Christoph Koch

ich bin dann mal offline

ein selbstversuch leben ohne internet und handy

1. Auflage © 2010 by Christoph Koch/Blanvalet Verlag, München, in

der Verlagsgruppe Random House GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Gemany ISBN 978-3-7645-0374-1

www.blanvalet.de

Einleitung

Als ich das Handygeschäft verlasse, glüht mein Gesicht, obwohl mir die abendliche Berliner Luft auf der Schönhauser Allee eisig entgegen bläst. Ich fühle mich wie ein Junkie, der nach langem Leiden, nach einem Cold-Turkey-Entzug mit Blut, Schweiß und Tränen endlich wieder zurück in die Arme seiner Droge flieht. Wie Pete Doherty und Amy Winehouse in einer Person, nachdem sie mal wieder über die Mauer einer Entziehungsklinik geflohen sind, die erste Maschine nach Bangkok bestiegen und sich dort mit frischem, ungestrecktem Stoff eingedeckt haben. Die Zeit des Darbens hat ein Ende! Meine Schritte federn, meine Gesichtszüge entspannen sich, und zum ersten Mal seit Tagen entsteht darauf wie von Geisterhand ein vorfreudiges, buddhagleiches Lächeln. Nur sind der Grund für meine Entrückung keine Drogen, zumindest nicht in der herkömmlichen Form. Und doch trage ich meine Droge gerade nach Hause. In der Papiertüte, die aufgeregt neben meinem Bein flattert, befindet sich: das Internet. Natürlich weiß jedes Kind, dass man das Internet in keine Tüte stecken kann. Das ist ja das Tolle daran. Es ist nicht greifbar, es ist überall und nirgends. In meinem Fall war es die letzten zwei Wochen leider: nirgends. »Mit unserem neuen Easy-Moving-Service wird ihr Umzug kein Problem«, hatte meine Telefonfirma, die auch meinen Internetanschluss betreute, auf ihrer Webseite vollmundig versprochen. Damals, als meine Welt noch in Ordnung war und ich in meiner alten Wohnung über eine allzeit bereite DSL-Leitung verfügte. Guten Gewissens und frohen Mutes machte ich also alle nötigen Angaben. Der Umzug war ja auch noch wochenweit entfernt. Auch als in den ersten Tagen in der neuen Wohnung das Telefon noch kein Freizeichen gab, wenn man es abhob, machte mir das keine rechten Sorgen. Zu viele Kisten waren noch auszupacken, zu viele Lampen anzuschrauben. Für schnelle Telefonate mit dem Pizzaservice gab es das Handy, und der Computer war eh noch nicht wieder aufgebaut, um damit ins Internet zu gehen.

Onlinesein als Normalzustand

Irgendwann war der durch den Umzug verursachte Ausnahmezustand jedoch vorbei. Die Möbelpacker stapften von dannen. Statt Pizzadienst-Pizza gab es wieder Essen aus dem inzwischen zufrieden brummenden Kühlschrank. Die leeren Umzugs kartons verschwanden in den Keller. Kurz: Es kehrte wieder so etwas wie Normalität ein. Jedenfalls beinahe. Denn zur Normalität, so sollte ich schnell herausfinden, gehören für mich wie für die meisten Menschen heutzutage:

• auf Knopfdruck E-Mails empfangen zu können,

• Zugverbindungen und das Kinoprogramm mit einem Klick auf ein Online-Lesezeichen abzurufen,

• mit einem beherzten Drehen am Mausrad jederzeit zu kurzen Onlinevideoclips von wahlweise Britney Spears, niedlichen Koala-Babys oder explodierenden Colaflaschen zu scrollen, in die jemand Mentos-Bonbons geworfen hat. All dies -und noch viel mehr -blieb mir jedoch verwehrt. Immer noch kein Telefon, immer noch kein Internet. »In ihrem Haus liegt kein Anschluss«, ließ mich eine gelangweilte, Kaugummi kauende Studentin in einem Call-Center wissen, das ich in meiner Wut im dunkelsten Ostdeutschland wähnte. Dass mein Vormieter ebenso fröhlich telefoniert und im Internet gesurft hatte, wie es alle meine derzeitigen Nachbarn taten, beeindruckte die bei jedem Anruf wechselnde Kaugummistudentin ebenso wenig wie die Tatsache, dass ich die von ihr in Frage gestellte Telefonanschlussdose mit meinen eigenen Augen vor mir sehen konnte. Menschen, die von Gott nicht auf die Probe gestellt werden sollen, finden in solchen Momenten das ungeschützte WLAN-Netz eines Nachbarn, der zu faul oder unwissend war, ein Passwort zu vergeben. Menschen, die von Gott nicht auf die Probe gestellt werden sollen, wählen,;sich von da an automatisch in dieses Netzwerk ein und verschwenden nie wieder einen Gedanken daran, wo »ihr Internet« eigentlich genau herkommt. Der Strom kommt ja schließlich auch aus der Wand, die Milch aus dem Kühlschrank und das Geld aus dem Automaten. Ich hatte kein solches Glück. Für mich hatte Gott, oder wer auch immer das Internet erfunden hatte, einen anderen Plan vorgesehen. Ein tieferes Tal, durch das er mich führen wollte. Die erste Zeit behalf ich mich noch mit regelmäßigen Besuchen in einem nahegelegenen Internetcafe. Doch erstens roch es dort nach dem Fett der angrenzenden Imbissbude sowie nach ungeduschten Backpackern. Und zweitens liegt der Zauber des Internets ja nicht darin, dass man eine Jacke anziehen, das Haus verlassen und jemand anderem Geld dafür geben muss, damit man nachsehen kann, wer das Lied »A Walk in the Park« geschrieben hat. Der Zauber des Internets liegt darin, dass man diese Frage genau in dem Moment klären kann, in dem sie einem in den Sinn kommt oder der Freund sie aufwirft, mit dem man sich gerade auf dem Balkon betrinkt. Das Internetcafe war keine echte Lösung. Als ich vor etwa zehn Jahren meine ersten Erfahrungen mit dem Internet sammelte, war es noch völlig ausreichend, einmal am Tag in den sogenannten »Informatikraum« der Universität zu gehen, an der ich damals vorgab, zu studieren. Man sah seine E-Mails durch, die zu jener Zeit nur sporadisch eintrudelten. Nachrichten von Menschen, die man beim

»Backpacken« auf anderen Kontinenten kennengelernt hatte. Probeweise gab man auch mal »Winona Ryder nude« in die Suchmaschine ein, die damals noch Altavista oder Hotbot statt Google hieß (der Browser nannte sich noch Netscape), und errötete, wenn man tatsächlich in dem Augenblick ein Bild der Schauspielerin zu sehen bekam, in dem jener Streberstudent, der den Informatikraum hütete, hinter einen trat. Dann hatte man für eine Weile genug aufregendes Internet gehabt und ging wieder nach Hause.

