III Ein Buch Verse

 

Cals Haus grenzte unmittelbar an die wogenden Wasser des Golfs von Mexiko. Subble hatte vergeblich nach einem privaten Landeplatz an der dichtbesiedelten Sonnenküste von Florida Ausschau gehalten und mußte letzten Endes auf dem Wasser niedergehen, sehr zum Mißfallen der Wasserskifahrer, die dort kreuzten. Er verankerte seinen Flieger auf dem flachen Meeresgrund, rechnete dabei den Wechsel der Gezeiten ein und schwamm ans Ufer.

Cal arbeitete in der Sonne gleich hinter dem Deich. Er war klein, kaum größer als einen Meter fünfzig und ziemlich mager, aber seine Haut war gebräunt, und seine Bewegungen wirkten sicher. Anzeichen von ungewöhnlicher Schwäche waren nicht zu erkennen.

Vor ihm, oder vielmehr um ihn herum, befand sich ein elektronisches Gerät, das aus zahllosen Drähten, einem TV-Gehäuse, einer Amateurfunkausrüstung und diversen Laborwerkzeugen bestand, die vom Lötkolben bis zum hochentwickelten Taschenoszilloskop reichten.

»Gut«, bemerkte Cal, als Subble an den Deich heranschwamm und sich auf die Steine hochzog. »Ich kann zu diesem Zeitpunkt ein paar zusätzliche Hände gebrauchen.«

»Aquilon hat Sie angerufen«, sagte Subble und schüttelte das Salzwasser ab.

»Und Veg. Die beiden versuchen, sich um mein Wohlergehen zu kümmern, wie Sie wohl wissen. Ich schulde ihnen sehr viel.«

Subble nickte und erinnerte sich an die Episode mit dem Blut, die ihm Aquilon beschrieben hatte. Er begriff auf Grund des ganzen Verhaltens des Mannes und seiner anfänglichen Reaktion, daß Cal bei weitem der Eindrucksvollste unter den Personen auf seiner Liste war, dem äußeren Anschein zum Trotz.

Der Mann war hochintelligent und ging an das Interview eher auf klinische, denn auf defensive Art und Weise heran. In ihm steckten keine Angeberei und keine Überheblichkeit. Subble war für ihn eine Situation, die erforscht, und eine Hypothese, die verifiziert werden mußte. Cal würde die Fakten registrieren und sich dann von seinem Urteil leiten lassen. Und doch verbarg er etwas Bedeutsames, genau wie es die anderen getan hatten.

»Ich denke, wir sind uns über die Situation im klaren«, sagte Cal. »Und diese Ausrüstung sollte ihnen keine Rätsel aufgeben.«

»Ein selbstgebauter Fernsehempfänger mit einem geschlossenen Stromkreis, der auf die Signale eingestellt ist, die das Auge des Mantas abstrahlt«, sagte Subble.

»Ja. Wir brauchten lange, um die Natur der Kreaturen zu begreifen. Wir nahmen an, daß sie ungefähr auf die gleiche Weise sahen wie wir selbst, obwohl >Quilons Sezierung< dagegensprach. Aber natürlich würde die gewohnte Optik auf einer dunstigen Welt wie Nacre ineffektiv sein. Genau wie die Fische in den Tiefen des Meeres zu leuchten beginnen.«

Subble studierte den Apparat. »Sehr vielseitig anwendbar.«

»Sehr unpräzise, meinen Sie. Ich bin kein Elektroingenieur. Solange das Gerät nicht in der Praxis getestet ist, muß es generalisiert sein. Und das Testen ist ein Problem.«

»Ich sah den Manta im Wald bei Veg, und ich roch einen anderen in Aquilons Keller«, sagte Subble ruhig. »Ich nehme an, der erste lebte von den Tieren des Waldes und der zweite von Ratten. Wenigstens zwei andere Mantas sind während der letzten beiden Tage an diesem Ort gewesen, und Ihr Gerät war in Betrieb. Wieso ist das Testen also ein Problem?«

Cal war nicht alarmiert. »Zum einen ist der Import von unregistrierten Fremden illegal. Wir nannten sie

Schoßtiere, aber das war eine falsche Bezeichnung, und ihre Gegenwart hier läßt erkennen, daß die Regierung mißtrauisch wird. Zum anderen sind diese Kreaturen gefährlich. Selbst Sie mit allen Ihren Kräften und Fähigkeiten wären gegen einen einzelnen Manta geradezu hilflos.«

Subble gab dazu keinen Kommentar ab. Er untersuchte einen großen Kunststoffbehälter und stellte im Inneren Fächer und Klammern fest. Der Behälter war gebaut worden, um den kompletten Empfänger aufzunehmen und auf dem Wasser zu schwimmen. Er blickte über den Golf hinweg.

»Ja, sie können über das Wasser >gehen<«, sagte Cal. »Bei hoher Geschwindigkeit präsentiert das Wasser ihnen eine Oberfläche, die genauso solide ist wie der Staub, für den die Natur sie ausgebildet hat. Aber die Luft hier ist dünn - für sie.«

»Wann werde ich sie treffen?«

Cal schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß Sie keine Angst vor dem Tod haben, aber eine vorzeitige Begegnung würde mit einem Desaster enden, für Sie und vielleicht auch für die Erde.«

»Nicht für den Manta?«

Cal versuchte, eine Batterie in den Behälter zu heben, aber seine Kraft reichte nicht aus. Subble nahm sie ihm aus den Händen und befestigte sie am richtigen Platz. Offenbar hatte der kleine Mann nicht vorgehabt, die Ausrüstung selbst auf die See hinauszubringen.

»Wir leben in einer gespannten Atmosphäre«, stellte Cal fest. »So viele Milliarden von denkenden Individuen, so viel Kriegshysterie, kulturelle Unruhe und Erfolgszwang. Die meisten Leute auf diesem Planeten trachten verzweifelt danach, allem zu entfliehen, aber es gibt keinen Ort, wo sie hingehen können. Nur einige wenige qualifizieren sich für den Weltraum. Und so greifen sie nach allem, was in ihre Reichweite kommt, und reißen es in dem Glauben an sich, daß sie nach oben kommen.«

Subble erinnerte sich an das Elend des Programmierers, der die Kellerfarm leitete, und an Aquilons eigene aufgewühlte Gemütsverfassung. Er zitierte:

»>Die Sinnlichen und die Trostlosen rebellieren vergebens Sklaven ihrer eigenen Zwänge. In wahnsinnigem Spiel Zerreißen sie ihre Fesseln und tragen den Namen Der Freiheit eingegraben auf noch schwereren Ketten. <«

»Coleridge«, stimmte Cal zu. »Er bezog sich natürlich auf die Französische Revolution, zweihundert Jahre früher, aber er sprach ebenso für die Menschheit, wie es die großen Dichter tun. >Als Frankreich im Zorn seine gewaltige Faust erhob.<

Wie leicht wäre es, das auf heute zu übertragen!«

Subble lächelte. »Als der Mensch im Zorn seinen nuklearen Arm erhob/Und mit jenem Eid, der Luft, Erde und Meer zerschmetterte/Seine machtvollen Strahlen abfeuerte und die Freiheit beschwor/Sei mein Zeuge, wie ich hoffte und bangte.«

»Nur daß einige von uns nicht länger hoffen. Der Mensch ist ein Omnivore, im übertragenen wie auch im buchstäblichen Sinn. Er konsumiert alles.«

»Ein Omnivore«, murmelte Subble und erinnerte sich an Aquilons Bemerkungen.

