetzt. Nicht mir. Ich bin ja nicht abergläubisch. Ich rede noch ein bisschen mit der Schneiderin. Sie wünscht viel Glück. Wieder denke ich: für die Ehe oder die Hochzeit? Ich bezahle den Restbetrag für ihre Arbeit, und wir heben gemeinsam das riesige Kleid in einen auf dem Boden ausgebreiteten überdimensionalen Kleidersack. Die Schneiderin hat Tränen in den Augen. Ganz schön kitschig, die Alte. Kitsch, hab ich mal gelesen, ist die Verleugnung von Tod und Scheiße. Sie passt auf, Zentimeter für Zentimeter, dass nichts von der Spitze in den Reißverschluss gerät.
Wir tragen das Kleid wie eine in Teppich eingewickelte Leiche zusammen in das Taxi und legen es vorsichtig auf die Rückbank, ich hebe den raushängenden Teil an, schließe die Tür, bis mein Arm fast eingeklemmt ist, ziehe ihn raus und schlag schnell die Tür zu. Geschafft.
Wir steigen ein, und als wir wegfahren, winkt die Schneiderin, jetzt offen schluchzend, hinter uns her. Ich habe das Gefühl, ich habe ihr das einzige Kind genommen. Sie hat so lang an dem Kleid gearbeitet und auch wirklich viel damit verdient, irgendwie will sie es nun wohl ungern hergeben. Es ist aber jetzt meins. Meins. Meins. Meins. Es passt nur mir, weil es eine Maßanfertigung ist. Mit dem Taxifahrer unterhalte ich mich die nächsten achtzig Kilometer ausschließlich über die Hochzeit. Als wir ankommen, weiß er alles. Wie die Torte aussehen wird. Wie viele Leute eingeladen sind. Wie viele Alkoholiker ich in meiner englischen Familie habe. Dass ich inständig hoffe, dass es zu einer Schlägerei kommt. Weil das zu einer gelungenen Hochzeit dazugehört. Dass alle meine Brüder das gleiche Hawaiihemd tragen werden, das ich ihnen ausgesucht und gekauft habe. In verschiedenen Größen natürlich. Es ist ja Hochsommer. Dass für alle Gäste kleine Schleierkrautbuketts bestellt sind, die sie sich alle anstecken müssen. Welches Adriano-Celentano-Lied von Kassette läuft, nachdem wir Ja gesagt haben. Dass die Braut und der Bräutigam jeweils eigene tanzbare Mixtapes aufgenommen haben, um sich im Hotel den DJ zu sparen. Musik für neun Stunden Tanz.
Die Sonne scheint uns ins Taxi. Und als wir den Hintereingang des Hauses meiner Mutter anfahren, kommt die ganze Familie rausgerannt, um mich zu begrüßen. Wir parken hinter dem vollgestopften Reiseauto meiner Mutter. Alle Türen stehen offen, und es quillt nur so über von Zeugs. Schlafsachen für alle Kinder, schicke Kleidung für die Hochzeit, bestimmt auch Geschenke für uns, das Brautpaar, Bücher, Spielsachen für die Kinder für die vier Tage, die wir in England bleiben wollen, zum Feiern. Alle sind entweder in dem Hochzeitshotel oder in nahe gelegenen Bed&Breakfast-Pensionen einquartiert. Hauptsache, jeder kann betrunken zu Fuß sein Bett erreichen am Hochzeitstag. Also morgen, jetzt ist Anreisetag für alle.
Ich muss mit dem gleichen Taxi schnell wieder in meine Stadt, um mit meinem zukünftigen Mann und seiner zwölfköpfigen Familie das Flugzeug zu kriegen. Ich sehe sofort, dass der Dachgepäckträger schon angebracht ist auf dem Auto meiner Mutter. Meine Brüder fangen an, mich zu überreden, doch bitte ganz kurz das Kleid anzuziehen. Sie wollen es unbedingt mal an mir sehen. Ich sollte Nein sagen und hart bleiben. Ich kann aber nicht, ich will es auch so gern präsentieren. Ich will nicht so altmodisch abergläubisch sein, weil eigentlich darf doch niemand das Kleid sehen vor der Hochzeit. Ich schaffe es nicht, hart zu bleiben. Also schleppen meine Mutter, der Taxifahrer und ich den Kleidersack auf die Wiese hinterm Haus. Es ist sehr warm, und ich ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus. Eigentlich ist mir das sehr peinlich vor dem Taxifahrer. Aber ich will nicht spießig sein und ihn bitten, sich umzudrehen. Er macht es zum Glück von selbst. Meine Brüder lachen, gucken aber die ganze Zeit zu. Meine Mutter hilft mir, erst in den schweren Rock zu klettern, und macht mir den Hakenverschluss hinten zu. Danach zieht sie mir die Satinkorsage über, die den breiten Bund des Rockteils verdeckt, sodass es aussieht wie ein Kleid aus einem Guss. Aus Spaß zieht meine Mutter noch den Schleier aus dem Kleidersack und legt ihn mir schief und falsch rum auf den Kopf, mit dem langen Teil übers Gesicht. Da steht nun die Braut in voller Montur. Alle freuen sich, machen Komplimente, der Taxifahrer guckt wieder, wir klatschen in die Hände. Und ich schlüpfe wieder raus aus dem schweren Ding. Das Gewicht zieht einen ganz schön runter an der Taille. Ich muss es ja zum Glück nicht lange anziehen, zum Tanzen am späten Abend habe ich noch was leichtes Kurzes gekauft.
Als ich meine Hose und meine Bluse wieder anhabe, hieven wir das Kleid in den Dachgepäckträger und schließen ihn ab.
»Wann fahrt ihr denn los?«
»In ein paar Minuten.«
»Okay, bis gleich in England, ihr Spackos, alle«, sage ich lachend und füge noch mein obligatorisches »Wer zuerst da ist« hinzu. Das sage ich immer, seit ich denken kann, wenn Leute das gleiche Ziel wie ich haben, aber andere Wege oder Transportmittel wählen.
Schnell mit dem Taxifahrer die ganze Strecke zurück. Vor der Hochzeit bin ich ziemlich angespannt, ich denke die ganze Zeit: Ich habe was Wichtiges vergessen. Hab ich aber nicht. Gehe ständig im Kopf alle Sachen durch, die in meinem Verantwortungsbereich liegen, und habe tatsächlich alles erledigt. Wochenlange Arbeit, so eine Hochzeit, wenn man alles selber macht und plant und sich ausdenkt.
Als ich zu Hause ankomme, rede ich mit meinem Zukünftigen nur so Sachen wie:
»Hast du dies eingepackt?«
»Ja.«
»Hast du das eingepackt?«
»Jaha.«
Er hat offensichtlich auch an alles gedacht. Vor der Hochzeit sind wir nicht besonders verliebt, ist bestimmt normal, weil wir an so viel denken müssen. Man will ja auch nicht unbedingt heiraten, man will ja eher schon verheiratet sein. Wer hat schon lockeren Spaß auf seiner eigenen Hochzeit? Ich kenne keinen. Erst wenn alles erledigt ist, kein Programmpunkt mehr in die Hose gehen kann, man saufen kann, dann wird’s lustig. Hoffentlich!
Wir treffen alle Verwandten meines Freundes am Flughafen. Das ist auch eher nervenaufreibend. Eine große Reisegruppe zu koordinieren. Die Kinder, irgendwelche Neffen und Nichten meines Zukünftigen, schreien beim Check-in. Ich schalte kurz vorm Flugzeug mein Handy aus. Bin ein braver Flieger, halte mich an alle Regeln, immer. Und die Kinder schreien auf dem Flug noch schlimmer. Ich tue einfach so, als würde ich sie nicht kennen, sie sitzen in den Reihen vor mir, dann geht das gut. Mache Atemübungen, um nicht vor Aufregung durchzudrehen. Ich lächele meistens ein gespielt lockeres Lächeln, wenn mein Freund mich anguckt, meine Hand nimmt. Freue mich schon, wenn wir unsere Ruhe haben im Hotelzimmer. Wenn wir endlich ankommen.