24 Stunden am Tag vernetzt

Heute ist das anders. Heute funktioniert Internet im Grunde nur noch, wenn es immer und dauerhaft verfügbar ist. Wir wollen »always on« sein, immer verbunden mit der Welt. Was dazu geführt hat, dass der Begriff »Flatrate«, der in Deutschland ursprünglich für einen zeitlich unbegrenzten Internetzugang zum Festpreis geprägt worden war, inzwischen auch auf Saufpartys und sogar Bordelle angewendet wird. Statt jedes Mal mühsam das Telefon aus-und das Computermodem einzustöpseln, damit es sich unter rhythmischem Kreischen und Pfeifen ins Internet »einwählt«, wie es noch Anfang dieses Jahrtausends üblich war, ist heute zumindest in den Städten eine DSL-Leitung Standard, die nicht nur schnellere Verbindungen ermöglicht, sondern in Kombination mit einer Flatrate auch nicht unterscheidet, ob man fünf Minuten oder 24 Stunden am Tag online ist. Wie immer mehr Menschen lasse auch ich meinen Computer inzwischen tagsüber kontinuierlich eingeschaltet, selbst wenn ich gar nicht davor sitze. Im ständigen Wechsel zwischen Online-und Offlinewelt jedes Mal den Prozess des Hoch-und Runterfahrens des Rechners abzuwarten, würde viel zu lange dauern. Ihn aus dem sogenannten Ruhemodus »aufzuwecken« -in den er sich selbst versetzt, wenn man ihn zum Beispiel fünf Minuten nicht benutzt -, dazu braucht es nur einen Tastendruck und sofort ist er wieder da und online. Und ich bin wieder verbunden mit der Welt.

Um dieses Gefühl endlich wieder erleben zu. können laufe ich nun also von meinem Dealer in Gestalt eines neonbeleuchteten E-Plus-Ladens nach Hause. Aber wie bei jedem echten Junkie folgt auf das High der unvermeidliche Kater. Den USB-Stick, das »Internet aus der Tüte«, kann ich zwar tatsächlich sofort in meinen Computer einstöpseln und bin innerhalb weniger Sekunden wieder online

-doch zu welchem Preis? 24 Monate habe ich mich vertraglich gebunden, für 25 Euro pro Monat. Als ich die Gesamtsumme kurz überschlage, fällt mir mein Handy mit integriertem Taschenrechner beinahe aus der Hand: 600 Euro -für etwas, das ich eigentlich schon längst haben sollte, wenn es mir die schnippischen Call-Center-Menschen nicht mit absurden Ausflüchten verwehren würden. 600 Euro, nur um nicht noch eine weitere Woche ohne Internet sein zu müssen. Für einen Moment fühle ich mich dumm, nutzlos, verraten und vor allem: abhängig! Von einer Technik, die doch eigentlich dazu da sein sollte, mir zu dienen und mir das Leben zu erleichtern. Doch meine Scham währt nur so lange, wie das vertraute und so lang vermisste Geräusch auf sich warten lässt: Mit einem Bing -wie wenn man mit einem Löffel an ein leeres Glas klopft -verrät mir mein Computer: Eine neue Mail ist angekommen. Ein »Kyrie Eleison«, gesungen von allen Erzengeln zusammen, könnte nicht schöner klingen.

Ich habe seitdem vielen Menschen von meinen Leiden durch kalten Internet-Entzug erzählt und war wirklich überrascht von der Resonanz. Hatte ich mich anfangs für einen Extremfall gehalten, für einen Computer-Nerd, bei dem Internet-Manie und niedrige Frustrationstoleranz zusammenkamen, so merkte ich schnell: Ich war nur einer von vielen. Fast alle, denen ich meine 600-Euro-Dummheit beichtete, erzählten, schon einmal ähnlich kurz vor dem Nervenzusammenbruch gestanden zu haben. Hotels waren gewechselt worden, weil in dem ursprünglich ausgewählten zwar ein exzellentes Spa, aber eben kein Internetanschluss verfügbar war. Handys waren aus dem Fenster geflogen, nachdem zum wiederholten Male der Akku mitten im Gespräch und lange vor seiner Zeit den Dienst quittiert hatte. Eine Beziehung war (zum Glück nur beinahe) daran zerbrochen, dass einer der Beteiligten zu Zeiten des Einwahlmodems die Telefonbuchse so oft belegte, dass seine Partnerin nicht mehr ihre geliebten und für sie wichtigen Telefonate führen konnte.

Hassliebe zum Handy

Sind die technischen Neuerungen also ein Fluch oder ein Segen? Die meisten würden -vermutlich zu Recht -antworten: beides. Bei einer groß angelegten kanadischen Studie wurden über 31 000 Menschen zu ihren Kommunikationsgewohnheiten und den Auswirkungen neuer Technologien befragt. 70 Prozent gaben dabei an, durch den Einsatz mobiler Kommunikation habe ihre tatsächliche Arbeitsbelastung sowie der dadurch empfundene Stress zugenommen. Gleichzeitig berichtete eine fast ebenso große Mehrheit (68 Prozent), durch den Einsatz genau dieser Technologien sei sie produktiver geworden.

So oder so: Immer mehr Menschen fühlen sich abhängig von den modernen Kommunikationsmitteln wie (Mobil)Telefon und Internet. Sie können sich nicht mehr vorstellen, ohne sie zu existieren und wollen es auch nicht. Denn das Paradoxe an unserem Verhältnis zu diesen Techniken ist: Einerseits bereichern und vereinfachen sie unser Leben so sehr, dass wir um nichts auf der Welt mehr darauf verzichten wollen und ihren Einfluss geradezu genießen. Andererseits fühlen wir uns gleichzeitig vom klingelnden Handy, dem summenden Blackberry oder der endlosen Weite des Internets auch überfordert, gestresst oder verängstigt. Deutlich wird unser gespaltenes Verhältnis oftmals am Umgang mit dem Gerät selbst: »Gib doch Ruhe«, herrschen wir das verhasste Handy an, das binnen zehn Minuten zum dritten Mal laut piepsend einen Anruf anzeigt. Aber wenn sich dann über einen längeren Zeitraum keiner bei uns meldet, empfinden wir das als zunehmend beunruhigend: »Heute ist aber auch gar nichts los. Wo sind denn alle?« Und fragen uns, ob wir nicht mehr wichtig für die Welt sind. Gleichzeitig legen wir Wert darauf, stets ein neues Modell zu besitzen, stecken es in alberne Schutzhüllen und Gürteltaschen oder bekleben es mit nicht weniger albernen Schmuckaufklebern, um das kostbare Kleinod zu individualisieren -mein Handy und ich!