»Sie fangen an, das Problem zu erkennen. Der Mensch ist der wahre Omnivore, um vieles wilder als die Kreatur, die wir auf Nacre mit diesem Namen belegten. Ich fürchte, es hat Quilon ziemlich schwer getroffen, als sie sich vor Augen führte.«

»Es hat. Sie rührt jetzt kein Fleisch mehr an.«

»Ich weiß genau, wie sie fühlt. Nacre war eine ziemlich drastische Lektion. Aber keiner von uns wurde sich über die wirklichen fundamentalen Unterschiede zwischen der menschlichen Natur und der der Kreaturen auf Nacre klar. Wie die Dinge lagen, tasteten wir blind umher.«

»Genau wie ich«, deutete Subble an. »Was ist dieser fundamental Unterschied, wenn damit nicht die ökologische Anpassung oder die Methoden der Wahrnehmung gemeint sind?«

»Ich kann Ihnen das nicht erklären, bevor ich Ihnen nicht zuerst etwas über das Dritte Königreich erzählt habe.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

Es hörte sich an wie ein Märchen, aber der Mann hatte etwas ganz Konkretes im Sinn.

Cal nickte. »Vermutlich übersehen Sie es genauso, wie wir das auf Nacre getan haben. Ich hatte ganz bestimmt kaum eine Entschuldigung dafür. Das ganze Wissen der Welt läßt einen Menschen nicht das Offensichtliche erfassen, wenn dieses Wissen zu einer festgefahrenen Denkweise führt. Dies macht es viel schwieriger als die unterschiedlichen Wahrnehmungsmethoden, einen vollen Kontakt mit den Mantas herzustellen.«

Subble studierte ihn genau, fand aber kein Anzeichen dafür, daß er Ausflüchte machte. Der Mann hatte eine Konzeption, die insbesondere für ihn schwerlich zu akzeptieren und zu diskutieren war, und man konnte darauf wetten, daß sie in unmittelbarem Zusammenhang mit dem stand, was ihm Veg und Aquilon nicht hatten sagen wollen. Ein wesentlicher Teil des Puzzles fehlte.

»Was muß ich tun, um diese Information zu erlangen?«

»Es ist keine Information per se. Es ist eine Denkweise. Ich habe sie selbst noch nicht gemeistert und schaffe es vielleicht auch nie, obwohl ich gerne denke, daß ich Fortschritte mache. Aber es ist ein schwieriger Weg, ganz besonders für jemanden wie Sie. Sie besitzen zu viele neuzeitliche Fähigkeiten.«

»Zu viele?«

»Das kann eine Belastung sein. Es gibt Reiche, in die nur die Armen eingehen können.«

Subble lächelte wieder. »Abermals sage ich euch: Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr geht als ein Reicher in das Himmelreich.«

»Ich fürchte, das ist genau das, was ich meine. Sie haben sich eins der populärsten falschen Zitate unserer Sprache ausgesucht und sind sich dessen vermutlich nicht einmal bewußt.«

»Ich versichere Ihnen, daß das Zitat richtig ist. Matthäus 19,24.«

»Genau. Sie sind mit einer Standardbildung indoktriniert worden, und zwar mit einer bemerkenswert weitgespannten. Deshalb haben Sie nie die Segnungen echter Gelehrsamkeit kennengelernt. Sie sind eingeengt durch die standardmäßigen Beschränkungen und Irrtümer. Ich wage zu sagen, daß Sie die ganze Bibel zitieren können.«

»Ich kann es.«

»Aber Sie, haben niemals daran gedacht, die Fassung oder die Übersetzung in Frage zu stellen. Anderenfalls wäre Ihnen der Verdacht gekommen, daß Jesus von Nazareth, in welcher Eigenschaft auch immer er existierte, vermutlich niemals von einem Kamel gesprochen hat, das einen so lächerlichen Versuch unternahm, wie durch ein Nadelöhr zu steigen. Ich glaube, der ursprüngliche Ausdruck war >Schiffstau<, falsch übersetzt und niemals korrigiert.«

Subble schwieg. Es stimmte: Er hatte keine Möglichkeit, diese Behauptung zu verifizieren oder zurückzuweisen, aber sie hörte sich authentisch an. Es machte keinen Unterschied, ob der kleine Mann recht hatte oder nicht. Er war im Vorteil, weil sein Wissen einschlägiger war als sein eigenes. Cal hatte die Schwäche eines Mannes aufgedeckt, dessen ganze Erziehung aufgepfropft war. Cal kontrollierte die Situation.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls. Nun, Aquilon hatte ihn gewarnt.

»Die Information spielt keine Rolle«, sagte Cal. »Es ist die Einstellung, die zählt. Sie waren sich Ihrer ganz sicher, weil Sie wußten, daß Ihr Zitat stimmte. Sie hatten recht - und doch wieder nicht. Das ist der Grund, aus dem unser reicher Mann so große Schwierigkeiten hat. Er kann sich selbst nicht entschließen, seinen Reichtum aufzugeben, selbst wenn dies eine Voraussetzung für die Erfüllung seiner Hauptwünsche ist. Der arme Mann ist besser dran. Er hat ganz einfach weniger zu verlieren. Deshalb kann er dorthin gehen, wo es der reiche Mann nicht kann.«

»Sie wollen mir also sagen, daß ich mein Wissen ablegen muß, um meine Mission erfüllen zu können?«

»Im Prinzip, ja. Zumindest müssen Sie Ihr Vertrauen in Ihr Wissen zur Seite legen. Ihre Sicherheit wird sie hier scheitern lassen.«

»Können Sie mir einen handfesten Grund geben, so etwas zu tun?«

»Das paßt zu meinem Stichwort, Sie als einen Materialisten zu verdammen, der niemals das Himmelreich erlangen wird! Aber ich verlange keinen blinden Glauben an irgend etwas, den Glauben selbst eingeschlossen. Ich kann Ihnen einen Grund nennen: Sie müssen lernen, mit dem Manta zu kommunizieren. Und der Manta ist fremdartig. Viel fremdartiger, als seine Handlungen und sein Aussehen zu erkennen geben. Irgendwann wird der normale Mensch vielleicht mit dem normalen Manta einen sinnvollen Dialog führen können. Aber das wird noch viele Jahre dauern, vermute ich. Sie müssen es jetzt tun - und das bedeutet, daß Sie zum Manta gehen müssen. Sie müssen ihn auf seinem eigenen Gebiet treffen, in seinem Rahmen. Keine menschlichen Konventionen werden ihnen dabei helfen, sie stören nur. Sie werden möglicherweise keine zweite Chance bekommen, wenn Sie es beim ersten Mal verpfuschen.«

Wieder erinnerte sich Subble an Aquilons Episode und wußte, daß Cal die Wahrheit sprach. Das Aussehen des Mantas war fremd, und seine Handlungen waren noch fremder. Und die Reaktionen der drei, die mit ihm auf seiner Heimatwelt zu tun gehabt hatten, waren noch viel fremder. Wenn er die ganze Wahrheit herausfinden wollte, mußte er am Ende mit dem mysteriösen Manta zusammentreffen. Und der war offenkundig fremdartig. Er konnte den Eindrücken aus zweiter Hand nicht vertrauen.

Aber wenn er seine großartige Ausbildung zur Seite legte, war er verwundbar - so wie es vielleicht auch das Trio der Sternenfahrer gewesen war. Angenommen, daß er seine Ausbildung zur Seite legen konnte.

