VON MIR!!!
JD, wenn Du mich liebst, löschst Du alle anderen Mails, die ich Dir seit Deiner Abreise geschickt habe. Wir haben alle Fehler gemacht, während Du weg warst, aber ich kann alles erklären. Ich liebe Dich von ganzem Herzen.
»Natürlich habe ich die anderen E-Mails auch gelesen, als ich wieder zuhause war«, sagt JD, der inzwischen über den ganzen Vorfall lachen kann. »Sagen wir so: Wir sind seitdem nicht mehr zusammen.« Auf meine Frage, was er aus der dramatischen Geschichte gelernt hat, fallen ihm vor allem zwei Sachen ein: »Man muss sich genau überlegen, ob man mit einer so leidenschaftlichen Person zusammen sein will, wie meine damalige Freundin es war. Wenn sie dich lieben, ist alles gut. Aber wehe sie fangen an, dich zu hassen.« Und der zweite Punkt? »Ich gehe nie wieder ohne mein Handy auf Reisen.«
JDs Ex-Freundin ist sicherlich ein extremes Beispiel dafür, wie die automatische Erwartung, allzeit erreichbar zu sein, über kurz oder lang auch zu einer Manie werden kann. Oder zumindest zu einer ungerechtfertigten Ern;artung, der andere sei geradezu moralisch dazu verpflichtet, sich zu melden. Wer ein Handy hat, von dem wird einfach erwartet, es immer dabei zu haben. Wer eine Mailbox hat, soll sie bitteschön auch regelmäßig abhören. Wer über eine E-MailAdresse verfügt, soll Nachrichten an diese bitte innerhalb von 24 Stunden beantworten. Wer ein Blackberry hat, gefälligst noch schneller. Oft kommt es nicht nur drauf an, über welche Kommunikationsmittel wir verfügen, sondern auch, wer davon weiß. Wer an einem Samstag einen Brief verschickt, konnte bis vor einiger Zeit keine schriftliche Antwort vor Dienstagmittag reklamieren. Bei einer E-Mail hat der Empfänger im Laufe des Montags zu reagieren. Und wenn der Absender weiß, dass er es mit jemandem mit mobilem Mailzugriff zu tun hat (wie eben dem Blackberry, einem iPhone oder einem anderen Smartphone), dann wird er noch im Lauf des Wochenendes eine Antwort erwarten. Und wenn es sich bei diesem Absender um einen cholerischen Chef handelt, der auf Rückmeldung eines Untergebenen wartet, ist davon auszugehen, dass er diese auch bekommen wird.
Andererseits: Je länger ich über das Thema nachdenke, desto unsicherer werde ich, ob es wirklich immer nur die Erwartungen von außen sind, die uns so unter Druck setzen. Ob der Chef wirklich in jedem Fall, in dem er am Wochenende eine E-Mail schickt, von einer sofortigen Antwort ausgeht?
Vielleicht sitzt er auch nur gerade gelangweilt in einem Flughafenbus und will die Zeit nutzen, indem er schon mal seine Mails bearbeitet -ohne im Traum daran zu denken, vor Montag eine Antwort zu erhalten? Vielleicht weiß er, dass er zwar so unverschämt gut bezahlt wird, dass man von ihm auch noch am Wochenende Verfügbarkeit erwarten kann, von seinen Untergebenen mit einem Bruchteil des Gehalts jedoch nicht? Vielleicht wendet er auch einfach nur den Trick meines Freundes David an, der bisweilen berufliche Mails zu ganz normalen Arbeitszeiten schreibt, aber dann frühmorgens oder spätnachts verschickt, um bei Vorgesetzten oder Klienten den Eindruck des bienenfleißigen Dauerschaffers zu erwecken?
Sicherlich gibt es auch Chefs, die gefangen sind in ihrem Zwang, alles kontrollieren und mikro-managen zu wollen. Aber ich habe die Vermutung, dass wir die Peitsche des bösen Sklaventreibers weit häufiger selbst in der Hand halten, um uns damit zu geißeln.
Tag 3 Von hier nach Strich und Faden
Auch wenn ich durch meinen selbstgewählten internetfreien Monat nicht mehr so gut erreichbar bin
-demFinanzamt ist das egal. Es sitzt mir trotzdem im Nacken und verlangt nach der Steuererklärung vom letzten Jahr. Dafür muss ich unter anderem herausfinden, wie viele Autokilometer zwischen Berlin und Düsseldorf liegen. Könnte man auch ungefähr aus dem Kopf wissen, klar. Könnte man aber auch einfach im Internet nachsehen -der Routenplaner weiß das auf den Kilometer genau. Da das aber tabu ist, schreite ich meine Bücherregale ab und entdecke nach einer Weile die Rettung: meinen alten Diercke-Weltatlas aus Schulzeiten. Ich blättere durch Karten mit Titeln wie »Mittlere jährliche Vereisung in der Ostsee« oder »Bodennutzung am Kilimandscharo«. Ob so ein Atlas heute wohl noch im Unterricht benutzt wird? 'Oder bringen die Lehrer ihren Schülern heute als erstes bei, wie man Google Earth benutzt? Mir kommt ein alter Trick in den Sinn, den mir mein Vater beigebracht hat, als ich mit Zwölf meine erste Radtour planen wollte: Mit einem Faden lege ich die krumme Fahrstrecke auf der Karte möglichst präzise nach, anschließend lese ich an dem Maßstab unten auf der Seite mithilfe der Fadenlänge die Entfernung ab. Nicht ganz so präzise wie mit dem OnlineRoutenplaner -aber wann hat eine Steuererklärung eigentlich das letzte Mal so viel Spaß gemacht?
Tag 4 Schreib mal wieder
Eigentlich hätte ich die Post als Sponsor für meinen Selbstversuch gewinnen sollen. Denn die profitiert schließlich davon, dass ich so viele Briefe und Postkarten verschicke wie schon seit mindestens zehn Jahren nicht mehr. Ob beruflich (ich schreibe Themenvorschläge an Redaktionen, mit denen ich zusammenarbeite) oder privat (Jessica bekommt täglich eine Postkarte) -vieles, was ich sonst per Mail oder SMS klären würde, stopfe ich nun in den gelben Briefkasten an der Straßenecke. Das Kuriose: Selbst die Briefmarken für meine Postsendungen habe ich zuletzt nur noch im Internet besorgt. Dort bietet die Post seit einiger Zeit einen praktischen Service an, mit dem man seine Briefmarken in beliebigem Wert und beliebiger Menge selbst gestalten kann (wahlweise mit Bergpanorama, Tennisschläger oder meinem Favoriten: einem müden Koalabären), um sie anschließend auszudrucken. Verständnisvoll bis neidisch
Stattdessen muss ich mich nun in die ständig überfüllte Postfiliale aufmachen, in der inzwischen nicht mehr nur Päckchen aufgegeben und Briefmarken verkauft werden, sondern auch Handys, Verträge von umweltfreundlichen Stromanbietern und Postsparbücher. Aber warum sollte sich das Postamt auch auf den Briefmarkenverkauf beschränken, wenn immer mehr Menschen so wie ich diese im Internet erstehen -oder sowieso gleich E-Mails schreiben?
Zufällig muss ich für ein Wirtschaftsrnagazin, für das ich hin und wieder arbeite, einen Artikel über die Deutsche Post schreiben -genauer gesagt über die Logistiksparte DHL. Als ich wieder zuhause bin, rufe ich bei der Pressestelle an, um einen Gesprächstermin mit dem Manager zu vereinbaren, der für das Innovationsmanagement des Konzerns verantwortlich ist. Nachdem die wichtigsten Details geklärt sind, kommt das Unvermeidliche: »Geben Sie mir doch mal Ihre Mailadresse, dann melde ich mich, sobald ich den genauen Termin weiß, und schicke Ihnen noch ein paar Unterlagen zur Vorbereitung.« Es fühlt sich an wie ein unangenehmes Geständnis, als ich sage, dass ich per Mail und Handy nicht erreichbar bin. Schließlich betrifft dieser Verzicht ja nicht nur mich, sondern verlangt auch jedem etwas ab, der mit mir kommunizieren möchte -oder in diesem Falle muss. Ich stelle mich auf eine Mischung aus genervtem Unverständnis und einem sarkastischen »Na, Sie denken wohl auch, dass ich meine Zeit gestohlen habe« ein. Doch überraschenderweise ernte ich nicht nur Verständnis, sondern sogar freundliche Neugier und Interesse: »Das finde ich ja spannend. Erzählen Sie doch mall«, fordert mich die Pressesprecherin auf. Das Eis ist schneller gebrochen, als es sonst bei derartigen Berufskontakten der Fall ist.
Die Reaktion ist typisch für die meisten Leute, mit denen ich in meinen internetlosen Wochen beruflich zu tun habe: Niemand findet den Selbstversuch sinnlos oder unverständlich oder beschwert sich, meinetwegen einen Briefumschlag losschicken zu müssen. Alle sind interessiert an meinen Erlebnissen. Die meisten geben sogar offen zu, ein wenig neidisch zu sein: »Ein Monat ohne E-Mails? Das wäre der Himmel auf Erden«, schwärmt eine Kollegin. »Ich habe heute den ganzen Vormittag nichts anderes gemacht, als Mails zu beantworten. Und als ich aus der Mittagspause kam, war schon wieder ein ganzer Berg da.«
Professor Klaus Moser vorn Lehrstuhl für Wirtschafts-und Sozialpsychologie der Universität Nürnberg hat sich eingehend mit unserer Überforderung durch die neuen Informationstechnologien am Arbeitsplatz beschäftigt. Früher, so der Forscher, sei der klassische Büroarbeiter durch räumliche und zeitliche Filter von vielen Informationen abgeschirmt geblieben: Die Post kam morgens und wurde nachmittags wieder abgeholt, Fern-oder Überseegespräche waren teuer und in den meisten Berufen nur selten nötig. In einer Studie von Moser und seinen Kollegen fanden Befragte vor allem die Masse an eingehenden E-Mails belastend. Zu unübersichtlich sei der endlose Strom immer wieder neuer Informationen, der sich gerade nach Abwesenheit durch Urlaub oder Krankheit kaum noch bewältigen ließe. Oft sei die Relevanz der einzelnen Nachricht nicht erkennbar, Ziele würden immer unklarer formuliert, und die Wichtigkeit beziehungsweise Dringlichkeit sei oft nur schlecht einschätzbar. Falls eine schnelle Antwort nötig sei, bliebe keine Zeit zum Abwägen, so ein weiterer häufiger Kritikpunkt. Zu den größten Stressoren gehörte laut der Befragung, mehrfach von unterschiedlichen Stellen dieselbe Information zu bekommen oder auch, dass Informationen häufig voreilig und daher unvollständig übermittelt würden und später permanent wieder geändert werden müssten. Aber es gibt nicht nur besorgte Stimmen, die fürchten, dass das Internet unsere Arbeitswelt stressiger, fehleranfälliger und immer unmenschlicher macht: Der amerikanische Internet-Forscher und Management-Professor Don Tapscott weist in seinen Büchern »Wikinomics« und »Grown Up Digital« un-ter anderem darauf hin, dass durch OnIine-Werkzeuge wie Wikis5 oder Diskussionsforen in vielen Fällen die Zusammenarbeit zwischen einzelnen Angestellten und ganzen Abteilungen verbessert und zu große Hierarchien abgebaut werden können. Ob eine kleine Firma oder eine riesige Organisation wie beispielsweise die amerikanische CIA -für alle, so Tapscott, ist das gesammelte Wissen der Mitarbeiter das wichtigste Kapital geworden. Aber dort, wo nicht mehr Fabrikschornsteine, sondern Köpfe rauchen, muss auch ein Weg gefunden werden, dieses Wissen zu sammeln, zu teilen und aufzubewahren, wenn einzelne Mitarbeiter die Organisation verlassen. Nichts eignet sich dazubesser als Internetplattformen -natürlich je nach Bedarf gegen unbefugte Mitleser von außen abgesichert. Als ich am frühen Abend wieder einmal zum Briefkasten gehe, um die Postkarte an Jessica und einen Brief an eine Redaktion einzuwerfen, kommt mir ein Mann entgegen, der laut mit sich selbst spricht. Früher ging man in einem solchen Fall von einem Verrückten aus und hielt sicherheitshalber ein wenig Abstand, um nicht mit wirrem Blick und noch wirrerem Haar als Außerirdischer beschimpft zu werden, der dem Schreihals seine Gedanken rauben will. Irgendwann kamen jedoch Freisprecheinrichtungen für Handys in Mode, und wenn einem jemand die Straße entgegenkam, der lautstark mit sich selbst zu sprechen schien, konnte man fast immer einen kleinen Ohrstöpsel mit einem Kabel entdecken. Statt »Uh, der Arme ist auf einem LSD-Trip hängengeblieben«, dachte man also: »Uh, der Arme muss hier auf der Straße öffentlichkeitswirksam seine Sekretärin zur Schnecke machen«. Der Mann, der mir jedoch heute entgegenkommt, hat kein Handy in der Hand, und in seinem Ohr steckt kein Knopf einer Freisprecheinrichtung. Trotzdem zetert er wild vor sich hin. »Kann man doch nicht machen so was ... Hosenanzug, dreimal hab ichs gesagt ... Ah, ja in der Mongolei, natürlichnatürlich!
Der feine Herr .... Halt! Stop! Alles zurück!« Es gibt sie also noch, die guten alten Verrückten. Ich hoffe, ich werde durch meinen kalten Entzug nicht auch einer von ihnen.
Tag 5 Auf beiden Ohren blind
Jemand wie ich, der regelmäßig das Internet nutzt und sich dann plötzlich aus der Onlinewelt ausklinkt, fühlt sich so, als habe er sich sehr gut abdichtende Ohrstöpsel eingesetzt. Das kenne ich schon von früheren kurzen Offline-Phasenaus dem Vrlaub oder auch von kurzen geschäftlichen Reisen zu Zeiten, als es noch keine iPhones oder andere mobile Internetgeräte gab. Wie mit Ohrstöpseln genießt man einerseits die himmlische Ruhe, die einen umfängt. Andererseits weiß man nie, was man gerade alles Gefahr läuft zu überhören. Im akustischen Alltag sind es der Straßenlärm, das Geplapper der Menschen und der Presslufthammer vor dem Fenster, aber auch die warnende Hupe, ein entferntes Grummeln, das ein Gewitter ankündigt, oder das Telefon eben. In der Onlinewelt findet dieser 5 Als ein Wiki (hawaiianisch tür »schnell«) bezeichnet man ein System von Webseiten, deren Inhalte vom Benutzer nicht nur gelesen, sondern auch online direkt verändert werden können. Das wohl bekannteste Beispiel ist die nichtkommerzielle OnlineEnzyklopädie Wikipedia, die inzwischen in 260 Sprachen existiert und zu der inzwischen über eine Million angemeldeter und unzählige nicht angemeldete Nutzer beigetragen haben.
Lärm seine Entsprechung in den »aufblitzenden« Prominentenbusen bei bild.de, dem Geplapper der Spam-Mails, die einem drei Viertel des gigantischen Erbes eines afrikanischen Diktators versprechen, der angeblich leider keine Nachkommen hinterlassen hat. Oder die im Zehn-Minuten-Takt eingehenden Statusmeldungen von Facebook-Freunden:
• »Fabian hat gerade den Test absolviert: >Welches Pokemon bist du?< -Ergebnis: >Pikachu<. Willst du auch am Test teilnehmen?«
• »Manuela hat gerade den Test absolviert: >Wie lautet dein Gangster-Name?< -Ergebnis: >Eazy Tuff Gun<. Erfahre, wie dein Gangster-Name lautet!«
• »Harald hat gerade den Test absolviert: >Wenn du ein Regensburger Stadtteil wärst -welcher wärst du dann?< Ergebnis: >Auviertel Mache auch du den Test!«
All dieser Lärm verschwindet, wenn man die Ohrstöpsel einsetzt -also die InternetVerbindung kappt. Wenn der Gehörsinn schwindet, fühlt man sich aber auch erst mal eigenartig orientierungs-und hilflos. Würde man einen Tag mit Ohrstöpseln durch die Stadt laufen ~ wovon ich aus Sicherheitsgründen abrate -wäre man ziemlich aufgeschmissen. Man sieht beispielsweise herannahende Autos oft erst viel später, als man sie hört. Wer hören kann, wie die V-Bahn einfährt, wird etwas schneller gehen, um sie zu erwischen. Fahrradklingeln, Kirchturmglocke, Hupe -mit Ohrstöpseln bleiben viele Fragen offen: Hat da jemand etwas zu mir gesagt? Warum gucken mich alle so an? Warum kommt die V-Bahn nicht, gab es etwa eine Durchsage?
Eines Sinnes beraubt
Wer sich aus dem ihm vertraut gewordenen Internet ausklinkt, fühlt sich eines Sinnes beraubt. Es fehlt etwas. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, etwas zu verpassen, die Welt nicht mehr in ihrer Ganzheit zu begreifen.
Es ist gar nicht so einfach, einzelne Dinge zu benennen, die mir besonders fehlen. Einzeln für sich genommen könnte ich sowohl auf die Weltnachrichten auf den einschlägigen News-Seiten verzichten als auch auf die Neuigkeiten aus meinem Freundeskreis, die mir über Facebook zukommen. Klar, Twitter habe ich bisher als nicht so wichtig eingestuft auch ohne die Blogs käme ich aus, zumindest eine Zeitlang. Und SMS-Tippen ist ja eh so eine mühsame Angelegenheit. Wenn einem aber all diese Kommunikationskanäle auf einmal zugedreht werden, so wie mir seit ein paar Tagen, macht sich plötzlich tatsächlich Einsamkeit breit.
Natürlich könnte ich pausenlos jemanden anrufen, ständig jemanden treffen. Aber erstens haben nicht alle Leute tagsüber unbegrenzt Zeit für Kaffeekränzchen und Plaudereien, und zweitens sind Jammeranrufe mit dem Tenor »Mir ist soooo langweilig« beinahe noch unbeliebter als die der freundli-chen Herren, die einem einen neuen Handytarif aufschwatzen wollen. Und außerdem: Wollte ich mich nicht genau dieser Herausforderung stellen und schauen, was passiert, wenn online nichts passiert? Ich genieße die Mittagessensverabredungen mit Freunden, bei denen ich mich wieder sozial eingebunden fühle, angekoppelt an das Leben, das Palaver. Hast du schon gehört? Was sagt man dazu? Ist das nicht sensationell? Danach kehre ich wieder zurück in meine Wohnung, die mir mit ihrer einzelnen Telefonleitung beinahe wie eine Isolationszelle vorkommt. Na gut, eine renovierte AltbauIsolationszelle mit Parkett, Balkon, Kaffeemaschine und anderen Annehmlichkeiten. Trotzdem: Mir fehlt Stimulation von außen, durch Neuigkeiten, Nachrichten, Informationen, die ich vorher noch nicht hatte. Ich schlafe schlecht -und kann mich morgens trotzdem nur schwer motivieren. Sonst war es zumindest zu einem Teil immer die Neugier, die mich aus dem Bett trieb: Was gibt's Neues im Internet? Die Bücher über Hirnforschung und soziale Netzwerke, die sich auf meinem Tisch stapeln, sind zwar interessant, aber sie kommen mir im Vergleich zu den Texten im Netz6
statisch vor, unflexibel und starr. Wenn ich in einem Buch nicht finde, was ich suche oder mir von seinem Einband versprochen habe, kann ich es natürlich trotzdem weiterlesen, wenn es mir interessant erscheint -aber meine Frage wird es nicht beantworten, wenn es nun mal das falsche Buch ist. Das Internet bietet die große Chance, dass ein Text, der mit dem gewünschten Thema zu tun hat, aber nicht zu 100 Prozent das trifft, was man sucht, auf einen anderen Text verlinkt, der die Frage schließlich beantwortet. Oder man kann eine verfeinerte Suche mit präziseren (oder einfach anderen) Begriffen starten und kommt auf diese Weise dem Ergebnis näher. Man kann Experten befragen oder die große Masse der Laien, die in ihrer Gesamtheit gesehen oft noch schlauer sind als einzelne Spezialisten. Der kluge Mob
James Surowiecki, Autor des Buches »Die Weisheit der Vielen« undWirtschaftskolumnist des Magazins New Yorker, erzählte mir vor einiger Zeit in einem Interview, woher diese Intelligenz der Masse kommt. Warum zum Beispiel der Publikumsjoker bei der Quizsendung »Wer wird Millionär«, bei dem 100 Studiozuschauer -also komplette Laien -befragt werden, zuverlässiger ist als der Anruf joker, bei dem man ja jemanden fragt, der sich angeblich mit einem Thema auskennt. »Meine These mag viele überraschen, aber die Beweise und Studien sind ziemlich überwältigend. Man darf nicht denken, dass jede Person auf der Straße so klug ist wie ein Experte. Die Weisheit der Vielen kommt nur zustande, wenn man viele Leute unabhängig befragt. Jeder weiß nur ein kleines bisschen, aber die Fehler, die sie machen, heben sich gegenseitig auf -und das, was übrig bleibt, ist die pure Information.« Das widerspricht natürlich eklatant unserem vorherrschenden Menschenbild: Denn eigent6 Wer im Übrigen immer noch glaubt, im Internet gäbe es nur »Seichtgebiete«, dem seien die wissenschaftliche Rechercheseite Google Scholar empfohlen oder Plattformen wie edge.org oder salon.com.
lich glaubt doch jeder von uns, dass Menschen, die in Herden auftreten, dumm sind. Wir selbst natürlich niemals, aber meine Güte, wie blöd die anderen nur sind! Im Extremfall ist die Masse für uns ein tumber und gefährlicher Mob -und selbst wenn wir uns ein bisschen zusammenreißen, können wir sie uns allenfalls als eine verwässerte, auf Durchschnitt ausgerichtete Gruppe vorstellen, der es nur um den kleinsten gemeinsamen Nenner geht. Einzelgenies haben Ideen, Gruppen machen Kompromisse. Surowiecki hat in seinem Buch zahlreiche Beweise zusammengetragen, die zeigen, dass es anders ist:
»Das vielleicht einfachste Beispiel ist das mit den Bonbons: Lässt man eine größere Gruppe von Menschen schätzen, wie viele Bonbons in einem Glas sind, ist der Durchschnitt ihrer Einzelschätzungen meist wahnsinnig nah an der wahren Anzahl. Viel näher als die beste Einzelschätzung.«
Auch andere haben sich über die sogenannte »Schwarmintelligenz« des Internets Gedanken gemacht, darunter der amerikanische Online-Pionier Howard Rheingold, der in seinem Buch »Smart Mobs«
sogar noch den Schritt weitergeht: Was passiert, fragt er, wenn durch die neuen technischen Möglichkeiten der Kooperation und schnellen, günstigen Vernetzung die Macht wieder stärker in die Hände der Einzelnen, der Massen zurückfällt? Die Beispiele in seinem Buch und seinem Blog reichen dabei von per SMS koordinierten Protesten auf den Philippinen bis zum Widerstand im Iran, der sich über die Internetplattform Twitter formierte und durch die Videoseite YouTube eine weltweite Öffentlichkeit erreichte -trotz Medienzensur durch die Machthaber.
Um all diesen großen Denkern und Theoretikern einmal die Banalität des Alltags zur Seite zu stellen: Das Internet bringt nicht nur Demokratie zu den Unterdrückten und Macht für den kleinen Mann von der Straße -sondern es hilft auch, die ganzen kleinen Tücken des Alltags zu bewältigen. Egal, auf welches Problem man in seinem Leben stößt, wie speziell und wie abseitig es einem zu sein scheint: Man kann nahezu sicher sein, im Internet jemanden zu finden, der sich auch schon damit herumgeschlagen hat. Und in den meisten Fällen gibt es die Lösung obendrein dazu, man muss nur ein wenig nach unten scrollen. Und oft ist die dann auch noch gratis! Als ich Jessica beispielsweise zu ihrem neuen Job nach Hamburg brachte, fanden wir in dem Miniapartment, das sie für die Zeit angemietet hatte, nur eine uralte Gasheizung vor, die den Sommer über außer Betrieb gewesen sein musste. Drei verblichene Plastikknöpfe starrten uns an, ohne Beschriftung -dafür mit der impliziten Drohung, uns in die Luft zu sprengen, falls wir etwas falsch machen würden. Auch der Vermieter wusste keinen Rat, der Hausmeister war nicht zu erreichen. Eine Googlesuche nach »alte Gasheizung in Betrieb nehmen« brachte schließlich binnen zehn Sekunden die Lösung: Jemand hatte in dem Forum namens www.wer-weiss-was.de dieselbe Frage gestellt, die uns plagte -und mehrere hilfsbereite Menschen, darunter ein Heizungsinstallateur hatten geantwortet. An einem Sonntagabend im Winter war uns seine Antwort mehr wert als die eines Telefonjokers bei »Wer wird Millionär?«. Eine kulturpessimistische Version diese Geschichte zu erzählen, gibt es natürlich auch. Sie geht in freier Anlehnung an diverse Artikel und Reden zum Thema Internet der letzten Jahre ungefähr so:
»Wer bei Google den Begriff Gasheizung eintippt, bekommt sieben Fantastilliarden Ergebnisse, die durchzulesen 37 Menschenleben dauern würde und mit denen man unfassbar oft die amerikanische Nationalbibliothek füllen könnte. Wer um alles in der Welt hat uns Menschen bloß eingeredet, wir bräuchten öffentliche Foren, in denen jeder dahergelaufene Kretin, der gerade nichts Besseres zu tun hat, sich über alles und nichts austauschen kann von Pokernonfiguren über Harry-Potter-Spekulationen bis zur Funktionsweise alter Gasheizungen? Das ist der Informationsoverkill, und wir alle werden daran zugrundegehen, darüber verdummen und verrohen.«
Von Kanus und Kajaks
Der Technik-Historiker und Internet-Philosoph George Dyson hat einen fabelhaften Vergleich dafür gefunden, wie sich die Entstehung wertvollen Wissens durch das Internet verändert hat: in dem Bau von Kajaks und Einbaumkanus zwei grundverschiedenen Dingen. Kajaks wurden früher im Nordpazifik vor allem von dem Volk der Aleuten konstruiert, die baumlose Inseln bewohnten und mühsam Treibholz und andere Kleinteile sammelten, um daraus Gerüst und Schiffsrumpf zusammenzubauen. Andere Völker, wie die Tlingit, lebten im Gegensatz dazu inmitten von Regenwald und suchten sich für ihre Boote die größten und kräftigsten Bäume aus. Diese höhlten sie so weit wie möglich aus
-und nutzten die entstehenden Hohlkörper als Einbaumkanus. »Wir waren lange Zeit Kajakkonstrukteure«, schreibt Dyson, »die alle verfügbaren Informationsfragmente aufsammelten, um ein Gerüst zu bauen, das uns über Wasser hielt. Heute sind wir Kanubauer geworden, die so lange unnötige Information entfernen, bis die Form des Wissens, das darin verborgen liegt, zutage tritt.« Ein eindrucksvoller Vergleich für den Paradigmenwechsel, der gerade vonstatten geht, und in dem es nicht mehr darauf ankommt, ob man an Informationen herankommt. Sondern, wie man aus der endlosen Fülle an Information das herausfiltert, was richtig und wichtig ist -und alles andere schnell und unkompliziert verwirft. Seinen Erkenntnissen fügt Dyson hinzu: »Ich war ein hartgesottener Kajakkonstrukteur, darauf abgerichtet, jeden verfügbaren Stock aufzusammeln. Es fällt mir schwer, mir die neuen Fertigkeiten anzueignen. Aber die, die das nicht tun, sind dazu verdammt, auf Stämmen herumzupaddeln -und nicht in Kanus.«
Und ich? Ich fühle mich zumindest gegen Ende der ersten Woche meines Selbstversuchs wie ein Kanubauer, dem man den gesamten Regenwald abgeholzt und, damit seine Bäume weggenommen hat. Und der nun wieder am Strand herumlaufen und Treibholz aufsammeln muss -von dem er nicht mehr so genau weiß, wie man daraus noch mal ein Boot baut.