Gerade bei den Jungen, den sogenannten »digital Natives« (also digitalen Ureinwohnern), die mit Internet und Handy großgeworden sind und das Wählscheibentelefon oder Faxgerät fast nur noch aus Erzählungen kennen, ist die Online-Bindung immens stark. Laut einer Umfrage des Branchenverbandes BITKOM unter 14-bis 29-Jährigen konnten sich 97 Prozent kein Leben ohne Handy mehr vorstellen, ein Leben ohne Internet schien für 84 Prozent ausgeschlossen. Das Interessante: Nur 43

Prozent der (relativ jungen) Zielgruppe sah ein Problem darin, auf ihren derzeitigen Partner zu verzichten. Ohne Auto zu leben, stellten sich 64 Prozent unmöglich vor. Doch es sind keinesfalls nur Teenager, die dem Internet den Vorzug vor der Realität geben. In einer vergleichbaren Umfrage gaben 46 Prozent der erwachsenen Frauen an, eher für zwei Wochen auf Sex verzichten zu wollen, als in diesem Zeitraum ohne Internet zu sein. Die Zahl stieg dabei noch je nach Altersgruppe: So würden sogar bis zu 52 Prozent Frauen im Alter zwischen 35 und 44 Jahren das Internet vorziehen. Und dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf den weiblichen Teil der Befragten: Auch 30 Prozent der Männer ist ihr Internet-Zugang wichtiger als Sex.

Die Idee vom Selbstversuch

Meine Freundin Jessica lacht mich aus, als ich mit dem absurd teuren Internet-Stick in der Tüte nach Hause komme. »Wenn ich mal ein paar Tage unterwegs bin, kommst du damit deutlich besser klar, als wenn du ein paar Tage aufs Internet verzichten musst -oder seh ich das falsch?«, fragt sie mich spöttisch. »Das siehst du total falsch«, entgegne ich schnell. »Ich vermisse dich ganz anders ... also stärker natürlich, viel stärker.« Schon zu spät. »Dann heirat doch dein Büro«, sang Kat ja Ebstein in den Siebzigern, als MTV noch »ZDF Hitparade« hieß und von Dieter Thomas Heck moderiert wurde. »Dann heirat doch dein Internet« könnte der Youtube-Megahit heißen, mit dem meine Freundin bald weltberühmt wird, wenn ich es nicht bald schaffe, diese Diskussion wieder in ruhigere und mir gewogenere Bahnen zu lenken. »Ich könnte es viel länger ohne Internet aushalten als ohne dich«, säusle ich also. Ohne Erfolg. Immerhin ist Jessica nicht ernsthaft sauer: Sie lacht sich einfach nur kaputt. »Das glaubst du doch selbst nicht«, sagt sie und sieht mich herausfordernd an.

»Eine Woche würde ich bestimmt ohne Internet auskommen«, antworte ich selbstbewusst.

»Eine Woche? So lange hast du es ohne mich doch schon oft ausgehalten. Ein Monat müsste es ohne Internet mindestens sein.«

»Zwei Wochen!«, versuche ich zu feilschen.

»Schon gut, vergiss es. Ich konkurriere doch nicht mit dem Internet um deine Gunst«, lenkt Jessica ein. »Ich will nur, dass du zugibst, dass du es ohne nicht mehr aushältst.«

Natürlich hat sie recht. Und genau das ist der Grund, warum mir unser Gespräch auch in den kommenden Wochen nicht mehr aus dem Kopf geht -und die Idee zu dem Selbstversuch entsteht. Zur freiwilligen Abkehr von Internet und Handy für mindestens einen Monat.

Wie würde es sein, nicht auf das Internet zu verzichten, weil ein unmenschlicher Telekommunikationsriese mich dazu zwingt? Sondern wenn dies aus freien Stücken geschehen würde? Wenn ich mich für eine bestimmte Zeitspanne absichtlich und willentlich aus stöpselte aus der stets weltweit verbundenen Gemeinde der »netizens«, der Bewohner des Internet-Reiches? Würde ich nach einer gewissen Zeit der Entwöhnung das, was ich nach dem Umzug als schier unerträglichen Verlust empfunden hatte, als Gewinn betrachten können? Oder würde ich die selbstverordnete Abstinenz absitzen wie eine Gefängnisstrafe, nur um danach wieder weiterzumachen wie zuvor -jeden Tag, jede wache Stunde onIine, ständig auf »senden/empfangen« geschaltet, wie es der Knopf in den meisten E-MailProgrammen verheißt, den ich wie so viele Online-Junkies beständig drücke, wenn einmal längere Zeit keine Mail kommt.

Würde sich dieses Vermissen, dieser Phantomschmerz eventuell im Lauf der Zeit zurückentwickeln?

Würden sich die anderen noch verbliebenen Sinne stärken und verbessern, um den Verlust auszugleichen? Man sagt Blinden ja auch nach, besser hören zu können als Sehende. Würde ich also durch das Abschalten meiner Online-Aktivitäten auf einem anderen Sektor etwas dazugewinnen ? Mich anders mit der Welt verbinden?

Bei allem Leiden über den nicht vorhandenen Online-Anschluss in der neuen Wohnung: Hatte ich nicht oft genug über das Internet auch -oder gerade dann -geflucht, wenn es funktionierte? Wenn es schlechte Nachrichten brachte in Form von unvorteilhaften Fußballergebnissen, dümmlichen Wortmeldungen. fernsehprominenter Schlaumeier, die auf den Nachrichtenseiten wieder und wieder durchgekaut wurden? Mein Plan stand fest: Ichmusste es ausprobieren.

Die Zehn Gebote der Internetlosigkeit

Die Regeln sollten klar und einfach, aber auch strikt sein: Ein Monat ohne Internet und ohne Mobiltelefon. Die Benutzung eines Computers für produktive Offline-Tätigkeiten sowie des Festnetztelefons würden erlaubt sein. Letzteres gibt es immerhin schon seit über 100 Jahren, ersteres war notwendig, um zum einen die Aufzeichnungen für dieses Buch anzufertigen, zum anderen, um meiner eigentlichen Tätigkeit als Journalist zumindest noch ansatzweise nachgehen zu können. Eine Aufgabe, die ohne Internet und Handy schon schwierig genug war, wie sich bald herausstellen sollte. Aber Regeln müssen bei einem solchen Unterfangen nun mal sein. Und so legte ich nach und nach die zehn Gebote für meine Internet-Abstinenz fest:

• Du sollst kein Internet haben in deinem Haus und in deiner Hosentasche.

• Du sollst das Internetcafe und alle sonstigen öffentlichen Onlinezugänge meiden.

• Du sollst deinen Computer gebrauchen, um Texte zu schreiben.

• Du sollst nicht Minesweeper spielen.

• Wenn dein Nachbar erzählt, was er »Verrücktes« auf Spiegel Online gelesen hat, sollst du dich nicht abwenden.

• Du sollst nicht selbigen Nachbarn beauftragen, etwas für dich zu googeln, eine Bahnfahrt online zu buchen oder eineMail in deinem Namen zu schreiben.

• Du sollst nicht begehren deines Nachbarn Internetzugang, sein iPhone oder Blackberry.

• Du sollst Zeitung lesen, Fernsehen und Radio benutzen, wenn dir dergleichen beliebt.

• Du sollst nicht auf Papier lesen, was dein Nachbar für dich aus dem Internet ausgedruckt hat.