»Können Sie sich vorstellen, was für einer Konditionierung ich ausgesetzt war?« fragte Subble. »Keine Spitzfindigkeit kann meine Logik erschüttern. Keine Folter kann mich zerbrechen. Keine Gehirnwäsche kann die Loyalität zu meiner Mission auslöschen, ohne mich vorher zu töten. Haben Sie einen Vorschlag, wie ich das erreichen soll, obwohl meine ganze Existenz doch darauf ausgerichtet und geformt wurde, es zu verhindern?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, Sie können sich an das Dritte Königreich heranarbeiten. Und dadurch und mit meiner Ausrüstung haben Sie eine Chance. Der Trick ist, daß man Sie leiten muß, ohne Ihren Geist dabei zu zerstören. Vertrauen Sie mir und lassen Sie sich von mir so weit führen, wie ich kann. Dann sehen wir weiter.«

»Warum sollte ich Ihnen vertrauen?«

Jetzt war Cal an der Reihe zu lächeln. »Weil ich vollkommen aufrichtig bin. Sie können meine Emotionen leicht lesen. Ich weiß das, und Sie wissen, daß ich es weiß. Sie müssen mir glauben - oder den Glauben an ihre eigenen Fähigkeiten verlieren, was auf dasselbe herauskommt. Sie haben also gar keine Wahl.«

Wieder in der Falle, diesmal durch ein Paradoxon. Seine Fähigkeiten veranlaßten ihn in der Tat, sie in Zweifel zu ziehen. »Diese Feststellung ist falsch«, sagte er und dachte darüber nach. Allein genommen negierten sich diese vier Worte selbst und erreichten einen neuen Rahmen, der sich ausschloß. Ein intellektuelles Spiel - aber es war Wirklichkeit geworden. »In Ordnung. Wohlan, Macduff. Zeig mir den Weg zum Dritten Königreich. Ich folge.«

»Und verdammt sei, der zuerst ruft: Es ist genug!« sagte Cal.

Er ging ins Haus und kehrte mit einem verzierten Kupfergefäß zurück, das einem antiken Teekessel ähnelte, nur niedriger war. Er setzte es auf das Pflaster und näherte sich der Tülle mit einem Feuerzeug. Nach mehreren Ansätzen gelang es ihm, eine kleine grünliche Flamme zu entfachen, die unmittelbar unterhalb der vorstehenden Spitze züngelte.

»Eine Lampe«, stellte Subble fest. »Aladins Wunderlampe?«

»Etwas in dieser Richtung. Normalerweise dauert es allerdings eine Weile bis Myko erscheint. Wir unterhalten uns. Sie sagen mir, wenn Sie ihn sehen.«

»Myko - eine Vorsilbe, die sich auf Pilze bezieht. Keine schmeichelhafte Bezeichnung.«

»Nicht unbedingt.« Cal deutete auf eine Stelle neben der Lampe, und sie nahmen im Schneidersitz ihre Plätze auf den Steinen ein.

Zarte Parfümdüfte entstiegen der Flamme: Zeder und andere exotische Aromen verschmolzen zu einem Wohlgeruch, der neu für Subble war. Er hakte die Bestandteile im Kopf ab und ordnete jeden automatisch ein, aber es blieb noch ein Rest, den er nicht kannte. Ein ungewöhnlicher Duftstoff sicherlich, aber harmlos. Offenbar versuchte Cal, eine bestimmte Atmosphäre für das zu schaffen, auf was er hinauswollte.

»Sie haben Quilon und Veg bereits getroffen«, sagte Cal. »Und sie wissen einiges über die Situation, in die wir auf Nacre geraten sind. Sie wissen über den Omnivoren Bescheid?«

»Ja.«

»Ich nehme an, es sieht wie ein verblüffender Zufall aus, daß ausgerechnet unser Trio die erforderlichen Qualitäten besaß, um dort überleben zu können.«

»Ja. Mein Boß betrachtet solche Zufälle mit Mißtrauen. Im allgemeinen steckt mehr dahinter, als nach außen hin - oder in den offiziellen Berichten - sichtbar ist.«

Subble starrte in die Flamme und wartete darauf, daß die Falle zuschnappte. Er konnte keine Fremden in der Nähe entdecken, aber Cal erwartete jeden Augenblick etwas ganz Bestimmtes.

»Tatsächlich war überhaupt nichts Zufälliges dabei«, sagte Cal. »Unsere ungewöhnlichen Qualitäten waren für das Problem nebensächlich und führten allenfalls zu einiger Verwirrung. Wir waren ganz einfach die Gruppe, die zu dem Zeitpunkt auf Nacre isoliert wurde, in dem die Kontaktaufnahme fällig war. Jeder hätte es tun können.«

Das stimmte nicht so ganz. Cal besaß Informationen, die ihn durch und durch erschreckten. Seine Körperprozesse spiegelten es auf allen Ebenen wider. Veg und Aquilon hatten einen Verdacht gehabt, aber Cal wußte - was auch immer es war.

»Der Zufall brachte uns zusammen, aber das bedeutete nichts«, sagte Cal. »Ich wünschte, er würde uns noch einmal zusammenbringen.«

»Dreiecksbeziehung und alles?«

»Dreiecksbeziehung und alles. Quilon plagt sich mit der Wahl herum, wenn es tatsächlich gar nicht erforderlich ist. Liebe ist nicht exklusiv.«

»Sie sagte, daß sie sich schmutzig fühlte.«

Cal seufzte. »Die Sinnlichen und die Trostlosen rebellieren vergebens«, sagte er. Durch den dichter werdenden Rauch der Lampe erschien seine Gestalt unscharf. »Sklaven ihrer eigenen Zwänge. Die Menschen der Erde sind zu Neurotikern geworden, die alles nach innen kehren, was sie draußen nicht mehr loswerden können. Sehen Sie sich buchstäblich jede einzelne lebende Person an, und Sie werden es feststellen. Unterdrückter Wahnsinn. So viel davon ist bestimmt kein Zufall. Einzigartige Qualitäten gibt es nicht mehr, nur noch einzigartige Methoden, den Horror einer weitergehenden Existenz auszudrücken. Einige nennen es Kreativität, andere Psychoneurosen. Aber es bleibt der Wahnsinn eines Volkes, das seine letzte rationale Grenze verloren hat.«

»Veg.« ..

»Überzeugte sich selbst davon, daß der Tod das Übel war, das er bekämpfen mußte. Glücklicherweise war er zufrieden, sich auf die Weigerung zu beschränken, ohne Erfordernis zu töten oder das Fleisch irgendeiner Kreatur zu verzehren, die den erkennbaren Instinkt der Selbsterhaltung besitzt. Er war nie tiefer getroffen und bleibt eins der am besten angepaßten Mitglieder unserer Gesellschaft. Er ist glücklich - solange sein Wald bestehenbleibt.«

Subble hatte da seine Zweifel. Aber er bemühte sich, Cal zu folgen und nicht mit ihm zu debattieren. »Aquilon...«

»Wurde davon in ihrer Kindheit getroffen. Sie war ein hübsches Mädchen, beneidet wegen ihres Ausehens. Irgendeine zufällige Begebenheit suggerierte ihr, daß sie sich selbst bestrafen mußte, indem sie ihr Lächeln opferte. Auf diese Weise würden die anderen nicht wütend auf sie sein. Sie nahm dieses Gebot zu wörtlich, und die Strafe war viel grausamer als das Vergehen. O ja, sie wurde geschlagen, aber das war die Ignoranz ihrer Familie, die das äußere Zeichen als absichtliche Bösartigkeit ansah, obwohl sich darunter tatsächlich eine wundervolle Persönlichkeit verbarg.«

»Ja«, sagte Subble, der sich erinnerte. »Aber sie lächelt jetzt.«

»Und sie ist schlimmer dran als zuvor. Jetzt hat sie einen abwegigeren Komplex entwickelt. Als sie noch glaubte, daß die Zerstörung ihres Lächelns sie befreite, wurde sie nicht von anderen Phobien und Zwängen heimgesucht. Nun sucht sie nach ihnen. Sie versucht, Vegs Weg zu gehen, als ob der Tod das größte Übel wäre - was natürlich nicht stimmt. Das Leben ist das Problem unserer Welt. Zu viele Menschen leben auf der Erde, so dicht zusammengedrängt, daß Raum und Freiheit weitgehend nur noch Konzeptionen der Vergangenheit sind. Der Tod ist das größte Privileg, das dem Menschen gewährt wird. Der Tod ist verantwortlich für seine ganze Entwicklung. Der Tod ist nicht unser Feind er ist unsere Rettung.«