Tag 6 Liebe in den Zeiten der Chatrooms
Jessica kommt fürs Wochenende nach Hause und erlöst mich aus meiner überraschenden Vereinsamung. Als ich zum Bahnhof fahre, um sie abzuholen, erinnere ich mich, wie wichtig SMS-Nachrichten in der Anfangsphase unserer Beziehung waren. Vor allem in dieser heiklen und wundervoll nervenaufreibenden Phase, in der man noch nicht weiß, ob man das, was da gerade passiert, überhaupt schon Beziehung nennen kann. Wir lernten uns vor etwa drei Jahren nahezu altmodisch auf einem Segelschiff vor der Küste Schottlands kennen. Meine journalistische Mission dort endete fast eine Woche früher als ihre -ich reiste ab, sie blieb an Bord. Nicht nur, dass es durch SMS eine Möglichkeit gab, überhaupt mit der Frau zu kommunizieren, die mir nicht mehr aus dem Kopf ging, aber auf einem Segelboot in weiter Feme saß. Durch die Unverbindlichkeit dieser Kurznachrichten ergab sich auch eine gute Gelegenheit, die Tiefe unserer Romanze auszuloten, um mal im Seglerjargon zu bleiben. Lohnte es sich, den Kurs zu halten? War das Ganze etwas mit Zukunftspotential? Oder nur ein klassischer Ferienflirt? Ich erinnerte mich an eine junge Kanadierin, die ich mit 18 im Rahmen eines Schüleraustauschs kennengelernt hatte. Nach leidenschaftlichen zwei Wochen und einem anschließenden, etwas mühsamen Briefwechsel investierte ich kurzentschlossen meine kompletten Ersparnisse in ein Flugticket und machte ich mich auf den Weg in die kanadische Prärie. Wo wir nach anderthalb Tagen merkten, dass sich der Zauber einer Ferienliebe nicht immer in den dauerhaften Alltag übertragen lässt.
Danach war ich ein gebranntes Kind. Was, wenn nur ich mich Hals über Kopf verliebt hatte? Wenn Jessica eher froh war, dass unserer Zweisamkeit durch das Ende der Reise quasi ein automatischer Verfallsstempel aufgedrückt worden war? Wenn ein Anruf nach ihrer Rückkehr eher ein betretenes Schweigen ausgelöst hätte -gefolgt von einem »Ach, äh ... hmja, ich bin in nächster Zeit eigentlich sehr beschäftigt ... «? Oder ein überraschender Besuch mit einer vor der Nase zugeschlagenen Tür enden würde? Per SMS ließ sich die Vertrautheit, die auf dem Meer zwischen uns geherrscht hatte, auch ein wenig in die Entfernung hinüberretten und ich konnte vorsichtig testen, ob ein Wiedersehen auch auf dem Festland erwünscht war, ohne mich komplett zum Affen zu machen.
»Du Idiot! Ich hab mich doch genau das gleiche gefragt«, sagt Jessica, als ich ihr auf dem Nachhauseweg von meinen anfänglichen Unsicherheiten erzähle.
»Aber das konnte ich doch nicht ahnen«, versuche ich zu erklären. »Ich war mir ja nicht mal sicher, ob du einen Freund hast!«
»Hey, Don Juan! Wenn ich einen gehabt hätte, hätte ich sicher nicht mit dir rumgeknutscht!« Entrüstet boxt sie mich in die Seite, bis ich ihr von dem reizenden Ehepaar aus Franken erzähle, das die Reise bei einem Preisausschreiben gewonnen und mich -aus welchen Gründen auch immer -auf die falsche Fährte gelockt hatte.
»Die hat aber an Freund«, hatte die Frau beim Frühstück mit rollendem R gewarnt. Verdammt!
Und ich hatte gedacht, meine Blicke am Vorabend seien extrem diskret und geheimagentenmäßig gewesen.
»Na und? Heißt doch nix.« Erwiderte daraufhin ihr Gatte mit einer Seelenruhe, wie sie nur ein Mann aufbringen kann, der schon alles gesehen und irgendwann aufgehört hat, sich darüber zu wundem. Auch der angebliche Freund ließ sich jedoch per SMS unauffällig als Einbildung des Ehepaars enttarnen. Als Jessica knapp eine Woche nach mir das Segelschiff verließ, war ein Wiedersehen längst ausgemachte Sache -und wir beide kurz darauf auch offiziell und offline ein Paar. Das Ende der verklärten Ferienliebe
Die Zeiten der Ferienliebe, nach der man sich ohne Chance auf ein Wiedersehen verzehrt, weil man nur einen Namen und eine von der ausgelaufenen Sonnenmilch verschmierte Telefonnummer auf einer Strandbarserviettemit nach Hause brachte, sind seit geraumer Zeit vorbei: Noch im Internetcaf6
des Flughafens bestätigt man die Freundschaftsanfrage auf Facebook -oder, falls diese nicht kommt, findet jeder Sehnende via Google selbst mit lückenhaften Angaben die gesuchte Person schnell wieder (Esmeralda, Cellistin aus Neapel, Studium in Rom und New Yörk, mag Sushi und Jonathan Franzen) -unter Umständen schneller, als dieser lieb ist. Denn auf jede erfolgreich in den Alltag gerettete Ferienliebe kommen natürlich mehrere, bei denen das -aus unterschiedlichsten Gründen -nicht klappt. Wo früher jedoch einfach zwangsweise Funkstille geherrscht hätte, setzt nun ein verkrampfter Austausch von Mails, SMS-oder Facebook-Nachrichten ein -die im Grunde nur ein und dieselbe Melodie immer und immer neu verschlüsselt wiederholen:
»Hey, ich fand's super""-wann sehen wir uns wieder?«
»Hey, ich fand dich auch total nett -aber eben nicht super/ habe jemand anderen getroffen/würde gerne jemand anderen treffen, dich mir aber warmhaIten, falls sonst nix des Weges kommt/außerdem habe ich gerade echt viel um die Ohren ... «
Jeder, der schon einmal von einem guten Freund oder einer guten Freundin um »Entschlüsselungshilfe« für solche Nachrichten gebeten wurde, weiß, wovon ich rede. Und ich gebe gerne zu, dass ich schon sowohl derjenige war, der ge
fragt wurde: »Was denkst du, wie sie das hier meint?« -als auch derjenige, der Haare raufend und mit Augenringen versehen diese Frage gestellt hat. Internet und Handy machen das Kennenlernen unverbindlicher und oft einfacher. Schwieriger wird es oft, sich wirklich fest zu binden. David Buss, Psy-chologieprofessor im texanischen Austin und Autor des Buches »Evolution des Begehrens -Geheimnisse der Partnerwahl«, weiß, dass es uns das Internet zwar leichter macht, einen passenden Partner aus einer vielgrößeren Anzahl an Kandidaten auszuwählen, die beispielsweise ein Dorfbewohner vor 20 Jahren hatte: Aber »Menschen has
sen es, sich niederzulassen, wenn sie theoretisch noch etwas Besseres finden könnten. Der Überfluss an Möglichkeiten kann zu einer lähmenden Unentschlossenheit führen«, sagt er. Denn »eine aufregende Begegnung, ein attraktiver Partner, ein noch passenderer Seelenverwandter könnte ja nur wenige Klicks entfernt sein. Das World Wide Web kann unsere Verpflichtung >dem einen< gegenüber abschwächen, da wir uns mit so einer großen Zahl vielversprechender Möglichkeiten konfrontiert sehen.«
Manchmal, da bin ich mir inzwischen sicher, muss man sich aber auch in der Ära von SMS-Flirts und Skype-Gesprächen einfach blindlings ins Flugzeug setzen. Selbst wenn es sich als Flop erweist. Allein weil solche Erfahrungen einen auch weiterbringen, wie es so schön heißt. Weil man etwas über sich selbst erfährt. Ich habe es damals schließlich überlebt und das zu jener Zeit, da einen ein Flug über den Atlantik noch zu einem bettelarmen Mann gemacht hat.
Ruf mich nie wieder an
Ein anderes Beispiel für das komplizierte Verhalten »paarungsreifer Großstädter« ohne HitechKommunikationsmittel: In der Filmkomödie »Swingers«, die in den neunziger Jahren kurz vor dem endgültigen Durchbruch der Mobiltelefone gedreht wurde, lernt der Protagonist Mike (gespielt von Jon Favreau) nach langer Einsamkeit eine vielversprechende Frau in einer Bar kennen. Nach einem angenehmen Gespräch gibt sie ihm ihre Telefonnummer -natürlich für den Festnetzanschluss und natürlich noch auf einen Zettel gekritzelt. Zuhause angekommen, ruft der liebesverwirrte Held sofort an, mit dem Ziel, den Anrufbeantworter zu erreichen -was ihm auch gelingt. Als er jedoch seine Nummer hinterlassen will -um nicht alleine die Verantwortung für die weitere Kommunikation zu tragen -, verzettelt er sich und wird vorn Aufnahmegerät abgewürgt, bevor er die letzte Ziffer seiner Nummer nennen kann. Demütig muss er ein weiteres mal anrufen, gibt sich locker -so locker, dass er es wieder nicht in der vorgegebenen Zeit schafft, freundliches Geplänkel sowie seine gesamte Nummer unterzubringen. Mit jedem weiteren Anruf, der ähnlich verläuft, verliert Mike weiter die Contenance. Bis schließlich sein eigenes Telefon klingelt. »Oh, bist du gerade erst reingekommen oder hast du die ganze Zeit mitgehört?«, fragt er gequält. »Ruf mich nie wieder an«, ist die kurze, aber eindeutige Antwort. Solche Horrorszenarien gehören in der Zeit der Mobiltelefone zum Glück der Vergangenheit an. Ebenso wie aus dem Schlaf geklingelte Eltern, unwirsche WG-Mitbewohner oder andere Hindernisse, die man nicht am Hörer haben will, wenn man das erste Mal bei seiner potentiellen nächsten großen Liebe anruft. Wirklich unkomplizierter ist die Kommunikation in Sachen Liebe jedoch auch durch die modernste Technik nicht geworden ~ nur die Spielregeln haben sich verändert. Wie man nicht nur am Beispiel von JD und seiner wutschnaubenden Freundin sehen kann. Sondern auch an im Affärenrausch verkehrt adressierten SMS, die auf den falschen Handys landen -oder an der Tatsache, dass angeblich immer mehr Scheidungen auf das Konto von Facebook gehen7.
Sieben Gesetze, die das Internet hervorgebracht hat
Godwins Gesetz:
Mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion nähert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Vergleich mit Hitler oder den Nazis dem Wert Eins an. Gabrie/s Gesetz:
Normale Person + Anonymität + Publikum =Vollidiot
Regel #34:
Wenn es existiert, gibt es auch eine pornographische Version davon.
Skitts Gesetz: Jeder Beitrag, der einen Fehler in einem anderen Beitrag korrigieren möchte, enthält selbst mindestens einen Fehler.
Parkers Gesetz:
Wer sich selbst als Sieger eines Internet-Streits ausruft, hat höchstwahrscheinlich dramatisch verloren. Poes Gesetz:
Ohne einen Zwinkersmiley oder andere deutliche Hinweise ist es unmöglich, religiösen Fundamentalismus so zu parodieren, dass sich niemand findet, der die Parodie fälschlicherweise für real hält. Robertsons Gesetz:
Je mehr Ausrufezeichen und Großschreibung ein Beitrag oder eine E-Mail enthält, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Lüge handelt.
7 In Großbritannien wird mittlerweile angeblich bei jeder fünften Scheidung Facebook als Grund angegeben (beziehungsweise das Fremdgehen und Flirten des Partners innerhalb dieses oder anderer sozialer Netzwerke) -es handelt sich dabei allerdings um keine wissenschaftliche Studie oder offizielle Erhebung, sondern um die Beobachtung mehrerer Scheidungsanwälte. kapitel 2
In dem ich viel zu oft bei der Telefonauskunft anrufe, konzentriert, aber unwichtig bin und merke, dass nicht nur mein Gehirn faul geworden, sondern auch auf Manufactum kein Verlass mehr ist.
Tag 8 Internet-Demenz
Ich wusste schon länger, dass ich faul bin. Durch den Selbstversuch fällt mir aber auch auf, wie faul mein Gehirn geworden ist -langsam, aber beständig. Es merkt sich nur noch Dinge, die absolut notwendig sind.' Und das ist im Zeitalter des Internets: fast gar nichts mehr. Ich weiß keine einzige Telefonnummer auswendig. Und selbst wenn ich in Zeiten, in denen es mir nicht verboten ist, mein Handy telefonbuch durchblättere, stoße ich immer wieder auf Namen, bei denen ich keine Ahnung habe, um wen es sich handelt. Und damit sind nicht Einträge wie »Maria Schnapsibar« gemeint, sondern ganz seriöse Menschen mit Vor-und Zunamen. Was mich beruhigt: Eine Schnellumfrage im Freundeskreis ergibt, dass es allen so geht und fast jeder schon einmal bei Google nach einem Namen aus seinem Telefonbuch gesucht hat, um herauszufinden, um wen es sich dabei noch mal handelt. Aber es gibt auch noch unzählige andere blinde Flecken in meinem Gedächtnis. Was bisher nichts ausgemacht hat, da ich sofort nachsehen konnte: Wie schreibt man »Idiosynkrasie«? Und was ist »Idiosynkrasie« eigentlich genau? Wie hieß noch mal der Film dieses kubanischen Regisseurs über den Ballett-Wettbewerb im Weltall? Und wie schreibt man »Idiosynkrasie« gleich wieder? Ich merke, dass ich mir nichts mehr merke. Alles ist nur noch einen Google-Tastendruck entfernt. Genau genommen zwei, die Funktion »Auf gut Glück«, mit der man ja sofort auf der ersten Seite der Ergebnisliste landet, nutzt meines Wissens kein Mensch auf der Welt.8
Zurück zur Faulheit meines Gehirns, die sich in einer Vergesslichkeit äußert, die ich mir früher nie hätte vorstellen können: In meinem Kalender steht, dass ich morgen Vormittag einen Interviewtermin mit Professor Mundle vereinbart habe. Wenn ich nur wüsste, wer das gleich wieder war?! Ich ahne natürlich, dass er etwas mit meinem Buch und moderner Kommunikation zu tun hat -aber was nun genau? War er der Experte für Hirnforschung oder für die Behandlung von Suchterkrankungen? Der Soziologe oder der Internetforscher? Normalerweise hätte ich diese nicht ganz unwichtige Information mithilfe von Google innerhalb von fünf Sekunden gefunden. So muss ich mich durch einen Stapel Papiere wühlen, bis ich endlich den Artikel finde, in dem ich auf ihn gestoßen bin: Er leitet ein Klinikum, in dem schwerpunktmäßig Erkrankungen wie Burn-Out, Suchtkrankheiten und Depressionen behandelt werden, und warnt eindringlich vor ständigem Online-Sein. Ich schäme mich ein wenig, dass ich mir nicht mal etwas merken kann, das so offensichtlich relevant ist, und beschließe, in Zu8 Die meisten wissen nicht einmal, dass dieser Knopf, der auf der englischen Google-Version "I feel lucky!« heißt, überhaupt existiert -obwohl er mitten auf der Webseite steht, die sie am Tag Dutzende Male besuchen. kunft ein wenig Gedächtnistraining und Gehirn-Jogging-Spiele zu absolvieren. Mein erster Gedanke dazu: Da lässt sich bestimmt etwas im Internet finden ...
Tag 9 Die Welt ist eine Google
Eigentlich wollte ich Professor Mundle von meiner gestrigen Erinnerungslücke erzählen, aber dann traue ich mich doch nicht. Es ist ja fast unmöglich, so etwas nicht persönlich zu nehmen. Unser Gespräch hat aber auch so keinen allzu guten Start: Als ich ihn zur verabredeten Zeit in seinem Büro anrufe, richtet mir seine Sekretärin aus, ich soll ihn Zuhause auf seinem Handy anrufen. Am Dröhnen und Rauschen merke ich jedoch, dass er sein Haus bereits verlassen hat und im Auto sitzt. Vielleicht ist es nur Selbstüberschätzung, die aus meinem handylosen Eremitendasein entspringt, aber ich spüre so etwas wie Mitleid mit dem getriebenen Mobilmenschen, der irgendwo über die Autobahn hetzt, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt zumindest wenn er so ist, wie ich bis vor gut einer Woche war, und vergessen hat, die Freisprechanlage einzustöpseln. Da sein Schreibtisch und die damit verbundene Ruhe aber nur noch eine Viertelstunde entfernt sind, verschieben wir unser Gespräch ein wenig -und sind beide froh darüber.
Als ich eine halbe Stunde später mit Götz Mundle telefoniere, ist er deutlich entspannter, gesprächsbereiter -und auch viel besser zu verstehen. Er erzählt mir von den Menschen, die zu ihm in die Klinik kommen, die über »digitale Erschöpfung« klagen, ausgebrannt sind: »Das sind einerseits Führungskräfte, Leistungsträger, die häufig sehr begeistert sind vom Internet. Aber irgendwann auch merken, dass sie überfordert sind mit 500 Mails am Tag und ihrem Laptop, das sie selbst bei der kleinsten Wartezeit am Flughafen sofort aufklappen, um zu arbeiten. Die erst zu spät registrieren, dass ihr Arbeitsspeicher zu voll ist.« Die zweite große Gruppe, so Mundle, stammt aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten und hat sich in den vielfältigen digitalen Welten »verloren«. Also in den Chaträumen, in Rollenspielen wie »World of Warcraft« oder endlosen Partien OnIine-Poker.
»Das kann prinzipiell jeden erwischen«, erzählt der ärztliche Geschäftsführer der Oberbergkliniken. Er schildert den Fall einer Lehrerin, die über ihren Sohn das Fantasy-Rollenspiel »World of Warcraft« kennenlernte. Über einen langen Zeitraum spielte sie in völlig normalem Maße, so wie Millionen andere Menschen weltweit auch. »Durch eine sehr schmerzhafte Trennung kam es aber zu einer depressiven Situation, und in der Pseudokommunikation der Spielwelt fühlte sie sich geborgen«, erklärt der Psychiater und Psychotherapeut Mundle. »Auf einmal spielte sie iwölf Stunden am Tag. Im Beruf war sie nicht mehr leistungsfähig, und sie verlor fast komplett den Bezug zu Familie und Freunden.«
Unser eigenes Google
Wer sich in die Oberbergkliniken begibt -wie diese Lehrerin, nachdem sie sich ihre Spielsucht eingestanden hatte -, muss erst mal einen harten digitalen Entzug meistem. In den ansonsten komfortablen Zimmern gibt es kein Internet. Nur ein einziges öffentliches Terminal steht zur Verfügung. Handys und mobile Internetgeräte müssen abgegeben werden. »Das schafft fast niemand ohne Probleme«, berichtet Mundle von, den Neuankömmlingen. »Da hört man dann: Ich muss aber noch das und das und das. Aber nach einer Weile merken sie, dass es auch ganz gut ohne geht. Ich sage immer: Je-, der hat sein eigenes, inneres Web, sein eigenes Google, seine eigenen inneren Bilder. Im Rahmen unserer intensiven Psychotherapie leiten wir die Leute an, wieder die eigenen Potenziale zu entdecken, um sich so von der Welt des Internet unabhängig zu machen. Wie das vor sich geht, will ich wissen. Gemeinsames Briefeschreiben per Hand? Stundenlanges Benutzen von Telefonen mit langsam ratternder Wählscheibe, ohne verrückt zu werden? »Es ist ein bisschen wie mit dem Fitnessboom in den Siebzigern. Da mussten wir Menschen auch erst lernen, dass wir unseren Körper in Form halten müssen, wenn wir den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen. Unsere geistig-seelische Potenziale können wir mit regelmäßigen Übungen der Stille und einer aktiven Innenschau entfalten. Wer möchte, kann auch Yoga machen oder autogenes Training -die Erfahrung der Stille in uns ermöglicht, die eigene Präsenz und Lebendigkeit zu entdecken und eben nicht von den Bildern des Internet abhängig zu sein.«
Als ich von meinem Selbstversuch erzähle, ist der Psychotherapeut begeistert: »Nur derjenige hat einen gesunden Umgang mit den neuen Technologien, der es auch für eine Weile lassen kann. Ihren Selbstversuch haben die Menschen vor 20 Jahren automatisch gemacht -wenn auch in verkürzter Form: Wer in den Urlaub fuhr, war nicht zu erreichen und wirklich abgekoppelt von der Jobhetze zuhause. Im Alltag ist das natürlich schwieriger. Ich weiß von mir selbst, wie schnell man in Abhängigkeiten geraten kann«, verrät er mit verschwörerischer Stimme. »Als ich zum ersten Mal ein Blackberry hatte und am Wochenende Mciils ankamen, habe ich die sofort beantwortet. Erst nach und nach habe ich mich wieder auf meine innere Autonomie besonnen und gemerkt, dass es an mir selbst liegt, wie frei ich bin.«
Zum Abschied gibt, er mir ein Zitat von Kierkegaard mit auf den Weg: »Wenn die Stille einkehrt, passiert am meisten.« Normalerweise würde ich das Zitat zur Überprüfung googeln. So muss ich Professor Mundle einfach glauben. Tag 10 Die Berrys sind los
Zuhause ist es mir zu still, deshalb gehe ich in ein Cafe in meiner Straße, in dem die Touristen über Stadtpläne und Reiseführer gebeugt durcheinander plappern. Beim Kaffee lese ich in einern Buch der Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel eine interessante Passage über das Reisen in asiatischen oder arabischen Ländern, die ich in ähnlicher Form auch schon erlebt habe: In dem Augen-blick, in dem wir uns in einern Land bewegen, dessen Schriftzeichen wir nicht mehr verstehen, entsteht zuerst ein Gefühl der Verlorenheit. Denn wir können nicht mal mehr ansatzweise erahnen, was die Schilder, Wegweiser, Werbetafeln bedeuten sollen. Was »Policia« bedeutet, erahnen wir noch, selbst wenn wir kein Portugiesisch sprechen. Bei arabischen oder asiatischen Schriftzeichen jedoch, sofern sie uns tatsächlich fremd sind, kehrt durch das völlige Nichtverstehen und die damit ausbleibende Kommunikation nach einer ersten Verunsicherung überraschend Ruhe und Entspannung ein. Statt uns durch ständiges Lesen ablenken zu lassen, können wir uns plötzlich viel besser auf die Umgebung, die Natur, die Menschen um uns herum und uns selbst konzentrieren. Erst wenn wir mitten in einer Stadt voller kryptischer Schilder schnell den Weg zum Bahnhof finden wollen, wird es wieder schwierig. Sternstunden der Bedeutungslosigkeit
Nach dem Mittagessen bin ich zu einer Besprechung in einer Werbeagentur verabredet, für die ich ein paar Texte schreiben soll. Meine Gesprächspartner verspäten sich um eine halbe Stunde -da ich nicht erreichbar bin, schaffen sie es jedoch auch nicht mehr, mir rechtzeitig Bescheid zu sagen, und ich muss warten. Selbst schuld, denke ich mir. Du hast es so gewollt. In der Besprechung selbst bin ich dafür angenehm konzentriert. Kein iPhone, das mich ablenkt. Kein Notebook, das aufgeklappt vor mir steht und ständig neue Mails anzeigt-wie bei meinem Gegenüber. Kein Anruf (»Tschuldigung, das muss ich kurz annehmen«), der mich aus dem Gespräch reißt. Ich genieße das einerseits
-andec rerseits muss ich feststellen, dass ich mich ohne diese Insignien des Gefragtseins auch gleich viel unbedeutender fühle. Denn wer angerufen oder angemailt wird, so meine Logik, ist gefragt. Wer gefragt ist, muss seinen Job gut machen, also etwas wert sein. Das ist natürlich zu kurz gedacht, denn jemand, der Pfusch abliefert oder ständig unklare Anweisungen gibt, wird viel öfter angerufen. Vorn übereifrigen Chef aus der 50er-Jahre-Filmkomödie, der seiner Sekretärin minutiös mitteilt, auf welchem Apparat er die nächste halbe Stunde erreichbar sein wird, über die ersten Brotlaib-großen Mobiltelefone in den 80ern bis zum Blackberry: Ständige Erreichbarkeit und ihre jeweils neuen technischen Darreichungsformen sind stets zuerst ein Privileg der Chefetage. Langsam sickern sie dann nach unten durch,-schon beim iPhone dauerte der »Werteverfall« vorn begehrten Gadget für übermoderne Info-Manager zum allgegenwärtigen Standardtelefon für die ganze Familie nur noch weniger als ein Jahr. Dennoch, ein Teil des Nimbus bleibt: Wer von seiner Firma ein iPhone oder ein Blackberry gestellt bekommt, fühlt sich geschmeichelt. Status eben. Ein in Plastik gegossener Beweis der eigenen Unersetzbarkeit, die insgesamt immer weiter schwindet. Denn in der heutigen globalisierten und immer effizienteren Welt ist natürlich so gut wie jeder über kurz oder lang ersetzbar -aber ein ständiger Nachrichtenstrom direkt in unsere Hosentasche lässt uns das zumindest zeitweilig vergessen. Vielleicht setzen wir uns ihm deshalb so bereitwillig aus und empfinden es nicht als Fußfes-sel, wenn wir zusammen mit einer kleinen Beförderung ein Firmen-Blackberry bekommen -sondern als Vertrauensbeweis und Zeugnis unserer Bedeutsamkeit für den Lauf der Dinge. Erfolgsrezept der Brombeere
Begonnen hat der Siegeszug der »Brombeere« bereits 1999, als sie der damals 38-jährige Kanadier Mike Lazaridis angeblich im Schlaf ersann und mit seiner Firma Research In Motion (RIM) zu produzieren begann. Anfangs war niemand so recht begeistert, aber als der Informatik-Abbrecher Lazaridis anfing, die handlichen Geräte an befreundete Manager zu· verschenken und die kleinen Apparate nicht nur Mails abrufen, sondern auch telefonieren konnten, begann die Berry-Welle Fahrt aufzunehmen. Inzwischen hat RIM über 50 Millionen Geräte verkauft, im Oktober 2009 gab es weltweit 40 Millionen Blackberry-Nutzer, Tendenz steigend. Das 1984 gegründete Unternehmen mit über 12000 Mitarbeitern wurde 2009 vorn Wirtschaftsmagazin Fortune zum am schnellsten wachsenden Unternehmen der Welt gekürt - noch vor der Konkurrenzfirma Apple. 84 Prozent Umsatzwachstum von rund sechs auf rund 11 Milliarden US-Dollar hatte der kanadische Blackberry-Hersteller geschafft -und das trotz Wirtschaftskrise.