• Du sollst dir kein Faxgerät anschaffen. Wenn du bereits ein Faxgerät besitzt, so sollst du es benutzen nach deinem freien Willen.1

Ich war gespannt, wie die Internetlosigkeit mein ganz normales Leben, meinen Alltag verändern würde. Die Art, wie ich mit Freunden kommunizierte, arbeitete, lebte, liebte, mir Kurzweil bereitete und mich informierte. Mir wurde aber auch schnell klar, dass dieser Monat mehr sein würde als nur ein Monat des Verzichts, in dem alles so normal sein sollte wie möglich -nur eben ohne Internet. Ich wollte Leute treffen, die mir etwas über das analoge Leben erzählen konnten. Eigenbrötler und Technikfeinde

Im Zuge der Recherchen für dieses Buch besuchte ich eine Siedlung der Amish People im amerikanischen Missouri. Diese christliche Splittergruppe emigrierte vor rund 300 Jahren aus Süddeutschland und der Schweiz vor allem in die US-Bundesstaaten Pennsylvania und Ohio und meidet seither den technischen Fortschritt. Zwar nicht komplett, aber doch in sehr großen Teilen -Computer sind tabu, Telefone nur als unbequeme Gemeinschaftsapparate weit entfernt von den Wohnhäusern draußen auf dem Feld gestattet. Doch selbst bei diesen scheinbar resistenten Eigenbrötlern, die sonst vor allem durch die Depeschen ihrer eigenen Wochenzeitung The Budget miteinander in Kontakt bleiben, konnte ich die scheinbar unwiderstehliche Anziehungskraft des Mobiltelefons spüren. Ebenfalls in den USA besuchte ich den Geräuschesammler und »akustischen Umweltschützer« Gordon Hempton: ein Mann, der für seine Aufnahmen des Sonnenaufgangs mit einem Grammy ausgezeichnet wurde -Tonaufnahmen wohlgemerkt. »Ständig von Geräuschen umgeben zu sein, macht die Menschen krank«, davon ist der 57-Jährige überzeugt. Deshalb hat er sich an einen der stillsten Orte der Welt zurückgezogen -den Olympic National Park im amerikanischen Nordwesten -und kämpft von dort mit politischen Mitteln gegen Fluglinien und dafür, Lärm als Umweltverschmutzung anzuerkennen und zu ächten. 1 Ich hatte tatsächlich noch nie ein Faxgerät besessen und nun extra eines anzuschaffen, nur um mir den Internetverzicht zu erleichtern, hätte ich auch albern gefunden. Doch nicht nur in den USA gibt es Menschen, die versuchen, sich dem ewigen Geplapper, den »instant messages« und der ständigen Erreichbarkeit zu entziehen. Ich sprach auch in Deutschland mit Handyverweigerern und Internetskeptikern. Ich interviewte einen Mann, der seine Frau im Internet betrog -und sich dies bis heute nicht verzeihen kann. Ich sprach aber auch mit Deutschlands berühmtester Frisur: Sascha Lobo (Markenzeichen: knallroter Irokesenschnitt) ist einer der wichtigsten Blogger des Landes, Autor des Buches »Wir nennen es Arbeit« und gleichzeitig Berater des Vodafone-Konzerns. In der Kampagne »Es ist deine Zeit«, in der Lobo auftritt, wendet sich der Mobilfunkund Onlineanbieter an die sogenannte »Generation Upload«, also jene junge Generation, für die das Internet und immer mehr auch das mobile Online-Sein eine Selbstverständlichkeit ist. Lobo, Besitzer dreier Handynummern und zahlreicher internetfähiger Mobiltelefone, sollte mir erklären, woher das zunehmende Bedürfnis der Menschen kommt, immer erreichbar zu sein. Und warum er selbst keine Angst hat, beinahe jede wache Minute online zu sein.

Die Vorbereitungen für meinen Selbstversuch fielen relativ überschaubar aus. Ein kleiner Kreis von Freunden, Familie und wichtigen Arbeitskontakten wurde eingeweiht. Die anderen würden erst davon erfahren, wenn sie versuchten, mich zu kontaktieren: Ich setzte eine Abwesenheitsnotiz für meine E-Mail-Adressen auf, die automatisch auf jede ankommendeMail antwortete, ich sei für einen Monat nicht digital erreichbar und meine Festnetztelefonnummer und Postadresse bekannt gab. Es sollte ja niemand sagen können, er habe nicht gewusst, wie er mich erreichen könne. Ich deckte mich mit Büchern von Experten ein, die zu Themen wie Hirn-und Stressforschung, Suchtentwicklung, Internet-und Netzwerktheorien publiziert hatten. Ich schaffte es, so viele davon zu bestellen, dass mir die digitale Empfehlungsmaschine des Internet-Buchhändlers Amazon nichts anderes mehr ans Herz legte. Derselbe Logarithmus hatte mir sonst stets eine krude Mischung aus Wollsocken-Angeboten (weil ich letzten Winter welche bestellt hatte) und Sexlexika (weil ich -für die Recherche eines NEON-Magazinartikels, so wahr mir Gott helfe! mal eines geordert hatte) beschert. Statt dessen gibt es jetzt nur noch Bücher über unsere menschliche Faszination mit dem Netz. Ich fühlte mich also gut gewappnet.

Was Menschen von Google wissen wollen lustige Suchanfragen

• woher weiß günther jauch immer so viel?

• wofür ist die leber der katze da?

• wie kann ich mietnomaden ärgern?

• muss ein künstler alkoholiker sein?

• wie breche ich mir am einfachsten etwas?

• welche buchstaben gehören zur todes-sms?

• wie kannst du mich reich machen?

• warum hängen schuhe im schanzenviertel?

• wie macht man sich undurchschaubar?

• wieso sieht man morgens so beschissen aus?

• wie kamen die drogen nach westberlin?

• wie kriegt man mamas dazu, was zu erlauben?

• lippenpiercing -was sagt die bibel?

• was tun, wenn eltern mit auf das bewerbungsgespräch wollen?

• was gibt es für berufe mit leichen?

• wo ist daniel brühl im berliner nachtleben?

• wie ist die weihnachtsfeier bei aldi süd?

• wie hebt man geld bei einem geldautomaten ab?

• alkohol und sex -kann man dabei schwanger werden?

• warum ist facebook so reich?

• was zieh ich heute an -was koch ich meinen kindern?

• bei welchem beruf muss man früh aufstehen?

• spart man Geld mit teuren Kochtöpfen?

• was trinken rapper?

(All diese Anfragen -und unzählige andere -führten im vergangenen Jahr Menschen auf mein Blog www.christophkoch.net)

der selbstversuch

kapitel 1

In dem ich den Stecker ziehe, Phantomvibrationen in meiner Hosentasche und starke Kopfschmerzen verspüre und jemanden kennenlerne, der seine Freundin durch ständige Unerreichbarkeit in den Wahnsinn getrieben hat.