»Das ist ein ungewöhnlicher Standpunkt.«

»Es ist der Standpunkt eines Paläontologen. Jeder, der die Geschichte des Lebens auf der Erde studiert, muß den Tod als eine lebendige Kraft respektieren. Ohne den Tod gäbe es keine natürliche Auslese. Ohne Auslese wären niemals Wirbeltiere, Säugetiere und Menschen entstanden. Die Schwachen, die Mißgebildeten, die Zurückgebliebenen - sie müssen Platz für den Fortschritt machen. Aussonderung und Auslese der Spezies: ständige Variationen, einige gut, die meisten schlecht, aber im großen und ganzen überleben die Guten und pflanzen sich fort. Wenn Sie in den Ausleseprozeß eingreifen, vernichten Sie den Menschen.«

»Und wir haben eingegriffen«, sagte Subble. Er verstand die Argumente, sah aber den springenden Punkt nicht. Cal arbeitete noch darauf hin. »Wir haben jedes menschliche Leben bewahrt, schwach und stark, und die Natur kommt nicht zum Zug.«

»Oh, die Natur kommt zum Zug. Aber nicht auf eine Weise, die wir als normal betrachten«, berichtigte ihn Cal. »Ich glaube, unser Dschinn ist auf dem Weg. Sehen Sie ihn?«

Subble blickte in die Flamme. Er war drauf und dran gewesen, Fragen über die Natur von Cals eigener Krankheit zu stellen, hatte seine Chance jedoch verpaßt. Oder war er abermals ausmanövriert worden?

»Myko aus dem Dritten Königreich? Ich fürchte, nein.«

»Dort über der Lampe - wie ein kleiner Wirbelwind, wachsend. Grau zuerst, aber heller werdend, während er sich ausdehnt. Hören Sie auf, vernünftig zu sein, und sehen Sie hin!«

»Wenn Sie darauf bestehen.«

Subble konzentrierte sich - und sah ihn.

Die grüne Flamme tanzte, wechselte die Farbe, golden, purpur und hellrot, und aus der Tülle löste sich eine schmale Rauchsäule, grau und wirbelnd. Als er sie beobachtete, wuchs sie an, wurde zu einem Staubteufel, einem Miniaturtornado, einem knospenden Derwisch und explodierte schließlich zu einem riesigen düsteren Mann, der mit einem fließenden Band aus dichtem Rauch bekleidet war.

»Ich sehe ihn«, sagte er.

Der Dschinn stemmte knüppelartige Hände in die Hüften und starrte ihn an.

»Gut«, sagte Cal. »Myko wird uns in das Dritte Königreich führen.«

Subble sprang auf. Er wurde sich bewußt, daß man ihn abermals reingelegt hatte.

»Eine psychedelische Droge! Lysergsäurediäthylamid...«

Der Dschinn lachte, und der Ton warf ein Echo. Sein Hinterkopf ähnelte einem farbigen Giftpilz, und sein Gebiß bestand aus den Stoßzähnen eines Elefanten.

»LSD?« fragte Cal. »Nein. Das ist ein halluzinatorisches Agens, obwohl beide ursprünglich von Pilzen herstammen. Ihre Eigenschaften differieren in einer Weise, die für Sie nicht wichtig sein dürfte.«

»Ist das die Grundlage Ihrer neuen Philosophie?« erkundigte sich Subble enttäuscht. Er streckte die Hand aus, um die Lampe zu löschen.

»Nein. Myko ist bloß ein Mittel zum Zweck, ein Weg, der uns zu dem Kontakt, den wir suchen, führen kann oder auch nicht. Geben Sie ihm eine faire Chance, bevor Sie sich von ihm abwenden.«

»In meinem Bewußtsein ist nichts, was nicht schon vorher da war«, sagte Subble, ließ die Flamme jedoch brennen. »Man kann keine Geheimnisse entschleiern, wo es keine gibt. Aber die Verzerrungen, die die Droge verursacht, könnte meine Effektivität beeinträchtigen.«

»Ihr Bewußtsein ist auch jetzt noch intakt. Betrachten Sie sich selbst. Sind Sie in übermütiger Stimmung? Deprimiert? Haben Sie das Gefühl, als würden Sie schweben? Ist der Horizont unendlich geworden? Fühlen Sie sich Gott näher? Sexuell angeregt? Welche Wirkung hat die Droge auf Ihr Körpersystem ausgeübt? Inwieweit sind Sie behindert?«

Subble,, machte ein paar schnelle körperliche und geistige Übungen. »Sie hat mein Körpersystem nur ganz leicht beeinflußt«, gab er zu. »Nicht genug, um meine Leistungsfähigkeit entscheidend herabzusetzen.«

»Inwieweit hat sich dann für Sie etwas geändert?«

Subble blickte auf den vor ihm stehenden Dschinn, der verächtlich zurückstarrte. »Die Droge hat eine Halluzination hervorgerufen, die sich nicht verflüchtigt.«

Der Dschinn lachte bellend. »Oh, du sterblicher Narr

- ein leichter Atemzug von mir, und du würdest ins Meer stürzen und erbärmlich ertrinken, ohne dich dagegen wehren zu können!«

»Fordern Sie Myko nicht heraus«, warnte Cal. »In der physischen Welt mögen Sie überlegen sein, aber dies ist nicht Ihre Welt. Sie folgt nicht Ihren Regeln.«

»Ja«, sagte Myko mit Befriedigung.

»Welchen Regeln folgt sie?« fragte Subble interessiert.

»Meinen«, sagte der kleine Mann. »Die Droge ruft Halluzinationen hervor, ohne das Bewußtsein zu behindern oder die Denkprozesse zu beeinflussen. Diese werden jedoch durch die Halluzinationen selbst beeinflußt. Sie haben totale Kontrolle über Ihren Verstand und über Ihren Körper. Ich aber kontrolliere die Umgebung.«

»Ein gemeinsamer Traum?«

»Der Einfachheit halber können Sie es so nennen. Tatsächlich wird Ihre Sicht durch versteckte Hinweise bestimmt, die ich Ihnen gebe - durch gewisse Schlüsselwörter und die Lampe, die Sie unwillkürlich mit Aladins Abenteuer in Verbindung gebracht haben. Was Sie sehen, unterscheidet sich natürlich etwas von dem, was ich sehe, genauso wie sich unsere Kenntnisse und unser Geschmack unterscheiden. Und das ist letzten Endes ohnehin ein Aspekt des Lebens. Niemand kann zum Beispiel sicher sein, daß die Farbe, die er als rot sieht, nicht für seinen Nachbarn blau ist: ein Blau, das sein Nachbar rot nennt. In dieser Beziehung ist die Veränderung nicht gewaltig, und die Droge sorgt vielleicht für eine größere Übereinstimmung, denn jeder echte Unterschied kann, wenn es darauf ankommt, durch die beherrschende Sichtweite beseitigt werden.«

»Wie können Sie so sicher sein, daß Ihr Wille stärker ist als der meine?«

»Möchten Sie einen sichtbaren Beweis oder eine vernünftige Erklärung?«

»Beides.«

»Trägt Myko einen Turban?«

»Nein. Sein Schädel ist lächerlich kahl.«

»Sehen Sie noch mal hin.«

»Er trägt einen Turban.«

»Sie irren sich.«

Der Dschinn war wieder glatzköpfig. Subble konzentrierte sich, bemühte sich, den Turban zu sehen, der für einen kurzen Augenblick erschienen war, aber nichts änderte sich. Myko grinste ihn an und schien seinen Spaß zu haben. »Es sieht so aus, als ob der Geist seinem Herrn gehorcht«, gab Subble zu.