Kurzer Flug nach London. Fünfzig Minuten oder so. Am Nachmittag. Wir landen, steigen aus. Wir haben einen richtigen großen Reisebus gebucht, mit Fahrer, der soll uns mit so einem lustigen Namensschild abholen am Ausgang. Noch nie hat mich jemand mit einem Schild abgeholt. Wir haben einen großen Kredit bei der Bank aufgenommen für die Hochzeit. Dann müssen wir an nichts sparen. Werde sehr erleichtert sein, wenn das mit dem Bus auch klappt. Wenn der wirklich da steht und wir einen Fahrer haben.
Wir holen unser Gepäck ab, und als wir am Zoll vorbeigehen, schalte ich mein Telefon wieder ein. Es klingelt sofort in der gleichen Sekunde, in der ich es anmache. Ich sehe, dass mein Vater anruft. Ich gehe ran.
»Hallo, Papa. Wir sind grad gelandet.«
Diese Geschichte von früher und das, was noch folgen sollte dort am Telefon mit meinem Vater, hat mein ganzes Leben ruiniert. Das spielt, auch heute, acht Jahre später, dort auf der Couch sitzend, mit meinem heutigen Mann, eine immense Rolle. Mein Mann hat einen Scherbenhaufen geheiratet.
Zurück zum Wurmproblem.
Ich rufe meinen Exmann, Exfreund, egal, wie man es nennen will, im Arm meines Mannes liegend, an.
»Hallo.«
»Stör ich dich bei etwas?« Das frage ich jeden, den ich anrufe, als Erstes. Es ist viel zu höflich und entschuldigend, deswegen gefällt es mir so. Diese gespielte Bescheidenheit. Das Devote.
»Nein.«
»Um mal mit der Tür ins Haus zu fallen: Liza und ich haben Würmer. Fadenwürmer, um genau zu sein. Ich muss morgen mit ihr zum Kinderarzt. Dann kann sie nicht in die Schule morgens. Ist dir bei dir was aufgefallen?« Super Frage.
»Oh, jetzt, wo du das sagst. Ich dachte aber, es wäre was anderes.«
Bitte keine Details! Aber hier kommen sie:
»Ich hatte doch diese schmerzhafte andere Sache vor Kurzem. Und jetzt habe ich bei dem Jucken einfach gedacht, das kommt wieder, auch wenn es sich ganz anders anfühlt als letztens.«
Alles klar. Mittendrin im Thema. Immerhin waren wir mal jahrelang zusammen. Auch wenn ich mir das heute gar nicht mehr vorstellen kann. Ich finde es schrecklich, wenn man Kinder zusammen hat und sich trennt. Und anstatt dem ersten Impuls nachzugeben, sich nie wiedersehen zu müssen, weil man ja mal Sex hatte zusammen, muss man sich für immer einigermaßen gut verstehen, für das Kind.
Schrecklich. Ich würde lieber keinen, mit dem ich Sex hatte, nach Beendigung der Beziehung mehr wiedersehen. Wenn man sich sieht, muss man immer daran denken beziehungsweise wird gegen seinen Willen daran erinnert. Schlimm. Weil es fast unmöglich scheint, dass das mal so war, früher, vor Urzeiten.
»Also, guck mal bei Wikipedia nach, bitte, dann muss ich nicht so ins Detail gehen. Du kannst deinen Stuhl untersuchen, die kriechen da drin rum, wenn du sie hast. Die sind knallweiß und extrem aktiv, die bewegen sich wie verrückt. Oder du hältst die Klebeseite vom Tesafilm ans Poloch.«
O Gott, ist das peinlich.
»Dann bleiben die dran kleben, wenn du welche hast, dann weißt du Bescheid.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das dann auch habe. Wie gesagt, ich habe es nur auf was anderes geschoben. Bei mir juckt es auch total.«
Ich muss grinsen. Mann, ist das bescheuert mit diesen Patchworkfamilien, keine Schmach bleibt einem erspart.
»Ich versuche für uns alle vom Kinderarzt Medizin zu bekommen. Nicht, dass wir alle untersucht werden müssen. Schätze mal, dass der mir einfach glaubt, wenn ich ihm sage: Vater und Mutter und Kind haben Würmer. Ich weiß nur nicht, ob er als Kinderarzt Erwachsenen Medizin verschreiben darf. Na ja, ich pass ja wenigstens in Kinderklamotten, bei dir wird es schwieriger, als Kind durchzugehen. Mach erst mal nichts, vielleicht besorg ich uns allen die Medizin. Ich ruf dich morgen nach dem Arzt an, ja?«
»Und Georg, hat der nichts?«
»Nein, den haben wir noch nicht angesteckt, zum Glück.« Voll gelogen, aber er sitzt neben mir, was soll ich sagen, er lügt mich ja an, dass er die nicht hat, ich weiß genau wegen seiner Reaktion zu meiner Wurmfrage, dass er auch Befall hat, er will nur für mich weiterhin sexuell attraktiv sein, vermute ich, deswegen lügt er.
»Wenigstens etwas. Okay, vielen Dank, dann bis morgen.«
Mein Mann guckt mich bedauernd an, jetzt fällt ihm auch nichts mehr ein. Wir müssen einfach warten. Neun Stunden warten. So schrecklich ich das finde und so ekelhaft es ist, es ist auch ein bisschen aufregend. Weil ich das ja noch nie hatte. Jedenfalls nicht bewusst, im Erwachsenenalter. Ich frage ihn, ob er die Würmer mal sehen will, ich kann ja fühlen, dass sie sich gerade zuhauf draußen aufhalten, es ist ja Luftschnappzeit in ihrer Zeitrechnung. Die Idee, dass er die Würmer angucken soll, ist so eine mütterliche Idee, er soll mal kurz meine Mutter sein und mir helfen, er soll mir den Horror nehmen und sich das mit mir zusammen angucken und mich trösten und mir hoffentlich sagen, dass es nicht so schlimm aussieht, wie es in meiner Vorstellung ist. Er weigert sich aber.
»Auf gar keinen Fall guck ich mir deine Würmer an.«
Ich bin sofort total beleidigt. Er will nicht meine Würmer angucken? Warum nicht? Was für ein verlockendes Angebot. Ich würde umgekehrt sofort Ja sagen. Ich bin krank, befallen sogar, und er will sich das Elend nicht angucken?
»Ich halte das für keine gute Idee. Ich sollte mir das nicht angucken. Wir sind zwar zusammen, sogar verheiratet, aber das heißt nicht, dass ich mir alle ekligen Sachen angucken muss, die du hast.«
Jaja, ich weiß, jetzt kommt der Vortrag über die Geburt und dass der Mann das lieber nicht im Detail sehen sollte, weil er sich sonst die Sexualität mit der Frau ruiniert. Tausendmal gehört von meinem Mann.
»Das ist genauso, wie wenn die Männer bei der Geburt ihrer Kinder wie so ein Arzt genau da hinschauen, und dann verkraften die das nicht, dass die Scheide so zerfetzt und gespreizt wird«, sagt er.
Auch dass so viel Scheiße bei einer Geburt rausgedrückt werden kann, verkraften viele Männer nicht. Die Kombination von Scheiße und Neugeborenem sagt doch sehr viel aus über den Menschen an sich. Dass die beiden Löcher so nah beieinander sind, das ist doch der Beweis, dass es keinen Gott gibt, der hätte die doch so weit wie möglich voneinander weg gemacht, eins am Fuß und eins am Kopf!