Tag 0 Die Falle schnappt zu

Am Abend vor dem Selbstversuch verspüre ich die unsinnige, aber vielleicht verständliche Versuchung, noch so viel wie möglich im Internet unterwegs zu sein und SMSBotschaften mit dem Handy zu versenden. So, als könne man auf Vorrat kommunizieren. Oder so, wie ein Raucher am Silvesterabend noch eine komplette Zusatzschachtel wegqualmt -denn am nächsten Tag, so hat er .es sich fest vorgenommen, ist schließlich alles vorbei. In dem Versuch, zumindest ansatzweise Würde zu bewahren, beschließe ich jedoch, nicht so lange auf Facebook, Twitter, Spiegel Online und all den anderen mit Bookrnarks versehenen Internetseiten zu verbringen, bis mir in den frühen Morgenstunden der Kopf auf die Tastatur sinkt und ich -einen Speichelfaden sabbernd -auf selbiger einschlafe. Optimiert austreten

Nein, ich werde der Herausforderung wie ein Mann entgegentreten. Wie ein Erwachsener. Kurz -ich beschließe, Jessica ins Kino einzuladen und dort den neuesten PixarZeichentrickfilm anzusehen. »Du wirst nicht mal eine Woche durchhalten«, spottet sie, als ich während der Werbung noch einmal mein Telefon zücke, um im Internet auf der Seite runpee.com nachzusehen, wann in dem fast zwei Stunden langen Film ein paar dröge Minuten zu erwarten sind, in denen man zur Toilette gehen kann, ohne etwas zu verpassen. Ja, es gibt Menschen, die so etwas nicht nur herausfinden, sondern ihre Erkenntnisse der Menschheit auch auf einer eigenen Web seite zur Verfügung stellen. Ich verstehe wirklich nicht, wie jemand ernsthaft bezweifeln kann, dass das Internet eine der wichtigsten Errungenschaften der Welt ist und unser aller Leben Tag für Tag besser macht ...

Als wir nach dem Kino zuhause angekommen sind, schließe ich meine beiden Mobiltelefone sowie das Netzwerkkabel, das meinen Computer mit dem Internet verbindet, in eine Schreibtischschublade und bitte meine Freundin, den Schlüssel zu verstecken. Wenn ich will, finde ich den doch binnen drei Minuten wieder, geht es mir durch den Kopf. Außerdem habe ich natürlich die Möglichkeit, einfach die WLANFunktion des Computers zu aktivieren und drahtlos ins Internet zu gehen. Aber nein, beides kommt natürlich nicht in Frage. Hier geht es schließlich ums Prinzip. Und um kleine Hürden gegen die erste Rückfallgefahr. So wie ein Raucher eben auch Feuerzeuge und Aschenbecher wegpackt, wenn er ernsthaft aufhören will.

»Äh, kannst du bitte noch mal die Schublade aufschließen?«, frage ich Jessica, nachdem ich mir die Zähne geputzt habe. Sie denkt, ich mache einen Witz.

»Vergiss es.«

»Bitte! Ich habe vergessen, meine Handymailbox umzustellen. Ich muss den Leuten ja irgendwie sagen, dass es nichts bringt, wenn sie mir eine Nachricht hinterlassen.«

Mit einem spöttischen Seufzen schließt Jessica die Schublade auf, und ich ändere meine Mailboxnachricht. Wer in den nächsten Wochen anruft, kann zwar keine Nachricht hinterlassen, bekommt aber meine Festnetznummer und Postadresse mitgeteilt. »Und was passiert, wenn eine SMS

kommt?«, fragt Jessica, als sie gerade das Licht ausschaltet. »Verdammt! «

Idiot stirbt in Bärenfalle

Während ich im Dunkeln im Bett liege und darauf warte, dass mich der Schlaf überkommt, rechne ich insgeheim mit wilden Albträumen, die von nichts anderem handeln, als von echten Notfällen, aus denen ich mich nur mittels moderner Telekommunikation retten kann -die mir jedoch ab jetzt durch mein dummes Unterfangen verwehrt bleiben soll. »Ein ausgemachter Idiot (35) starb am Mittwoch nach mehreren Tagen in einer Bärenfalle, da er sich weigerte, sein Mobiltelefon zu benutzen, um Hilfe zu rufen«, schreibt die Fantasiezeitung in meinen Gedanken. Doch entgegen meinen Befürchtungen träume ich nicht von Bärenfallen und anderen Notsituationen, aus denen mich nur die Internetseite »www.wie-man-eine-Boeing-747-landet.de« retten könnte. Sondern von Sex und gutem Essen. Angenehmerweise in zwei separaten Träumen.

Tag 1 Erste Entzugserscheinungen

Der nächste Tag -vielleicht sollte ich ihn A-Day oder Analog-Day nennen -beginnt früh. Jessica bricht im Morgengrauen nach Hamburg auf, wo sie gerade in einer Zeitschriftenredaktion arbeitet. Nur an den Wochenenden ist sie in Berlin. Während sie im Bad verschwindet, beginnt für mich die große Herausforderung. Denn normalerweise wäre genau jetzt der Moment gekommen, in dem ich mich mit einer dampfenden Tasse Kaffee an den Computer setze und mit der Internet-Routine beginne: Von der Spiegel-Online-Startseite aus geht es auf zu anderen Nachrichtenseiten, dann den Posteingang von vier Mailadressen prüfen, die sich im Lauf der Jahre angesammelt haben, und schließlich via RSS-Feed2 nachschauen, welche der abonnierten Blogs seit gestern neue Beiträge veröffentlicht haben -und am Ende nachsehen, wie sich die Zugriffszahlen auf mein eigenes Blog entwickelt haben. Besonders Letzteres kann zur Obsession werden. Vor allem da Google es inzwischen gestattet, nicht nur herauszufinden, aus welchem Land und mit welchem Browser die Leser auf die eigene Seite gekommen sind, sondern auch, wie lange sie geblieben sind. Und -vielleicht am interessantesten

-welche Suchworte sie zu einem geführt haben. Ich kann mich noch an meine Favoriten der letzten Woche erinnern:

2 RSS steht für Really Simple Syndication und bezeichnet die Technik, mit der man Blogs oder sich häufig ändernde Webseiten abonnieren kann, um automatisch über neue Beiträge informiert zu werden, ohne sie jedes Mal aufs Neue aufsuchen zu müssen. Die neuen Beiträge können entweder in den gängigen E-Mailprogrammen oder eigenen RSS-Readern angezeigt werden.

• spiele zum 50. geburtstag mit alkohol

• humorvolle mietnomaden

• was sagen millionäre als beruf?