»Ja. Erstens ist er mein Geschöpf, eine Erfindung meiner Wahl, oft von mir vorgeführt, während Sie ihm zum erstenmal begegnen. Vermutlich weiß ich über die arabische Mythologie viel mehr als Sie, und das verleiht mir Macht, genauso wie mir meine Kenntnis der Bibelübersetzung einen Vorteil einräumte. Jetzt ist die Situation noch eindeutiger. Sie könnten Myko nicht kontrollieren, es sei denn, Sie wüßten mehr über ihn.«

»Ja«, wiederholte Myko.

»Zweitens bin ich schon viele Male hiergewesen - unter dem Einfluß der Droge, meine ich - und habe Toleranz und Kontrolle entwickelt. Ihre Wirkung ist bei mir nicht so stark, obwohl wir beide die gleiche Dosis genommen haben, und das gibt mir einen festeren Halt an der Objektivität, wie wir sie beide kennen. Erfahrung ist der beste Lehrer, besonders hier.«

Subble studierte den Dschinn, beeindruckt durch die offenkundige Realität der Kreatur, obwohl doch Einigkeit darüber bestand, daß sie ein Produkt der Einbildung war. Wenn man wußte, daß Furcht grundlos war, sollte man sie eigentlich ablegen können. Aber er wußte, daß man dies oft trotzdem nicht konnte. Auch das Wissen, daß eine Krankheit psychosomatisch war, linderte die Schmerzen nicht immer. Plötzlich hatte er Verständnis für ein ganzes Bündel von Problemen, die er normalerweise leidenschaftslos betrachtet hätte - für die Probleme verzweifelter Individuen in einer übervölkerten Welt. Er mußte, daß der Dschinn nicht existierte, aber das änderte überhaupt nichts. Er stand dort, genauso wie sich die unbegründeten Ängste und Probleme vor anderen auftürmten.

»Ich kann auch deine Gedanken lesen«, sagte Myko.

»Nicht daß es mir Vergnügen bereitet.«

»Und schließlich stehen Ihnen Ihre eigenen Zielvorstellungen im Wege«, sagte Cal. »Sie wollen die Kontrolle gar nicht übernehmen, weil Sie dadurch Ihre Mission aufs Spiel setzen würden. Sie brauchen keine Überlegenheit, Sie brauchen Informationen. Und Sie wissen, daß ich Sie Ihnen nur auf diesem Weg geben kann.«

»Ich erinnere mich natürlich nicht an Erfahrungen meiner Vergangenheit«, sagte Subble. »Aber ich habe den Verdacht, daß Sie, Veg und Aquilon das verdammteste Trio sind, das mir je begegnet ist. Ich würde Sie gerne erleben, wenn Sie alle drei zusammen sind.«

Cal lächelte ein bißchen traurig. »Es ist jetzt ein Quartett: Kraft, Emotion, Intellekt und. Geist. Vielleicht werden wir bald wieder zusammen sein. Allein können wir nicht existieren.«

Subble registrierte, daß der kleine Mann nicht an die romantischen Aspekte dachte. Es gab da noch etwas, genauso wie es bei den anderen gewesen war. Cal hatte recht. Jeder Mensch auf der Erde war in eine seltsame Konfiguration hineingepreßt worden, aber diese drei hatten eine eigenartige Beziehung zueinander, die sie zu etwas Besonderem machte.

»Aber wir haben andere Dinge zu erledigen«, sagte Cal kurz. »Myko, zeig uns das Gewölbe.«

»Ich höre und gehorche«, erwiderte der Dschinn eifrig.

Er bückte sich und berührte den Boden. Ein großer Silberring erschien, innen und außen verziert und senkrecht in die mittlere Steinplatte eingelassen. Myko zog daran, und der Stein hob sich und legte eine abwärts führende Treppe frei.

»Da hinunter?« fragte Subble, der sich nicht länger bemühte, zwischen den Realitätsebenen zu unterscheiden. »Nicht in die Schwarze Höhle von Kalkutta?«

»Ein weiterer Irrtum«, sagte Cal.

»Diese Episode ist pure Fiktion. Sie war ein Gerücht, das Historiker als Faktum nahmen, da sie die britische Politik in Indien rechtfertigte.«

»Verstehe. Aber in dieser Fassung könnte Ihr Dschinn uns einsperren und die Kontrolle über die Halluzination übernehmen.« »Ein interessanter Gedanke«, sagte Cal. »Aber dieses Risiko müssen wir eingehen. Sie müssen die Wunder des Dritten Königreichs erleben, um sie richtig würdigen zu können. Dies ist wichtig.«

»Wie Sie meinen«, stimmte Subble zu. Seine Bemerkung war nicht ernst gemeint gewesen, aber jetzt hatte er Bedenken.

Myko schrumpfte etwas, produzierte eine Fackel, hielt sie an die Flamme der Lampe und wartete, bis sie Feuer fing. Dann ging er nach unten voran.

Die Stufen führten in einen Gewölbegang, von dem schwere geschlossene Türen abgingen..

»Das Dritte Königreich hat alles im Überfluß, was der Mensch benötigt und begehrt«, sagte Cal. »Hier ist die Nahrungskammer. Beobachten Sie alles ganz genau.«

Der Dschinn öffnete die Tür mit einer großartigen Gebärde und blieb wachsam daneben stehen, als die beiden Männer eintraten.

Es war das Entzücken eines Feinschmeckers. Eine riesige Tafel war aufgestellt worden, die sich unter den aufgetragenen exotischen Delikatessen bog. Am Kopfende lag ein gefülltes Schwein auf einer Platte, mit wohlriechenden Kräutern und Gewürzen garniert. Dahinter war ein riesiger gerösteter Truthahn zu sehen, mit Petersilie bekränzt, und dahinter eine Reihe von Lachsfilets, dekoriert mit Rosinen und Zitronenscheiben.

Sie gingen an der schier endlosen Tafel entlang, vorbei an Krabbencocktails, Bratenscheiben und Lammkeulen. Es gab Salatberge - Geflügel, Thunfisch, Tomaten, Früchte, mit Soßen, die zu zahlreich und zu exotisch waren, um alle aufgezählt zu werden. Es gab dampfende Terrinen mit Suppen und aromatische Backwaren und Pasteten. Es gab Schokoladenkuchen und Erdbeerkompott. Frische Maiskolben glänzten neben goldenen Karotten und Artischocken. Konfitüreomeletts. Kartoffelpuffer. Tafelweine aller Art standen neben ihren traditionellen Gerichten, und danach kamen dampfender Kaffee und Eiscreme.

Agenten fanden sich bei der Ausübung ihrer Pflichten

manchmal in eigenartigen Situationen wieder.

Sie schlossen den genüßlichen Rundgang ab und kehrten in die Halle zurück.

»Eindrucksvoll?« erkundigte sich Cal, und wieder schien diese Frage eine Nebenbedeutung zu haben.

»Eindrucksvoll. Kann man irgend etwas davon essen?«

»O ja, und zwar mit dem größten Vergnügen. Aber Sie würden in dem Augenblick, in dem die Vision endet, wieder hungrig sein. Das ist das Ärgerliche an der Magie - keine bleibende Wirkung.«

»Nehmen wir an, es wäre wirklich etwas weniger außergewöhnliche Nahrung vorhanden.«

»Sie könnten sie genüßlich verzehren und hätten anschließend einen vollen Magen und eine angenehme Erinnerung.«

Subble begriff, wie leicht eine Wahnidee Gestalt annehmen konnte.