»Das Blackberry löst das Paradoxon des modernen Lebens«, verspricht sein Erfinder, RIM-Chef Mike Lazaridis. »Und bevor man nicht eines benutzt hat, kapiert man es einfach nicht. Man ist verbunden -sowohl mit der Krise als auch mit der Gelegenheit.« Weitaus häufiger als die eine Mail, die unser Leben verändert, kommt jedoch die schiere Masse an Kleinkram reingeflattert: Eine Studie, für die 2007 im Auftrag der Herstellerfirma RIM 1335 Blackberry-Nutzer befragt wurden, ergab, dass durch das Gerät im Durchschnitt pro Person 60 Minuten »downtime« -also ungenutzte Zeit-in produktive umgewandelt wurde. Ein typischer Nutzer, so die Studie weiter, bearbeite rund 2500 »zeitkritische« Mails pro Jahr mit dem Gerät -ohne dass der Begriff »zeitkritisch« jedoch genauer definiert worden wäre.
Auch ich besaß für eine kurze Weile ein Blackberry. Die Gerüchte über »BerryBlisters« genannte Blasen oder den »Blackberry-Daumen«, den man bei zu intensiver Benutzung bekommen sollte, also sozusagen der Tennisarm der Kommunikationsjunkies, kann ich nicht bestätigen. Auch benutzte ich das Gerät nicht wie das jähzornige Model Naomi Campbell, um damit meine Assistentin zu schlagen was vielleicht vor allem daran liegen könnte, dass ich· keine Assistentin habe. Dass es nahezu unmöglich ist, ein Blackberry bei sich zu tragen und nicht ständig darauf zu gucken, kann ich jedoch absolut bestätigen.
Als im Sommer 2007 das allererste iPhone auf den (zuerst nur amerikanischen) Markt karn, war ich in San Francisco zur Stelle, um mir als einer der ersten ein solches Wundergerät zu kaufen. Da es folglich nicht mit einern deutschen Vertrag versehen war, sondern ich mithilfe einer Internetanleitung meine alte Handykarte in das Gerät fummeln musste, belief sich die erste Monatsrechnung auf über 300 Euro. Doch der Vorsprung einiger Monate gegenüber anderen Nutzern, bevor das Gerät auch in Deutschland startete, war jeden einzelnen Cent davon wert -Status gewinn durch Distinktionsgewinn. Zumindest behaupte ich das heute. Damals verfluchte ich Gott, seinen Propheten Steve Jobs, meine eigene Unbeherrschtheit und die Datentarife von E-Plus -zur Sicherheit mehrfach. Doch egal ob wir unsere Mails von unterwegs nun mit dem Blackberry, dem iPhone oder dem Google-Handy Nexus One abrufen -wer einmal damit angefangen hat, kann nur noch schwer davon lassen. »Das Wichtigste, was ich tun musste, war, ihm das Blackberry zu entreißen«, sagte der Assistent des New Yorker Gouverneurs George Pataki der New York Times, als sein Boss wegen einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus lag, »denn er braucht jetzt Ruhe«. Von Arianna Huffington, Mitgründerin und Chefredakteurin des OnlineMagazins »Huffington Post«, geht schon seit einiger Zeit das Gerücht, ihre Tochter Christina habe sich beklagt, ihre Mutter würde, statt mit ihr zu reden, nur noch auf ihrem Blackberry herumdrücken. Selbst beim Yoga würde sie es so auf die Matte legen, dass sie während der nach unten gerichteten Position des »Down Dog« für wenige Sekunden draufblicken kann. Arianna Huffington nahm sich die Kritik offenbar zu Herzen -und schenkte ihrer Tochter schließlich zur Verbesserung der familieninternen Kommunikation selbst ein Blackberry. Es gibt ungezählte Beichten von Prominenten, Managern und ganz normalen E-Mail-Junkies, sie würden ihr Empfangsgerät auf der Toilette deponieren, um während des FamiIienabends schnell und heimlich einen Blick darauf werfen zu können. »Trinken Sie manchmal heimlich?«, »Lügen Sie gegenüber Freunden und Familienmitgliedern darüber, wie viel Sie trinken?« -mit solchen Fragen klärt man normalerweise, ob jemand Alkoholiker ist. Die Mechanismen ähneln allerdings unserem Drang,
»nur mal schnell« in die Mails zu gucken.
Als die Besprechung in der Werbeagentur zu Ende ist und ich draußen auf das bestellte Taxi warte, fällt mir auf, dass ich mit der Anschaffung des ersten Handys auch die Langeweile abgeschafft habe. Selbst in diesen kurzen Momenten, in denen man auf die U-Bahn, den langsamen Hochhausaufzug oder eben ein Taxi wartet, in denen man keinen Gesprächspartner und nichts zu lesen dabei hat, hat man den Zeittotschläger Handy in der Hosentasche. Es gibt immer noch eineMail (oder eine SMS) zu beantworten. Und immer jemanden, bei dem man sich lange nicht gemeldet hat. Auch jetzt greife ich reflexartig in meine Hosentasche, wie schon so oft in den letzten Tagen. Aber da ist nichts. Wie lang drei Minuten sein können. Vielleicht sollte ich, statt zu überlegen, wem ich schreiben würde, wenn ich könnte, lieber meine Umgebung etwas intensiver wahrnehmen, die Natur genießen? Aber alles, was ich in der grauen Straße in Berlin-Wedding sehen kann, ist eine Krähe, die an einer Plastiktüte zerrt. Realität und Naturwerden ganz offensichtlich überschätzt.
Tag 11 Wenn das Handy keinmal klingelt
Ich rufe inzwischen so oft bei der Auskunft an, dass ich manchmal das Gefühl habe, einzelne Stimmen wiederzuerkennen. Hatte ich den euphorischen jungen Franken.mit dem leichten S-Fehler nicht gestern schon einmal dran? Die professionelle Strenge von »Martinaschmidtwaskannichfürsietun?«
kommt mir ebenfalls bekannt vor. Ich überlege kurz, eine Namensliste zu machen und mich nach einer Woche nur noch mit der Person verbinden zu lassen, die sich am sympathischsten und kompetentesten erwiesen hat. Dann lasse ich den Gedanken wegen offensichtlicher Verschrobenheit schnell wieder fallen. Aber so viele Menschen können doch wirklich nicht mehr bei der Telefonauskunft arbeiten. Wer ruft denn dort in Zeiten des Internets noch an außer mir und bezahlt 1,79 Euro und mehr für eine Information, die er mit einer auf den Rücken gebundenen Hand trotzdem in fünf Sekunden selbst gegoogelt hat?
Nachforschungen ergeben, dass bei der Firma Telegate zum Beispiel noch gut 3000 Mitarbeiter beschäftigt sind. Mit einem Marktanteil von rund 38 Prozent ist die Firma die Nummer Zwei nach der Auskunft der Deutschen Telekom. Telegate-die Firma hinter der 11880 und »Hier werden Sie geholfen!« -machte 2008 zwar noch 178,8 Millionen Euro Umsatz, der Anteil der klassischen Auskunft daran sinkt jedoch beständig. Andere Geschäftsfelder werden immer wichtiger, darunter das Betreiben von Call Centern für Geschäftskunden -oder Suchmaschinenmarketing im Internet. So wie ich das »Fräulein vom Amt«, das man früher um eine Verbindung bitten musste, nur noch aus SchwarzWeiß-Filmen kenne, werden meine Enkel vermutlich nicht mehr wissen, wie es sich anfühlt, der Telefonauskunft umständlich einen komplizierten Nachnamen zu buchstabieren: »Zeppelin ... Anton ... Nordpol, Nordpol... Otto ... äh, was sagt man noch mal für C? «.
Vielleicht liegen meine häufigen Anrufe bei der Auskunft aber auch daran, dass ich mich immer noch ein wenig einsam und abgeschnitten von der Welt fühle. Natürlich habe ich nicht erwartet, dass mich jeder, der mir eineMail schreibt und von meinem Selbstversuch liest, sofort anruft, um mit mir darüber zu sprechen. Oder dass mich jeder, der mich auf Facebook in die Gruppe »Kann diese Brezel mehr Fans haben als Tokio Hotel?« einlädt, auch bereit ist, mir eine schriftliche Beitrittserklärung zu Fuß und persönlich vorbeizubringen. Genauer gesagt würde ich es mir sogar verbitten, wegen jedem Quatsch, der im Internet gerade noch als lustig durchgeht, persönlich und unmittelbar behelligt zu werden. Aber so wenig von meinen Freunden und Bekannten zu hören, wie ich es momentan tue, isfmir definitiv zu wenig.
Hausbesuche und Türnotizen
Zu allem Überfluss ist auch noch die Klingel unserer Haustür kaputt. Als ich einen Freund anrufe, der schon kurz nach der Wiedervereinigung nach Ostberlin gezogen war, berichtet er mir von jener kuriosen Zeit Anfang der Neunziger, als viele der Wohnungen nicht über einen Telefonanschluss verfügten. »Damals hat man sich einfach noch unangekündigt besucht«, erinnert er sich. »Was heutzuta-ge ja selbst bei sehr guten Freunden schon an einen Affront grenzt.« Ebenfalls üblich, so erzählt er weiter, war es damals, kleine Notizblöcke oder Papierrollen an der Wohnungstür aufzuhängen, neben denen ein Bleistift an einer Schnur baumelte. So konnte jeder Besucher eine Nachricht hinterlassen, falls er niemanden angetroffen hatte. Ein schriftlicher Anrufbeantworter gewissermaßen. Ich überlege kurz, ebenfalls eine solche Rolle zu installieren, aber im Gegensatz zu damals, als die Eingangstüren der Häuser angeblich noch allesamt offen waren, kommt heutzutage ja niemand mehr bis an die Wohnungstür.
Ein anderer Freund, mit dem ich direkt im Anschluss telefoniere, kann meine Trübsal nicht so recht verstehen: »Ich bin immer froh, wenn das Handy nicht klingelt«, sagt er nach kurzem Überlegen.
»Denn abgesehen von ein paar Freunden, die ich dann ja aber an ihrer Nummer erkenne, bedeutet es doch eigentlich immer eine schlechte Nachricht: Stress, Arbeit, Nerverei.« Vor zwei Wochen hätte ich ihm noch beigepflichtet. Inzwischen sehne ich mich nach dem Klingeln -wenn schon nicht meines Handys, dann wenigstens dem des Festnetztelefons.
Trotzdem geht es mir nach unserem Gespräch schon ein wenig besser. Mir ist klar geworden: Ich muss mich selbst darum bemühen, mit meiner Umwelt in Kontakt zu bleiben, wenn ich mich aus einem Großteil der üblichen Verbindungen ausklinke. Auch wenn ich mir an Tagen, an denen beide Telefone nicht aufhören zu klingeln, an denen Mails und SMS einprasseln, insgeheim wünsche, alleine auf der Welt zu sein und meine Ruhe zu haben. Auch wenn ich mir manchmal im Auge des Stressorkans wünsche, alle mögen sich zum Teufel scheren -wenn es schließlich so weit ist, merke ich: Gar keine Kommunikation ist auch keine Lösung.
Denn kommunikative Vernetzung, das Verbundensein mit anderen Menschen, bestimmt unser Selbstwertgefühl. Ob es ein kurzes, aber freundliches Gespräch mit dem Nachbarn ist oder ein Jugendlicher, der seine Beliebtheit an den SMS abzählt, die er zum Valentinstag bekommt, ist zweitrangig. Entscheidend ist,. dass wir alle soziale und kommunikative Wesen sind. Kein Zweifel: Wenn zu viel Kommunikation von uns erwartet wird, wenn wir keinen einzigen Moment der Ruhe und Selbstvergewisserung mehr finden, kann uns das unter Stress setzen und schwer zu schaffen machen. Aber wenn andersherum die Verbindungen zu anderen Menschen zu wenig werden, wenn gar kein Austausch mehr stattfindet, dann macht uns das in den allermeisten Fällen auf lange Sicht ebenso unglücklich.
Einer der traurigsten Sätze, die ich in meinem ganzen Leben gehört habe, war der eines Arbeitskollegen, dessen Einsamkeit ich ahnte -aber erst in vollem Umfang ermessen konnte, als er einmal sagte:
»Die Wochenenden sind so endlos lang.«
Tag 12 Überall Verräter
Hätte ich so nun auch nicht unbedingt gedacht: Aber mir fehlt sogar das Onlineshopping. Unter den Angeboten meiner Lieblingsverkäufer bei eBay meine Lieblingsjeans zu einem fairen Preis zu finden
-noch dazu in der richtigen Größe. Oder die Liste »Empfehlungen für Sie« bei Amazon durchzuklicken, um festzustellen, dass der Computer-Algorithmus, der sie aus meinen bisherigen Einkäufen automatisch zusammenstellt, manchmal sehr falsch -aber überraschend oft auch sehr richtig liegt. Kleine Freuden, die einen verregneten Arbeitstag auflockern können. Wie es sich für einen guten Offliner gehört, gehe ich stattdessen zum ersten Mal in meinem Leben zu Fuß zu dem Berliner Ladengeschäft von Manufactum im vornehmen Charlottenburg. Doch selbst dort, im mehrstöckigen Hort des gutbürgerlichen Edelhandwerks, wo das Papier noch handgeschöpft ist und das Geschirrtuch noch
»dicht und fest in Gerstenkornbindung jacquardgewebt«, hat die Digitalisierung Einzug gehalten: Ich weiß nicht, ob ich es angesichts der Flurschränkchen-Designer, die dieses »zugleich als Ladestation für elektronische Geräte konzipiert« haben, mit Brüdern im Geiste oder mit Verrätern zu tun habe
-und kaufe, um ein analoges Zeichen zu setzen, einen schönen, wenngleich teuren Schreibblock und mal wieder einen »Parker Jotter«, den besten Kugelschreiber der Welt. Lediglich zu dem seit 60 Jahren »aus echtem Gummi arabicum« hergestellten Gummierkleber in der Glasflasche kann ich mich nicht so recht durchringen.
Tag 13 Per SMS auf die Gästeliste
Jessica kommt für das Wochenende wieder nach Berlin und will wissen, was auf unserem Programm steht. Gute Frage. Denn die Möglichkeiten, die sich an so einem Wochenende bieten, kommen seit einiger Zeit auch immer häufiger per Internet zu mir. Ob es die E-Mail-Newsletter von Clubs oder anderen Veranstaltern sind oder Facebook-Einladungen zu »Events« von Freunden. Ob es Ausgehtipps via Twitter sind oder Konzertempfehlungen der Musikplattform last.fm, die mich automatisch darauf aufmerksam macht, wenn ein Künstler, dessen Musik ich oft höre, ein Konzert in meiner Stadt gibt. Nicht zu vergessen die SMS-Einladungen eines DJs, der regelmäßig mitteilt: »Lege im Dings auf, meld' dich wegen Gästeliste«, und dem ich anfangs noch jedes Mal verlegen zurückschrieb, dass ich leider schon verabredet sei bis ich merkte, dass er diese Einladungen jede Woche an über 1 00
Leute verschickte.
Wo geht's hier »weiter«?
Aus all diesen Online-Quellen entsteht für gewöhnlich die bunte Mischung an Angeboten und Möglichkeiten, aus der am Ende ermittelt wird, wie wir das Wochenende verbringen. Ohne das Internet jedoch: Totenstille. Selbst Einladungen zu Geburtstagsessen oder gemütlichen Filmabenden im Freundeskreis kommen inzwischen per E-Mail. Die letzte Bastion scheinen bislang Hochzeiten und Beerdigungen zu sein, zu denen man derzeit meist noch per Post eingeladen wird was sich sicher bald auch noch ändern wird. Nicht, dass ich das als Weltuntergang empfände. Ich gehe davon aus, auf einer Hochzeit, zu der ich per Mail eingeladen wurde, ebenso ausgelassen tanzen und trinken zu können und auf einer per Mai! verkündeten Beerdigung des Verstorbenen ebenso würdig gedenken zu können. Dazu muss ich nicht auf Büttenpapier von den Terminen in Kenntnis gesetzt worden sein. 9 Ich bin da normalerweise unkompliziert. Normalerweise. Durch meinen Selbstversuch bin ich nicht nur kompliziert, sondern auch absolut ratlos, was das Wochenende bringt. Bis mein Blick auf das Stadtmagazin fällt, das ich bereits in die Kiste mit dem Altpapier geworfen habe. Wo es eigentlich immer landet, wenn ich das erste Viertel aus Stadtreportagen, Interviews und Musikkritiken durchgelesen habe. Als ich durch den hinteren Teil mit den in kleiner Schrift aufgelisteten Veranstaltungen blättere, erinnere ich mich, wie ich vor zehn Jahren zum ersten Mal nach Berlin zog und im Stadtmagazin -dicker als das Telefonbuch meines bisherigen Wohnortes und das alle zwei Wochen! -die getackerte Verheißung eines besseren Lebens sah. Doch als ich nun die Liste mit den Konzerten, DJs, Lesungen durchgehe, möchte ich ständig auf einen Link klicken, der »mehr« oder »weiter« verspricht. Möchte hören, wie die Musik klingt, die der DJ auflegt, dessen Name mir nichts sagt. Möchte sehen, wie es in der Bar aussieht, die zum »besten Northern Soul Allnighter aller Zeiten« einlädt. Im Internet ist jede Information mit weiteren Informationen verknüpft, die sie einordnen, erklären und somit wertvoller macheri können. »Das Internet«, so fasst es Dave Morin, der Miterfinder von Facebook zusammen, »schafft Kontext.« Kontext, den analoge Medien auch bieten -aber nur, wenn sie wollen. Nämlich dann, wenn sie sich entscheiden, ein Bild abzudrucken oder einen ausführlicheren Bericht -was in der Regel auch immer eine Kostenund Platzfrage ist. Im Internet kann sich jeder selbst auf die Suche begeben und den Kontext nach eigenem Bedarf und Interesse herstellen.
Dass wir am Ende, statt die Nacht in einem illegalen Kellerclub durchzutanzen, einfach nur ins Kino gehen, ist aber nun weder die Schuld des Internets noch des Stadtmagazins. Sondern liegt einzig und allein daran, dass ich ein morscher alter Mann bin, der gerne im gemütlichen Sessel eines Multiplexkinos mit Beinfreiheit und Becherhalter sitzt. Wir sehen »Sherlock Holmes« von Madonnas Ex-Mann Guy Ritchie, und zum ersten Mal seit Langem sitze ich wieder in einem Kinofilm, ohne vorher bei der Internet Movie Database IMDB nachgelesen zu haben, wer ursprünglich für die Hauptrolle vorgesehen war oder mir unter metacritic.com eine Übersicht über alle veröffentlichten Zeitungskritiken verschafft zu haben. Ich frage mich, wie Sherlock Holmes wohl zu unserer modernen Online-Welt stünde -schließlich ist er einerseits ein so altmodischer Charakter (der Jagdhut, die Pfeife, das Morphium), andererseits für· die damaligen Verhältnisse oft unfassbar modem (der aufklärerische Glaube 9 Interessanterweise geht ja selbst den schriftlichen Einladungen inzwischen immer häufiger eine Mail mit der Bitte voraus:
»Schick mir doch bitte mal deine Postadresse.«
an Wissenschaft und Logik). Würde sich Sherlock Holmes nicht freuen über Internetcookies10 und Online-Ortungssysteme, über Bundestrojaner und Vorratsdatenspeicherung11 und all die anderen modemen Ermittlungsmöglichkeiten? Nein, Holmes muss weiterhin staubige Bücher lesen, im stillen Kämmerlein brüten und scharf geschliffene Intelligenz und trockenen Humor versprühen. Sonst könnte er ja gleich bei den Labor-Technokraten von »C.S.I.« anfangen.
Die neun lustigsten Twitter-Beiträge aller Zeiten
»Ich tanze nicht, ich fange nur seit einer halben Stunde meinen Sturz ab.« (vergraemer)
»Keiner der Schnapsläden in meiner Umgebung bietet Lieferservice. Muss ich heute also leider doch Hosen anziehen.« (tony-d)
»Ich liebe den Geruch von Überstrapazierten Filmzitaten am Morgen.« (badbanana)
»Jeden Tag passiert so viel, wie in die Zeitung hineinpasst. Praktisch, oder?« (bosch)
»Stehe in der Küche und mache mir Tee.•Ah. Du machst dir einen Tee.< Bei Vollmond verwandelt sich Kollege X in Unnütze-Statements-Man.« (the_maki)
»Hab übrigens seit gestern mit dem twittern aufgehört. klappt so lala bisher.« (mspro)
»Zahnpastareste sind der Lippenstift der Gehetzten.« (furukama)
»Würde man die Fruchtfliegen in meiner Küche mit Glühwürmchen kreuzen, könnte ich jede Menge Strom sparen.« (mikrotexte)
»OK, flipp jetzt nicht aus -aber irgendjemand ist in unser Haus eingebrochen, hat das ganze Eis gegessen, das Bild von deiner Mutter zertrümmert und den Abwasch nicht gemacht.« (fireland) 10 Ein Internetcookie ist eine kleine Datei, die beim Besuch einer Webseite auf dem lokalen Rechner gespeichert wird, der sie besucht. So ist die Webseite unter anderem in der Lage, den Besucher wiederzuerkennen, wenn er zurückkehrt, oder sich Einstellungen und Ähnliches zu merken. 11 Vorratsdatenspeicherung bezeichnet die umstrittene Praxis von Telefongesellschaften und Internetanbietern, individuelle Verbindungsdaten jedes Nutzers sechs Monate lang aufzubewahren. Im März 2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass die Vorratsdatenspeicherung in ihrer bisherigen Form verfassungswidrig sei. Unter geänderten Sicherheitsbedingungen und mit höherer Transparenz ausgestattet könnte eine solche Datenspeicherung jedoch wieder erlaubt werden. . kapitel 3
In dem ich einem Rabbi nachstelle, einen Fremden in einem Cafe anstupse und feststelle, dass meine Konzentration auch ohne Internet und Handy nicht grenzenlos ist -und wieso das trotzdem nicht unbedingt ein Grund zur Sorge ist. Tag 15 Aber ich kann länger ...