Nach der Geburt, wenn der Mann damit nicht gut klarkam, ist Sex doch fast unmöglich. Man muss sich den sexuellen Aspekt des Geschlechtsorgans bewahren, sonst war es das, da hat mein Mann völlig recht.
Mit dem Würmer-zeigen-Wollen habe ich aber das Gefühl, dass ich ihm etwas Schönes angeboten habe, und er gibt mir einfach einen Korb. Dachte, er findet es mindestens genauso aufregend wie ich, dass ich jetzt Würmer habe. Er gibt mir einen Korb, und das macht mich erst traurig und dann wütend. Für so einen Mann hab ich meine Eltern verlassen, na toll! Dann bin ich wohl ganz allein! Kann keine Hilfe von niemandem erwarten, muss alle ekelhaften Krankheiten allein durchstehen, mit all den Bildern, die das im Kopf hinterlässt.
Ich möchte, dass er die Bilder mit mir teilt. Und er will nicht belämmert werden damit, möchte mich rein in Erinnerung behalten, damit er später noch einen hochkriegt, wenn er mich nackt sieht. Ich verschränke die Arme vor der Brust. Das mache ich immer, wenn sich was Wahnhaftes zusammenbraut in mir.
»Jetzt guck mich nicht so wütend an. Ich weiß genau, was du denkst.«
Kunststück. Das lässt sich bei mir nicht lange verheimlichen.
»Du denkst, ich helfe dir nicht in der schlimmsten Not. Aber Elizabeth, ich sage dir jetzt mal, wenn man Würmer hat, das ist nicht die schlimmste Not.«
Er lacht mich aus. Er verhöhnt mich. Der Arsch. Er hat ja selber Würmer, hat aber nicht den Mumm, es zuzugeben vor mir!
»Wenn du wirklich was Schlimmes hättest, egal, wie ekelhaft das wäre, ich würde hingucken, helfen, alles. Aber das hier muss nun wirklich nicht sein, es gibt keinen Grund, dass ich deine Würmer angucke und für immer mit diesem überflüssigen Bild im Kopf rumrenne. Wenn ich wählen kann, dann entscheide ich mich für unser Liebesleben und gegen diese Bilder im Kopf. Du fragst mich doch, und ich darf Nein sagen.«
Scheißtherapeutendeutsch! Das hat der in der Paartherapie gelernt. Sich gegen mich abzugrenzen. Er soll nicht immer machen, was ich will, nur weil ich ständig ausraste und durchdrehe. Er und ich haben gelernt, dass er sich von mir niemals unter Druck setzen lassen darf. Er ist auch nicht für mein Glück zuständig. Ich darf ihn nicht mehr für mein Unglück verantwortlich machen. Das waren eher meine Eltern. Wenn ich kreuzunglücklich bin, woher kommt das Wort eigentlich? Weil Jesus am Kreuz so unglücklich war? Bestimmt. Dann kann er jedenfalls am wenigsten dafür. Er ist immer für mich da, trägt mich auf Händen, ich denke immer, es reicht nicht, aber ich bin einfach nicht glücklich zu machen. Ich bin nicht zu befriedigen und zu befrieden auch nicht. Nur durch mich. Und das ist ein langer Weg. Seit der Paartherapie hat er frei, und alle Probleme liegen bei mir. Ich bin ganz klar als der Aggressor in unserer Beziehung identifiziert worden. Ich erpresse, unterdrücke, ziehe ihn mit runter, und er soll sich jetzt nicht mehr davon beeindrucken lassen. Er soll eine Grenze ziehen, wie er das gerade bei den Würmern gemacht hat. Er soll sagen: »Das ist dein Problem. Bitte schön, raste ruhig aus. Ich kann nichts dafür, und ich kann erst recht nicht helfen. Du bist unglücklich, kannst dich aber nur selber retten oder gar nicht, auf keinen Fall kann ich das leisten.«
Ich soll aufhören, ihn zu überfordern. Mir ging es früher vor der Paartherapie viel besser, weil ich aggressivst einfach ihn für alles verantwortlich machen konnte. Das hätte aber bald unsere Beziehung zerstört.
Ich möchte keine Trauer empfinden, und deswegen werde ich aggressiv. Ich konnte im Kampf gegen meinen Mann nie meine Trauer spüren. Das war schön für mich. Schlecht für ihn. Jetzt, wo ich ihn in Ruhe lassen soll und ihn nicht mehr dafür verantwortlich machen kann, was meine Eltern getan haben, was ich im Leben an Schrecklichem erlebt habe, muss ich alles für mich behalten und gehe fast daran zugrunde. Und mein Mann muss mir einfach, ohne mir helfen zu dürfen, dabei zugucken. Die Trauer, die ich nicht spüren will, kommt von diesem Anruf, damals am Flughafen im Zollbereich.
Mein Vater sagt am Telefon zu mir:
»Elizabeth. Du musst jetzt ganz stark sein.«
Wie im Film. In meinen Ohren fängt es an zu rauschen. Ich bleibe stehen und mache höchstwahrscheinlich ein schlimmes Gesicht. Mein Freund guckt mich ganz entsetzt an.
»Es hat einen ganz schweren Unfall gegeben auf der Autobahn. Eine Massenkarambolage. Die belgische Polizei hat mich gerade angerufen. Wir müssen davon ausgehen, dass alle, die im Auto saßen, tot sind. Sagen die.«
Lange Pause.
»Jetzt frage ich dich: Wer war im Auto?«
»Was? Was? Was?«
»Wer war im Auto, Elizabeth?«
Wie: Wer war im Auto, Elizabeth? Er weiß es nicht? Er weiß es nicht. Die sagen dem, alle sind tot. Aber wissen nicht, wer im Auto war? Hä?
»Sag nicht, dass Harry im Auto war, sag, dass er bei euch ist. Ist er geflogen? Sag was!«
Das ist sein einziger Sohn. Mein Bruder, der am nächsten an mir dran ist. Ich muss ganz lange nachdenken. Ich will jetzt nichts Falsches sagen. Vielleicht sterben die, wenn ich falsche Namen nenne. Achtung, Achtung. Pass auf, Elizabeth, konzentrier dich! Einmal im Leben! Mein Hirn hat sich im Schock fast ganz ausgeschaltet. Ich soll jetzt Namen aufzählen. Ich muss ihm jetzt aufzählen, wer tot ist? Ich denk, der ruft mich an, um mir zu sagen, wer tot ist? Denk nach, du hast sie grad noch alle auf der Wiese rumturnen sehen, streng dich an, du sprichst das jetzt aus:
»Mama –
Harry –
Lukas –
Paul –
Rhea.«
Ich höre, wie er mitschreibt. Er steht auch unter Schock. Hat Angst, die Namen zu vergessen. Nur den einen wird er nicht vergessen. Ich hab ihm gesagt, dass sein Sohn mit im Auto war.
Mehr nicht? Oder? Nein? Alles richtig? Alle Namen richtig? Mein Hirn tut weh, die Augen sind nur noch Schlitze, das Licht tut darin weh.
Mitten im Ausgangsbereich versagen meine Beine, ich sinke zu Boden. Mein Freund setzt sich neben mich, er stiert mich an, er weiß, es muss schrecklich sein, was ich da grad höre. Alle Verwandten bleiben stehen und gucken uns nur an.
Alle sind sehr ernst, nur die scheiß Kinder nicht. Es wird still, ich sehe nur noch, dass die Kinder schreien, ich höre sie nicht mehr. Ich will nie wieder von diesem Fleck aufstehen. Der Körper hat jede Kraft verloren. Ich implodiere.