Heute bleibt mir dieses kleine Vergnügen verwehrt -wie so viele andere. Keine aus Styropor gebastelten SchaltknaufErsatzkonstruktionen auf thereifixedit.com und keine niedlichen schlafenden Hunde auf dreamingofpuppies.com. Aber leider auch weder eine kritische Medienbeobachtung auf bildblog.de noch Analysen zur US-Politik auf slate.com. Jessica macht sich auf den Weg zum Bahnhof. »Sei tapfer«, sagt sie zum Abschied. Dann bin ich auch schon allein. Als Informations-Methadon besorge ich mir eine Tageszeitung beim Buchladen nebenan, den ich sonst vor allem betrete, um dort abgegebene Amazon-Pakete abzuholen. Ein Wunder, dass die Buchhändlerin trotzdem stets freundlich zu mir ist. Die Zeitung hat vor allem einen Nachteil: Sie ist irgendwann zu Ende. Doch ich habe mir vorgenommen, mich nicht über die Dinge zu grämen, die ich durch mein Online-Embargo verpasse, sondern stattdessen diejenigen freudig zu umarmen, die ich dadurch hinzugewinne. Ein großer Vorteil, den ich mir vom Verzicht auf E-Mail und Instant-Messaging, Twitter und Facebook verspreche, ist ein Mehr an persönlicher Kommunikation. Echte Gespräche statt schneller Status-Updates und kurzer Mails voller Tippfehler. Das erste Dilemma

Ich beschließe, meinen alten Freund Dirk anzurufen. Mal hallo sagen, hören, was der so im Schilde führt, sich endlich mal wieder in Ruhe unterhalten. Macht man ja sonst nie. Der wird staunen. Doch noch bevor ich meinen ersten Triumph in Sachen Kommunikation feiern kann, kommt ein herber Rückschlag: Dirks Nummer ist -wie alle anderen -natürlich in meinem Mobiltelefon gespeichert. Im Kopf habe ich nur noch die Festnetznummer meines

Vaters, und auch das nur, weil es früher meine eigene war. Damals, als man sich Telefonnummern noch merken musste. Ich krame ein altes Adressbuch raus, in das ich früher Telefonnummern von Freunden und Bekannten mit Hand eingetragen habe. Die von Dirk ist dummerweise nicht darunter. Der erste Tag meines Selbstversuchs ist noch nicht einmal zur Hälfte um, und schon stehe ich vor einem ethischen Dilemma: Festnetz ist zwar erlaubt, Mobiltelefon aber verboten. Darf ich das Handy benutzen, um eine Nummer nachzuschauen, die ich dann per Festnetz anrufe? Ich nehme es genau und beschließe, den ethisch wertvollen, aber auch kostspieligen Weg zu wählen und rufe die Auskunft an. Es kommen bestimmt noch genug Momente, in denen ich froh sein werde, ein paar Karmapunkte übrig zu haben und ein bissehen schummeln zu können. Dirk freut sich, dass ich anrufe, aber ich bemerke auch die Irritation in seiner Stimme, als ich auf seine Frage »Was gibt's?« keine rechte Antwort parat habe. Kein Anliegen, keine Frage, keine wichtigen Neuigkeiten, die einen Anruf erklären oder rechtfertigen würden. Einfach nur der Wunsch nach einem Gespräch zwischen Freunden und -wenn ich ganz ehrlich bin -natürlich auch die entzugsbedingte Langeweile. Nachdem wir eine Weile geplaudert haben, finde ich es unredlich, ihm nicht von meinem Selbstversuch zu erzählen, und gestehe, dass ich ihn vor allem deswegen angerufen habe, weil ich mich nicht wie sonst um diese Zeit einmal quer durchs gesamte Internet klicken kann -und wieder zurück. Er versteht mich zum Glück sehr gut. Für ihn wäre so ein Verzicht unvorstellbar: »Das könnte ich nie« ist seine Einschätzung -nahezu identisch mit der aller anderen Menschen meines Alters, denen ich davon erzählt habe.

Doch auch Dirk erkennt die positiven Seiten meiner selbstgewählten Abstinenz. »Ich merke schon, dass sich beispielsweise durch Facebook die Qualität meiner Freundschaften in der Masse geändert hat«, sagt er. »Bei den ganz engen Freunden am wenigsten, aber bei den loseren Kontakten, den guten Bekannten, hat sich vieles verschoben. Wenn sie auf Facebook aktiv sind, weiß ich über manchen alten Klassenkameraden mehr als über aktuelle Freunde, die sich vielleicht nur selten melden. Es sind zwar meistens nur kleine Infohappen, wie hier ein paar Urlaubsfotos und dort eine kurze Nachricht wie >Mann, die Erkältung könnte auch mal aufhören<, aber in der Summe bekommt man doch ein ganz gutes Bild davon, wie es den Leuten so geht und was sie beschäftigt. Das finde ich einerseits schön, andererseits macht es auch einen Anruf wie deinen heute überflüssig, in dem man sich einfach nur nach dem Befinden des anderen erkundigt. Man weiß ja im Grunde alles.«

Wie Banalitäten ein Bild ergeben

Das Phänomen, das Dirk beschreibt, hat der amerikanische Wissenschaftsjournalist Clive Thompson

»Ambient Awareness«3 getauft. Das heißt übersetzt in etwa: »Umgebungswahrnehmung« und bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass die vielen kleinen Onlinebotschaften, die wir auf Facebook, StudiVZ, Twitter oder www.wer-kennt-wen. de von unseren Freunden lesen (»Noch fünf Tage bis zum Urlaub -juhu!«/»Suche zuverlässige Tennis-Rückhand im

Tausch gegen geräumige Altbauwohnung in der Münchner Innenstadt«) nur scheinbar banal sind. Über einen längeren Zeitraum hinweg, ergeben sie nämlich ein zusammenhängendes Bild, addieren sich die vielen winzigen und beiläufigen Informationen zu einem aussagekräftigen Ganzen -und wir bekommen so eine Vorstellung davon, wie es dem anderen gerade ergeht, was ihn beschäftigt, was ihm wichtig ist. Thompson vergleicht dieses Phänomen mit einer Situation, in der sich eine andere Person mit uns im selben Raum befindet: Selbst wenn wir nicht direkt mit ihr kommunizieren, neh3 Die britische Online-Designerin Leisa Reichelt spricht vielleicht noch treffender von ..Ambient Intimacy« -also zu deutsch ungefähr .. Umgebungsintimität«.

men wir dennoch aus dem Augenwinkel heraus·ihre Körpersprache war, können von vermeintlichen Kleinigkeiten wie Gestik, Mimik und Verhalten ablesen, ob diese Person ruhig oder nervös, fröhlich oder traurig, gutgelaunt oder verärgert ist.

Diese Art, über den anderen digital im Bild zu bleiben, ermöglicht es uns beispielsweise, alte Freunde auch nach langer Zeit wiederzutreffen und sofort wieder ein Gefühl der Vertrautheit zu spüren, wohingegen man früher vielleicht erst wieder eine gewisse Anlaufphase gebraucht hätte. Damals musste man sich zwei Biere lang erst mal wieder »auf den aktuellen Stand bringen«. Und nur zu oft wurde einem gerade durch Sätze wie »Ach, ihr seid gar nicht mehr zusammen?« oder »Wie, ich dachte, du wohnst immer noch in Hamburg« schmerzlich bewusst, wie weit man sich voneinander entfernt hatte. Heute bekommt man alle wichtigen und unwichtigen Facts (Umzug nach Bremen, Trennung von Stephanie, hat mit Tennis angefangen, mag die TV-Serie »Californication«) nach und nach ganz nebenbei mit -und wenn man sich einmal im Jahr trifft, hat man das Gefühl, sich erst letzte Woche voneinander verabschiedet zu haben.