Die ersten zwei Wochen sind geschafft. Ich bin ein wenig stolz, denn ich habe schon fünf Mal so lange durchgehalten wie der amerikanische Elektronik-Musiker Moby, der sich vor einigen Jahren ebenfalls aus dem Internet auskIinken wollte. »Es mag seltsam klingen, aber bis zum 1. Januar 2007 werde ich nicht online sein«, schrieb er am 15. September 2006 unter dem Titel »Eine Art Pause« in sein Blog. »Ich bekomme zwischen 200 und 400 Mails am Tag und verbringe viel zu viel Zeit damit, online zu sein, Nachrichten zu lesen und so weiter. Deshalb werde ich für die nächsten drei Monate eine Internet-und E-Mail-Pause einlegen. Ich werde weiterhin auf meinem Blog Tagebuch führen, aber die Einträge werde ich per Post an mein Management schicken. Ich werde also immer noch da sein. Nur langsamer, denke ich. Ich verspreche, dass ich am 1. Januar 2007 auch wenn ich verkatert bin -wieder onIine sein werde, um zu berichten, wie es war, drei Monate ohne Internet zu leben. Lasst es Euch gut gehen. ( ... ) Moby.«
Der nächste Eintrag folgte jedoch nicht drei Monate, sondern bereits drei Tage später: »Ich bin schon ein paar Mal rückfällig geworden -meistens, um zu arbeiten. Ich bin ein Apostat, was ganz schön schwierig auszusprechen ist. Aber es kann nicht gesund sein, vier Stunden am Tag online zu sein, oder? Macht es nicht komische Dinge mit unserem Gehirn? Bringt es nicht ein seltsames und grundloses Gefühl des Gehetztseins? Bringt es nicht das natürliche und glückliche chemische Gleichgewicht durcheinander, nach dem sich unser Gehirn sehnt? Vielleicht macht es aber auch einfach nur Spaß, online zu sein. Ich weiß es nicht. Ich werde Euch wissen lassen, wie das Experiment vorangeht.«
Das englische Wort »apostate« muss ich selbst nachschlagen. Mein Wörterbuch ist etwas verstaubt, da ich es seit Jahren nicht mehr aus dem Regal hole und nur noch das immer umfangreicher werdende Online-Wörterbuch leo.org benutze. Ein Apostat, so lerne ich, ist jemand, der vom Glauben abfällt, ein Abtrünniger. Doch zurück zu Moby: Bereits beim nächsten Eintrag wird klar, dass es mit der Internet-Abstinenz nicht geklappt hat. »Meine Fastenzeit ist zu einer Diät geworden. Ich versuche, mich zurückzuhalten. Meine ursprüngliche Idee war, ganz auf Telefon, E-Mail.Internet und alles das zu verzichten -und einfach nur auf der Treppe vor meinem Haus zu sitzen. Jeden Tag eine Stunde. Es schien mir so eine zivilisierte Idee zu sein. Jeder; der mich sprechen will, kann zu mir kommen und mich auf meiner Treppe treffen. Am Ende erwies es sich als ein wenig zu unpraktisch.«
Oh süßer, köstlicher Triumph! Moby mag zwar rund 20 Millionen mehr Alben verkauft haben und mindestens genauso viele Millionen Dollar mehr besitzen als ich. Er mag Schauspielerinnen wie Natalie Portman rumgekriegt haben -aber ich kann es länger ohne Internet aushalten als er!
Tag 16 Wenn's mal wieder später wird
Um herauszufinden, wie es ist, dauerhaft ohne Mobiltelefon zu leben, habe ich mich für heute mit Sven verabredet, einem Bekannten, der freiwillig seit jeher auf ein Handy verzichtet. Als ich seine Nummer über einen gemeinsamen Freund erfragte, war das ein bisschen, als würde ich eine Zeitreise zurück in die achtziger Jahre unternehmen: »Tagsüber erreichst du ihn im Büro unter folgender Nummer ... Und seine Privatnummer lautet ... -da erwischst du ihn abends.« Die Vorstellung, je mich Tageszeit auf unterschiedliche Art erreichbar zu sein,wirkt in Zeiten von Mobiltelefonen und E-Mails seltsam antiquiert. Ein wenig so wie die günstigen Call-by-Call-Vorwahlen, die Pfennigfuchser zu Zeiten der Telekom-Privatisierung um die Jahrtausendwende für bislang teure Auslands-oder Ferngespräche benutzten, um einen günstigeren Tarif zu ergattern .. Da sich die Tarife der jeweiligen Vorwahlen ständig änderten, bedeutete das vor allem, dass man vor jedem Gespräch umständlich in einer vor allem in Boulevardzeitungen veröffentlichten Tabelle nachsehen musste. Fingerkrampf durch Call-by-Call
Je nach Uhrzeit und Ziel des Anrufs musste man dann 01024 oder 01013 oder eine andere der ständig wechselnden Call-by-Call-Vorwahlen wählen und dann erst dienormale Nummer. Spätestens gegen Ende vertippte man sich aber regelmäßig und musste wieder von vorne anfangen. Wer sich damals von Manfred Krug zum Kauf von TelekomAktien hatte überreden lassen, mag es anders sehen, aber ich bin der festen Überzeugung, diese Call-by-Call-Vorwahlen waren die schlimmste Auswirkung der ansonsten nicht unsinnigen Aufhebung des Postmonopols. Wie die Dinosaurier sind sie inzwischen zu Recht beinahe ausgestorben. Allerdings sind dafür Hunderte von Mobilfunktarifen und Zusatzoptionen an ihre Stelle getreten, die niemand ohne ein mehrjähriges Studium wirklich verstehen, geschweige denn miteinander vergleichen kann. Ich kann es mir erlauben, in meinen Gedanken derart abzuschweifen, weil ich viel zu früh zum verabredeten Treffpunkt mitSven erschienen bin. Der Verzicht aufs Handy diszipliniert mich. Denn sonst bin ich leider eher einer dieser Menschen, die die Kurznachricht »Tut mir leid, bei mir wird es zehn bis 15 Minuten später« als wiederverwendbare SMSVorlage in ihrem Mobiltelefon gespeichert haben. Und an dieser Stelle ein kurzes Geständnis an alle, die diese Nachricht schon einmal von mir bekommen haben: Nein, die S-, U-und Trambahnen sind jeweils ganz regulär gefahren -ich hatte mich nur nicht vom Internet losreißen können.
Endlich kommt Sven um die Ecke gebogen. Wobei »endlich« etwas gemein ist -schließlich ist er pünktlichI nur ich war 20 Minuten zu früh. »Geht es allen deinen Verabredungen so?«, frage ich ihn als Erstes, da ja bei ihm die üblichen Entschuldigungs-SMS nicht funktionieren. »Viele sind vor allem davon genervt, dass ich auf verbindlichen Verabredungen bestehe«, sagt Sven. »Im Grunde sollte es ja kein Problem sein, in dem Augenblick, in dem man sich verabredet, die genaue Zeit und den Ort festzulegen. Trotzdem haben sich viele Handybesitzer angewöhnt, zu sagen >Mittwochabend ist okay, wann und wo genau, können wir ja später noch mal besprechen< ... Ich finde das eher unnötig und anstrengend. «
Ich schaue beschämt auf meine Schuhspitzen. Denn natürlich habe ich letzten Monat auch noch haargenau so geredet. Habe Verabredungen vage gelassen -teils aus einem diffusen Wunsch nach Flexibilität -teils, weil ich in dem Moment einfach zu faul war, mir darüber Gedanken zu machen, wo genau das Feierabendbier am besten zu trinken sei. Kommen mehrere solcher festlegungsscheuen Handybesitzer zusammen, kann es gerade am Wochenende passieren, dass man sich den ganzen Abend über mit Sätzen wie »Wir funken dann einfach später noch mal« vertröstet. Dann rennt man den ganzen Abend mit unterschiedlichen Leuten durch unterschiedliche Bars und Kneipen, um am Ende aus dem Taxi nach Hause eine SMS zu schicken, in der man es bedauert, dass es mit dem Treffen doch nicht geklappt hat.
Der Handyverweigerer
Sven ist groß und schlaksig und gehört trotz seines Handyverzichts zu den geselligsten Menschen, die ich kenne. Er hat Geschichte studiert und hilft heute Museen dabei, festzustellen, wem die Werke gehören, die sie ausstellen. Anfangs sperrte er sich eher aus einer Protesthaltung heraus gegen ein Mobiltelefon: »In den späten Neunzigern begann der Boom: Da wurden sie langsam kleiner und für jedermann erschwinglich«, erinnert er sich. »Ich hatte damals aber keine Lust auf ein solches Statussymbol und ehrlich gesagt auch ein wenig Angst, davon überrollt zu werden. Angst vor der ständigen Erreichbarkeit und davor, immer kontrollierbar zu sein.« Diese strikte und ideologische Abneigung sei inzwischen jedoch einer entspannteren Haltung gewichen. »Ich bin absolut kein Technikfeind«, sagt der Mittdreißiger. »Ich liebe das Internet, und wenn ich irgendwann an dem Punkt bin, an dem ich fünf Mal im Monat denke: >Jetzt wäre ein Handy wichtig gewesen< -dann werde ich mir auch eines kaufen.«
Bisher ist dieser Punkt allerdings noch nicht gekommen. Am stärksten vermisst er ein Handy, wenn er auf Reisen ist: »In Hotels muss man das Zimmertelefon oft erst umständlich freischalten lassen, wenn es überhaupt noch eines gibt. Und dann zahlt man sich dumm und dämlich«. In seinem Berliner Alltag ist er, wie ich selbst absolut bestätigen kann, im Büro und Zuhause über das Festnetz sehr gut zu erreichen. »Wenn ich in der U-Bahn sitze oder gerade im Supermarkt an der Kasse stehe, er-wischt man mich natürlich nicht«, sagt er. »Aber dann will ich offen gestanden auch gar nicht unbedingt mit jemandem sprechen. Mich stresst es selbst jedes Mal, wenn ich jemanden anrufe und der ist gerade im Einkaufszentrum oder auf der Autobahn unterwegs. Meist kommt bei solchen Gesprächen sowieso nichts heraus, außer einem Pseudogespräch wie >Ich bin gerade da und da, ich kann dich kaum verstehen, ich ruf dich nachher noch mal an<.« Und er ist sich sicher: »Seit alle Leute Flatrates haben, ist der Anteil an Quatsch, der geredet wird, nur noch gestiegen.«
Seine Mitmenschen -ob Eltern, Freundin, Kollegen oder Fußballmannschaft -haben sich im Grunde allesamt mit Svens Verzicht abgefunden. Manchmal gibt es einen blöden Spruch, tatsächliche negative Konsequenzen hatte sein Handyboykott bisher allerdings weder beruflich noch privat. Als wir uns verabschieden und ich ihm nachsehe, wie er als langer schmaler Strich die Straße hinuntergeht, habe ich das Gefühl, dass ihm wirklich nichts fehlt. Dass sein Verzicht für ihn viel weniger dramatisch ist, als sich Handybesitzer das vorstellen können. Ich merke ja schon bei mir selbst, wie mir nach zwei Wochen der Verzicht so unendlich viel leichter fällt als in den ersten Tagen. Das Phantomvibrieren ist verschwunden. Wenn ich die Wohnung verlasse, klopfe ich nur noch ganz selten auf die rechte Hosentasche,wo das Telefon seinen Stammplatz hatte. Und der Impuls, es zu zücken, sobald ich länger als zehn Sekunden auf irgendwas warten muss, hat auch spürbar abgenommen. Tag 17 Lassen Sie sich ruhig ablenken
Auch sonst fühle ich mich mittlerweile in meiner OfflineExistenz deutlich wohler als zu Beginn meiner digitalen Fastenzeit. Das Gefühl der Einsamkeit ist verschwunden, seit ich mich wieder verstärkt mit Leuten verabrede, sie spontan anrufe oder dem Gespräch mit einem Fremden in der Bäckereischlange nicht mehr wie bisher augenrollend aus dem Weg gehe, sondern ihm freundlich antworte, dass das Wetter auch nicht nach meinem Geschmack sei.
Ich stelle außerdem fest, dass die Tatsache, dass man ständig mit seinen Freunqen digital vernetzt ist, ein reales Treffen nicht unbedingt wahrscheinlicher macht. Ein gutes Beispiel ist mein alter Freund Armin: Er verbringt seine Zeit zur einen Hälfte in Berlin und zur anderen in München, es ist also kein Kinderspiel, sich mit ihm zu verabreden -aber auch alles andere als unmöglich. Wir hatten es inzwischen aber bestimmt schon seit einem halben Jahr versucht, was eigentlich beschämend ist. Alle paar Wochen schickten wir uns SMS-Nachrichten oder E-Mails hin und her, die sich ungefähr so lasen:
»Gehen wir mal wieder zusammen essen?«
»Klar, gerne. Wann?«
»Nächste Woche?«
»Oh, da geht es leider nicht. Da bin ich in München! Hamburg/schon ausgebucht/im Urlaub/etc.«
Darin, wer von uns beiden nicht konnte, wechselten wir uns in schöner Regelmäßigkeit ab -abe sehen wollten wir uns auf jeden Fall.
»Okay. Dann die Woche drauf.«
»Ja, ist besser. Schließen wir uns doch dann einfach noch mal kurz!«
Dieses »sich einfach noch mal kurzschließen« dauerte jedoch wieder mindestens drei Wochen, und der digitale Dialog vollzog sich von Neuem. Als ich vor Monaten einmal einen Cartoon mit folgender Textzeile las »Mittagessen am Donnerstag? Donnerstag ist schlecht bei mir. Niemals könnte klappen -wie ist niemals bei Dir?«, dachte ich kurz daran, ihn Armin zu schicken. Als Mahnung, dass es uns nicht auch so ergehen möge. Aber natürlich vergaß ich es schon wenige Sekunden später, als ein Youtube-Video mit dem Titel »Gefängnisinsassen tanzen zu >Radio Gagad« meine gesamte Aufmerksamkeit beanspruchte. Vielleicht war es auch nur Zufall und die Zeit einfach reif dafür, aber als ich Armin am Festnetztelefon fragte, ob wir uns mal wieder treffen wollten, fiel der Dialog deutlich unkomplizierter aus:
»Gehen wir mal wieder zusammen essen?«
»Klar, gerne. Morgen Abend?«
»Acht Uhr, im Paparazzi?« »Super, bis dann!« Toll, wie einfach manche Dinge plötzlich sein können. Drei Prozent Talent
Weil wir schon bei YouTube-Videos von tanzenden Sträflingen sind -ich merke, wie sich nach und nach meine Konzentrationsfähigkeit immer weiter verbessert. Die ersten zwei Wochen saß ich noch vor meinem Computer -den ich offline nach wie vor zum Schreiben benutze -und ertappte mich dabei, wie ich immer wieder, ohne nachzudenken, die Tastenkombination CTRL-TAB12 drückte. Mit dieser Kombination springt man zwischen verschiedenen geöffneten Programmen hin und her. Bei mir war im Lauf der Jahre ein Automatismus entstanden: Sobald ich beim Schreiben eines Textes länger als zehn Sekunden nicht weiterkam, drückte ich reflexartig die beiden Tasten, um in mein Mailprogramm hinüberzuspringen und nachzusehen, ob dort eventuell eine Nachricht eingegangen war, die mich ablenken könnte. Von dort weiter in den Browser, um nachzusehen, ob Spiegel Online inzwischen den Weltuntergang vermeldet hätte. Und nach dem kurzen Überfliegen der »Eilmeldung!
Opposition nicht einverstanden mit Regierungskurs« hüpfte ich wieder zurück ins Textverarbeitungsprogramm, in dem der Cursor immer noch geduldig blinkte und auf den nächsten Satz wartete. 12 CTRL-TAB ist die Tastenkombination bei Windows -für Benutzer eines Mac lautet die Kombination CMD-TAB. TAB ist die Tabulatortaste ---.1 oben links neben dem Q.
In den ersten zwei Wochen meines Selbstversuchs hatte ich in guter alter Angewohnheit immer noch ständig CTRL-TAB gedrückt -reflexhaft, ohne nachzudenken. Wie ein Ex-Raucher sich auf die Hemdtasche klopft, in der er früher seine Zigarettenschachtel trug. Nur blieb das E-Mail-Postfach jetzt plötzlich leer, und der Internetbrowser zeigte die triste Fehlermeldung »Seite nicht gefunden«. Beides kein Anblick, der einem wirklich Kurzweil bereitet. Mit der Zeit wurden meine Tastensprünge seltener, und ich rief mir einen wahren Satz des Technik-Journalisten Cyrus Farivar ins Gedächtnis, den er einmal als Leitsatz über sein Blog geschrieben hatte: »Ein guter Autor zu sein ist zu drei Prozent Talent -und zu 97 Prozent die Fähigkeit, sich nicht vom Internet ablenken zu lassen.«
Ich merke deutlich, wie ich mit jedem Tag der InternetAbstinenz ruhiger werde. Wie sich das Gefühl legt, etwas zu verpassen. Wie ich tiefer in einzelne Tätigkeiten eintauche, weil kein Handyklingeln und kein »Ping« einer neuen E-Mail mich aus den Gedanken reißt. Wenn ich schreibe, dann schreibe ich -und wenn ich ein Buch lese, dann lese ich. Doch auch diese neu gewonnene Konzentration hat ihre Grenzen: Es ist nicht so, dass ich morgens ein Buch aufschlage und es -weil ich so schön ungestört bin -erst mittags zuklappe, weil mich mein Magenknurren daran erinnert, dass es Zeit ist, etwas zu essen. Nein, selbst wenn es einem gelingt, äußere Ablenkungen wie Anrufe oder E-Mails abzuschalten, bleibt das, was ich die »innere Ablenkung« nenne, stets vorhanden. Die innere Ablenkung ist der Gedanke an die nächste Urlaubsreise, deren Planung man so langsam mal beginnen könnte. Der Name des Restaurants, der einem gestern nicht einfallen wollte, aber einem heute plötzlich in den Sinn kommt. Aber auch der Blick, der so lange umherschweift, bis er etwas findet, an dem er sich festbeißen kann -und wenn es nur die Nährwertangaben auf der Orangensaftflasche sind, die vor einem auf dem Tisch steht.
Konzentration ist -so scheint es mir -ein Paradoxon: Die Ablenkung ist stets schon eingebaut. Jeder, der schon einmal versucht hat, die Augen zu schließen und wirklich nur an eine einzige Sache zu denken, hat gemerkt, wie sich die Gedanken verselbständigen, wie sie wandern, sich in Sekundenbruchteilen verzweigen, im Idealfall wieder zum Thema zurückfinden -ein dissonanter Chor ständigen Geplappers. Also im Grunde dasselbe, was Kritiker stets Twitter oder dem Internet ganz allgemein vorwerfen. Falls das nicht der Fall ist, ist man höchstwahrscheinlich eingeschlafen. Aber es ist meiner Meinung nach überhaupt nicht schlimm, dass die dauerhafte, die hundertprozentige Konzentration nicht existiert. Wir brauchen den Wechsel von geistiger An-und Entspannung, von Konzentration und Ablenkung. Nicht umsonst fällt einem die entscheidende Lösung oft genau dann ein, wenn man sich gar nicht direkt mit einem Problem zu beschäftigen scheint, nicht darauf konzentriert ist. Einstein hat dazu sehr treffend gesagt: »No problem can be solved from the same level of consciousness that created it.« -Kein Problem kann auf derselben Bewusstseinsebene gelöst werden, auf der es geschaffen wurde. Mit anderen Worten: Wir können ein Problem erst lösen, wenn wir uns von dem Problem gelöst haben. So kommen mir zum Beispiel oft abends in den letzten Augenblicken vor dem Einschlafen zündende Ideen -obwohl ich mir vorher stundenlang und erfolglos den Kopf zerbrochen habe. Zum Beispiel, wie ich vielleicht doch noch an das versprochene Erbe des afrikanischen Diktators kommen könnte, das man mir per E-Mail versprochen hat. Oder ich komme beim Joggen auf die ideale Überschrift für einen Text, die sich mir den ganzen Tag über entzogen hatte, und zwar genau in dem Moment, in dem ich eigentlich gerade über etwas ganz anderes nachdenke, nämlich über mein knirschendes Knie oder meine rasselnde Lunge.
Die Weltgeschichte ist voll von Beispielen für wichtige Entdeckungen und brillante Einfälle, die nicht durch hochkonzentriertes Nachdenken entstanden: Dem Schweizer Ingenieur Georges de Mistral kam die Idee für den Klettverschluss, als er nach einem Jagdausflug die igelartigen Früchte der Klette sowohl von seiner Hose als auch aus dem Fell seines Hundes zu entfernen suchte. Das Teflon wurde entdeckt, als ein Chemiker nach einem neuen Kältemittel für Kühlschränke suchte. Und von Kolumbus, der Amerika entdeckte, als er eigentlich gerade nach etwas ganz anderem suchte, gar nicht zu reden.
Auch Don Ambrose, der an der amerikanischen Rider University zum Thema Kreative Intelligenz forscht, ist sich sicher, dass die Chance auf neue Ideen größer ist, »wenn man sich neuen und von dem Problem gänzlich losgelösten Informationen aussetzt, anstatt einfach nur abzuschalten«. Nur durch das Vermischen scheinbar unzusammenhängender Konzepte könne »kreative Assoziation«
stattfinden.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Der amerikanische Autor Sam Anderson hat ein hervorragendes Beispiel dafür gefunden, wie wichtig eine gelegentliche innere Ablenkung für uns sein kann: Als Marcel Prousts Protagonist in seinem Roman »Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit« seine legendär gewordene Madeleine in den Tee tunkt, versetzt ihn der Geschmack des Gebäcks gedanklich in seine Kindheit zurück. Die Süßigkeit funktioniert also als eine Art Hyperlink in eine andere Gedankenwelt. Wenn ich mich richtig erinnere, wäre Prousts Buch ein ganzes Stück kürzer und unbedeutender, wenn sein Protagonist beim Kauen der Madeleine hochkonzentriert geblieben wäre und sich nur über die Konsistenz des Teigs Gedanken gemacht hätte. Ist unser Leben also nicht reicher, gerade weil wir uns ab und zu ablenken lassen? Und verlören wir nicht das, was seinen eigentlichen Kern ausmacht, wenn wir uns dazu zwingen würden, wie Maschinen bloß stur und ohne nach links oder rechts zu schauen, unser Pensum abzuarbeiten? Vor allem unter Studenten werden Medikamente wie Ritalin oder Concerta immer beliebter. Medikamente, die normalerweise Kindern mit Aufmerksamkeitsstörung (ADS) verschrieben werden. Auch »gesunde«
Menschen können sie dabei unterstützen, konzentrierter zu arbeiten und sich weniger schnell ablenken zu lassen. Was gerade in Prüfungsphasen oder anderen arbeitsintensiven Momenten verführerisch klingt. »Ich war plötzlich total konzentriert und konnte wieder klar denken, während vorher in meinem Kopf nur noch Kabelsalat geherrscht hatte«, berichtete mir einmal eine Bekannte, die in der Schlussphase ihrer Magisterarbeit Ritalin nahm und sich plötzlich »überbordend voller präziser Gedanken« fühlte. Andere berichten jedoch vom »Denken mit Scheuklappen«, einem Gefühl, »wie ein Roboter« nur noch »wegzuarbeiten«. Oder wie ein Freund mir sein Ritalin-Experiment schilderte:
»Anfangs hat es wirklich phänomenal geholfen. Aber irgendwann habe ich ohne großes Nachdenken dazu gegriffen«, sagt er. »Immer wenn ich müde war, unkonzentriert oder lustlos. Aber eigentlich wurde ich insgesamt immer müder und erschöpfter, weil ich mich pausenlos auf Leistung getrimmt habe. Am Ende war ich tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben ausgebrannt.«
Ablenkung kann also (wie bei Prousts Madeleine oder der Idee, die uns beim Betrachten einer Wolke in den Schoß fällt) ein wichtiges Mittel sein, um kreativ in die Gänge zu kommen, neue Lösungen zu finden, weiterzukommen. Doch dazu müssen wir selbst Herr über die Ablenkung sein, sie darf nicht unreflektiert und permanent erfolgen. Immer mehr Menschen klagen jedoch darüber, dass Ablenkung für sie nicht mehr die erholsame Auszeit, das gelegentliche Abschweifen darstellt -sondern den Normalzustand, aus dem sie sich nicht mehr befreien können. Konzentration -immer auch als Synonym für Effizienz und Erfolg -ist für uns ein hohes Gut geworden. Alle wollen sie, keiner hat sie. Zumindest nicht in dem Maße, wie wir sie früher angeblich besaßen oder wie man es heute für erstrebenswert hält. Eine ganze Industrie hat sich um die Kunst des »Getting Things Done« entwickelt, also darum, Dinge zu erledigen, sein Pensum zu erfüllen. Bücher wie »Simplify Your Life« oder »The Power of Less« raten, sich auf wenige wichtige Dinge zu fokussieren -und auf Blogs wie lifehacker.com werden Tipps ausgetauscht, wie man sich möglichst gut von Ablenkungen abschirmt oder wie man seine Postablage so optimiert, dass man sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht verzettelt. Auch Merlin Mann profitiert von dem Boom um Aufmerksamkeit und Ablenkung. Er ist der Erfinder von »43 Folders«, einem System, das helfen soll, den Alltag besser zu organisieren, Dinge besser geregelt zu kriegen. »43 Folders«, benannt nach einem speziellen Ablagesystem, hat weltweit zahllose Fans. In einem Interview gibt sich sein Erfinder jedoch überraschend kritisch gegenüber der Trickkiste, in die seine Kollegen Konzentrationsverbesserer greifen: »Konzentrationsschwierigkeiten sind fast immer Symptome eines größeren Problems. Das kann ein neurologisches Problem wie ADS oder eine Depression sein -oder aber einfach mangelnde Motivation und Zufriedenheit«, stellt Merlin Mann nüchtern fest. »Es gibt kein Programm und keine Browsererweiterung, die Ihnen helfen können herauszufinden, warum zum Teufel Sie auf Erden wandeln. Es ist Ihre Aufgabe, das rauszubekommen.«
Suche nach Ablenkung
Ich genieße es, von einem Großteil der äußerlichen Ablenkungen verschont zu bleiben -ganz ohne geht es aber scheinbar auch nicht. Früher habe ich mich nach zwei Stunden anstrengender, aber getaner Arbeit beispielsweise mit einer vielleicht völlig ergebnislosen, dafür jedoch höchst entspannenden Stöberei bei eBay belohnt oder mit einer Handvoll Artikel auf dem großartigen Blog riesenmaschine.de. Jetzt ertappe ich mich dabei, wie ich im Lauf des Selbstversuchs plötzlich wieder häufiger den Fernseher einschalte ein Medium, das ich in den letzten Jahren nur noch so wenig genutzt habe, dass eigentlich ich Geld von der GEZ bekommen müsste, statt umgekehrt. Aber so ist es wohl: Wenn das Internet als Zerstreuungsmaschine nicht verfügbar ist, müssen eben die guten alten Simpsons mal wieder herhalten.
Tag 18 Ohne Filter
Es ist schon richtig: Ohne Internet dauern viele Dinge, die sonst in wenigen Sekunden erledigt wären, irrsinnig lange. Als ich zum Beispiel eine Halogenlampe mit einer relativ ungewöhnlichen Watt-Zahl (exakt 35!) brauche, um mir nicht mehr im Dunkeln die Zähne putzen zu müssen, muss ich dafür vier Drogeriemärkte abklappern und am Ende zum Kaufhof am Alexanderplatz fahren. Um eine schnöde Konzertkarte zu kaufen, muss ich eine halbe Stunde in einer Telefonwarteschleife verbringen, und um herauszufinden, wie weit es von Berlin nach Düsseldorf ist, wie bereits beschrieben mit Atlas und Bindfaden hantieren.