Ich denke ganz lange nach, es ist schwer, mühsam, langsam, das Nachdenken. Das Hirn blockiert.
»Auch Mama ist tot?«
»Ja, alle. Die sagen, wir sollen davon ausgehen.«
Mir schießt ein neuer Gedanke in den Kopf: Was ist mit meinem Kleid? Das war doch in dem Auto. Auf dem Auto. Obendrauf. Ist das auch tot? Ist das auch kaputt? Ich traue mich nicht zu fragen danach. Ich bin wie besessen von der Idee, dass meinem Kleid nichts passiert sein darf. Ich kann mir plötzlich nichts Schlimmeres vorstellen. Mein Hochzeitskleid. Das hat doch so viel gekostet. All die Anproben! Ich muss doch der Schneiderin ein Foto geben, wie ich es anhabe. Das habe ich ihr versprochen.
Diese Reaktion in meinem Kopf ist mir bis heute peinlich. Meine Therapeutin sagt mir aber, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss. Der Kopf macht komische Sachen mit uns, wenn wir Schreckliches erfahren. Ich war einfach nicht in der Lage zu kapieren, dass alle tot sind. Ich war aber sehr wohl in der Lage zu kapieren, dass mein Kleid weg sein könnte. Das ist dann, als Ersatz, nicht so schmerzhaft wie Menschenverlust. Die Rollos gehen im Kopf runter und lassen nur kleine, ganze wenige, nicht so schmerzhafte Gedanken zu.
Mein Vater steht auch unter Schock. Nur deswegen schlägt er vor, dass wir trotzdem heiraten. Er sagt, das darf uns nicht dran hindern. Ihm ist auch das Ausmaß der Sache kein bisschen bewusst. Er sagt, er müsse jetzt wieder auflegen, damit er weiterhin für die Polizei erreichbar sei, und legt auf.
Danach bin ich wie ferngesteuert. Mein Körper macht alles automatisch. Ich wiederhole für meinen Freund und seine Familie im genauen Wortlaut alles, was mein Vater gesagt hat. Alle sind sprachlos und starren mich einfach an. Niemand sagt etwas. Wir stören sehr den Durchlaufverkehr der anderen Passagiere, aber das ist uns völlig egal, wir bleiben einfach auf dem Boden am Zoll sitzen und denken nach. Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Wir sitzen noch Ewigkeiten da rum.
Die Nachricht meines Vaters hat mich bis heute zu einem sehr verwirrten Menschen gemacht, das spielt in jede Entscheidung mit rein, vor allem mein Mann muss das alles ausbaden, der Arme! Der hat aber auch viel davon, weil ich mir dafür, praktisch als Gegenleistung zu meinen anstrengenden psychischen Störungen, beim Blasen so viel Mühe gebe, aus Dankbarkeit, dass er es so lange mit mir gehetztem Unfalltier aushält.
Also: Er nimmt nicht das spektakuläre Angebot an, meine Würmer anzugucken. Ich soll alleine damit klarkommen. Alles klar. Vielen Dank. Das ist das letzte Mal, dass ich dir so was Gutes anbiete.
»Aber wenn mir die Gedärme raushängen würden, würdest du mir helfen? Sicher? Dann würdest du gucken, oder?«
»Klar würde ich das. Weißt du doch. Wenn wirklich was Schlimmes wäre, dann rette ich dich doch.«
Danke. Ich lehne mich an ihn. Hoffentlich passiert mir bald mal was Schreckliches. Es kann doch nicht immer so weitergehen, dass ich mir seit dem Unfall die schrecklichsten Sachen vorstelle, aber niemals irgendwas davon eintritt. Ich habe eine Wahnsinnsphantasie. Die nur damit beschäftigt ist, sich Horrorszenarien auszumalen. Ich denke mir alles bis ins kleinste Detail aus. Ich quäle mich damit selber. Nur wenn ich die Angst mit Hypersexualität überlagere, bin ich angstfrei. Das habe ich in der Therapie gelernt. Dann kann ich das Leben ganz kurz genießen, denke, ich weiß, wofür ich lebe. Meine Therapeutin nennt das Angsterregung. Angsterregung fühlt sich ähnlich an wie Sexerregung. Bei mir gibt es nur das eine oder das andere. Entweder das eine Extrem oder das andere. Frau Drescher sagt, ich versuche nur, der Angst mit Sex zu entfliehen, das ist das einzige Gefühl, das die Angst manchmal ganz kurz überlagern kann. Es ist aber nicht die Lösung meiner Probleme. Schade. Sie sagt, ich muss die Probleme in mir lösen und nicht nach außen transportieren.
Ich könnte gut zehnmal am Tag Sex haben, damit könnte ich viel Anspannung ableiten. Aber meistens entscheide ich mich für gedankliches Selbstquälen. Das geht so: Jeden Abend liege ich in meinem Bett und gucke an die Decke. Da ist ein Riss im Putz. Ich beobachte ihn jeden Tag und bin mir sicher, er wird immer größer. Sodass ich langsam davon ausgehen muss, dass es nicht nur ein Riss im Putz, sondern auch im Mauerwerk ist.
Wir wohnen in einem Vierparteienhaus. Die Wohnungen übereinander. Alles über uns. Wir im Erdgeschoss. Wenn das mal einkrachen sollte, weil es schlecht gebaut wurde, bin ich gewappnet. Weil ich es schon so oft durchgespielt habe im Kopf. Rechts von meiner Seite des Bettes ist eine tragende Wand, wenn ich einkrachende Geräusche hören sollte, rolle ich mich aus dem Bett, warte, bis alles zusammengefallen ist, und krieche die Wand entlang in das Kinderzimmer, um dort meine erschlagene Tochter zu finden. Dann krieche ich zurück, um meinen erschlagenen, zerquetschten Mann zu sehen, ich habe immer mein Telefon am Bett wie auch ein Messer mit einer langen, scharfen Klinge, falls Einbrecher ins Haus kommen. Ich schwöre, ich steche den ab. Bei einem Hauseinsturz wähle ich den Notruf und habe als Einzige im ganzen Haus überlebt. Weil mein Leben ohne Mann und Kind keinen Sinn mehr ergibt, bringe ich mich ein paar Tage danach in der psychiatrischen Klinik, in die ich zur Erholung und Traumatherapie eingewiesen wurde, um. Das spiele ich jeden Abend im Kopf durch mit ständig wechselnden Enden der Geschichte. Aber dass das Haus bald einkracht, das ist sicher. Meine Therapeutin sagt, dass Leute, die Angst haben, dass das Gebäude um sie herum einkracht, schon ein eingekrachtes inneres Gebäude haben. Sie projizieren die inneren Ängste auf das äußere Gebäude, das sie umgibt. Innen aber kracht alles zusammen, nicht außen.
Es nützt auch nichts, sich selber damit zu beruhigen, dass in Deutschland nie was einstürzt, weil alles so toll spießig gebaut wurde, mit gutem Fundament. Ich lebe ja in meiner wilden Phantasie. Da dringt nichts Rationales zu mir durch. Leider.
In unserer Wohnung fühle ich mich oft wie in einer Familiengruft. Der Tod liegt immer zwischen mir und meinem Mann im Bett. Ich habe meinen Mann in den Jahren, die wir zusammen sind und dort wohnen, schon Hunderte Male gefragt, ob er nicht auch findet, dass der Riss im Putz immer größer wird. Er verdreht jedes Mal die Augen, guckt sich das an, so wie ich für meine Tochter die Hexe unterm Schrank angucke, und sagt: »Nein, ist nicht größer geworden.« In diesen Momenten spricht er mit mir wie mit einer Irren, in beruhigendem Basston. Das kotzt mich an, meinen Wahnsinn in seiner Stimme zu hören.