Myko hatte sich nicht dazu herabgelassen, sie nach drinnen zu begleiten. Er stand an der Tür und hielt sich die Nase zu.

»Unsere nächste Ausstellung findet in der Gesundheitskammer statt«, sagte Cal. Er machte eine Handbewegung, und die Tür öffnete sich.

Der Raum war groß - so groß, daß der Eindruck entstand, sie würden in ein Tal hinaustreten. Unmittelbar vor ihnen befand sich eine offene Ebene, die mit kräftigen Bäumen bewachsen war: Buchen, Eschen, Ahorn und eine einzelne mächtige Rottanne. Bronzefarbene griechische Athleten trieben Sport. Einer schleuderte den Speer, ein anderer schwang den Diskus. Vier von ihnen machten einen Wettlauf, und zwei weitere führten einen Ringkampf aus. Weiter hinten im Tal spielten zwei lebhafte junge Frauen in Shorts Tennis. Die Männer sahen wie Veg aus, die Frauen wie Aquilon. Ein Mann, der Subble selbst ähnelte, übte sich in kunstvollen Sprüngen in einen leicht gewellten Pool - nackt.

Die Luft war erfrischend. Gelegentlich kam eine leichte Brise auf. Das Gras unter ihren Füßen wuchs üppig, und nirgendwo zeigte sich etwas, Flora oder Fauna, das sich nicht in der Blüte des Lebens befand.

»Und Reichtum«, sagte Cal und ging voran zur dritten Kammer.

Myko war verschwunden.

Es war ein Palast, der in sich selbst aus vielen Kammern bestand. Die erste war gefüllt mit Gold- und Silbermünzen seltener und schöner Prägung, einige rund, andere achteckig oder mit einem Loch in der Mitte. Sie quollen aus großen Gefäßen hervor und türmten sich auf dem Fußboden zu Bergen. Subble schätzte das Gewicht des Metalls und kalkulierte den Nettowert in der heutigen Zeit: mehr als elf Millionen Dollar für das, was in diesem Raum allein sichtbar war, ganz abgesehen vom archäologischen Wert.

Der zweite Raum war noch eindrucksvoller: Juwelen aller Farben und Arten - blaue Diamanten, grüne Smaragde, rote Rubine, sternenförmige Saphire und zahllose kleinere Edelsteine, einige prächtig eingefaßt, andere in ihrer natürlichen kristallinen Form erstrahlend. Es gab Perlenketten und herrliche Ringe und Armbänder.

Der dritte Raum enthielt unbezahlbare Gemälde und Skulpturen: Subble erkannte das Werk von Michelangelo, da Vinci, van Gogh, Picasso und vielen anderen Meistern, alle durch Originale repräsentiert. Viele kannte er nicht, allenfalls konnte er sie stilmäßig einordnen: Ming-Dynastie, Maya Jaina, Mittleres Ägyptisches Reich, Lederarbeiten der Mandingos, ein Buddha aus der Gupta-Zeit. - Kunstwerke, die auf Grund ihrer gewaltigen gesellschaftlichen und historischen Bedeutung und ihres künstlerischen Gehalts wertmäßig gar nicht abzuschätzen waren. Und in der hinteren Ecke, endlich in der Gesellschaft, die ihr gebührte, die von Aquilon gemalte Nacre-Landschaft.

Der vierte Raum war eine Bibliothek voller Erstausgaben, die schönsten Bücher, die die Menschheit hervorgebracht hatte. Jeder Autor, jeder Forscher, den Subble schätzte, war vertreten, und jeder Band befand sich in makellosem Zustand, obwohl einige, wie Caxtons Le Morte d'Arthur, Jahrhunderte alt waren.

»Und zum Schluß die Kammer des Lebens und des Todes«, sagte Cal, als sie durch die Galerie und die Schatzkammern in die Halle zurückkehrten. Er öffnete die letzte Tür.

Auf beiden Seiten hatten sich Armeen aufgestellt: links eine römische Phalanx, rechts die berittene Horde Dschingis Khans. Wie wahrscheinlich alle Agenten hatte sich Subble schon immer gefragt, wie so eine Auseinandersetzung ausgehen würde. Die Römer hatten ihre Zeit vor allem wegen ihrer Disziplin und ihrer sorgfältigen Schulung beherrscht, aber die ein paar Jahrhunderte später auftretenden Mongolen waren nur dem Namen nach eine Horde gewesen. In Wirklichkeit gehörten sie zu den methodischsten Kämpfern und Kriegern aller Zeiten. Bei zahlenmäßiger Gleichheit wären die nomadischen Reiter bis zum Aufkommen der Feuerwaffen vermutlich jeder anderen Militärtruppe überlegen gewesen. Und wenn sie Gewehre besessen hätten...

Immerhin, man konnte nicht sicher sein, solange die Armeen nicht tatsächlich aufeinandergetroffen waren. Der Feldherr spielte dabei eine entscheidende Rolle, die Moral und die Umstände an sich.

Als die beiden Besucher aus der Halle eintraten, griffen die Reiter brüllend und Pfeile vom Rücken ihrer Pferde abschießend an, während die Römer wie eine Mauer vorrückten, gedeckt durch ihre Schilde und die langen Speere nach vorne gereckt.

Cal blickte ihn prüfend an, und da erinnerte sich Subble. Die Phalanx war nicht römisch, sondern griechisch und mazedonisch. Er hatte sich wieder einer Achtlosigkeit schuldig gemacht, und jetzt traf diese Anomalie auf den Feind. Wie genau war die römische Legion bewaffnet und organisiert? Kurzschwert, Flexibilität.

»Was wir erleben, ist nur optisch, akustisch und olfaktorisch«, sagte Cal, der seine Betroffenheit mißdeutete. »Die Bilder werden ohne Effekt durch uns hindurchgehen und umgekehrt.«

Das war gut, zu wissen. Die Armeen stießen aufeinander, und Subble fand sich mitten in einem wilden

Gefecht wieder. Die Pferde bäumten sich vor den Schilden auf, traten mit den Hufen nach ihnen und trieben sich durch das Gewicht ihrer Körper zurück. Ein Huf traf Subble, ging durch ihn hindurch und wirbelte Erde und Sand hoch. Der braunhäutige Reiter hieb mit seinem Krummsäbel in die Lücke der Phalanx, und der Römer fiel, das Ohr abgetrennt. Ein Speer fuhr heraus, drang in den Bauch des Pferdes ein, und der Reiter stürzte zu Boden, als die Eingeweide hervorquollen.

Ein unentwirrbares Gemetzel hub an, angefüllt mit dem Gestank von Blut und Eisen und Schweiß und Urin und zertrampelter Vegetation, mit den Schreien von Tier und Mensch, mit Triumph und Agonie. Subble war an Gewalt gewöhnt, aber die Brutalität dieser Auseinandersetzung stieß ihn ab. Und er war sich immer noch nicht sicher, ob die Römer jemals eine Phalanx errichtet oder ob sich die Mongolen jemals auf einen Kampf Mann gegen Mann eingelassen hatten. Diese Vergewaltigung der Geschichte, den grundsätzlichen Anachronismus der Situation einmal ganz beiseite gelassen, war vermutlich schlimmer als der Umstand der hingeschlachteten Männer.

Cal zog ihn in die Halle zurück und schloß die Tür. Das Blutvergießen endete abrupt.