Trotzdem habe ich insgesamt mehr Zeit. Denn natürlich spart das Internet nicht nur Zeit -es frisst auch genauso viel, wenn nicht noch mehr. Das ist nichts Neues und schon oft genug beklagt worden. Interessanter ist, dass es mit fast allen technischen Neuerungen so ist, die uns eigentlich dabei helfen sollen, Zeit zu sparen. Der amerikanische Psychologieprofessor Robert Levine von der California State University in Fresno berichtet in seinem Buch »Eine Landkarte der Zeit« darüber, wie man dasselbe Phänomen auch bei Haushaltsgeräten beobachten kann: »Neuere Forschungen zeigen, dass Bauersfrauen, die in den zwanziger Jahren ohne Elektrizität auskommen mussten, deutlich weniger Zeit auf die Hausarbeit verwendeten als die Hausfrauen ( ... ) in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit ihrem ganzen Maschinenpark.« Ein Grund dafür ist, so Levine, dass sich mit jedem technischen Fortschritt auch die Erwartungen erhöhen: Wer einen Staubsauger hat, saugt öfter, als er früher gefegt hat. Und wer eine Waschmaschine hat, wäscht seine Hemden häufiger, als wenn er dafür jedes Mal zum Fluss gehen müsste.
Uhrzeit und Gummizeit
Robert Levine, der großen Wert darauf legt, keine Armbanduhr zu tragen, hat jahrelang die jeweiligen »Lebensgeschwindigkeiten« verschiedener Kulturen und Nationalitäten studiert und gemessen. Als ich den freundlichen 65-Jährigen mit weißem Kinnbart und ruhiger, aber jugendlicher Stimme vor einiger Zeit interviewte, erklärte er mir, wie es dazu kam, dass die Menschen umso weniger freie Zeit zur Verfügung haben, je weiter entwickelt ihre Gesellschaft ist: »In Deutschland und fast allen anderen westlichen Ländern leben wir in einer Uhrzeitkultur, die sich nach klaren Terminen und Zeitplänen richtet. Ganz anders in Mexiko, Indonesien oder Brasilien: Diese Länder leben nach »amanha«, der Gummizeit. Wenn man Brasilianer fragt, wie lange sie auf jemanden warten würden, mit dem sie zum Mittagessen verabredet sind, kommt man im Durchschnitt auf 62 Minuten. In Ländern wie Deutschland oder den USA haben die Menschen oft nur eine halbe Stunde für ihre Mittagspause und würden niemals so lange warten.«
Egal wie sehr wir uns als Bewohner einer Industrienation vornähmen, die entspannte Laissez-FaireHaltung, die wir zum Beispiel im Urlaub in Südamerika beobachten, mit zurück in den Alltag zu nehmen -tatsächlich passiert exakt das Gegenteil: Wir exportieren unsere hektische Terminkalenderkultur nach und nach auch in die sogenannten Entwicklungs-und Schwellenländer, davon ist der Zeitforscher überzeugt. »Wir sind süchtig nach der Geschwindigkeit. Sie stimuliert und treibt uns an -und wir werden von der existenziellen Angst geplagt, dass, wenn wir langsamer leben oder einmal innehalten, sich dann plötzlich eine riesige Leere vor uns auftut. Der Terror der Langeweile ist einer der größten Schrecken unserer gehetzten Welt.«
Die Langeweile und Leere, die ich am Anfang meines Selbstversuchs gespürt habe, gibt dem Psychologen diesbezüglich auf jeden Fall Recht. Doch auch in der Art zu arbeiten unterscheiden sich westliche »Uhrzeitkulturen« ganz wesentlich von denen, die nach »Gummizeit« leben: Während hier nach wie vor der Satz »eins nach dem anderen« gilt, es also angestrebt wird, erst eine Aufgabe zu erledigen und dann zu der nächsten geplanten Tätigkeit überzugehen, ist es dort viel üblicher, an mehreren Dingen gleichzeitig zu arbeiten. Und sich nicht so lange einer Aufgabe zu widmen, bis sie erledigt ist, sondern nur so lange, bis eine Neigung oder Anre~ gung verspürt wird, sich einer anderen zuzuwenden. Levine nennt diese Art zu arbeiten, in der viele verschiedene Arbeiten nach und nach kleine Fortschritte machen, statt am Stück fertiggestellt zu werden, »polychron«. Auf die Frage, ob er sie für besser hält als die »monochrone« Arbeitsethik der Industrieländer, plädiert er für einen freien Wechsel zwischen beiden Modellen: »Die wichtigste Erkenntnis ist die, dass es keine Entweder-Oder-Entscheidung ist«, sagt er im Interview. »Wir müssen Wege finden, zwischen schnellem und langsamem Tempo zu wechseln. Denn nur eines von beiden ist auf Dauer nicht gut für die meisten von uns. Wir müssen also akzeptieren, dass wir oft gehetzt und auf dem Sprung sind. Aber ebenso müssen wir uns ab und zu zwingen, nichts zu tun, müssen unsere Angst vor der Langeweile überwinden. Denn wenn wir uns nicht ab und zu die Zeit nehmen, uns zu langweilen, können wir uns irgendwann auch nicht mehr über die aufregenden Momente freuen.«
Besonders gut ist mir Robert Levines Antwort am Ende unseres Gesprächs in Erinnerung geblieben: Auf die Frage, ob es Zufall sei, dass er ausgerechnet in Fresno lebe, also der Stadt, in der das Leben laut seinen Studien langsamer vonstatten geht, als irgendwo sonst in den USA, antwortete er nur mit einem fröhlichen, heiseren Lachen: »Zufall? Nein, ganz sicher nicht!«
Geheimnis Festnetznummer
Mein Magen knurrt lauter als jeder Vibrationsalarm, als ich das Restaurant betrete, in dem ich mit Armin zum Abendessen verabredet bin. Ich sitze noch keine zwei Minuten, da tritt der Kellner mit leicht verwirrtem Blick an meinen Tisch. »Scusi, Sie müsse sein Christoph?«, stellt er fragend und in bestem Pizzeriadeutsch fest. Noch bevor ich antworten kann, wird klar, woher er das weiß. »Ihr Freund gerade angerufe. Verspätet sich um fumfe oder zehn Minute.« Und tatsächlich: Zehn Minuten später sehe ich Armin über die Straße eilen. »Scheiß Straßenbahn!«, schimpft er. Aber ich beruhige ihn, dass mich seine Nachricht erreicht hat und ich mich in den letzten Tagen außerdem daran gewöhnt habe, dass niemand mehr pünktlich ist. »Das früher so pünktliche Deutschland rutscht langsam völlig in die Gummizeit ab«, doziere ich altklug über den Begriff von Robert Levine. Armin sieht mich nur verständnislos an und bestellt ein Mineralwasser. »Du verzichtest aufs Internet, ich auf den Alkohol«, sagt er und beeilt sich hinzuzufügen: »Aber nur für heute.«
Während wir auf unser Essen warten, erzähle ich ihm von meinem Selbstversuch. Wie ich langsam anfange, die Ungestörtheit zu genießen, während mir am Anfang noch die ständige Kommunikation auf diversen Kanälen fehlte. »Aber eigentlich schummelst du doch«, wendet Armin ein. »Deine Abwesenheitsmail, die jeder automatisch bekommt, der Dir schreibt -das ist doch auch Kommunikation.« Im Grunde hat er Recht. Aber ohne dieses kleine Hilfsmittel, in dem automatisch meine Festnetznummer und Postadresse mitgeteilt werden, könnte mich fast überhaupt niemand mehr erreichen. Denn meine Festnetznummer kannten vor dem Selbstversuch gerade mal eine Handvoll Verwandter und enger Freunde. »Das ist auch wieder richtig«, lenkt Armin ein. »So geht es inzwischen fast allen. Ich habe sogar die Erfahrung gemacht, dass es Menschen -selbst wenn es Freunde sind und man ihre private Festnetznummer besitzt zunehmend als unhöflich empfinden, wenn man sie zuhause anruft.«
Mir ist in der letzten Zeit auch aufgefallen, dass der private Festnetzanschluss, der früher der einzige und dank Telefonbuch der öffentlichste war, mittlerweile so etwas wie ein reservierter Kanal für Privatangelegenheiten wie den Wochenendanruf der Eltern oder die abendlichen Gutenachtgespräche von Liebenden ist, die noch nicht dieselbe Wohnung teilen. »Woher hast du denn meine Festnetznummer?« kommt oft als erste Frage, wenn man jemanden auf dem heimischen Apparat statt auf dem Handy anruft. So als sei der Angerufene in seinen eigenen vier Wänden ein Prominenter, dessen Geheimnummer nur einem ausgewählten Kreis von Insidern bekannt sein dürfte.
»Früher war das umgekehrt«, erinnert sich Armin, als unsere Pasta endlich kommt. »Als sich vor zehn Jahren jeder ein Handy zulegte, hat man sich eher noch gescheut, jemandem seine Mobilnummer zu geben. Heute kriegt jeder unsere Handynummer -aber zuhause, da wollen wir bitte nicht belästigt werden.« Der Trend weg vom »Festnetz«, das ja auch erst so heißen muss, seit es nicht mehr einfach »das Telefon« ist, hin zum Handy ist eindeutig. Er zeigt sich auch daran, dass laut Statistischem Bundesamt inzwischen schon jeder zehnte Haushalt über gar keinen klassischen Telefonanschluss mehr verfügt, sondern nur noch per Handy kommuniziert. In den untersten Einkommensschichten sollen sogar 25 Prozent ganz auf den Festnetzanschluss verzichten. Am höchsten ist die Mobilfunkquote bei Menschen unter 25: Sie verzichten zu 35 Prozent auf den einst »normalen« Telefonanschluss. Das spürt vor allem die Deutsche Telekom: Nahm sie vor zehn Jahren noch 16 Milliarden Euro durch Gesprächsgebühren im Festnetz ein, sind es gegenwärtig nur noch 1,7 Milliarden pro Jahr. Kein Wunder, dass allein in den letzten drei Jahren 30000 Arbeitsplätze gestrichen wurden.
»Vielleicht sollte jeder einen Monat im Jahr auf sein Handy verzichten und nur noch per Festnetz telefonieren«, schlage ich vor. »Der Solidaritätsmonat für Telekom-Mitarbeiter nach dem Motto: Subventionen von unten.« Armin sieht kurz von der Nachtisch-Sektion der Speisekarte auf: »Kannst ja eine entsprechende Facebook-Gruppe gründen«, sagt er.
Die Schreibmaschine und »der Geckl«
Wir sitzen noch eine Weile zusammen und erinnern uns daran, wie Computer und Internet in den letzten 15 Jahren unseren gemeinsamen Beruf, den Journalismus, verändert haben. Wie zwei alte Männer, die vom Krieg erzählen, hören wir uns an. Ich erinnere mich an die Schreibmaschine, auf der ich meine ersten Artikel für die Lokalzeitung auf spezielles Papier mit der eingezeichneten Spaltenbreite tippte, die Seiten anschließend in die Redaktion brachte, wo sie von zwei fülligen Damen in der »Erfassung« in das dortige Computersystem getippt wurden. Armin kontert damit, dass er sich Mitte der Neunziger von seinem heimtückischen Cousin einen Computer andrehen ließ, der als Speichermedien nur über die großen, biegsamen Floppydisks verfügte, die bereits seit Jahren überholt waren. Da er keinen Drucker besaß, musste er jeden Text, den er in diesen Jahren verfasste, mit dem Fahrrad zu dem türkischen Copyshop im Münchner Bahnhofsviertel bringen, dem einzigen weit und breit, der den Inhalt der etwa 15 Zentimeter großen Floppydisks noch ausdrucken konnte. Und wir erinnern uns gemeinsam an »den Oeckl«, jenen kleinen Buchquader, der in jeder ernstzunehmenden Redaktion auf den Schreibtischen stand und in dem alle offiziellen Telefon-und Faxnummern verzeichnet waren -vom Forstwirtschaftsamt Sektion Spessart bis zum Bundesverteidigungsministerium. Wer uns zuhört, könnte meinen, dass da zwei frisch pensionierte Greise sitzen, die ihr gesamtes Leben Revue passieren lassen. In Wirklichkeit haben sich all diese Dinge so radikal schnell gewandelt, während wir noch nicht einmal die Hälfte unseres Berufslebens hinter uns gebracht haben. Wenn aber heute in unserem Beruf fast nichts so ist, wie es vor 15 Jahren war -wie gering ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass in weiteren 15 Jahren alles noch ungefähr so ist wie heute? Mit Sicherheit wird es noch Journalisten geben aber die Chance, dass sie noch genau so arbeiten werden wie heute, ist in etwa so groß wie die, dass wir alle wieder mit einem speckigen Oeckl in der Hand Telefonnummern nachblättern werden. Es sei denn, wir befinden uns in einem Offline-Selbstversuch -da ist bekanntlich jedes analoge Hilfsmittel recht. Schon heute kann ein Prominenter wie Ashton Kutcher mit seinen Tweets auf einen Schlag mehr Menschen erreichen als eine Ausgabe der FAZ, und ein erfolgreicher Blogger hat inzwischen eine größere Reichweite als manche Radio-oder Fernsehsendung. Immer weniger Menschen verlassen sich ausschließlich auf Redaktionen, die ihnen aus der endlosen Menge an Informationen und Ereignissen das Relevante heraus filtern sollen, sondern lassen sich durch Empfehlungen ihrer NetzwerkFreunde und Twitter-Kontakte eine individuelle Mischung aus Artikeln, Filmen, Links und anderen Informationshappen zusammenstellen.
»Mass Amateurization« nennt der Autor Clay Shirky, der an der New York University zum Thema
»Neue Medien« forscht, dieses Phänomen: Massen von Amateuren lösen plötzlich ein Problem, für das es vorher wenige ausgebildete und teure Spezialisten brauchte. So wie die Schreiber durch den Buchdruck ihre Stellung einbüßten, weil es plötzlich bessere und billigere Wege gab, Schriften zu vervielfältigen, so büßen derzeit Verlage ihre Vormachtstellung ein. Denn durch das Internet ist es für jedermann möglich und bezahlbar geworden, Dinge zu veröffentlichen. Dadurch habe sich, so Shirky, aber auch der Prozess des Filterns nach hin
ten verlagert: Früher, als Veröffentlichungen und Sendezeit teuer waren, wurde im Vorfeld genau ausgesiebt, welches Buch und welcher Artikel gedruckt, welche Idee verfilmt und welche Nachricht im Radio übermittelt wurde. Heute wird alles veröffentlicht, was auch nur eine einzige Person für interessant hält -weil es für diese Person nur wenige Augenblicke und noch weniger Cent kostet, das zu tun. Die Auswahl jedoch, das Filtern, verlagert sich auf einen späteren Zeitpunkt. Zum einen auf die »Schwarmintelligenz«, die durch Empfehlungen, Retweets, Verlinkungen und andere Mechanismen Interessantes und/oder Nützliches hervorhebt, sichtbarer macht und damit weiterverbreitet. Zum anderen durch den Empfänger selbst -der nicht mehr aus einer Handvoll Fernsehsender oder Tageszeitungen auswählen muss, sondern aus einer endlosen und beständig wachsenden Anzahl von Möglichkeiten. Dass sich viele Menschen davon überfordert fühlen, weiß Shirky, aber er will es nicht gelten lassen: »Es gibt keine >Informations überflutung«<, sagt der glatzköpfige 46-Jährige, wenn man ihn mit diesem Begriff konfrontiert. »Es gibt nur schlechte Filter.« Auch für Verleger, Journalisten und die anderen Berufsgruppen, die wie einst die Schreiber dafür bezahlt wurden, ein Problem zu lösen, das plötzlich viel einfacher geworden ist, hat er einen knackigen Satz parat: »Es ist keine Revolution, wenn niemand dabei verliert.«
Wahrscheinlich hat Shirky Recht -aber Armin und ich stellen zum Abschied fest, dass wir trotzdem nicht dabei sein wollen, wenn er diesen Satz auf einer Versammlung von Telekom-Angestellten, Mitarbeitern der Auskunft oder in einer Verlagskantine in ein Megafon spricht. Könnte böse enden. Tag 19 Zu Besuch bei den Amish
Es ist wie verhext. Schon seit Tagen versuche ich, den ehrenwerten Rabbiner Ehrenberg zu erreichen, um mit ihm über den Sabbat zu sprechen. Am Sabbat darf ein gläubiger Jude nämlich weder Telefon noch Computer benutzen. Ich habe vor meinem Selbstversuch im Internet seine Telefonnummer recherchiert, die ich seitdem beinahe jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten anrufe. Doch egal ob morgens um neun oder nachmittags um drei -es ist immer belegt. Einmal erdreiste ich mich sogar, mitten in der Nacht anzurufen, in dem Vorsatz, beim ersten Klingeln sofort aufzulegen. Doch selbst um Mitternacht bleibt die Leitung besetzt. Als ich mal wieder bei meinen alten Freunden von der Auskunft anrufe, geben sie mir eine andere Nummer, doch auch auf dieser scheint ein Fluch zu liegen: Dort geht nie jemand ran, egal wie oft und wann ich anrufe. Heute ist deshalb der Tag gekommen, an dem ich zu dem radikalen Mittel greife, das im alten Ostberlin eine Selbstverständlichkeit war und das heute in den meisten Kreisen so verpönt ist wie ein Furzkissen oder Minipli: der unangekündigte Hausbesuch!
Die Adresse, die mir die Auskunft gegeben hat, ist die des Jüdischen Gemeindezentrums in Charlottenburg. Als ich mich dem Gebäude nähere, erkenne ich die obligatorischen Polizisten, die öffentliche jüdische Einrichtungen bewachen, und sehe aus der Feme, wie sie einen Touristen ansprechen, der ein Foto machen will. Dadurch etwas verunsichert frage ich, als ich mich dem Zaun nähere, der das Grundstück umgibt, einen der Polizisten: »Kann ich wohl einfach reingehen?« Er guckt mich einen Moment lang von oben bis unten an. »Sie können auch warten«, antwortet er mit todernstem Gesicht und macht eine bedeutungsvolle Pause, »ob Sie jemanden finden, der Sie reinträgt.«
Ganz so einfach, wie es der Harald Schmidt unter den Ordnungshütern dargestellt hat, ist es dann aber doch nicht. Als ich das kurze Rasenstück überquert habe und vor der Haustür stehe, ist diese verschlossen. »Wohin möchten Sie?«, schnarrt eine Stimme aus der Gegensprechanlage, die weniger nach jüdischer Gemeinde als nach privatem Sicherheitsdienst mit Stiernacken klingt. »Ich "möchte zu Rabbiner Ehrenberg«, antworte ich wahrheitsgemäß und versuche, gewinnend in das gewölbte Auge der Überwachungskamera zu lächeln. »Den finden Sie hier nicht«, bekomme ich umgehend Bescheid. Ich warte, ob noch ein hilfreicherer Zusatz folgt, aber es bleibt still. »Wo kann ich den Rabbiner denn erreichen?«, frage ich, während mein Kameralächeln langsam zu einer Grimasse wird.
»Haben Sie was zu schreiben?« Ich fürchte, eine der beiden Nummern genannt zu bekommen, die ich seit Tagen erfolglos anrufe -doch welch Glück! Es ist eine andere. Und sie funktioniert! Denn als ich wieder zuhause bin, muss ich mir zwar eingestehen, dass mein erster unangekündigter Hausbesuch seit Jahren ein Fiasko war, habe aber immerhin die Sekretärin des Rabbiners am Telefon. Sie verspricht, dem Rabbiner von meinem etwas ungewöhnlichen Anliegen zu erzählen und sich wieder zu melden.
Pferdekutsche statt Mausklick
Ich selbst bin nicht religiös -von einer leicht kultischen Verehrung für die Produkte der Firma Apple einmal abgesehen. Aber ich finde es stets faszinierend, wenn traditionelle Religionen und moderne Technik aufeinandertreffen. So wie bei den orthodoxen Juden und ihren strengen Regeln für den Sabbat -aber auch bei den Amish People, die ich vor gut einem halben Jahr in den USA besucht habe, als ich mit den Recherchen für dieses Buch begann. Die Religionsgemeinschaft mit den auffälligen Hüten und Pferdekutschen kannte ich vorher nur aus dem Film »Der einzige Zeuge« mit Harrison Ford. In dem Krimi beobachtet ein kleiner Amish-Junge einen Mord in der Großstadt. Der von Harrison Ford gespielte Polizist begleitet ihn daraufhin zurück auf die abgelegene Farm seiner Familie und lernt dort das wundersame Leben der Amish kennen, die auf die meiste moderne Technik verzichten. Die ohne feste Stromversorgung und Autos, dafür in Demut und Bescheidenheit leben. Wer heute wissen will, wie es sich in einer ansonsten modernen und wohlhabenden Umgebung dauerhaft ohne Internet und Handy lebt, muss in den amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania fahren -oder, wie ich es damals getan habe, ins nahegelegene Missouri. Seit die Amish um 1700 aus religiösen Beweggründen, die im weitesten Sinne in den Folgen der Reformationsbestrebungen zu suchen sind, aus der Schweiz und Süddeutschland flüchteten, haben sie sich in dieser Region immer weiter ausgebreitet. Inzwischen leben rund 227000 von ihnen in den USA. Tendenz, dank rund acht Kindern pro Familie und normaler Lebenserwartung, stark steigend.
Der erste, mit dem ich damals sprach, ist der 54-jährige Jacob Graber, ein Schreiner. Ein großes, aus massiven Holzplanken gezimmertes Schiff steht vor seinem von Stallungen und Äckern umgebenen Bauernhaus. Daneben ein stattliches Holzfort und eine Dampfwalze zum Reinklettern. Spielzeug, das Graber in seiner Werkstatt ebenso herstellt wie Gartenmöbel, Pavillons oder Schulbänke. »Unsere Farm versorgt inzwischen einer meiner Söhne, ich arbeite fast nur noch in der Werkstatt«, sagt der bärtige Mann mit schwieligen Händen und schiebt sich den breitkrempigen Hut in den Nacken. Während eines Rundgangs über sein Anwesen, erklärt Graber die wichtigsten der manchmal verwirrenden Regeln der Amish in Bezug auf Technik und Neuerungen. »Es ist nicht so, dass wir grundsätzlich jeden Fortschritt ablehnen«, erklärt er. »Wir machen einfach nur nicht jede neue Entwicklung automatisch mit.« Wenn also etwas Neues erfunden wird, sei es das Automobil, das Telefon oder das Internet, warten die Amish erst einmal ab. Beobachten, wie diese neue Technik das Leben der Menschen verändert, welche Vor-und welche Nachteile sie mit sich bringt. Mutige und neugierige Amish probieren manches vielleicht sogar aus. Erst nach einer Weile entscheiden dann aber die obersten Bischöfe, ob die Neuerung zugelassen wird oder nicht. »Dabei wägen sie vor allem nach einem Gesichtspunkt ab«, sagt Graber. »Hält es unsere Glaubensgemeinschaft zusammen? Oder bringt es uns auseinander?« Oft werden Kom.prornisse gefunden, um die Vorteile möglichst gut nutzen zu können, während man die Nachteile vermeidet -was mitunter zu kuriosen Regelungen führt. So ist Fahrradfahren beispielsweise verboten, Inline-Skaten erlaubt. 13 Kein Amish darf selbst ein Auto fahren -sich von einem Taxi chauffieren zu lassen, ist wiederum gestattet. Und dann ist da noch die Sache mit den Telefonen ...
»Das hier ist unser Telefonanschluss«, sagt Graber und öffnet einen kleinen weißen Holzschuppen, der rund hundert Meter vom Wohnhaus entfernt auf dem Feld steht. Drinnen stehen ein Klapptisch, ein Stuhl und ein Telefonapparat samt Anrufbeantworter. Die Wände sind voll mit Post-It-Zetteln und an die Holzwand gekritzelten Telefonnummern. »Ganz auf das Telefon zu verzichten, hätte zu viele Nachteile bedeutet«, sagt der Schreiner und spuckt auf den Acker. »Wir müssen den Tierarzt rufen können und für Kunden unserer Schreinerei erreichbar sein. Aber Telefone im Haus wollten die Bischöfe nicht erlauben, weil sie Angst hatten, es würde zu eitlem Geplauder, zu Lästereien und Müßiggang führen. Statt mit Menschen in der Feme zu sprechen, sollen wir uns lieber mit unserer Familie und unseren Nachbarn beschäftigen.« So entstanden vor fast 100 Jahren die unbequemen »Telefonzellen« fernab der Wohnhäuser, von denen sich oft mehrere einen Anschluss teilen. 14 Andere trickreiche Kompromisse der Amish umfassen Kühlschränke, die mit Gas betrieben werden, sowie Arbeitsmaschinen, die ein Dieselgenerator über ein Druckluftsystem antreibt. Wenig später sitzen wir am Esstisch der Grabers, und Jacob holt etwas aus der Tasche seiner bollerigen Jeans, die eine seiner Töchter für ihn genäht hat. Er legt den kleinen Gegenstand unter ein quadratisches Stofftuch auf den Tisch. »Entschuldigung, aber ... ist das ein Handy?«, kann ich mir nicht verkneifen, zu fragen. »Jawohl«, gibt Jacob zu. »Aber sagen Sie bloß meinem Bischof nichts da13 Die für viele Außenstehende unverständliche Unterscheidung ist ein gutes Beispiel, wie streng die Amish ihre Grenzen ziehen: Inline-Skates gelten als moderne Verwandte von Roll-und Schlittschuhen, die ebenfalls erlaubt sind. »Rollerblading ist ein Mittelding zwischen ZuFuß-Gehen und Fahrradfahren«, erklärt der Amish-Experte Donald Kraybill in der New York Times. »Es ist ein ausgehandelter kultureller Kompromiss, es zu erlauben.« Bei den nach wie vor verbotenen Fahrrädern überwiegt dagegen die Angst, sie könnten den Radius ihrer Besitzer zu sehr vergrößern, so dass sich diese zu weit und zu oft von der Familie und der heimischen Kirchengemeinde entfernten.