Ich frage ihn nur noch im äußersten Notfall, wenn ich mir wirklich mehr Sorgen mache als gewöhnlich, weil ich eigentlich meistens schon weiß, dass er mich anlügt und Nein sagt. Es ist sehr wichtig zu erwähnen, dass meine Therapeutin rausgefunden hat, dass ich gar keine Angst habe zu sterben, mit dem Tod und dem Sterben an sich habe ich kein Problem, ich habe den Tod immer schön nah bei mir, er ist ein guter Kumpel. Nein, mein Problem ist der Kontrollverlust. Ich möchte nur dann nicht sterben, wenn man es hätte verhindern können. Wenn ich krank würde, man könnte nichts mehr machen, ich würde mich einfach fügen. Aber durch eine dumme Unaufmerksamkeit zu sterben, das soll mir und meinen Nächsten nicht passieren. Ich bin immer in Alarmbereitschaft, um das Leben unserer Kleinstfamilie zu retten.
Ich erzähle meinem Mann auf der Couch, dass das ja wohl morgen nichts wird mit unserem Puffbesuch. Er bemerkt mein kleines Grinsen in der Backe. Und sagt: »Da freust du dich, ne? Erleichtert?«
»Ja, weißt du doch, ich hasse es, aufgeregt zu sein, und wenn was ausfällt, weswegen ich aufgeregt bin, dann bin ich erst mal erleichtert. Wir holen das nach, ja, sobald ich nicht mehr befallen bin von diesen Viechern.«
Er weiß ganz genau, was das für eine Überforderung für mich ist, der ich mich da jedes Mal stelle, vorher Wahnsinnsaufregung bis Angst, nachher dicke Hose, weil ich es wieder mal geschafft habe, ich habe es überlebt: Mein Mann ist, obwohl er Sex mit einer anderen hatte, immer noch mit mir zusammen, was für ein Wunder! Juchuh!
Ich sehe ihm die Enttäuschung an. Er freut sich immer nur darauf. Pure Vorfreude. Er ist viel klarer als ich. Wir machen, wie jeden Abend, den Fernseher an und schweigen ein bisschen, er wegen seiner Enttäuschung, dass der Puffbesuch morgen früh ausfällt, ich, weil die Würmer mich mit ihrem Gejucke wahnsinnig machen. Ich hasse es, ihn zu enttäuschen. Er ist wirklich sehr niedergeschlagen deswegen. Fuck!
Wir glotzen beide stumm in den riesengroßen Fernseher. Mein Mann denkt, ich gucke fern, aber ich grübele wieder mal heimlich über den Unfall nach, ich lasse den immer gleichen Ablauf Revue passieren, als wäre ich dabei gewesen. Um mir immer wieder zu sagen: »Ja, Elizabeth, so war das, damit musst du jetzt klarkommen, das ist die Wahrheit, das ist wirklich passiert.«
Ich hocke auf dem Boden des Flughafens und versuche in meinem Kopf rauszufinden, ob das stimmt, was ich meinem Vater gesagt habe. Wer alles in dem Auto gesessen hat. Ich fühle eine Sperre, wenn ich über die Namen nachdenke. Es sind so viele! Um meinem Vater zu helfen, darf ich keinen Fehler gemacht haben. Ich bekomme es nur mühsam zusammen. Ich sage mehrmals laut vor mich hin: Mama, Harry, Lukas, Paul und Rhea. Ja, ich glaube, das stimmt.
Die Mutter von meinem Freund, meine eigentlich zukünftige Schwiegermutter, geht zu dem Busfahrer, er hat wirklich ein Schild mit unseren Namen in der Hand, das hat schon mal geklappt, zum Glück erklärt sie ihm alles. Ich habe das Gefühl, wenn ich es jemand Fremdem erkläre, wird es tatsächlich wahr. Wahrer. Von Weitem kann ich sehen, wie sein Gesicht sich verändert. Er war vorher ganz locker und lustig gewesen, mit seiner englischen Hackfresse. Je länger sie aber mit ihm spricht, er guckt die ganze Zeit zu uns rüber, desto mehr verfinstert sich sein Ausdruck.
So, wie er jetzt guckt, guck ich wahrscheinlich auch. Verzerrtes Horrorgesicht. Jede Maske ist gefallen. Kein Muskel bewegt sich. Ich muss nicht mehr schauspielern, gelächelt wird nicht mehr. Lange nicht mehr. Ab hier ist jede Bewegung wie in Trance, ganz ruhig, vollautomatisch. Ich funktioniere nur noch.
Irgendwann müssen wir wieder aufstehen. Wir laden unser Gepäck in den Buskofferraum. Ich setze mich, wie früher auf dem Schulweg, wo die Coolen immer saßen, in die letzte Reihe. Mein nun nicht mehr zukünftiger Mann setzt sich neben mich. Wir machen weiter nach Plan. Was sollen wir sonst tun? Geplant war: vom Flughafen aus alle in ihre Pensionen zu fahren, und danach sollten wir, das Brautpaar, als Letztes im Hochzeitshotel abgesetzt werden. Nachdem wir seine Familie überallhin verteilt haben, will ich aber nicht mehr ins Hotel. Ich kann das nicht aushalten. Ich habe sehr viel Bargeld mit, wie sich das für eine gute Braut gehört, und biete dem Busfahrer Geld an, damit er der Planänderung zustimmt und uns zu meinen Verwandten nach London fährt. Er hat zum Glück keinen Anschlussjob und fährt uns dahin. Die Fahrt dauert eineinhalb Stunden.
Mein Freund und ich sitzen in diesem großen Bus, ganz alleine mit dem besorgt nach uns in den Rückspiegel schauenden Busfahrer. In der Zeit gebe ich meinem Freund das Telefon, da sind alle Nummern von meinen englischen Verwandten gespeichert. Er ruft den Onkel und die Tante an, und ich höre ihm zu, wie er das Unglaubliche am Telefon beschreibt. Ich denke, er lügt. Das kann nicht sein. Ich finde, er soll sein Lügenmaul halten. So ein Quatsch, was er da erzählt, der spinnt ja wohl. Er sagt, es wird keine Hochzeit geben. Ja. Wahrscheinlich wirklich nicht. Es ist sehr schwer, nach den monatelangen Planungen einfach umzudenken. Alles in mir will die Planungen zu einem Ende bringen. Jetzt darf ich nicht mehr. Wir sitzen schweigend nebeneinander. Er hält meine Hand. Was soll er auch sonst machen? Das lernt man nicht, wie man sich in einer solchen Situation hilfreich, sinnvoll verhalten soll. Wie der Mann bei der Geburt. Was soll er da schon machen? Das lernt man nicht in der Schule. Die wichtigen Sachen. Man kennt das nur aus Filmen, aus Kriegsfilmen. Fünf Menschen gleichzeitig tot. Das ist ein Kriegseinschlag in unsere Familie. Bombe draufgeworfen. Ich kann die meiste Zeit nur denken: Was ist mit meinem Kleid? Wehe, das ist kaputt.
Zu viel mehr ist mein Hirn nicht fähig. Und ab und zu denke ich: Hoffentlich ist meine Mutter nicht tot. Dann will ich auch nicht mehr leben. Wir sind sehr eng. Zu eng. Ich sitze immer noch meistens auf ihrem Schoß, wenn ich sie sehe. In meiner Kindheit waren wir eng, in der Pubertät so weit auseinander, wie man nur sein kann, und als die Pubertätswolken sich verzogen hatten, wieder genauso eng wie in der Kindheit. Eine fatale Nähe. Ich durfte nicht erwachsen Abstand zu meiner Mutter gewinnen, ich durfte nur eng oder gar nicht.