»Kommen Sie und entspannen Sie sich ein bißchen«, murmelte er. »Ich habe ein paar Fragen an Sie.«

Am Ende der Halle lag ein Wohnraum aus dem zwanzigsten Jahrhundert, mit Klimaanlage und einem Radio, das sanfte Musik spielte. Überrascht erkannte Subble, daß es sich um dasselbe Stück handelte, das er bei der Besichtigungstour durch die Intensivfarm in Begleitung Aquilons gehört hatte. Die Tiere waren durch die Musik - und durch Drogen - stillgehalten worden, während sie sich für den Schlachtblock mästeten.

»Bitte beschreiben Sie mir, was Sie erlebt haben«, bat ihn Cal.

»Sie haben nichts beobachtet?«

»Ich möchte auf etwas ganz Bestimmtes hinaus.«

Subble beschrieb detailliert, was er in jeder Kammer gesehen hatte, wobei ihn die letzte ein bißchen verlegen machte. Er war sich sicher, daß Cal einige berechtigte Korrekturen anbringen könnte.

»Ihre Versionen unterscheiden sich von den meinen«, sagte Cal. »Sie halten immer noch an Ihren eigenen Erwartungen fest. Ich habe Sie davor gewarnt, und das ist auch einer der Gründe, aus denen ich Sie hierhergebracht habe. Es würde mit einem Desaster enden, wenn Sie dem Manta mit dieser Einstellung gegenübertreten. Befreien Sie Ihr Bewußtsein von allem und folgen Sie mir. Diesmal werde ich Ihnen die wahre Natur des Dritten Königreichs zeigen.«

Der kleine Mann schulmeisterte ihn und mehr, aber Subble nahm die Zurechtweisung hin und folgte ihm zurück in die vierte Kammer.

Sie war leer.

»Blicken Sie auf den Boden«, sagte Cal.

Der Untergrund erschien: satte, dunkle Erde.

»Sehen Sie den Champignon dort?« erkundigte sich Cal und zeigte darauf.

Ein einzelner Champignon sproß hervor. Er schoß im Zeitraffer aus der Erde und öffnete seinen weichen Schirm, weiß und zart.

»Dies ist ein Saprophyt«, sagte Cal.

»Ein Saprophyt ist ein Organismus, der von toten organischen Stoffen lebt«, stimmte Subble zu. »Dies ist charakteristisch für den Champignon und verwandte Pilze, während andere Parasiten sind.«

»Denken Sie darüber nach.«

Dann begriff Subble den Zusammenhang. Ein Pilz - ein Geschöpf, das sein Leben aus dem Tod gewann, versteckt hinter der Tür von Leben und Tod. Dies war eine viel treffendere Definition, als es die Vision der Schlacht gewesen war. Und er hatte sich über die militärischen Details Gedanken gemacht! Pilze - Nacre war eine Welt der Pilzformen, wo Chlorophyllpflanzen ausgeschlossen blieben. Tod - Cal war besessen davon, persönlich und philosophisch. Der Dschinn Myko, dessen Name »Pilz« bedeutete, das Halluzinogen, das von einer Pilzart stammte.

Und das mysteriöse Dritte Königreich selbst.

Tier, Pflanze und Pilz! Tiere waren beseelt. Sie besaßen, unter anderem, die Fähigkeiten der Bewegung und der bewußten Reaktion. Pflanzen praktizierten Photosynthese und bezogen ihre Nahrung aus anorganischen Substanzen. Aber Pilze bewegten sich nicht und holten sich ihre Energie auch nicht vom Licht - und doch lebten und gediehen sie. Sie hatten einen alternativen Weg gefunden, und einige Experten - Mykologen - sahen in ihnen die Repräsentanten eines eigenen Königreichs, unabhängig von den Pflanzen.

Ein Königreich, das die Pflanzen ausgeschaltet hatte, um auf Nacre vorherrschend zu werden.

»Vergessen Sie Nacre für den Augenblick«, sagte Cal. »Ich werde Ihnen zeigen, was das Dritte Königreich für die Erde bedeutet. Pilze, Schimmel, Mehltau, Hefe, Bakterien - ein bißchen mehr Hitze und Feuchtigkeit, und dieses Königreich würde auch hier dominieren. Pilze können sich von fast allem Organischen ernähren: Fleisch, Gemüse, Milch, Leder, Holz, Kohle, Plastik, Knochen. Die Arten passen sich schnell an. Entwickeln Sie einen neuen Düsentreibstoff, und Sie werden bald einen Pilz finden, der sich davon ernährt. Die Sporen sind zäher, als wir es sind. Kälte bringt sie nicht um, und Hitze muß schon sehr extrem sein, um sie alle zu zerstören. Entzug von Wasser - sie können jahrelang getrocknet und aufbewahrt werden, und wenn sich die Bedingungen ändern, wachsen sie wieder. Pilze können mit phänomenaler Schnelligkeit wachsen. Einige sind, wie Sie wissen, Parasiten - ihre Nahrung muß nicht tot sein. Einige wechseln vom einen zum anderen. Ein Pilz kann in wenigen Tagen Hunderte von Millionen Sporen freisetzen. Und diese Sporen sind überall. Sie schweben unsichtbar in der Luft, die wir einatmen, und setzen sich auf jedem Bissen Nahrung fest, den wir essen, gleichgültig für wie >rein< wir ihn halten.«

»Mit anderen Worten, sie sind allgegenwärtig«, sagte Subble. »Aber letzten Endes haben wir sie hier unter Kontrolle.« Er erinnerte sich allerdings an die Kellerfarm und fragte sich, ob das wirklich stimmte.

»Das ist Ansichtssache. Der Mensch kann nicht ohne sie existieren, während die Pilze ganz bestimmt ohne uns existieren können - ohne das gesamte Königreich der Tiere, genau gesagt.«

»Offensichtlich ist meine Schulung auf diesem Gebiet nicht ganz up to date«, sagte Subble. »Wie kann sich ein Parasit oder Saprophyt ohne Tiere, lebend oder tot, ernähren? Und wieso bin ich persönlich von diesem kleinen Champignon oder seinen Vettern abhängig? Ich kann ihn essen, wenn er nicht giftig ist, aber ich muß das ganz bestimmt nicht. Ich würde ihn nicht vermissen, wenn er für alle Zeiten verschwindet.«

»Um Ihre erste Frage zu beantworten: Parasiten und Saprophyten können natürlich nicht in der Isolation existieren, aber das Königreich der Pflanzen reicht völlig aus, um ihre Nahrungsbedürfnisse zu befriedigen. Also sind die Tiere nicht notwendig. Eine Antwort auf die zweite Frage ist komplizierter, aber auch wichtiger, weil sowohl die Pflanzen als auch die Tiere jetzt vom Königreich der Pilze abhängig sind. Sind Sie mit dem Sauerstoff-Kohlenstoffdioxyd-Zyklus vertraut?«

»Natürlich. Die Tiere nehmen Sauerstoff auf und setzen Kohlenstoffdioxyd frei. Die Pflanzen benötigen Kohlenstoffdioxyd für die Photosynthese und geben Sauerstoff ab. So bleibt alles schön im Gleichgewicht.«

»Nein. So schön ist das gar nicht. Die Respiration der Tiere erbringt nur ein Viertel dessen, was die Pflanzen brauchen.«

»Ein Viertel? Das geht nicht auf.«

»Der Rest ist ein Nebenprodukt der Kompostierung.«

»Und die Kompostierung.«

»Ist der Dienst, den Bakterien und Pilze leisten. Ohne sie würden tote Organismen so bleiben, wie sie gestorben sind - steril. Ihre Bestandteile würden niemals in die Erde und die Atmosphäre zurückkehren. Drei Viertel des Kohlenstoffdioxyds wären, unter anderem, dauerhaft gefangen - mit steigender Tendenz. Die Pflanzen wären auf einer Einbahnstraße, die zum Aussterben führt. Und mit dem Ende des Königreichs der Pflanzen.«

»Das Ende des Königreichs der Tiere! Ich kann Ihnen jetzt folgen.«

»Und ohne Kompostierung hätte die Erde kein höher entwickeltes Lebewesen hervorgebracht. Es würde keinen Regenerationszyklus geben. Die ersten Mikroorganismen, die sich jemals gebildet haben, würden noch immer bei uns sein, seit zwei oder drei Milliarden Jahren tot, aber so dauerhaft wie Stein. Die natürliche Auslese hätte niemals eine Chance gehabt. Kein Raum, keine Nahrung, keine Luft. Um es genau zu sagen, nach unseren besten heutigen Kenntnissen ist die Gegenwart von Pilzen irgendeiner Art überall Voraussetzung für die Entwicklung höherer Lebensformen.«

Subble betrachtete den Champignon mit neuem Respekt. »Ich gratuliere dir, kleiner Saprophyt.«

Cal führte ihn zu der dritten Tür, hinter der sich vorher Geld, Edelsteine, Kunstwerke und die Bibliothek verborgen hatten. Abermals war der Raum leer, bis er sprach.