14 Tatsächlich führen solche Entscheidungen der Bischöfe über den Gebrauch von Technologien immer wieder zu Spaltungen der Kirche: Um 1920 löste sich rund ein Fünftel der Gemeinschaft als »New Order Amish« und erlaubte den Gebrauch von Haustelefonen, etwas später spalteten sich die »Beachy Amish« ab, die Automobile zur Benutzung freigaben. von!« Dann lacht er kurz und laut. So wie Graber geben sich immer mehr Amish der Versuchung hin: Früher verrieten ganz banal die Kabel der Telefonleitung, wenn sich jemand verbotenerweise einen Anschluss ins Haus legen ließ. Der Bischof ermahnte -und wer nicht gehorchte, wurde aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Heute genügt eine Kutschfahrt in die nächstgelegene Stadt und ein wenig Bargeld -und man kommt mit einem Telefon in der Tasche nach Hause. Und kein frommer Nachbar und kein Bischof muss davon erfahren. »Ich benutze es nur beruflich«, rechtfertigt sich Graber, »aber in der heutigen Welt kann man als Geschäftsmann ohne Telefon nicht mehr konkurrenzfähig sein. Es ist schon schwierig genug, auf Fax und Computer zu verzichten -aber ohne Telefon ist man verloren!«
Ich komme mir albern vor, jemandem wie Jacob Graber, der so viel maßvoller und bescheidener lebt als ich, Vorhaltungen zu machen. Ich sei nicht die spanische Inquisition, versuche ich ihn deshalb zu beschwichtigen, unsicher, ob der Vergleich an dieser Stelle religionsgeschichtlich passend ist. Aber schon springt ihm seine Frau bei: »Unser Ziel ist es, so weit wie irgend möglich Selbstversorger zu sein«, sagt Mary Graber und lacht verlegen. »Aber ich gebe zu, dass wir auch manchmal zum Supermarkt fahren und fertiges Tomatenketchup kaufen. Es ist einfach bequemer, als alles selbst zu machen.« Ihre Töchter, die allesamt weiße Hauben und Schürzen tragen, tuscheln und kichern in der Küche. Ich frage mich, wie es für die jungen Amish sein muss, von morgens bis abends im Betrieb der Eltern helfen zu müssen, in der Werkstatt, der Scheune oder der Küche zu arbeiten, während eine Reitminute die Straße runter nicht-amishe Teenager ihre MySpace-Seite pflegen, per Instant Messenger erste Flirtversuche starten oder ihren Freunden ein neues MP3-Musikstück empfehlen?
Elliot Graber kommt zur Tür herein und bringt einen Truthahn mit, den er zusammen mit einem Freund gejagt hat und den er an den Füßen gepackt kopfüber vor sich herträgt. Er ist Jacobs jüngster Sohn: groß, mit lockigen Haaren, Sommersprossen und leicht abstehenden Ohren. Er arbeitet wie viele junge Amish-Männer, die noch nicht geheiratet haben und sich keinen eigenen Hof leisten können, in einer Kolonne von Zimmermännern. »Die meisten von meinen Kollegen sind auch Amish«, sagt der 22-Jährige. »Aber es ,sind auch ein paar Englische dabei«. Englisch, so nennen die Amish diejenigen, die um sie herum leben, aber keine Amish sind. »Die nehmen mich manchmal mit dem Auto mit und haben mir auch schon das Internet gezeigt. Es ist interessant, aber ich brauche es nicht. Es kann mir nicht die Zufriedenheit geben, die ich durch mein Leben hier bekomme.«
Austoben beim Rumspringa
Natürlich klingt so etwas schnell nach einem Lippenbekenntnis. Aber das Faszinierende ist: Die Zahlen geben Elliot recht -und beweisen, dass das, was er sagt, für einen Großteil seiner Altersgenossen gilt. Denn ein weiteres kurioses Phänomen der Amish ist das sogenannte »Rumspringa«: In dieser Phase haben junge Mitglieder der Gemeinschaft noch einmal die Möglichkeit, sich so richtig auszu-toben, bevor sie endgültig getauft werden: Erst durch diese Taufe werden sie vollwertige Mitglieder der Gemeinde, die sich komplett der »Ordnung« und den Bischöfen unterwerfen müssen, wenn sie nicht ausgeschlossen und gemieden werden wollen. In dieser Zeit des »Rumspringa«, die meist irgendwann um den 19. Geburtstag herum stattfindet, können die Jugendlichen theoretisch alles tun, was ihre »normalen« Altersgenossen auch dürfen: In der Stadt wohnen, Alkohol trinken, den Führerschein machen, sich ein Handy kaufen und Klingeltöne herunterladen -oder sich beim FacebookSpiel »Farmville« eine eigene virtuelle Computerfarm zulegen. Trotzdem kehren nur rund zehn Prozent dauerhaft ihrer Gemeinde den Rücken, die allermeisten der Jugendlichen kehren nach dieser
»Probezeit« zurück in die reglementierte Welt ihrer Gemeinde und geben die getesteten Freiheiten und Technologien aus eigenem Antrieb wieder auf.15
Wer die Amish als sturköpfige und hinterwäldlerische Technikfeinde geißelt, tut ihnen also mehr als unrecht. Sie nehmen sich nur die Freiheit, über jede neue Möglichkeit, die eine technische Erfindung bietet, erst einmal nachzudenken, bevor sie sie flächendeckend implementieren. Wenn der Staat es verlangt -wie zum Beispiel bei den Reflektoren an ihren Kutschen oder der Kühlung ihrer kommerziellen Milchlieferungen -nehmen sie technische Neuerungen an. Genauso, wenn die Veränderungen ihrem wirtschaftlichen
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Überleben oder dem Zusammenhalt ihrer Gemeinde dienen. Letzteres ist gerade bei Telefonen eine schwierige Entscheidung: In ihrem Buch »Holding The Line« schreibt die Amish-stämmige Autorin Diane Zimmerman Umble: »Einige Old Order Amish befürchten, dass die Lockerung der Telefonregeln Zeichen eines >unkontrollierbaren Abrutschens< sind, dem man Einhalt gebieten muss. Andere sehen die schrittweise Entwicklung als eine pragmatische Entscheidung, die wichtig ist, um der Gemeinschaft ein wirtschaftliches Überleben zu sichern. Das Paradoxe an der Situation der Old Order Amish ist, dass das Telefon beides kann: Es kann die Menschen zusammenhalten ( ... ) und es kann sie voneinander trennen. Das Telefon ist gut und böse zugleich.« Ebenso wie sich Mobiltelefone leichter heimlich benutzen lassen, bieten auch Laptop-Computer eine Möglichkeit, die Verbote der Bischöfe heimlich zu umgehen. Der Soziologe und Amish-Experte Donald B. Kraybill schreibt in seinem Standardwerk »The Riddle of Amish Culture«: »Das Verbot der Elektrizität half den Amish lange Zeit, die Computer in Schach zu halten. Aber die alten Grenzen werden zunehmend durch akku betriebene Laptops verwischt, die überallhin mitgenommen oder ganz leicht unter dem Bett oder in 15 Die »Abbrecherquote« variiert stark nach den unterschiedlichen Amish-Gruppierungen und einzelnen Gemeinden. Es ist anzumerken, dass längst nicht alle jungen Amish von der Möglichkeit, durch das »Rumspringa« eine Weile auszubrechen, überhaupt Gebrauch machen -und dass der Genuss von Alkohol in den USA bis zum Alter von 21 Jahren generell gesetzlich verboten ist.
einem Schrank versteckt werden können. Noch schlimmer: Sie können über ihren Internetzugang abstoßende Bilder und schlüpfrige Musik in die Scheunen und Schlafzimmer der Amish bringen. (. ..
) Kurz: Die alten Regeln der >Ordnung<, die auf Kabelleitungen und mechanischen Grenzen beruhten, werden durch das Netz der weltweiten Telekommunikation in Frage gestellt, in dem sich alles miteinander mischt.«
Aber wie kommuniziert die sich immer weiter ausbreitende Gemeinschaft der Amish miteinander, wenn E-Mail-Newsletter und Online-Foren verboten und Telefonate nur in einer zugigen Holzkammer draußen auf dem Acker möglich sind? Die Antwort fällt mir einen Tag später in die Hände, als ich mich mit dem örtlichen Kutschenmacher David Yoder unterhalte. Er zeigt mir ein Exemplar von The Budget, der Wochenzeitung der Amish, die seit 1890 erscheint und von einern 16-köpfigen Team in Sugarcreek im Bundesstaat Ohio produziert wird. Mittwoch, der Tag, an dem The Budget im Briefkasten liegt, ist für die Amish also der Tag, an . dem sie hinausblicken über die Grenzen ihrer eigenen Gemeinde. »Meine Frau könnte ohne The Budget nicht leben«, sagt David Yoder und lacht in seinen langen grauen Bart. »Und wenn ich ehrlich bin: Ich auch nicht. Man erfährt, wie es den Verwandten in der Ferne geht und wie die Ernte in anderen Landstrichen ausgefallen ist.«
David Yoder legt die aktuelle Budget-Ausgabe vor sich auf die Werkbank. In seiner Werkstatt riecht es nach Sägespänen und Schmieröl. Kein einziges Foto gibt es auf den rund 50 Zeitungs seiten -von ein paar kleinen Anzeigen für Rasenmäher oder Pfannen abgesehen. Keine Infografiken, keine Farbe, nur Spalte um Spalte Text. Auf der Titelseite findet man nicht die vermeintlich wichtigsten Neuigkeiten, sondern ein schlichtes Inhaltsverzeichnis. Streng alphabetisch wird Bundesstaat nach Bundesstaat, Ortschaft nach Ortschaft behandelt. »Hier steht etwas über uns«, sagt Yoder und schlägt die Seite mit den Neuigkeiten aus Jamesport, Missouri auf. Aber wie schafft es die kleine Zeitung aus jeder noch so kleinen Amish-Gemeinde im hintersten Winkel der USA ständig aktuell zu berichten?
»Wir schreiben unsere Zeitung selbst voll«, erklärt David Yoder verschmitzt und zieht seine Hosenträger straff. Jede Gemeinde hat einen Beauftragten, einen sogenannten »Scribe«,der über Todesfälle, Hochzeiten und ähnliche wichtige Vorkommnisse berichtet. Aber auch scheinbar Triviales wie »Die StoltzfusSchwestern karnen ihre Tante Ida besuchen und bleiben bis Dienstag« oder »Am Freitag letzter Woche konnten wir hier die ersten Blaumeisen in diesem Jahr beobachten« findet seinen Platz. Obwohl die Zeitung so altmodisch wirkt wie die Umgebung, in der sie gelesen wird, erinnert sie mich in diesem Moment in der Yoderschen Werkstatt trotzdem an ein sehr modernes Medium: das Internet. Dass die Leser aus ihrer passiven Rolle aussteigen und selbst zu Autoren werden, nennt man in Zeiten des Web 2.0 »user-generated content«, nutzergenerierter Inhalt. Kein Chefredakteur entscheidet, was seine Leser zu interessieren hat und was nicht -jeder Schreiber wählt selbst aus, was ihm berichtenswert erscheint. »Wir haben insgesamt rund 750 Scribes«, wird mir die Chefredakteurin Fannie Erb-Miller später am Telefon erzählen, als ich sie in der Redaktion in Ohio anrufe. »Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, und die Schreiber sind über ihre Heimatgemeinde hinaus bekannt.« Ebenso wie der gesamte Lebensstil der Amish mag ein Wochenblatt wie The Budget auf den ersten Blick antiquiert wirken und dem Untergang geweiht. Und doch könnte es die Zeitung sein, die noch gedruckt werden wird, wenn alle anderen längst auf das iPad oder andere sogenannte TabletPCs verlagert wurden, mit Digitaltechnik auf die Netzhaut der Leser projiziert oder direkt in unsere Gehirnströme eingespeist werden. »Ich gehe davon aus, dass es The Budget noch auf Papier geben wird, wenn Zeitungen wie die New York Times vielleicht nur noch onIine erscheinen«, sagt auch Fannie Erb-Miller zuversichtlich. Und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich hoffe nur, dass es dann auch noch Druckerpressen geben wird, damit wir sie weiterhin drucken können.«
Als ich -ungefähr bei der Hälfte meines Selbstversuchs angelangt -in Berlin an meinen Besuch bei den Amish zurückdenke, fühle ich mich ihnen plötzlich verbundener als damals. Während mir viele der Regeln befremdlich und willkürlich erschienen, kann ich heute besser verstehen, warum sie mir schon damals trotzdem so zufrieden und mit sich im Reinen vorkamen. Ich erinnere mich, wie ich über die Angst schmunzelte, die David Yoder und Jacob und Elliot Graber vor der modemen Welt und ihren Anforderungen zu haben schienen. Aber hatte ich nicht eine ähnlich starke Angst gehabt, als mein Selbstversuch näher rückte und es darum ging, auf all meine digitale Kommunikation zu verzichten? Es ist immer das Fremde, Unvertraute, das uns schreckt. Dabei klappt meine Abstinenz inzwischen, nach fast drei Wochen, eigentlich sehr gut. Wenn mich die Grabers sehen könnten!
Tag 20 Freunde und Freundesfreunde
Mein Freund Jörg, ein Architekt, der eigentlich in Köln wohnt, ist für ein Projekt in der Stadt, und wir haben uns auf ein Bier verabredet. Als ich tagsüber am Telefon Jessica davon erzähle, fragt sie:
»Jörg? Ist das ein guter Freund von Dir? Von dem hast du noch nie erzählt.« Sie hat recht. In den drei Jahren, die wir zusammen sind, habe ich ihn höchstens einmal gesehen, dazu ein oder zwei Telefonate, eine Handvoll Mails. »Gute Frage«, antworte ich. »Er ist jedenfalls ein alter Freund. Eigentlich auch ein guter, auf alle Fälle mehr als ein guter Bekannter. Wir waren sogar mal zusammen eine Woche im Urlaub. Aber in letzter Zeit hatten wir nicht so viel miteinander zu tun.« -»So wie bei mir und Tanja?«, fragt Jessica. »Ziemlich genau so«, antworte ich -und bin froh darüber, dass wir beide wissen, wovon wir reden, auch wenn es schwierig ist, hundertprozentig korrekte Begriffe dafür zu finden. Wollen wir Freunde sein?
Über wenig gibt es in Bezug auf das Internet so viele Missverständnisse wie über das Thema Freundschaft. »Da haben die Leute dann 200 oder 500 Freunde -wer soll das denn glauben?«, empören sich die Kritiker von Facebook oder MySpace. Das Internet zerstöre die wahre Freundschaft, behaupten Pessimisten wie der Kulturkritiker William Deresiewicz. »Wir haben so viele Freunde im Internet, dass wir ein neues Wort für die echten brauchen«, fordert die Werbekampagne einer Tageszeitung.
»To unfriend« -also jemandem die (virtuelle) Freundschaft kündigen -wurde 2009 vom Oxford Dictionary zum Wort des Jahres gekürt. 16
Ich bin der Ansicht, dass der allergrößte Teil der Debatte über »Internetfreundschaft« versus »echte Freundschaft« komplett überflüssig ist. Nicht, weil eines davon wichtiger, richtiger oder überlebensfähiger wäre als das andere oder weil sie sich gegenseitig ausschließen. Sondern weil die meisten Menschen intuitiv zwischen den beiden Arten unterscheiden können und es Dutzende Male am Tag tun -oft bewusst, meistens aber auch ganz automatisch. Wer glaubt, dass seine Mitmenschen ihren besten Freund nicht von einem Online-Profil unterscheiden können, ist so behämmert, wie er es diesen Mitmenschen zu sein unterstellt. Jedem klar denkenden Menschen ist völlig klar, dass die Tatsache, ob man jemanden um Hilfe bitten würde oder im Krankenhaus besucht, nicht im geringsten davon abhängt, ob ma~ auf Facebook befreundet ist oder nicht. Die Liste der Menschen, an die ich mich wenden würde, wenn morgen mein Haus bis auf die Grundmauern abbrennt, ist natürlich eine vollkommen andere als meine Facebook-Freundesliste. Manche Menschen sind auf bei den von diesen Listen, manche nur auf einer davon, manche auch auf keiner der beiden und ich nehme mir trotzdem das Recht heraus, sie meine Freunde zu nennen. Die ganze angebliche Verwirrung um den Freundesbegriff, die durch die sozialen Netzwerke entstanden ist, ist nur eine scheinbare. Denn die Nuancen der unterschiedlichsten Freundschaftsmödelle waren schon immer feiner, als die Sprache sie vermitteln konnte. »Freund« konnte schon immer viel bedeuten -vom Kindergartenfreund, den man seit Ewigkeiten kennt, aber mit dem man nicht mehr allzu viel zu tun hat, über den besten Freund , den man vielleicht noch gar nicht so lang kennt, aber dafür sehr gut, bis zu dem Kollegen, der eben mehr ist als nur das, weil man auch privat gerne Zeit miteinander verbringt. Diejenige tiefe Freundschaft, die man »im echten Leben« meist nur für eine Handvoll Menschen empfindet -meist die, bei denen man ohne zu zögern morgens um vier klingeln würde, wenn einen der Partner rausgeworfen hat -entsteht aus miteinander verbrachter Zeit, gewachsener Loyalität und Ehrlichkeit, aus Liebe, regelmäßigem Austausch, gemeinsamer Freude und gemeinsamem Frust. Doch diese Form der Freundschaft ist nur eine von vielen -eine, die völlig unabhängig von Facebook existiert und vom Internet weder gefördert noch.bedroht wird.
Trotzdem haben Netzwerke wie Facebook natürlich im Bereich der Freundschaft etwas bewegt und verändert: Sie haben den »sozialen Graphen«, also das Netzwerk unserer verschiedenen Beziehun16 Ein Jahr zuvor hatte die Konkurrenz, das Webster's New World Dictionary, den Begriff »overshare« zum Wort des Jahres gemacht, jenes unschöne und vor allem im Internet häufig anzutreffende Verhalten, sein Umfeld mit zu vielen und zu intimen Details zu behelligen. gen, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sichtbar gemacht -für uns selbst, aber auch für andere. Sicherlich gab es früher auch schon Adressbücher, aber erstens veralteten deren Einträge nach und nach -und man konnte nicht binnen Sekunden eine Liste aller Freunde, Bekannter und Kollegen erstellen, die in der selben Stadt wohnen wie man selbst. Im Internet geht das. Der zweite, viel wichtigere Unterschied ist jedoch: Als die Freundeslisten noch in handgeschriebener Form in ledergebundenen Büchern standen, wäre man nie auf die Idee gekommen, darin zu stöbern. Auf den meisten sozialen Netzwerken lässt sich (je nach individuellen Einstellungen der Privatsphäre) relativ schnell und einfach sehen, mit wem unsere Freunde befreundet sind, welche Freunde wir gemeinsam haben und so. weiter. Früher hatten wir das teilweise im Kopf, teilweise aber eben auch nicht -weil man es gar nicht immer wissen konnte. Das führte früher bisweilen zu lustigharmlosen Situationen, dass man zwei Personen, mit denen man auf völlig unterschiedlichem Weg befreundet war, einander vorstellen wollte -und diese plötzlich sagten: »Wir kennen uns doch schon ewig, wir haben doch fünf Jahre lang miteinander studiert.«
Als der französische Soziologe Pierre Bourdieu in den achtziger Jahren vom »sozialen Kapital«
sprach, hatte er vermutlich nicht unseren »Friend Feed« bei Facebook im Sinn, der uns jeden Tag darüber auf dem Laufenden hält, wie sehr unsere Freunde von ihrer Arbeit oder dem Wetter genervt sind. Dennoch sind unsere Freundschaften -oder »Bekanntschaften« oder »Menschen, die wir kennen«, wenn FreundschaftsHardlinern diese Begriffe lieber sind ~ auch Teil unseres sozialen Kapitals. Der amerikanische Soziologe Robert D. Putnam hat versucht, dieses soziale Kapital in zwei verschiedene Arten aufzuteilen: in das sogenannte Bonding Capital (also etwa »verbindendes Kapital«) und das Bridging Capital (sozusagen »überbrückendes Kapital«). Während das Bridging Capital etwas darüber aussagt, mit wie vielen unterschiedlichen Menschen wir verbunden sind, aus welchen unterschiedlichen Sphären und Schichten diese stammen, wie groß also gewissermaßen unsere
»Reichweite« ist, sagt das Bonding Capital mehr darüber aus, wie eng unsere Bindungen sind, wie groß unser gegenseitiges Vertrauen und unsere Wertschätzung _ also vielleicht wie viel »guter Freund« in einer Freundschaftsbeziehung steckt. Anders formuliert: Bridging Capital fragt danach, wie viele Menschen man kennt, denen man Geld leihen würde. Bonding Capital hingegen stellt die Frage, wie viel man jedem einzelnen von ihnen leihen würde.
Abends treffe ich mich mit Jörg, den ich meinen Freund nenne, obwohl wir nicht auf Facebook befreundet sind; Dem ich relativ schnell zumindest einen dreistelligen Betrag leihen würde, obwohl wir uns nur selten sehen. Klingt kompliziert und ist umständlich zu beschreiben, ist aber in Wirklichkeit absolut einfach. Wir sind im Cafe St. Oberholz verabredet, jenem dreistöckigen Eckhaus am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte, das seit einigen Jahren als »Tummelplatz der Digitalen Boheme« gilt. Also jener Menschen, die den ganzen Tag vor ihren aufgeklappten Apple-Notebooks und einem Milchschaumgetränk sitzen. Natürlich tun sie das mittlerweile fast in der ganzen Stadt, aber aus irgendwelchen Gründen ist die Computerquote im »St. Oberholz« immer noch exorbitant hoch obwohl es das kostenlose WLAN, das einst die Netznomaden hierher lockte, heute an jedem Eckkiosk und Bierbüdchen gibt.
Auch heute· bin ich beinahe der einzige, der keinen Computer bei sich hat. Wie immer in diesen Tagen bin ich deutlich zu früh. Ich setze mich auf eine der Bänke an der Wand, die zu hoch angebracht sind, um wirklich bequem zu sein. Neben mir sitzt ein hagerer Mittzwanziger mit einer dicken Hornbrille. Ich nicke ihm freundlich zu, als ich meine mitgebrachte Zeitung aus der Jackentasche hole, aber er guckt unbeeindruckt weiter auf seinen Bildschirm. Aus den Augenwinkeln heraus versuche ich zu erkennen, was er gerade tut. Schreibt er einen Roman? Ein Konzept für ein neues InternetStartup, das er in zwei Jahren für mehrere Millionen an Rupert Murdoch verkaufen wird? Oder eine E-Mail an seine Eltern, dass sie ihm bitte noch mal etwas Geld schicken sollen? Ich drehe den Kopf unauffällig etwas weiter und erkenne das vertraute blau-weiße Layout der Facebook-Seite. Was als nächstes passiert, kann ich nicht genau begründen und vielleicht bestenfalls mit dem Begriff »Übersprungshandlung« erklären. Ich nehme jedenfalls zwei Finger und tippe meinem Nachbarn damit an die Schulter. Nicht aggressiv, aber doch mit gewissem Nachdruck.
Er zuckt erschrocken zusammen, dann sieht er mich fragend an. Ich merke, wie ich knallrot anlaufe, und verfluche meine Idee. »Ich habe dich angestupst«, sage ich eher krächzend, weil mein Mund mit einem Schlag ausgetrocknet ist. »Dh-hm«, lautet die einzige Antwort, die ich von ihm bekomme. »So wie auf Facebook, hehe!«, schiebe ich nach, inzwischen wieder mit etwas normalerer Stimme, aber noch nicht ansatzweise wieder mit normaler Hirnfunktion. Jetzt
rückt mein Nachbar so weit weg, wie er gerade eben kann, ohne dass sein Computer vom Tisch fällt. Ich weiß nicht, ob er mich für homosexuell hält, für verwirrt oder f\ir beides, ob er vielleicht nicht mal deutsch versteht und einfach nur die typische Reaktion eines Großstädters zeigt, der von einem Fremden grundlos angesprochen wird: Ignorieren, Rückzug, Geldbeutel festhalten. »Lass uns schnell woanders hingehen«, bitte ich Jörg, als er wenig später zur Tür reinkommt. »Hättest du das in einer Eckkneipe in Wedding gemacht, hättest du wahrscheinlich eine auf die Nase bekommen«, schätzt er, als ich ihm von meinem fehlgeschlagenen Experiment berichte, das virtuelle »Anstupsen« (beziehungsweise »Poken« oder »GruseheIn«, wie es auf anderen Netzwerken genannt wird) in die reale Welt zu übertragen. Und fügt kurz danach hinzu: »Oder tatsächlich einen neuen Freund gefunden.«
Ich erzähle Jörg von meinem Interview mit dem FacebookGründer Mark Zuckerberg, den ich vor einiger Zeit in München traf. Er war damals ein wenig enttäuscht, denn das Oktoberfest, von dem er wie fast alle Amerikaner gedacht .hatte, es würde im Oktober stattfinden, war gerade zu Ende gegan-gen. Als ich mit ihm über das Thema Freundschaft im Internet sprach, sagte er folgendes: »Freunde werden im Internet zu einer immer wichtigeren Informationsquelle -wichtiger als die alten Massenmedien. Wenn Ihnen ein Freund einen Link zu einem Text oder einem Film oder einem Musikstück schickt -dann haben Sie doch sehr viel mehr Interesse daran, als wenn diesen ein wildfremder Journalist oder Musikredakteur für Sie ausgesucht hat.« Und als ich ihn fragte, ob und wie das Internet unsere Freundschaften verändere, hatte er die einfache Antwort: »Das Internet ist nicht unbedingt ein guter Ort, um neue Freunde zu finden, aber ein gutes Instrument, um die Freundschaften zu pflegen, die man hat.«
Jörg ist ein wenig skeptisch, was die ganzen digitalen Heilsversprechen betrifft: Der Jubel über die grenzenlosen Möglichkeiten; die Studien, die Google mit 86 Milliarden Dollar zur wertvollsten Marke der Welt küren; die ständig neuen Internetfirmen, die alle gleich heißen: Meebo, Bebo, Zalando, Traviago -oder Twitter, Flickr, Tumbir, Talkr, Anothr, Flattr. Seine Vorbehalte kommen vielleicht auch daher, dass er vor ziemlich genau zehn Jahren schon einmal beim Platzen einer großen Internetblase hautnah dabei war. »Davor hatten alle wie verrückt nach OnIine-Redakteuren gesucht«, erinnert er sich. »Alles, was damals im Vorstellungsgespräch gefragt wurde: ob ich OnIine-Erfahrung besäße. Ich sagte ja -dabei war ich bis dahin genau drei Mal im Internet gewesen. Aber das spielte keine Rolle -Geld auch nicht.« Ein paar Monate später war es vorbei mit der digitalen Goldgräberstimmung. Auch heute befürchten Kritiker, dass es hochgejubelten Firmen wie Facebook oder Twitter, die allesamt über viel Nutzermasse, aber keine althergebrachten »Erlösmodelle« verfügen, bald ebenso gehen könnte.