In diesem Bus, auf der Fahrt zu meinem Onkel und meiner Tante, dachte ich oft: Scheiß doch auf alle anderen in dem Auto! Bitte. Hauptsache, meine Mutter ist nicht tot. Im Kopf bot ich alle anderen zum Tausch an, ich bot meine Geschwister und die Freundin von meinem Bruder dem Schicksal, dem lieben Gott, dem Teufel, mir egal, wer das ist, an. Nur meine Mutter durfte nicht tot sein. Weil ich ohne sie nicht leben kann. Nicht leben will. Daran sieht man, wie beschissen Glaube ist. In dem Moment, wo die schrecklichsten Dinge passieren, wo man so schwach ist wie sonst nie, fängt man an zu spinnen. Das ist ja schon der Beweis dafür, wie menschengemacht Gott und Glaube sind. Nur weil man es gerne hätte, ist das noch lange nicht so. Das alles kommt nur von der Verzweiflung, dass alles sinnlos ist und wir einsam und verloren im Weltall sind. Wenn das Schicksal zuschlägt, ist das auch nur ein Zufall. Oder menschengemacht. Jeder Unfall. Schicksal, wenn man juristisch unschuldig dran ist, oder selber schuld, wenn man den Unfall verursacht hat. Mehr gibt es nicht.
Deswegen bin ich so sauer auf Christen, genauso wie auf Frauen, die sich Silikon in die Brüste stopfen. Weil beides the easy way out ist. Christen halten die seelische Obdachlosigkeit nicht aus, wie ich sie mein Leben lang in vollem Bewusstsein aushalte: Das Leben ist sinnlos, die Erde ist sinnlos, wir sind Zufall, und es gibt niemals ein Leben nach dem Tod. Die denken sich einfach als Selbsttröster ein Leben nach dem Tod aus, weil sie es gerne, so dringend gerne, hätten, dass wir wichtiger oder besonderer sind als Tiere. Sie reden sich ein, für sie kommt danach noch der Himmel. You wish! Lustigerweise sind es immer die angeblichen Christen, die am meisten ausflippen, wenn sie jemand Geliebtes verlieren, dabei sind die doch angeblich so sicher, dass die sich bald wiedersehen. An der Reaktion auf den Tod geliebter Menschen kann man erkennen, dass sie ihren eigenen Schmu nicht glauben. Mit den Brüsten, die man hat, sollte man vielleicht einfach klarkommen, genauso wie mit der Sinnlosigkeit des Lebens!
Mein Mann ist immer noch sichtlich enttäuscht, dass der Puff morgen ausfällt. Er schmollt. Diesmal kann ich doch wirklich kaum was dafür, dass der Besuch ausfällt. Ich habe mir ja die Würmer nicht selber eingepflanzt. Er denkt aber bestimmt, mir wäre sogar das zuzutrauen.
Ich möchte weg von dieser beklemmenden Stimmung auf der Couch und sage: »Ich geh schlafen.«
Als erwachsene Frau kann man aber leider nicht einfach schlafen gehen, wie man das möchte. Man muss die ganze Farbe aus dem Gesicht rauswaschen, die man morgens dahingepinselt hat, mit speziellen Lösungsmitteln, die Abschminkzeug heißen. Man muss sich ganz lange die Zähne putzen, als Vorbild für seine Kinder, die gar nicht zugucken! Die langen Haare kämmen, damit es morgen nicht so schlimm wird mit den Knoten. Ausziehen, dreckige Unterhose und Socken in den alten Rattanwäschekorb und den schon etwas muffigen alten Schlafanzug anziehen, der an seinem Haken innen an der Badezimmertür hängt.
Wir versuchen, so wenig wie möglich zu waschen, für die Umwelt, unsere Ersatzreligion. Und dazu gehört zum Beispiel, sehr, sehr oft den gleichen stinkigen Schlafanzug anzuziehen. Wir wechseln auch so wenig wie nur möglich die Bettwäsche. Dadurch haben unsere Schlafzimmer geruchsmäßig was Höhlenartiges. Ich denke immer: So hat es auch bei den Neandertalern gerochen, nach Menschentalg. Nur wenn wir in Kontakt mit fremden Menschen treten, draußen, achten wir darauf, nicht mehr zu stinken, zu Hause ist alles der Umwelt untergeordnet. Bei den ganzen Dingen, die wir tun müssen, bevor wir endlich ins Bett dürfen, gibt es zwischen mir und meinem Mann einen richtigen Wettbewerb, wer in das große Badezimmer darf und wer das alles im kleinen Gästeklo erledigen muss.
Wir versuchen alles besser zu machen als in unseren Beziehungen davor, weil wir doch für immer zusammenbleiben wollen, müssen, wie auch immer. Und auf jeden Fall schalten wir dann schon mal alle Fehler aus, die in früheren Beziehungen zum Tod geführt haben. Wir machen nichts, was mit Körperhygiene zu tun hat, voreinander: Zähneputzen, Waschen, Nägel schneiden, Groß, Klein. Das haben wir früher vor unseren Partnern gemacht, und das haben wir als Problem herausanalysiert.
Ich besetze grad das Badezimmer, da muss ich mir keine Sorgen machen, dass er reinkommt und mich bei all diesen Handlungen sieht. Ich lege mich danach in unser muffiges Bett. Ich habe ein Drittel des Doppelbetts, weil ich sehr klein bin, er bekommt zwei Drittel, weil er so groß ist. Auch wenn ich schlafe, entspanne ich mich nicht, ich kontrolliere alles. Dass er genug Platz hat, dass ich nicht im Bett furze, vor ihm, das, glaube ich, ist auch schlecht für das ewige Zusammensein. Er macht das öfters vor mir, wenn ich noch nicht schlafe, er lässt dann ganz los. Das will ich umgekehrt nicht können. Sonst werde ich verlassen.
Ich lege mich in unser verschwitztes, talgiges, vollgespermtes Bett und gucke an die Decke. Ja. Da ist er wieder, mein geliebter Riss in der Decke, ich starre ihn an. Und stelle mir ganz genau vor, wie ich mich und meine Familie vor dem sicheren Zerquetschungstod rette, wenn das alles über uns zusammenstürzt. Ich bin auf alles gefasst. Ich lasse mich vom Tod nicht mehr überraschen. Nein, nie wieder! Der Tod liegt auf mir, wenn ich einschlafe, er ist da, wenn ich aufwache. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemals wieder aufhört. Egal, wie viele tausend Stunden ich zu Agnetha gehe. Der Unfall und sein detaillierter Ablauf verfolgen mich, vor allem wenn ich alleine bin, wie ich jetzt so daliege, bereit, zerquetscht zu werden von der Betondecke.
Frau Drescher hat mir beigebracht, dass ein Trauma so schmerzhaft ist, weil es eine offene Wunde ist, sie heilt nicht zu. Der Unfall und alles, was daran hängt, fühlt sich so an, als wäre er vor ein paar Tagen passiert. Es fühlt sich nicht an, als wäre die Zeit seitdem vergangen. Ich bin gefangen in den Tagen, in denen das passierte, ich komme einfach nicht drüber hinweg. Der Film im Kopf spielt sich immer wieder von Neuem ab. Vielleicht hört das ja mal auf. Glaube ich aber nicht. Ich habe mich schon so an diesen Begleiter gewöhnt in den vergangenen acht Jahren, kann mir ein Leben nicht mehr ohne diesen Film vorstellen. Diesen Horrorfilm.