»Schon richtig«, unterbricht Dirk meinen schwärmerischen Monolog. »Aber es gibt auch genügend Sachen, die gewaltig nerven. Zum Beispiel wenn Freunde, die früher angerufen haben, wenn sie in deiner Stadt waren, plötzlich nur noch eine Status-Meldung schreiben: Bin nächste Woche Da-Mo in Berlin -wer hat Zeit, wer hat Bock? An derart unpersönlicher Massenkommunikation habe ich kein Interesse, da antworte ich nicht. Außerdem: Richtig aufrichtig ist die Kommunikation auf Seiten wie Facebook doch auch nie. Da schreibt doch niemand, dass es ihm wirklich schlecht geht und er sich in Therapie begibt. Oder dass sich gerade er entschieden hat, weiterhin fremdzugehen.«

»Das möchte ich bei den meisten meiner FacebookFreunde aber auch nicht unbedingt so genau wissen«, halte ich dagegen. »Denn man muss sich schließlich klarmachen, dass es sich bei den 200

bis 300 Leuten4, die man auf seiner FreundesIiste hat, nicht um Freunde im traditionellen Sinne handelt. Sondern allenfalls um Menschen, die man vielleicht einmal getroffen hat und die man nicht völlig bescheuert fand.«

»Stimmt. Oder die man tatsächlich völlig bescheuert fand, aber trotzdem nicht den Mut hatte, ihre Freundschaftsanfrage abzulehnen, die sie einen Tag später geschickt haben.«

Am Ende einigen wir uns darauf, dass sich die Intensität von OnIine-Freundschaften vielleicht wie folgt zusammen

fassen lässt: Fragt man seine virtuelle Freundesschar, wer einem einen guten Zahnarzt oder eine gute Digitalkamera empfehlen kann, bekommt man vermutlich ganz hilfreiche Rückmeldungen. Wer sich aber bei seinem Umzug ausschließlich auf eine Freundeskreis-Rundmail Marke »Wer hilft mir am 4 Eine Studie der Stanford University fand heraus, dass der durchschnittliche Facebook-Nutzer 281 Menschen in seiner Freundesliste hat und beabsichtigt, diese Zahl in der nächsten Zeit auf durchschnittlich 317 zu erhöhen. Die Nutzer des japanischen Äquivalents Mixi hatten im Durchschnitt 58 Freunde -planten jedOch, diese Zahl auf 49 zu reduzieren. Samstag beim Umzug? Kaufe danach auch Pizza!« verlässt, wird in der Woche danach mit ziemlicher Sicherheit eine Rundmail schreiben, in der er um Empfehlung eines guten Orthopäden bittet. Wir einigen uns weiterhin darauf, auch nach Ende meines Selbstversuchs mal wieder öfter miteinander zu telefonieren. Einfach so, ohne Anlass, ohne Grund. Zum Spaß. Phantomvibrationen

Um Mittag zu essen, gehe ich in eine nahegelegene Pizzeria -zum ersten Mal seit Jahren, ohne meine beiden Mobiltelefone mitzunehmen. Zu behaupten, ich würde mich nackt fühlen, wäre eine charmante Untertreibung. Während ich dasitze und auf meine Pizza warte, wird mir klar, was ein ganz entscheidender Faktor zumindest meiner Sucht nach Erreichbarkeit und Verbundensein mit den Netzwerken dieser Welt ist: die Angst, etwas zu verpassen. Das Gefühl, die Welt könne sich nicht ohne das eigene Zutun weiterdrehen -und die noch viel größere Angst, sie könne es eben doch! Die schreckliche Gewissheit, dass alle gut zurechtkommen, ohne dass man seinen digitalen Senf dazu gibt. Dass alle einfach weitermachen, ohne mich »cc zu setzen«.

Aber was, wenn nicht? Was, wenn mich jemand erreichen will, der eine wirklich wichtige, wirklich gute Nachricht für mich hätte? Zugegeben, so häufig kommt das nun auch nicht vor -die meisten Anrufe und Mails liegen bei mir wie wohl bei fast allen Menschen innerhalb eines Spektrums, das von belanglos (»Neue Angebote Ihrer bevorzugten eBayVerkäufer!«) über lästig (»Dürfen wir Sie mit unseren neuen Tarifangeboten vertraut machen?«) bis hochgradig ärgerlich (»Re: AW: Re: AW: Re: AW: RE: AW: Ihre Mahnung vom 13. Juni 2009«).

Nein, darauf kann ich gut verzichten. Und sowohl das Nobelpreiskomitee als auch die Lottögesellschaften werden sich schon schriftlich melden beziehungsweise persönlich jemanden vorbei schicken, wenn es so weit sein sollte, beruhige ich mich. Dennoch ertappe ich mich ungefähr viertelstündlich dabei, wie ich mein iPhone aus der Tasche holen will, um nach neuen Mails zu forschen. Und mehr als einmal verspüre ich sogar das, was ich in Ermangelung eines wissenschaftlichen Terminus als »Phantomvibrieren« bezeichnen muss. Nämlich ein brummendes Gefühl an genau der Stelle meines Beines, an der ich sonst mein Mobiltelefon trage -eben so, als würde der Vibrationsalarm lossurren. Nur dass ich das Telefon gar nicht dabei habe. Selbst meine Muskeln und Nerven spielen mir schon Streiche. Das geht ja gut los.

Tag 2 Einfach unerreicht

Wie schon gestern merke ich am zweiten Morgen meines Selbstversuchs, wie sich starke Kopfschmerzen breitmachen. Ich bin nicht sicher, ob es sich dabei tatsächlich um richtige Entzugserscheinungen handelt -oder nur um die verdienten Nachwirkungen des Whiskys, den ich gestern Abend vor dem Einschlafen getrunken habe. Die Mitarbeiter der Mainzer Ambulanz für Computerspiel-und In-ternetsucht, die ich im Lauf meines Selbstversuchs noch besuchen werde, wollen das mit dem Whiskey nicht ganz ausschließen. Sie werden mir aber auch erklären, dass es durchaus körperliche Entzugserscheinungen geben kann, wenn Internet-Abhängige nicht ihre tägliche Dosis bekommen. Starke Nervosität, Schlafstörungen und Unruhe seien zwar häufiger, Übelkeit oder Kopfschmerzen träten aber auch immer mal wieder auf. Ich kann mir also aussuchen, ob ich ein Internet-oder ein Alkoholproblem habe -na besten Dank. Ich gehe zur Bank und fülle zum ersten Mal seit mindestens fünf Jahren einen Überweisungsschein aus. Mit einer Hand, die das Schreiben mit dem Stift in den letzten Jahren immer mehr verlernt hat. Mist, schon wieder verschrieben. Ich zerknülle den orangefarbenen Überweisungs träger -das ist online wirklich deutlich einfacher. In der Schalterhalle stehend fühle ich mich wie ein Zwölf jähriger, der zum ersten Mal mit seinem Jeanssparbuch experimentiert.

»Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wie viel Geld ich auf dem Konto habe?«, frage ich eine Kundenberaterin.

»Warum gehen Sie nicht da vom zu einern unserer Info-. terminals?«, fragt sie mich und weist auf eines der Geräte, die nicht nur Geld ausspucken, sondern auch Kontostand, Umsätze und viele andere Informationen anzeigen können, von denen ich annehme, dass sie für mich tabu sind.

»Ich darf zurzeit nicht ins Internet... es ist... etwas kompliziert ... «, stammle ich. Die Frau sieht mich erst fragend an, dann mitleidig. Wortlos nimmt sie meine Bankkarte, tippt ein paar Zahlen in ihren Computer und dreht ihren Monitor

leicht zu mir herüber. Wahrend sie sich unauffällig umsieht, so als suche sie nach der »versteckten Kamera«. »Bitteschön. Lesen dürfen Sie ja hoffentlich noch ... «

Fluch und Segen der Unerreichbarkeit

Um mich für den weiteren Tag sinnvoll zu beschäftigen, gehe ich einer Recherchespur nach, die ich bereits aufgenommen habe, als ich mich noch im Internet herumtrieb -einern Ort, an dem man bekanntlich auf die verrücktesten Geschichten stößt. Ich möchte mit jemandem sprechen, der die fatalen Auswirkungen von modemen Kommunikationstechniken am eigenen Leib erfahren hat -genauer gesagt erfahren hat, welche Katastrophen passieren können, wenn wir nicht per Mail oder Telefon erreichbar sind.

JD ist ein kanadischer Collegestudent, der gerade erst in Ontario aufgestanden ist, als ich ihn anrufe, um mir seine Geschichte erzählen zu lassen. »Durch einen Zufall bekam ich vor zwei Jahren die Gelegenheit, zwei Wochen auf eine einsame Hütte in den Rocky Mountains zum Angeln zu fahren. Ich erzählte meiner damaligen Freundin mehrmals von meinem Vorhaben und verabschiedete mich auch am Abend vor meiner Abreise von ihr«, berichtet der Kanadier mir am Telefon, während er sich ne-benher einen Kaffee kocht. »Ich ließ mein Handy zuhause, da ich damals ständig pleite war und keine Lust auf die teuren Roaming-Gebühren in Kanada hatte. Außerdem freute ich mich auch auf ein wenig Ruhe in der Wildnis. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, aber meine Freundin hatte meine Reise scheinbar völlig vergessen und geriet in der ersten Woche, in der sie mich weder per Handy noch per Mail erreichen konnte, so dermaßen außer Fassung, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich bekam von all dem natürlich nichts mit -erst als ich wieder zu Hause war und in meiner Mailbox über 20 E-Mails von ihr warteten, begann ich zu ahnen, dass irgendetwas nicht stimmte.« Hatte er ihr denn nicht erzählt, dass er unterwegs sein würde? »Doch, habe ich natürlich«, antwortet JD.

»Aber sie war schon immer sehr mit sich selbst beschäftigt.«

Zur Veranschaulichung und mit JDs Erlaubnis hier einige gekürzte Ausschnitte aus den Mails seiner Freundin:

1. Juni, 11:31 Uhr Hey, ich geh heute Abend mit den Mädels aus. Knutsch, Ern 1. Juni, 16:40 Uhr Ich noch mal, hab Dich heute ein paar Mal versucht, anzurufen. Willst Du nicht mit mir reden? ;)

2. Juni, 9:02 Uhr

Gestern Abend war's super, aber zwei kornische Typen wollten uns die ganze Zeit zu Drinks einladen. Gehe jetzt mit Marla zum Brunch, erreiche Dich immer noch nicht. Ist Dein Telefon kaputt, Schätzchen? Heute Abendessen bei Dir, ruf mich an. Bis später, Ern

3. Juni, 10:33 Uhr

Was soll das? Warum reagierst Du nicht auf meine Mails und Anrufe? Wo bist Du? Ich hab den ganzen Abend gewartet, dass Du Dich meldest. Das gefällt mir überhaupt nicht. Ruf mich an, SOBALD

Du das liest ...

4. Juni, 17:50 Uhr

Was zur Hölle!?! Du antwortest nicht auf meine SMS, meine Anrufe, meine Mails? Ichweiß,dassDudabist. Dein Kumpel Jeremy ist ein schlechter Lügner. Er hat am Telefon gesagt, er hätte Dich das ganze Wochenende nicht gesehen, aber ich habe Deine Stimme im Hintergrund gehört! Letzte Chance ... ruf mich heute Abend mit der besten Entschuldigung Deines Lebens an oder ich bin weg, Du Arsch!

5. Juni, 20: 11 Uhr Was hab ich denn getan? War es einfach an der Zeit, mich abzuschießen? Dann hättest Du es mir wenigstens ins Gesicht sagen können, Du &%($%&!

Es ist aus. Ruf mich nicht an, schreib mir keine SMS, keine Mails.

7. Juni, 18:32 Uhr Ich hasse dich!

10. Juni, 3:44 Uhr Hey, Arschgesicht ! Erinnerst Du Dich an den Kumpel von mir, auf den Du so eifersüchtig warst? Gerade war ich bei ihm und hab mich ausgeheult, und er hat mir gesagt, wie toll ich bin, und ich war mit ihm im Bett, nur damit du es weißt. Hahaha, wer ist jetzt der Blöde? Ich kann jeden haben, den ich will, und Du sitzt zuhause und schaust blöd aus der Wäsche. 12 Juni, 20: 11 Uhr Okay, wenn du mich nicht anrufen willst, hör einfach nur zu: Ich dachte, das zwischen uns wäre was Besonderes gewesen. Und jetzt hast Du es alles weggeworfen? Ich versteh's einfach nicht. Irgendetwas muss passiert sein, aber wenn Du ehrlich bist, wirst Du zugeben, dass Du immer noch etwas für mich empfindest. Lass uns doch noch einmal in Ruhe über alles sprechen. Vielleicht ändert es nichts, aber dieses eine Gespräch schuldest Du mir. 14. Juni, 7:01 Uhr

Ich habe es wirklich versucht, JD. Aber ich nehme all die netten Sachen zurück, die ich gesagt habe. Du bist kreuzlangweilig. Ich habe Dir immer nur vorgemacht, dass ich die Serien und Filme gut finde, die Du magst, und Deine bescheuerten Freunde. Du bist nicht der Richtige für mich, und es geht mir tausend Mal besser ohne dich. Ich bringe gleich Deine Sachen bei Deiner Mutter vorbei. Ruf mich nie wieder an.

»Ich war zu diesem Zeitpunkt schon wieder so gut wie auf dem Heimweg«, erinnert sich JD. »Mein Handy hatte die ganze Zeit ausgeschaltet zuhause auf meinem Schreibtisch gelegen. Aber meine Mutter wusste natürlich, dass ich unterwegs war ... «

14. Juni 8:21 Uhr Betreff: DIESE MAlL ZUERST ÖFFNEN!!! LÖSCHE ALLE VORIGEN MAlLS