Trotz seiner Skepsis erzählt mir Jörg begeistert vom gestrigen Konzert einer Band, die er nur über das Internet entdeckt hat. Wieder so ein Moment, in dem ich mich seltsam abgekoppelt fühle von alldem, was meinen Freunden wichtig ist -plötzlich nicht mehr mitreden kann. Immerhin bin ich heute Abend nicht der einzige, der ganz altmodisch auf modeme Kommunikationsmittel verzichtet: Jörg hat sein Handy zuhause vergessen. Im Grunde nicht schlimm, aber eigentlich soll sich später noch unser gemeinsamer Freund Armin zu uns gesellen -und. wie immer wurde nur verabredet: »Wir rufen uns dann einfach zusammen.« Als die Zeit gekommen ist, macht sich Unruhe in uns breit. »Wir müssen ihm Bescheid sagen, wo wir sind«, fasst Jörg unser Dilemma zusammen. Nur wie? Wir trauen unseren Augen kaum, aber in dem gemütlich holzvertäfelten Restaurant, in dem wir sitzen, sehen wir hinten in der Ecke tatsächlich eine Tür mit einer im Jugendstil verzierten Scheibe, auf der steht »Telefon«. Natürlich befindet sich dahinter jedoch schon seit Jahren kein Münztelefon mehr -sondern ein Zigarettenautomat und ein Metallständer für Gratispostkarten. Als wir am Tresen fragen, ob wir ausnahmsweise das Telefon der Gaststätte benutzen dürfen, heißt es »Nur Festnetz, Handynummern sind gesperrt«. Was wir für eine glatte, aber verständliche Lüge halten. Könnte ja jeder kommen. Leider hat Jörg nur die Handynummer von Armin parat, und laut dem Mann am Zapfhahn ist auch keine Te-lefonzelle in der Nähe. »Frag doch einen Gast, ob du kurz sein Handy benutzen kannst«, schlage ich Jörg vor. »Frag doch selber«, gibt dieser zurück Aber erstens essen um uns herum gerade alle, und zweitens bin ich noch etwas verstört von meinem Anstupsfiasko kurz zuvor. Mein Bedarf, mich fremden Menschen aufzudrängen, ist für heute gestillt.
Frustriert trinken wir aus und bezahlen. »Wie kann man nur so bekloppt sein und sein Handy vergessen?«, denke ich bei mir. Aber vermutlich denkt Jörg im selben Moment: »Wie kann man nur so bekloppt sein und wochenlang sein Handy abschalten?« Immerhin hat Jörg im Kopf, wo Armin wohnt, was ich nicht gewusst hätte, und wir machen uns zu Fuß auf den Weg. Nachdem wir lange schweigend durch die Kälte gestapft sind, geklingelt und gewartet haben, bis das Treppenhauslicht angeht und Armin zur Tür herauskommt, fragt er uns zur Begrüßung: »Was soll denn das Geklingel? Die Kinder schlafen doch schon! Warum ruft ihr nicht an?« »Frag nicht«, antworten wir beide gleichzeitig. Dann müssen wir lachen. Vierzehn Dinge, die das Handy auf dem Gewissen hat
•Unser Gedächtnis für Telefonnummern
•Die Armbanduhr
•Die Armbanduhr mit eingebautem Taschenrechner
•Das Freizeichen
•Das kleine schwarze Notizbuch umtriebiger Junggesellen dem ich eine ganze Villa für mich alleine habe, langsam
•Den Reisewecker
•Das Hoteltelefon
•Pünktlichkeit bei Verabredungen
•Langeweile an der Bushaltestelle
•Telefonzellen an jeder Ecke
•Streits um die WG-Telefonrechnung
•Telefonkarten-Sammler
•Toiletten, auf denen nicht telefoniert wird
•Eltern, die schimpfen: »Blockier nicht den ganzen Tag die Leitung!«
kapitel 4
Indem ich eine ganze Villa für mich alleine habe, langsam Geschmack an der Stille finde -und lerne, dass es gar nicht so einfach ist, bei Facebook dauerhaft auszusteigen.
Tag 22 Um drei Ecken beeinflusst
Seit mir das Internet als Zerstreuungsmaschine nicht mehr zur Verfügung steht, sehe ich wie schon geschildert wieder mehr fern. Aber selbst im Programm von Pro Sieben ist der Siegeszug der OnlineWelt nicht mehr zu übersehen: In einem einzigen Werbeblock sehe ich Spots für zwei Internet-Partnerbörsen, einen Online-Shop für Schuhe, eine halbseidene Auktionsplattform, für eine Webseite, auf der man alte Handys verkaufen kann, und für eine, auf der man Fotobücher von Digitalfotos erstellen kann. Dazu Werbung für einen OnlineWetterbericht sowie für einen »Mobile Stick« fürs Notebook, der es einem ermöglicht, auch unterwegs online zu sein. Natürlich kostet er nur noch einen Bruchteil von dem, was ich seinerzeit für meinen bezahlt habe, als mir durch den Umzug der Heimanschluss gekappt wurde und ich mir nicht mehr anders zu helfen wusste. In dem Werbespot für den »Mobile Stick« sitzt ein Mann an einem Bergsee in den Rocky Mountains vor einem Zelt. Und während sich vor ihm ein Panorama auftut, wie es die Welt allenfalls in solchen Werbefilmen gesehen hat, hat der Idiot tatsächlich nichts Besseres zu tun, als den kleinen Plastikstab in sein Notebook zu stecken und auf die Webseite vom Nachrichtensender N24 zu surfen. So traurig, falsch und armselig ich das beim Zusehen auch finde, so muss ich wohl zugeben, dass es sich statt einer Werbung auch um eine Beobachtung aus meinem Leben vor dem Selbstversuch handeln könnte. Wenn ich denn gerne zelten ginge.
Die wenigen verbleibenden Werbespots, die einen nicht ins Internet locken wollen, sind fast ausschließlich für Mobilfunkanbieter -oder eine Kombination aus beidem: Internet per Handy. Eine Frau erlebt mit, wie ein Chor »Freude schöner Götterfunken« singt, und schickt die Filmaufnahmen, die sie davon macht, an all ihre Facebook-Kontakte. »Heute hat man seine Freunde immer dabei«, lautet der dazugehörige Slogan von T-Mobile. In einem anderen Spot wendet sich , ein sehr bunt angezogener Mensch direkt an den Zuschauer: »Hi, ich bin Andi, und meine Freunde sagen, ich soll mal meinen Style wechseln. Schickt mir Eure Style-Ideen!«, bittet er das Publikum, und der Telekom-Able-ger Congstar verspricht am Ende, dass mit einem neuen Handyvertrag alles gut wird: »Ändere dein Leben, ändere deinen Provider!« Wenn es mal so einfach wäre.
Nach der Werbung sehe ich einen Beitrag über die Weltmeisterschaft im SMS-Schreiben: Mehr als sechs Buchstaben pro Sekunde tippen die Profis bei diesen Wettbewerben inzwischen -und es lohnt sich. Denn die neue Weltmeisterin Mok-Min Ha aus Südkorea nimmt stattliche 100000 Dollar Preisgeld mit nach Hause. Es gibt sogar einen Doppelwettbewerb, auch hier schlägt die 17-jährige MokMin Ha zusammen mit ihrem ein Jahr älteren Partner Yeong-ho Bae das Team der USA. Ich frage mich, ob ich manche Sachen, so wie das schnelle Tippen von SMS oder Tastenkombinationen auf der Computertastatur, nach meinem Selbstversuch verlernt haben werde. Oder ob es eher wie das berühmte Beispiel mit dem Fahrradfahren ist: Wenn man den Bogen einmal raus hat, verlernt man es nie mehr. Ich bin gespannt.
Vor allem aber bin ich überrascht, wie sehr ich mich inzwischen an meinen neuen, analogen Lebensstil gewöhnt habe. Ab und zu spüre ich immer noch den Impuls, »schnell etwas googeln« zu wollen, wenn mir eine Idee oder eine Frage in den Sinn kommt. Und der CTRL-TAB-Reflex ist auch noch nicht ganz verschwunden -wird aber immerhin seltener. Völlig verschwunden ist dafür der Zwang, unterwegs E-Mails aus dem iPhone abrufen zu wollen -ebenso wie die Angewohnheit, morgens nach dem Aufstehen als erstes den Computer einzuschalten. Auch wenn ich nach Hause komme, gehe ich nicht mehr mit Jacke und Schuhen zu meinem Schreibtisch und schalte den Rechner ein. Inzwischen gehe ich stattdessen als erstes zum Fernseher. Nein, so schlimm ist es zum Glück noch nicht geworden. Glück ist ansteckend
Heute habe ich mir das Buch »Connected« vorgenommen, in dem zwei amerikanische Forscher sich damit auseinandersetzen, wie uns unsere Freunde beeinflussen. Und nicht nur die: Sogar die Freunde unserer Freunde unserer Freunde, die wir selbst gar nicht persönlich kennen, tragen -wenn auch in geringerem Maße -dazu bei, welche Partei wir wählen und ob wir glücklich, übergewichtig oder Nichtraucher sind. Den »six degrees of separation«17, also den berühmten sechs Ecken, um die jeder Mensch auf der Welt jeden anderen kennt, fügen die Autoren die »three degrees of influence«, den
»Einfluss dritten Grades« hinzu. Denn bis zu drei Ecken weit reicht der positive oder negative Einfluss, den wir auf unsere Freunde haben. Und eben die Freunde ihrer Freunde. 17 Der berühmte Soziologe Stanley Milgram bat zum ersten Mal in den Sechzigern einige Hundert Menschen in Nebraska, einen Brief, der für einen unbekannten Geschäftsmann in Boston bestimmt war, an einen persönlichen Bekannten zu schicken, von dem sie glaubten, er könne den Geschäftsmann kennen. Oder den Brief gegebenenfalls an einen eigenen Bekannten weiterleiten, der ihn kannte. Im Durchschnitt waren sechs Weiterleitungen nötig, um den Geschäftsmann nur über persönliche Kontakte -zu erreichen. Zahllose Folgestudien, die oft auch global durchgeführt wurden, bestätigten diese Durchschnittszahl. Zunächst einmal ein gruseliger Gedanke: Der Kumpel der Schwester meines besten Freundes ist
-obwohl ich ihn noch nie gesehen habe -mitverantwortlich dafür, wie ich mich fühle und wie viel ich wiege? Na, herzlichen Dank! Aber es stimmt tatsächlich: Dadurch, dass wir unbewusst die Menschen imitieren, mit denen wir zu tun haben, ist ein Lächeln ebenso ansteckend wie eine Depression. Beim Lächeln kann man es relativ leicht selbst nachprüfen, in Sachen Depression verlässt man sich vielleicht besser auf Studien: So wiesen beispielsweise Uni-Anfänger, die ihr Wohnheimzimmer mit einem an Depressionen leidenden Studenten teilen mussten, nach einer Weile ebenfalls depressive Symptome auf.
Doch laut den Autoren Christakis und Fowler funktioniert diese Form der Ansteckung auch über größere Entfernungen -selbst wenn man sich gar nicht häufig genug sieht, um das Verhalten des anderen unbewusst kopieren zu können. »Soziale Kontakte, die Tausend Meilen voneinander entfernt leben, können zum Beispiel das Gewicht des anderen beeinflussen«, schreiben die Autoren. Ganz einfach, indem diese Kontakte unmerklich unsere Normen verändern -zum Beispiel diesbezüglich, wo für uns Dicksein anfängt oder wie viel Sport man treiben sollte. »Normen werden sogar weitergegeben, wenn sie das Verhalten einer Person nicht direkt verändern. Manche Menschen können eine Idee übertragen, ohne selbst das dazugehörige Verhalten an den Tag· zu legen. Folglich können Sie den Freund ihres Freundes beeinflussen, ohne dass dabei zwangsweise ihr Freund beeinflusst wird.« Einfacher formuliert: Wenn ich als Nichtraucher viele Raucher kenne, bringen sie mich offensichtlich nicht zum Rauchen -machen mich aber vielleicht toleranter gegenüber meinem Partner, der es nicht schafft, damit aufzuhören. Bin ich hingegen fast nur mit Nichtrauchern befreundet, werde ich vermutlich stärkeren Druck auf ihn ausüben, ohne Zigaretten durchzuhalten -die anderen schaffen es schließlich auch.
Nach Aussagen der Autoren ist der Effekt der Beeinflussung bei direkten Freundschaften stärker als bei denen um zwei oder drei Ecken -und er ist stärker in Freundschaften in unserem realen täglichen Umfeld als bei Freundschaften auf Distanz und via Facebook. Aber er ist dennoch in all diesen Fällen vorhanden. Gleichzeitig räumen sie in einem interessanten Kapitel ihres Buches mit dem Vorurteil auf, Kontaktpflege über Telefon und Internet würde dazu führen, dass wir die realen Kontakte vor unserer Haustür vernachlässigen. Sie führen dazu das Experiment an, das zwei Soziologen in den späten Neunzigerjahrenin einem Vorort von Toronto durchführten. In einer Neubausiedlung mit 109
Einfamilienhäusern wurden nach dem Zufallsprinzip 60 Prozent der neuen Bewohner mit einer Internetstandleitung und Videotelefon ausgestattet, 40 Prozent nicht. Im Lauf der Zeit stellte sich heraus, dass die Bewohner mit Internet und Videotelefon nicht nur ihre Kontakte und Freundschaften in die Feme besser pflegten (was wenig überrascht) -sondern auch die Kontakte zu ihren realen Nachbarn. Die HiTech-Bewohner kannten mehr ihrer Nachbarn mit Namen, unterhielten sich mit doppelt so vielen von ihnen regelmäßig und statteten ihnen häufiger Besuche ab. Und das lag nicht daran, dass sich die ohnehin geselligeren Menschen für das Technik-Paket entschieden hätten: Die Verteilung erfolgte rein zufällig. .
Katze allein zu Haus
Heute Abend werde ich zumindest ein paar Freunde meines Freundes Armin kennenlernen, die angeblich mein Leben indirekt beeinflussen. Denn er hat mich zu einer Lesung eingeladen, bei der er sein neues Buch vorstellt. Ein kalter Wind treibt mich durch die Straßen und von der S-Bahn-Station direkt vor die Backsteinvilla, die der Verlag für den Abend offenbar angernietet hat. Die Eingangstür steht offen, aber niemand ist zu sehen. Bis auf das Knarren der alten Holztreppe ist keinerlei Geräusch zu hören, als ich in den ersten Stock hinaufgehe. Auch hier: keine Menschenseele. Ich sehe auf meine Uhr und merke, dass ich wie immer in diesen Tagen zu früh bin -allerdings gerade mal eine Viertelstunde. Sind alle Gäste noch unterwegs und die Veranstalter selbst so spät dran? Die großen, eleganten Räume sind allesamt erleuchtet, in einem von ihnen stehen auch bereits artig aufgebaute Stuhlreihen, es gibt sogar eine Küche, in der mehrere große Einkaufstüten stehen. Wäre ich mit dem Auto da und hätte eine größere kriminelle Energie, könnte ich vom Tafelsilber bis zum Kronleuchter reiche Beute machen. Der einzige Zeuge wäre eine kupferrote Katze, die sich auf dem Fenstersims oberhalb einer leise klopfenden Heizung wärmt. Ihr Blick verheißt mir Stillschweigen -aber ich will ja gar nichts mitnehmen. Ich will, dass Armin kommt und aus seinem Buch vorliest und jemand Weinflaschen öffnet und Schnittchen reicht. Oder zumindest, dass ein Hausmeister kommt und mich fragt, was ich hier will-und mich zwei Sätze später nach nebenan in eine noch prächtigere Villa mit noch größeren Wein-und Schnittchenvorräten schickt, in die die Lesung verlegt werden musste. Doch nichts passiert. Unter normalen Umständen würde ich einfach Armin anrufen, um herauszufinden, wo das Problem liegt. Doch ohne Handy kann ich weder das tun, noch auf irgendeinem anderen Weg klären, ob der Termin verschoben wurde oder alle Teilnehmer samt und sonders aufgrund mysteriöser Umstände am selben teuflischen Virus erkrankt sind. Dies ist der erste Moment meines Selbstversuchs, in dem ich bereit wäre, mein Gelübde zu brechen und in ein Internetcafe zu gehen, um a) nachzusehen, ob ich eine Absage der Lesung per Mail bekommen habe. Um b) zu googeln, ob der Termin beziehungsweise seine Verschiebung irgendwo angekündigt ist. Und um c) Armin eine Reihe unflätiger Beschimpfungen zu schicken, für deren Grobheit ich mich am nächsten Tag entschuldigen müsste. Doch in einem VillenWohnviertel wie diesem hier gibt es natürlich keine Internetcafes oder Callshops, die mit billigen Tarifen nach Angola werben. Hier gibt es nur Hecken und Hermes. Ich will gerade missmutig nach Hause stapfen, als ich auf einem Tisch neben dem Katzensims ein Blatt Papier entdecke. Auf ihm ist die Bestuhlung aufgemalt sowie eine Einkaufsliste für die Getränke und das Catering. Die für mich interessanteste Information steht jedoch groß darüber: Armins Name -und das morgige Datum.
Eine Antwort, die natürlich sofort mehrere neue Fragen aufwirft: Warum bin ich nicht wie sonst zurzeit üblich ein paar Minuten zu früh, sondern gleich einen ganzen Tag? Hat mir Armin den falschen Termin gesagt? Oder ich ihn mir falsch gemerkt? Wie soll man das bei einer Einladung, die nur mündlich über einer Panna Cotta nach unserem gemeinsamen Abendessen ausgesprochen wurde, jemals herausfinden? Ist es überhaupt wichtig? Und warum zum Teufel ist hier trotzdem Festbeleuchtung, und alle Türen stehen sperrangelweit offen?
Tag 23 Der Geräuschesammler
Zumindest ein Teil der Rätsel des gestrigen Abends lassen sich relativ leicht lösen: »Ich muss dir aus Versehen den Termin der Lesung in München gegeben haben«, entschuldigt sich Armin, als ich ihn anrufe. »Die war nämlich gestern. Heute ist die in Berlin. Kommst du trotzdem noch mal?« Ich verspreche, zu kommen -immerhin kenne ich jetzt ja schon Weg, Sitzplan und Hauskatze. Und sein Buch will ich ja auch endlich zu sehen bekommen.
Zunächst führt mich meine eigene Recherche an diesem Tag jedoch in die Staatsbibliothek am Potsdamer Platz. Es ist fast zehn Jahre her, dass ich zuletzt in einer großen Unibibliothek war, damals anlässlich meiner Magisterarbeit. Und auch wenn es damals eine andere Bibliothek war, erkenne ich die Geruchsmischung aus alten Büchern, noch älterer Auslegeware und der spülmaschinendampfigen Cafeteria-Tabletts sofort wieder. Das Verrückte: Ich mag diesen Geruch. Ebenso wie die gesamte Atmosphäre des konzentrierten Lernens, der Achterbahn aus Langeweile und Prüfungspanik, aus Geistesblitzen und Kaffeepausen. Als ich durch die Regalreihen gehe, fällt mir noch einmal Clay Shirky ein und seine These, dass es kein »Zuviel« an Informationen gäbe, sondern nur schlechte Filter. »Die Klagen über die angebliche Informationsüberflutung gibt es doch schon seit Ewigkeiten«, sagt Shirky. »Aber Information ist das, was für die Fische das Wasser ist. Das, worin wir uns bewegen.«
Ich weiß, dass Shirky recht hat mit dem, was er sagt. Trotzdem merke ich, während ich nach den Aufsätzen suche, die ich lesen möchte, wie leicht sich ein Gefühl der Ohnmacht einstellt, wenn man sich mit einer riesigen Menge von Informationen konfrontiert sieht. Ob es nun zwischen den Tausenden von Büchern eines Bibliothek-Lesesaals geschieht (von den Abertausenden, die in den Archiven und Kellern schlummern und die man erst mühsam per Leihsystem bestellen muss, gar nicht zu reden) oder zwischen den Millionen von Dokumenten im World Wide Web: Man hat ständig das Gefühl, noch mehr lesen, noch mehr Informationen sammeln zu müssen. Und mit jeder Information, die man verarbeitet, stößt man auf zwei neue, die man unbedingt »auch noch mitnehmen« muss, um das gesamte Bild zu verstehen. Doch bei jeder Recherche, analog oder digital, muss irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem man aufhört zu sammeln und beginnt, auszuwerten; zu verstehen, zu sor-tieren und gegebenenfalls zu schreiben. Sonst hat man zwar den ganzen Tag Treibholz und Baumstämme gesammelt aber am Abend weder ein Kajak noch ein Kanu gebaut. Der Klang der Stille
Neben der konzentrierten Atmosphäre und dem Gefühl, dass jeder hier an einem vielleicht völlig obskuren, aber für sich genommen unglaublich spannenden Fachgebiet der Bioanalytik, Literaturwissenschaft oder Organisationssoziologie arbeitet, gefällt mir vor allem die Stille. Ich kenne sie von zuhause, und so fremd sie mir am Anfang war, so sehr habe ich mich an sie gewöhnt. Kein Handy klingelt, kein Computer gibt mit lautem »Blöp« eine Fehlermeldung von sich. Gespräche finden nur in der Cafeteria statt -alles,. was man hört, ist das Umblättern von Papier. Oder manchmal ein leises Schnarchen, wenn jemand nach mehreren Stunden AdornoLektüre auf seinem Bücherstapel eingeschlafen ist. Ich muss an Gordon Hempton denken, einen Geräuschesammler, den ich gemeinsam mit Jessica vor einiger Zeit im Olympic National Park in der Nähe von Seattle besucht habe. Er würde sich kaputtlachen, wenn ich ihm das, was ich in der Bibliothek genieße, als Stille verkaufen würde. Er ist in den verregneten, aber wundervoll üppigen Olympic National Park gezogen, weil es laut seinen Nachforschungen der stillste Ort in den gesamten USA ist. »Hört Ihr das?«, begrüßt er Jessica und mich bei unserem Besuch. Wir schütteln den Kopf. »Eure Ohren sind noch gestresst von der Anreise«, diagnostiziert er. »Aber in der Ferne kann man einen Dieselgenerator hören. Den gibt es normalerweise nicht, aber am Wochenende hat der Sturm ein paar Stromleitungen gekappt.« Hempton ist 57 und sammelt tatsächlich Geräusche. Was als Leidenschaft für die Klänge der Natur begann und nur ein Hobby war, das sich Hempton mit Jobs als Fahrradkurier finanzierte, wird inzwischen von Museen wie dem Smithsonian oder dem American Museum of Natural History sowie Firmen wie Microsoft gut bezahlt. »Die schicken mich um die ganze Welt, um Geräusche aufzunehmen. Nicht nur aus der Natur, sondern zum Beispiel auch den Klang einer alten Dampflokomotive«, erzählt der freundliche Eigenbrötler. Hemptons Aufnahmen kann man auch in Filmen hören: Für den Survival-Thiller »Überleben!« zum Beispiel hat er Aufnahmen vom Wind in den Anden gemacht. Viele der Geräusche von Microsofts Multimedia-Enzyklopädie »Encarta« stammen ebenfalls von ihm. Aber das Brummen des Windes in einem hohlen Baumstamm oder die Landung eines fallenden Blattes in perfekter Aufnahmequalität festhalten zu können, ist mehr als ein Beruf für Hempton. Es ist seine Passion. »Wir Menschen haben im Lauf unserer Entwicklung gelernt, dass es nicht gut ist, unseren Müll einfach in den Wald zu werfen«, erklärt er sein Anliegen. »Aber dass es auch akustische Umweltverschmutzung gibt, haben bisher nur die Wenigsten begriffen. Dabei ist es um jeden Ort der Stille, der von Lärm verschmutzt wird, genauso schade wie um einen Wald, der zu einer Müllkippe gemacht wird.« Der Nobelpreisträger Robert Koch ist ein prominenter Zeuge für Hemptons Anlie-gen, prophezeite er doch schon 1905: »Der Tag wird kommen, an dem die Menschheit den Lärm ebenso unerbittlich wird bekämpfen müssen, wie wir es mit Pest und Cholera getan haben.«
Wir wandern durch den tropfenden, dampfenden Regenwald in der Nähe der· Grenze zu Kanada und durchqueren dabei das akustische Naturschutzgebiet, das Gordon Hempton hier ausgerufen hat. Um die Stille zu bewahren, notiert er sogar die Uhrzeiten, zu denen Flugzeuge über den Nationalpark fliegen. Im Internet findet er anschließend heraus, zu welcher Fluggesellschaft sie gehören, und bittet diese, ihre Routen so zu ändern, dass sie das Gelände nicht mehr über" queren. Das Erstaunliche:
»Die meisten ändern ihre Routen tatsächlich.« Trotzdem erscheint sein Kampf nahezu aussichtslos: 1983, so sagt er, konnte er auf seinen Rundreisen durch die USA noch 21 Orte finden, in denen mindestens 15 Minuten am Stück kein von Menschen produziertes Geräusch zu hören war. Ein Vierteljahrhundert später sind es nur noch drei -einer davon der Olympic National Park. Doch selbst hier muss Hempton um die Ruhe kämpfen: Die Parkverwaltung zieht seit einiger Zeit in Erwägung, Helikopterrundflüge über die eindrucksvolle Landschaft anzubieten, wie sie in anderen Nationalparks, beispielsweise am Grand Canyon schon lange Realität sind.