Der englische Busfahrer lässt uns bei meinen Verwandten raus. Sie stürmen direkt aus dem Haus, um uns in Empfang zu nehmen. Sie umarmen mich ganz lange und gucken mich mitleidig an. Sie machen das ziemlich schlecht. Weil sie auch nicht wissen, wie das genau geht. Was man da sagt. Ich habe da schon Blut geleckt. Mir gefällt direkt diese Sonderstellung, die man dann bekommt. Sie fixieren mich, gucken mir in die Augen. Versuchen herauszufinden, was das mit einem Menschen macht, der solch eine Nachricht bekommt: Deine Mutter und drei deiner Brüder sind tot! Da fing meine Sucht nach Mitleid an. Das ewige Leid. Im Vergleich zu den Menschen um einen rum. Immer in einer Sonderstellung. Wie eine Heilige. Alle sollen denken: Ich beiße mich durch. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Ich gebe nicht auf, und dafür werde ich bewundert. Es ist auch wirklich schön, bis heute, so wie ein Überwesen bemitleidet zu werden, sodass ich mich auch schon ein bisschen freue, irgendwann mein Kind zu betrauern und meinen Mann. Meine Therapeutin würde jetzt sagen, nur damit das jetzt nicht so böse klingt: Sie versuchen, sich mit der schlimmsten Vorstellung anzufreunden, damit es dann nicht so schlimm ist, wenn es eintritt. Ja ja, kann sein, ich sehe mich ständig in den Phantasien alleine, mit totem Kind und totem Mann, weil ich versagt habe und sie nicht beschützen konnte, vor weiß der Geier was.
Wir gehen mit meiner Tante und meinem Onkel ins Haus. Und trinken sofort am helllichten Tag viel Alkohol. Erst Dosenbier, die großen Behälter, mit null Komma fünf Liter drin. Danach Hochprozentiges. Was soll man sonst von einer kompletten Alkoholikerfamilie erwarten? Trotzdem bleibe ich seltsam nüchtern. Muss der Schock sein. Wir sitzen da um den Küchentisch herum und schweigen.Was sollen sie auch sagen? Das überrollt einen einfach.
Mein Telefon klingelt. Es ist mein Vater.
»Ja?«
»Ich habe eine gute Nachricht: Rhea lebt.«
»Nichts von Mutter gehört?«
»Nein. Ich meld mich, wenn was ist. Sie sagen, das ist ihre Informationspolitik: Immer erst sagen, alle sind tot, danach gibt’s dann, wenn überhaupt, nur noch gute Nachrichten. Sie sagen, dort herrscht großes Chaos, Riesenmassenkarambolage, die Opfer sind auf viele verschiedene Krankenhäuser verteilt, manche sind bewusstlos, ohne Ausweis, Holländer, Belgier, Engländer, man muss erst rausfinden, wer wer ist, bei den Lebenden und bei den Toten. Muss erreichbar bleiben.«
Er legt auf. Gut, dass er was zu tun hat. Er ist ein Mann. Es ist immerhin sein einziger Sohn, von dem jede Nachricht fehlt. Mein ältester Bruder. Trotzdem jünger als ich. Mein Vater in der Schaltzentrale des Unfalls. Wie: Informationspolitik? Erst alle anlügen? Sagen: Alle sind tot, obwohl das gar nicht so ist? Mit dem Schlimmsten, was es gibt? Alle sind tot. Einfach nur behauptet? Was? Was? Hoffnung. Erst zerstören sie alle Hoffnung. Dann gibt es wieder welche. Sie sagen erst: alle tot, und dann melden sie Schritt für Schritt die Überlebenden. Dann gibt es am Ende etwas Freude. Und nicht nur totale Verzweiflung. Guter Trick. Diese belgischen Polizisten sind echte Psychofüchse!
Rhea, Rhea, Rhea, na und? Die Freundin meines Bruders. Ich habe zu ihr keine Beziehung. Also, kaum. Toll für ihre Familie. Toll, bestimmt. Aber für uns doch nicht. Blut ist dicker als Alkohol. Alkohol macht Blut aber dünner. Heißt das, es könnte sein, dass Mutter auch noch lebt? Seit dem ersten Anruf meines Vaters sind drei Stunden vergangen. Es kann sein, dass er gleich anruft und sagt: Sie haben deine Mutter gefunden. Lebend. Oder auch tot. Er bestätigt oder dementiert die Todesnachricht. Alles wieder offen. Quälendes Warten. Abhängig von Nachrichten. Ruf an. Ruf an. Papa. Ruf an.
Ich unterhalte mich betrunken mit den Verwandten und meinem Freund, starre aber die ganze Zeit auf mein Telefon. Kontrolliere immer die Empfangsbalken. Dass nicht noch mehr schiefgeht. Es wird langsam Abend. Ich habe keinen Appetit, esse aber trotzdem was. Meine Tante macht uns was warm.
Am späten Abend fällt mir auf, dass meine beiden Cousins fehlen. Ich frage nach, wo sie sind. Und bin froh, dass mir überhaupt noch was Normales einfällt, über das man sich unterhalten kann. Daran merkt man, wie schlecht mein Gehirn unter Schock funktioniert, ich brauche Stunden, um festzustellen, dass zwei Verwandte im Haushalt fehlen. Meine Tante und mein Onkel haben die Kinder weggeschickt, als sie den Anruf meines Freundes erhalten haben, sie haben den Kindern nicht erzählt, warum sie weg sollen, aber sie haben sie spontan bei Freunden untergebracht, damit sie sich in ihren jungen Jahren nicht mit so etwas Schrecklichem auseinandersetzen müssen. Sie wollten den Kindern am nächsten Tag alles erzählen.
Das Telefon klingelt. Ich geh nach einem Mal Klingeln dran. Hab schon das Wort Papa gelesen, bevor es überhaupt ein Geräusch gegeben hat.
»Ich habe eine gute Nachricht. Mutter lebt.«
»Danke, Papa, danke. Wo ist sie?« An meinem Gesichtsausdruck und dem Wörtchen »sie« können sich mein Freund und die Verwandten schon denken, dass meine Mutter überlebt hat. Ja. Das sagt man dann wohl. Sie hat überlebt. Der mir wichtigste Mensch auf der Erde hat die Massenkarambolage überlebt.
»Hast du was zu schreiben? Ich gebe dir ihre Nummer im Krankenhaus in Antwerpen. Sie ist schwer verbrannt, aber bei Bewusstsein.«
Sie lebt, aber ist schwer verbrannt? Mit was man sich so rumschlagen muss im Leben.
»Wie? Schwer verbrannt? Was heißt das?«
Bitte nicht Mamas Gesicht!
»Ich habe nicht mit ihr direkt gesprochen. Der Arzt sagte, sie sei an beiden Füßen bis auf die Knochen verbrannt. Und ihr Rücken sei gebrochen. Aber sie spricht, verstehst du, sie ist bei Bewusstsein, Elizabeth, ruf sie an.«
»Ja, mach ich. Tschüss, bis später. Danke noch mal.«
Mach ich nicht. Ich ruf die doch nicht an! Das kann ich nicht. Was soll ich denn sagen? Da fing das an, dass ich mich vor meiner eigenen Mutter gruseln musste. Ich freue mich unglaublich, dass sie noch lebt, aber was soll man dann sprechen? Da fing die Sprachlosigkeit an in unserer Familie. Aus Feigheit. Meine Mutter hat eine Massenkarambolage überlebt, ihr Rücken ist gebrochen, und ihre Füße sind verbrannt. Was soll man dazu sagen? Ich starre die lange Nummer mit der belgischen Vorwahl an. Geht die Nummer wohl direkt in ihr Zimmer, kriegt man nach einer Massenkarambolage ein Einzelzimmer? Wir sind doch alle nur gesetzlich versichert. Normalerweise kriegen wir kein Einzelzimmer. Alle in meiner Familie sagen auch: Das ist doch viel zu langweilig, alleine auf dem Zimmer. Oder geht die Stationsschwester ran? Oder die Zimmernachbarin? Welche Teile sind noch verbrannt am Körper? Rücken gebrochen? An welcher Stelle? Ist sie geschient? Hals? Becken? Tunken die Mama ganz in Gips, um den Rücken einmal zu umschließen? Läuft die Vagina dann auch voll mit flüssigem Gips? Ich ruf da doch nicht an. Ich kann das nicht. Sie lebt. Das ist wunderbar. Aber ich muss doch nicht da anrufen und mir anhören, was alles an ihr verbrannt ist, schwer.
Ich erkläre meinen Verwandten, dass ich jetzt ihre Krankenhausnummer habe. Aber auch, dass ich da nicht anrufen werde. Ich will nicht. Ich will nicht, dass uns das passiert. Gerade dachte ich noch, das Beste, was passieren kann, ist, wenn meine Mutter überlebt hat, jetzt bin ich schon wieder nur am Meckern. Ich wollte doch, dass sie unverletzt überlebt. Daran hatte ich bis jetzt noch nicht gedacht, dass man auch verletzt sein könnte, wenn man so was überlebt. Ziemlich wahrscheinlich sogar. Und wie hässlich diese Verletzungen sich anhören! Schwer verbrannt und Rücken gebrochen. Das Telefon. Mein Vater.
»Schlechte Nachrichten, Elizabeth.«
Ich kann ihn kaum verstehen. Es rauscht ganz laut im Hintergrund. Wie auf einer Rennstrecke.
»Leider schlechte Nachrichten. In den umliegenden Krankenhäusern sind die Kinder nicht aufgetaucht. Sie haben jetzt alle Personalien aller Überlebenden. Da sind deine Brüder nicht dabei.«
Deine Brüder? Dein Sohn auch, Papa. Nicht nur ich. Du auch.
»Sie haben die Unfallstelle geräumt. Die Autobahn ist wieder befahrbar. Ich bin mit Lukas’ Vater hier. Der ganze Boden ist verbrannt.«
Was? An der Unfallstelle? Sind die bescheuert? Die sollen da weggehen. Wie kann man da nur hingehen? Was? Die haben an der Autobahn gehalten und laufen da rum? Ach so, das ist das laute Geräusch. Die vorbeifahrenden Autos. Klingt wie eine Rennstrecke. Ist es ja auch. Eine Autobahn. Die sollen bloß aufpassen, dass ihnen nichts passiert.
»Passt auf, ja? Pass auf dich auf, Papa.«
»Ja, wir passen auf. Mach dir keine Sorgen, Kind. Wir wollten nur die Stelle sehen. Wir sind zusammen hierhin gefahren.«
Ich weiß genau, dass beide Männer immer zu schnell fahren in ihren schnellen Autos. Ich will das nicht mehr. Ich muss ihnen das verbieten. In unserer Familie wird ab jetzt nicht mehr schnell gefahren.
Ja, also, sie sind nicht unter den Überlebenden.
»Dann sind die Leichen wo?«
Ich kann nicht glauben, was ich da grad frage. Der lässt sich aber auch alles aus der Nase ziehen.
»Es gibt auch keine Leichen, das ist ja das Komische. Das Auto ist so explodiert und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, dass wir der Polizei beweisen mussten, dass da überhaupt die Kinder auf der Rückbank gesessen haben. Kein Knochen, kein Zahn, nichts gefunden. Die haben uns das erst nicht geglaubt. Die haben drauf bestanden, dass nur zwei Leute im Auto saßen und die überlebt haben. Deine Mutter und Rhea.«
Da ist er wieder, mein Vater, mein wissenschaftlicher, gefühlloser Vater. Knochen, Zähne. Toll! Da kann man sich doch was drunter vorstellen. Endlich spricht er mal Klartext.
»Also, sind die tot?«
»Ja, die sind tot, es gibt aber keine Leichen.«
Das ist ja sensationell, ich möchte schnell das Telefonat mit meinem Vater beenden, damit ich das meinen Verwandten hier erzählen kann. Ich nenne jetzt einfach mal meinen Freund meinen Verwandten. Weil wir ja fast verheiratet gewesen wären. Das zählt schon als verheiratet. Wenn man Ja gesagt hätte. Hätte, hätte, Fahrradkette. Auch wenn man mittendrin steckt, in der Katastrophe, hat man trotzdem einen Sinn für die eigene Sensationslust und die der anderen.
Wir legen auf. Im Detail erzähle ich alles weiter, was mein Vater mir gerade gesagt hat. Da geht das schon los, was mich auch ein Leben lang danach begleiten soll: Ich rede über den Unfall, all die blutrünstigen Details, kann mir aber selber kaum glauben, dass das wahr ist, was ich da erzähle. Es erzählt aus mir raus. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich alle anlüge mit dieser Geschichte. Wie ich als kleines Kind mit Komplexen früher meinen Vater reicher gelogen habe, als er war, damit ich mehr wert war in den Augen der anderen Kinder. Ich bin eine Hochstaplerin. Eine Wichtigtuerin. Will mich nur mit einer erfundenen Geschichte in den Mittelpunkt oder Vordergrund oder was auch immer drängen.
Meine Verwandten lassen mich ein paar Stunden in dem Glauben, dass ich nicht meine Mutter anrufen werde. Dann erklären sie mir, dass das keine Option ist. Sie zwingen mich, da anzurufen. Sie sagen, ich muss da durch. Ich muss mit ihr sprechen, über ihre Verbrennungen und ihren gebrochenen Rücken, sie wartet vielleicht schon die ganze Zeit auf einen Anruf von mir. Man kann sich da nicht drücken, erklären sie. Wo soll das hinführen? Wir werden sie doch bestimmt morgen besuchen wollen. Was? Morgen besuchen? O Gott, ja, das macht man wohl so. Wir sind aber in England, sie in Belgien. Wir müssen sie doch nicht etwa besuchen gehen? Da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Das Denken klappt sowieso seit der Unfallnachricht nicht gut. Mein Hirn ist wie krank.Wie Alzheimer. Schockalzheimer.
Um diese Gedanken abzuschütteln, hilft mir nur eine bestimmte Einschlaftechnik. Ich muss sie wegatmen, um wieder zu entspannen, um überhaupt einschlafen zu können. Bevor ich mit der Übung anfange, stecke ich mir das Wunderbarste der Welt in die Ohren: Oropax. Ist lateinisch für »Frieden der Ohren«. Glaube ich jedenfalls. Ich war sehr schlecht in Latein! Georg hat sich zu mir gelegt inzwischen. Er schnarcht, er ist eben voll mit Testosteron, daran liegt das, ich bin fest davon überzeugt. Und alt. Mit den Oropax haue ich mich vollkommen aus der hiesigen Welt raus. Ich dröhne mich vollkommen zu, mit dem Rauschen meines eigenen Bluts im Ohr, ich sperre mich in mir selber ein. Mein Einschlaftrick geht so: Ich verkrampfe meine Füße, versuche jeden Muskel darin anzuspannen, atme erst aus, dann ein, das dreimal und ganz tief. Danach lasse ich sie plötzlich los, alle Fußmuskeln. Danach verfahre ich so mit den Beinmuskeln, Pomuskeln, Rücken, Bauch, Hände, Arme. Eigentlich müsste es noch weitergehen bis Gesicht und Zunge, aber das schaffe ich nie, da ich bei den Armen spätestens eingeschlafen bin. Ich lege noch schnell die Hände über der Brust gefaltet zusammen. Wie zum Gebet. Ich übe in dieser Haltung das Totsein. Ich freue mich schon auf meinen eigenen Tod. Endlich Ruhe. Im Kopf. Im Körper. Obwohl ich eigentlich nichts tue, was anstrengend ist. Nur sein. Das reicht schon, um mich fertigzumachen. Sobald die Hände für meinen Leichenschlaf über der Brust gefaltet sind, bin ich weg.