Fast alle Menschen seien gar nicht mehr in der Lage, Stille zu erleben -selbst wenn sie es wollten. Denn in unserer Zivilisation gibt es laut Hempton keinen Ort mehr, an dem nicht zumindest in der Ferne eine Straße zu hören ist, Maschinenlärm herüberweht -oder eben ein Flugzeug den Himmel durchfräst. »Die Menschen merken es nicht mehr«, beklagt Hempton, »Und empfinden es schon als still, wenn der Presslufthammer nicht direkt unter ihrem Fenster steht.« Nach einer mehrstündigen Wanderung, während deren er uns von seinem schwierigen Kampf berichtet, die Stille des Parks auch gesetzlich verankern und schützen zu lassen, verlassen wir den offiziellen Wanderweg. Hempton legt einen Finger über seine Lippen. Ab hier wird nicht mehr gesprochen, hat er uns vorher bereits erklärt. Wir nähern uns gewissermaßen dem Epizentrum der Stille. Wir folgen einem alten Elchpfad durchs Unterholz, balancieren auf Baumstämmen über kleine Bäche, bis wir schließlich an eine Lichtung gelangen. Hier befindet sich der »One Square Inch«, der »Quadratzoll«, ein auffälliger Stein, etwa so groß wie eine Streichholzschachtel. Hempton hat ihn auf einem Baumstumpf platziert, um den Ort der völligen Stille zu markieren. Hierhin, mitten im Park, weit weg von allen Straßen und Häusern, dringt kein menschengemachtes Geräusch. Denn das ist es, was Hempton mit Stille meint: nicht die völlige Abwesenheit von Geräuschen -sondern »die ungestörte Klangwelt der Natur«. Denn wenn keine Helikopterrotoren, Flugzeugdüsen oder Schneemobilmotoren die Harmonie der Natur stören, kann man meilenweit hören. Das Murmeln eines Baches ganz in der Nähe oder das Brüllen eines Bären im entfernten Tal. In einem ausgehöhlten Baum neben dem Baumstumpf mit dem »Stein der Stille« hat Hempton ein großes Einweckglas deponiert, in dem sich ein Block und ein Bleistift befinden. Jeder Besucher kann auf einem Zettel eine Nachricht hinterlassen, einen Gedanken, einen Wunsch. Schweigend gibt er uns einige Zettel zu lesen. Es sind sorgsam zusammengefaltete Zeugnisse besinnlicher Momente, manche überwältigt vom Glück, andere nachdenklich. Auf einem gedenkt eine Gruppe einer gemeinsamen Freundin, die sich auch mit auf die Reise an diesen einzigartigen Ort machen wollte, aber zuvor an Krebs verstarb. »Einmal hat ein junger Mann seiner Freundin dort in völliger Stille einen Heiratsantrag gemacht«, verrät uns Hempton später, als wir die Schweigezone wieder verlassen haben. Auch wir fühlen uns seltsam ergriffen und spüren gleichzeitig tiefen Frieden. Vielleicht, weil es wirklich so vollkommen ruhig war und unsere Körper diesen ungewohnten Zustand der Stille genossen. Vielleicht, weil ein Verbot, zu sprechen, schnell etwas Feierliches, Besinnliches bekommt, auch wenn man in verdreckten Wanderstiefeln neben einem Häufchen Elchmist steht. Vielleicht auch einfach, weil Gordon Hempton so ein sympathischer und mitreißender Kämpferfür die stille Sache ist. Er hat ein Buch über seine Anstrengungen geschrieben, dessen Titel übersetzt lautet: »Ein Quadratzoll Stille: Die Suche eines Mannes nach der Stille der Natur in einer Welt voller Lärm«. Die Gegenpole Lärm und Stille begleiten den »Soundtracker« schon seit jungen Jahren: Als er gerade sein Botanikstudium abgeschlossen hatte, fuhr er einmal eine lange Strecke über die nordamerikanische Prärie, wurde am Steuer müde und beschloss, sich auszuruhen. »Als ich mich neben meinem Auto in ein Feld legte, konnte ich jedoch nicht schlafen«, erinnert er sich an sein akustisches Erweckungserlebnis, während wir uns auf den Weg zurück in den Lärm der Zivilisation machen, weil der Abend langsam herandämmert. »Grillen zirpten, Vögel zwitscherten, Moskitos summten um mich herum , und in der Ferne grollte ein Gewitter. Es war, als hätte sich mir urplötzlich eine neue Welt erschlossen. Eine Welt , von der ich bisher nichts gewusst hatte.«
Hempton machte diese neue Welt zu seinem Beruf und arbeitete als Geräuschesammler -bis zu seinem Hörsturz vor etwa sieben Jahren. Kein Arzt wusste Rat, und es dauerte rund anderthalb Jahre, bis das Pfeifen, das er plötzlich ständig hörte, vollständig wieder verschwunden war. Eine Zeit, in der er nicht nur finanziell, sondern auch emotional vor dem Ruin stand. Inzwischen ist sein Gehör jedoch zum Glück wieder genauso gut wie vor dem Hörsturz. Dass er jedoch ein besonders gutes Gehör habe, sei ein häufiger Irrglaube, erklärt er, während er mit einem Blick zum Himmel abschätzt, wie lange uns noch bleibt, bis die Dunkelheit über den Park hereinbricht. »Ich höre minimal besser als der Durchschnitt«, sagt er. »Aber ich habe keinerlei Superohren oder so etwas.«
Dass man jedoch auch im hintersten Winkel der USA keine ewige Garantie für Ruhe und ein ungestörtes Leben in der Natur bekommt, musste Hempton kürzlich erfahren: Nicht nur spielen die Vampirbücher »Bis(s) zum Morgengrauen« und »Bis(s) zum Abendrot« der Bestsellerautorin Stephanie Meyer in Hemptons Wohnort Forks am Rande des Nationalparks, sie locken auch die Fans dorthin. Seitdem erlebt das vormals eher ärmliche Städtchen einen Boom von Vampir-Touristen und Stepha-nie-Meyer-Fans, denen Bustouren, T-Shirts und Vampirburger geboten werden. Wenn Hempton Glück hat, geht der Spuk ebenso schnell vorbei, wie er begonnen hat, und er bekommt seinen verschlafenen Ort und seine geliebte Ruhe zurück. Wenn nicht, muss er vielleicht an einen der bei den anderen Orte ziehen, in denen es noch mehr als 15 Minuten Stille am Stück gibt. Wo die sich befinden, will er jedoch nicht verraten -um sie zu schützen. Für einen Umzug müsste allerdings noch seine Frau einwilligen, die Hempton erst vor kurzem geheiratet hat. Und für sie ist es überall gleich still. Denn sie ist gehörlos.
»Krchz ... Liebe Leser! Das Ausleihsystem steht die nächste halbe Stunde nicht zur Verfügung.« Die knorrige Lautsprecherdurchsage in der Bibliothek holt mich unsanft wieder in die Berliner Gegenwart zurück. Auch hier im Hort des Wissens hat die Stille offenbar ihre Grenzen. Trotzdem, mein Leben ist in den letzten drei Wochen deutlich ruhiger geworden; und ich genieße das jeden Tag mehr. Aber Stille das war auch Gordon Hempton auf seinem Kreuzzug wichtig -darf nicht Einsamkeit und Verzicht auf Freundschaften bedeuten. Deshalb mache ich mich am Abend auf zu Armins Lesung
-diesmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und als später der Applaus in Stimmengewirr und Gläserklirren übergegangen ist, merke ich: Manchmal kann Lärm genauso angenehm und erbaulich sein wie Stille.
Tag 24 Vom Glückscomputer ausgewählt
Das Festnetztelefon klingelt, als ich gerade aus der Dusche komme. Da ich die Kunstfertigkeit, mit der sich Frauen in einer halben Sekunde einen ordentlichen Handtuchturban auf den Kopf zaubern, zwar stets bewundert, aber nie gemeistert habe, renne ich mit tropfenden Haaren und wehendem Bademantel zum Telefon. Leider jedoch völlig umsonst: »Herzlichen Glückwunsch! Sie haben gewonnen«, will mir eine Tonbandstimme weismachen. »Ja, Sie haben richtig gehört! Unser Glückscomputer hat Sie ausgewählt ... «, mehr höre ich schon gar nicht mehr. Früher konnte man wenigstens mit Wucht den Hörer auf die Gabel knallen, um sich abzureagieren -seit die Gabel jedoch durch einen kleinen roten Knopf ersetzt wurde, den man drücken muss, geht das leider nicht mehr. Schade um die Dramatik!
Greife das Link!
Völlig bleibe ich also auch in meiner digitalen Fastenzeit nicht von Spam verschont. Obwohl er derzeit nicht in Form von E-Mails meine Nerven strapazieren kann, sondern nur per Telefon. Die zentrale Errungenschaft des Internets _ nämlich, dass es einfacher, billiger und schneller möglich ist für jeden Einzelnen, mit einer großen Menge von Menschen zu kommunizieren, hat auch dafür gesorgt, dass diese Kommunikation stattfindet, ohne dass wir es wollen. Dass uns von wildfremden Menschen Diätpillen, Penisvergrößerungen und gefälschte Rolex-Uhren angeboten werden. Dass wir bombar-diert und abgelenkt werden von E-Mails mit automatisch übersetzten Betreffzeilen wie »Greife das Link!« oder »Gewinne groß im Casino Spaß«. Wenn man sich die Zahlen hinter dem ganzen Quatsch ansieht, merkt man schnell, dass Spam-Mails nicht nur nerven, sondern auch ein tatsächliches Problem darstellen: Rund 250 Milliarden E-Mails werden inzwischen täglich weltweit verschickt, beinahe drei Millionen pro Sekunde. Die Angaben, wie viel davon unerwünschte Spam-Mails sind, variieren je nach Studie zwischen 90 und 97 Prozent. Würden alle davon unsere Postfächer erreichen, wäre das wunderschöne und praktische Kommunikationsmittel E-Mail nicht mehr zu gebrauchen. Denn jeder, der 50 echte Mails am Tag bekommt, müsste sich erst einmal durch rund 1000 unerwünschte wühlen. Seit Jahren läuft also ein digitales Wettrennen zwischen den Versendern von Spam-Mails und den Entwicklern sogenannter Spam-Filter, die verhindern sollen, dass uns nutzlose Mails erreichen, aber trotzdem alle richtigen und wichtigen durchlassen. Kein leichtes Unterfangen! Als beispielsweise Spam-Filter anfingen, Mails mit dem Begriff »V1ag*ra« auszusortieren, schrieben die Spammer einfach »V1agra« oder »Via_gra«. Als die Filter auch darauf reagierten,verschickten die Spammer plötzlich keine Texte mehr, sondern Bilder, auf denen sich die zu übermittelnden Informationen befanden. Auf jeden Trick der einen Seite antwortet die gegnerische mit einer geeigneten Kontermaßnahme. Doch auch gefiltert ist Spam noch teuer genug: Ein mittelständisches Unternehmen verliert dadurch etwa 500 Euro pro Jahr und Mitarbeiter. Allein in den USA werden über zehn Milliarden Dollar für Spam-Filter und andere Maßnahmen ausgegeben, um nicht in der Flut von Werbemails zu ertrinken.
Und es geht längst nicht nur um Geld -Spam-Mails schaden auch der Umwelt. Experten schätzen, dass für das Versenden, Empfangen und Filtern von Spam jährlich 33 Milliarden Kilowattstunden Strom aufgewendet werden -in etwa die Menge, die acht Millionen deutsche Drei-Personen-Haushalte jährlich verbrauchen. Spam-Mails erzeugen so viele Treibhausgase wie 3,1 Millionen Autos -denn auch wenn E-Mail ein scheinbar kostenloses Medium ist: Jeder Mailserver braucht Strom und Kühlung und muss -genauso wie die immer größeren Datenleitungen -überhaupt erst mal hergestellt werden. Wenn man sich wundert, wer all diese Müllmails überhaupt versendet, muss man geduldig sein und warten -bis einer von ihnen verhaftet wird. Wie zum Beispiel der 25-jährige Japaner Yuki Shiina,der 2008 hinter Gitter karn und zuvor in knapp zwei Jahren rund 2,2 Milliarden Werbemails für OnlineCasinos und Dating-Seiten verschickt hatte. Einer der größten Müllmailer ging jedoch den Behörden der USA ins Netz: Dort wurde Robert Soloway, in Fachkreisen nur als »Spamkönig« bekannt, ebenfalls 2008 von einern Gericht zu einer Haftstrafe von 47 Monaten verurteilt. Insgesamt fünf Jahre lang war der Gründer der Firma Newport Internet Marketing (NIM) immer wieder entkommen und hatte mehrere Geldstrafen in Millionenhöhe und eine Anklageschrift mit insgesamt 40 Punkten angesammelt. Noch interessanter als die Frage, wer all die Spam-Mails verschickt, finde ich persönlich jedoch die Frage, wer sie öffnet, liest und daraufhin wirklich nichts Besseres zu tun hat, als »das Link zu greifen«. Aber irgendjemand muss es tun, sonst würden nicht jeden Tag Milliarden von Spam-Mails um die Welt geschickt. Ich habe einmal versucht, herauszubekommen wie teuer es wäre, Menschen mit unerwünschter Mail-Werbung zu belästigen: 2008 kostete es einen Spammer rund 350 Euro, satte 20
Millionen Mails mit einem Betreff wie »Ihre Frau wird jubeln« oder »Über Nacht zum Milliardär« zu verschicken18 inzwischen ist es bestimmt noch billiger. Es reicht also, wenn nur jeder Millionste Empfänger eine falsche Rolex oder ein Päckchen »V1ag*ra« aus einer chinesischen Tiermehlfabrik kauft -sobald der Absender an jedem dieser 20 Verkäufe 20 Euro verdient, ist er schon im Plus. Das Unglaubliche: Die Trefferquote ist viel höher. Laut einer Studie des Verbrauchermagazins »Consumer Reports« kaufen in den USA monatlich über eine halbe Million Menschen ein Produkt oder eine Dienstleistung, die ihnen per Spam-Mail angeboten wurde. So lange Geld damit verdient wird, ist also ein Ende der Müllmails nicht zu erwarten.
Seit gut drei Wochen bekomme ich jetzt dank Internetboykott keine einzige Spam-Mail mehr. Aber ich muss zugeben, dass es auch vorher schon nicht allzu viele waren -den fleißigen Tüftlern und ihren Spam-Filtern sei Dank! Auch hatte ich im letzten Jahr immer häufiger das Gefühl, dass die Viagra-und Diätpillenverkäufer sich einfach neue Vertriebskanäle jenseits der guten alten E-Mail gesucht haben. Wenn ich zum Beispiel das Programm Skype zum Telefonieren per Internet benutzte, bekam ich immer häufiger SpamBotschaften im Chatfenster des Programms zu sehen. Und wenn ich bei Twitter die Liste meiner Follower19 ansah, entdeckte ich dort immer wieder üppige blonde Frauen mit anzüglichen Namen, die vorschlugen, ich solle doch mal auf ihrer Internetseite vorbeischauen, sie hätten dort so Bilder ... Die falschen Blondinen wurden zwar meist ebenso schnell wieder gelöscht wie unerwünschte Spam-Mails, aber auch bei den »Trending Topics«, also jenen Schlagwörtern, zu denen gerade besonders viel getwittert wird, musste ich mich immer häufiger durch einen Wust an sinnlosen Nachrichten kämpfen, in denen es nur um das eine ging: Klick mich!
Als eindeutig am schlimmsten habe ~ch jedoch Spam-Kommentare in Blogs, Diskussionsforen oder unter YoutubeVideos in Erinnerung. Manche Spammer gehen hier offensichtlicher vor (»Für heißen Parkplatz-Sex hier klicken«) manche deutlich subtiler (»Interessant! Ich habe mir zu diesem Thema 18 Laut einer Studie der Firma Gdata, die Antivirensoftware herstellt, entfallen dabei rund 200 Dollar auf die 20 Millionen Empfängeradressen. Der Rest falle für fünf Absender-Adressen und ein .. Selbstbau-Kit« an, mit dem man die riesigen Mail-Volumen verschicken kann.
19 Als .. FolIower« (zu deutsch Anhänger) bezeichnet man bei Twitter diejenigen Nutzer, die die Nachrichten eines anderen Nutzers abonniert haben. auch Gedanken gemacht -lesen Sie hier weiter ... «). Doch nicht nur beim Lesen nerven diese falschen und irrelevanten Beiträge -da sie meist nicht von Menschen, sondern von Computerprogrammen verfasst werden,muss man nun immer häufiger beweisen, dass man auch wirklich ein Mensch ist, bevor man auf einer Webseite einen Kommentar hinterlassen darf. Das führte wiederum dazu, dass ich vor meinem Selbstversuch immer häufiger mit zusammengekniffenen Augen und schiefgelegtem Kopf vor meinem Bildschirm saß -weil ich ein sogenanntes CAPTCHA20 entziffern musste: jene verschnörkelten Zeichenkombinationen, die nicht maschinenlesbar sind und deshalb SpamRoboter aussieben sollen. Oft genug wird aber auch für Menschen die Entzifferung solcher CAPTCHAs zur Höllenqual.
Wie oft habe ich schon gegrübelt, ob eine türkis-grüne, durchgestrichene Schlangenlinie eine 1, ein kleines L oder ein großes I sein soll? Wie oft dachte ich schon, ich hätte es geschafft -nur um dann ein anderes, noch bunteres, noch verschwommeneres Kunstwerk vorgesetzt zu bekommen?
Angeblich wenden alle Internetnutzer der Welt jeden Tag zusammen 150000 Arbeitsstunden auf, um solche Aufgaben zu lösen -die letztlich nur durch von Robotern geschriebene Spams überhaupt nötig werden. Was für eine grauenhafte und dumme Verschwendung! Zu meiner großen Freude stieß ich irgendwann auf eine neue Generation von CAPTCHAs, die an der Carnegie-Mellon-Universität entwickelt wurde. Diese hilft nun immerhin, Bücher zu digitalisieren: Statt sinnloser Zeichenketten bek~mmt m~ zwei reale Wörter vorgesetzt, die beim automatischen Einscannen alter Zeitungen und Bücher nicht erkannt wurden. So bekommt all die zusätzliche Arbeit, die täglich wegen Spam geleistet werden muss, wenigstens ein winziges bisschen Sinn. Ganz verschwinden wird der Spam jedoch nie wieder, da bin ich sicher. Weder die Einträge und EMails im Internet noch· die lästigen Anrufe des »Glückscomputers« oder die zwei Dutzend Werbezettel für einen neuen Pizza-Lieferservice, die mindestens einmal pro Woche kreuz und quer durch unsere Hofeinfahrt geweht werden. Vielleicht bin ich aber auch streng -und es sind gar nicht alle Nachrichten, 'die ich für Spam halte, wirklich das Werk arglistiger Gauner. Vielleicht warten da draußen wirklich schon mehrere Erbschaften von in Autounfällen zu Tode gekommenen Diktatoren auf mich, die mir in E-Mails versprochen wurden? Vielleicht existiert der Diamant tatsächlich, den mir der Prinz aus Sierra Leone schicken will, sobald ich ihm 200 Euro »Unkostenbeitrag« überwiesen habe? Und vielleicht ist auch der Gewinn, den mir eineMail von »unserem Staatslotterij E-Mail-Förderung« versprach, gar kein Schwindel, sondern wartet vergeblich auf mich, da ich alter Skeptiker nicht im Traum daran denke, den Absender »so bald wie möglich für die sofortige Freilassung der 20 CAPTCHA ist ein, Akronym für .Completely Automated Public Turing test to tell Computers and Humans Apart-, also ein autbmatischer Test, um Computer von Menschen zu unterscheiden. Meist muss der menschliche Nutzer eine grafisch verfremdete Zeichenkette abtippen oder eine als Grafik dargestellte Rechenaufgabe lösen. Ihre Gewinne Preis mit dem Details unten« zu kontaktieren. Vielleicht könnte ich schon längst reich sein? Vielleicht drücke ich aber trotzdem lieber weiterhin jedes Mal auf »löschen« ... Tag 25 Wir müssen leider draußen bleiben
In der Schweiz hat eine Kommunikationsagentur eine Studie durchgeführt, die meinem Experiment nicht ganz unähnlich ist: 50 Freiwillige verzichteten einen Monat lang auf Facebook -eine Plattform, die sie ansonsten regelmäßig (nämlich mindestens zwei Mal täglich) nutzten. Ich ärgere mich ein wenig, da die Probanten -vom Lehrer bis zur Krankenschwester bunt gemischt -jeweils 300 Franken für die Teilnahme bekommen haben. Die hätte ich mir also ohne großen Aufwand auch dazuverdienen können. Aber vermutlich hätte man eh Schweizer sein müssen, um an der Studie teilzunehmen. Trotzdem, 300 Franken für etwas, was ich sowieso vorhatte? Das Angebot erscheint mir auf alle Fälle besser als die meistenSpam-Mails. Vom Abenteuer zum Ämtli
Abgesehen von unserer unterschiedlichen Entlohnung sind sich die Teilnehmer der Studie und ich jedoch scheinbar ähnlich. Jedenfalls überraschen mich viele der Ergebnisse, die das Schweizer Magazin »Weltwoche« in einem längeren Artikel zusammenfasst, nicht sonderlich: Das Gefühl, »den Wohnungsschlüssel abgegeben« oder »eine Beziehung beendet zu haben«, hatte ich am Anfang meines Selbstversuchs auch. Das »Gefühl der Abgeschottetheit« und der sozialen Ausgrenzung, von dem Studienteilnehmer anschließend berichteten, ist mir aus meiner »Entzugsphase« ebenfalls bekannt. Und nicht zuletzt konnte auch ich den schrittweisen Wandel vom spannenden Abenteuer der OnlineKommunikation zu einer oft lästigen Pflicht gut nachvollziehen. Oder wie es die Schweizer in ihrer unvergleichlichen Sprache ausdrücken: »Das anfängliche Kommunikationserlebnis hatte sich in ein Ämtli verwandelt, das mindestens einmal am Tag erledigt werden musste«.
Die Probanten schienen ansonsten eine ähnliche Entwicklung durchgemacht zu haben wie ich: Nach dem ersten Entzugsschock kamen sie nach und nach besser ohne Facebook klar und vermissten es immer weniger. Der Verzicht wirkte sich positiv auf ihr Leben aus, und sie entdeckten alte Beschäftigungen wieder oder ganz neue. Nun gut, so weit wie manche Teilnehmer, die gleich ihren Keller aufräumten, ist es bei mir trotz aller digitalen Entsagungen noch nicht gekommen. Aber der Satz eines Studenten: »Dem Dozenten zuzuhören, ohne parallel noch auf Facebook zu sein, ist schon massiv was anderes«, finde ich so lustig, dass ich ihn am liebsten gleich twittern würde. Wenn ich nur dürfte. Womit ich weniger gerechnet hätte, sind die negativen Reaktionen, die den Abstinenzlern von ihren Freunden entgegenschlugen: Wer nichts mehr mitbekommt, braucht sich nicht zu beklagen, schien der Tenor zu lauten: »Selber schuld, wenn du die Party verpasst, weil du nicht mehr auf Facebook bist«, hieß es zum Beispiel. Gegenüber der Härte, die eingefleischte Online-Fans gegenüber Ausstei-gern an den Tag legen, sind die Amish, die ihren Jüngsten die Freiheit des »Rumspringa« gewähren, ja ein höchst liberaler Haufen. Zum Glück kann ich zumindest diese Erfahrung der Schweizer nicht teilen. Mir wird fast immer mit Verständnis, wenn nicht sogar mit ein wenig Neid begegnet. Und statt Häme bekomme ich manchmal sogar echte Unterstützung in meinem Versuch, auch ohne Internet und Handy ein angenehmes und aufregendes Leben zu führen: »Joachim macht nächste Woche eine Einweihungsparty in seiner neuen Wohnung«, lässt mich mein Freund David per Telefon wissen. »Er hat aber nur per Mail eingeladen, deshalb hast du es wohl gar nicht mitbekommen.« Ich bin tatsächlich gerührt, dass David so für mich mitdenkt -und komme aus dem Gerührtsein gar nicht mehr heraus, als einen Tag später Joachim selbst anruft, um mir am Telefon von seiner Party zu erzählen. Es ist ein gutes Gefühl, Freunde zu haben, die einen nicht daran messen, wie einfach oder umständlich es ist, einen zu erreichen.
Niemals geht man so ganz
Auf der Suche nach jemandem, der sich dauerhaft von Facebook verabschiedet hat, spreche ich mit meiner Kollegin Sarah. Sie hat im letzten Sommer versucht, sich aus der Commmunity auszuklinken
-zum einen, weil das Pflegen ihrer Kontakte dort immer mehr Zeit verschlang, zum anderen, weil ihr diese zu oberflächlich erschienen. »Ich hatte mich angemeldet, weil ich das Gefühl hatte, es tun zu müssen«, erzählt sie mir. »Schließlich waren plötzlich alle dort. Ich entdeckte viele alte Bekannte wieder -und sie mich. Aber anstatt zu fragen, wie es mir geht und was ich so mache, kam nur die standardisierte Freundschaftsanfrage. Ein Klick auf >bestätigen< -das war's. Gleichzeitig merkte ich, dass solche Netzwerke extrem schlechte Seiten in mir hervorbringen: Ich verwendete plötzlich wahnsinnig viel Zeit darauf, alten Freunden hinterherzuspionieren -obwohl ich so etwas sonst nie tun würde. Kurz gesagt: Ich wollte da wieder raus.«