»Sie haben den Reichtum in seiner konventionellen Form gesehen. Aber in Wirklichkeit besteht Reichtum nicht aus Geld, Kunst oder Literatur. Diese Dinge repräsentieren nur einen gehobenen Lebensstandard. Ein Mensch kann sterben, wenn man ihn in einen Raum voller Gold oder eine Bibliothek einsperrt. Das Gold muß in funktionelle Produkte umgetauscht werden, die Bücher müssen interpretiert werden, um sie praktisch anwenden zu können. Was Sie gesehen haben, waren die gängigen Symbole für Reichtum, Besitz und Wissen. Sie eignen sich zu Zwecken des Registrierens, des Vergleichens und der Aufbewahrung, tragen aber nicht unmittelbar zum persönlichen Wohlbefinden bei.«

»Darüber brauchen wir nicht zu streiten«, sagte Subble. Dies war in der Tat eine Lektion darüber, wie weit jemand abschweifen konnte, wenn man ihn gewähren ließ.

»Statt dessen wollen wir uns die Dinge ansehen, die wir gebrauchen können. Betrachten Sie die gesunden Felder voller Gerste, Weizen, Roggen und Hafer - den Brotkorb der Nation, eine Welt.«

Subble sah das Schachmuster der Getreidefelder wie von einem Flugzeug aus. Die Ähren bewegten sich im sanften Wind.

»Und Erbsen, Tomaten, Zwiebeln, Kartoffeln.«

Das Flugzeug ging tiefer, um diese Bodenfrüchte ins Blickfeld zu bringen.

»Rinder, Schafe, Pferde.«

Viehherden erschienen - wie damals, als die Tiere noch nicht in dunkle Gebäude eingesperrt und zwangsernährt wurden.

»Aber dies sind herkömmliche Pflanzen und Tiere«, stellte Subble fest.

»Aber sie sterben. Sehen Sie, die Blätter welken, und die Tiere sind schwach und kraftlos.«

Und so war es. Eine schreckliche Plage überschattete die fruchtbare Szenerie und zerstörte Flora und Fauna gleichermaßen.

»Sie sind von winzigen Fadenwürmern, von Nematoden, angegriffen worden«, erklärte Cal. »Wir schrumpfen jetzt schnell auf die Größe von Ratten, Mäusen, Insekten - aber der Zerstörer ist weder Nagetier noch Insekt.«

Das Flugzeug verschwand, und es war, als würden sie fallen. Rasend schnell rückten die Felder näher und dehnten sich nach allen Seiten aus. Dann standen die beiden Männer auf dem Boden und beobachteten, wie die Welt um sie herum explodierte.

»Wir sind einen Zentimeter groß, einen zehntel Zentimeter, einen hundertstel.«

Die Welt war ein belebtes Mikroskopbild.

»Wir befinden uns in einer Erdkammer der Humusschicht unmittelbar unterhalb der Oberfläche. Dies ist die biologisch aktivste Zone der ganzen Welt, der lebensnotwendige Schlüssel des gesamten ökologischen Zyklus. Dies ist der erbittertste Kriegsschauplatz aller drei Königreiche - sie kämpfen erbarmungslos, müssen Sie wissen - und es gibt hier viel erschreckendere Monster als alle, die wir aus dem Makrokosmos kennen.« Cal machte eine Handbewegung. »Vor uns haben wir eins davon: den Nematoden, den erfolgreichsten wurmartigen Organismus der Erde.«

Subble betrachtete ihn: eine augenlose Python, acht Meter lang, aus der gegenwärtigen Perspektive gesehen. Der halb transparente Körper hinter der frei liegenden Mundöffnung hatte einen Durchmesser von dreißig Zentimetern.

»Er frißt alles, aber besonders Wurzelfasern«, fuhr Cal fort. »Und er kann sein eigenes Gewicht binnen einer Woche an Eiern legen. Er ist einer der wildesten Zerstörer, die wir kennen, und unsere Zuchtpflanzen haben kaum eine wirkungsvolle Verteidigung gegen ihn, weil wir sie so dicht aneinanderpflanzen. Ein kultiviertes Feld ist für den Wurm wie ein offener Supermarkt.«

Der Nematode glitt auf sie zu, sein Körper schleimig und schlank.

Subble trat zurück. »Werden andere Tiere mit ihm fertig?«

»Wenn er nicht gestoppt wird, würde er die Welt beherrschen, aber weder Pflanze noch Tier scheinen in der Lage zu sein, ihn zu kontrollieren. Er schmarotzt auch bei größeren Lebewesen. Im Laufe der Zeit kann er sich im Darm eines Säugetiers um ein Tausendfaches verlängern. Keine größere Pflanze würde seinen Ansturm überleben und.«

»Ich erkenne die Schwere des Problems«, sagte Subble und wich einen weiteren Schritt zurück, als die blinde Mundöffnung nach ihm suchte. »Aber was stoppt ihn?«

Cal deutete zur Seite. »Dort haben wir eine hübsche Gruppe von saprophytischen Pilzen. Völlig harmlos - wir können gefahrlos durch das Fadengeflecht, das Myzelium, hindurchgehen.«

»Gelobt sei das Dritte Königreich«, sagte Subble und kletterte durch das schwammige Dickicht, das er sah. Wenigstens etwas, das dem Vordringen des hungrigen Wurms Widerstand entgegensetzte. Aber der Nematode blieb auf ihrer Spur und zwängte sich dicht hinter ihnen durch das Myzelium.

»Sehen Sie, der Schleim auf dem Körper der Kreatur hat einen eigenartigen Effekt auf den Pilz. Sobald sich ein Nematode nähert, sprießen kurze Zweige mit Haken an den Enden hervor.«

Die Haken erschienen, jeder einzelne etwa dreißig Zentimeter im Durchmesser. Der Wurm ignorierte sie und folgte den sich zurückziehenden Männern mit blindwütiger Entschlossenheit. Subble fühlte sich in der Nähe des gierig schnappenden Maules noch immer nicht allzu wohl.

Aber die Haken wurden so zahlreich, daß man ihnen nicht mehr ausweichen konnte. Die Männer stießen sie zur Seite, aber der Wurm gab sich diese Mühe nicht. Er zwängte sein Vorderteil in einen Haken hinein und drang weiter vor, was ihm leicht gelang. Aber der dickere Mittelteil seines Körpers blieb stecken. Der Haken war zu schmal, um ein Hindurchschlüpfen zu ermöglichen. Die Kreatur wand sich hin und her, versuchte, sich zurückzuziehen oder die Konstruktion zu durchdringen. Aber der Haken blähte sich wie ein Gummireifen auf und hielt den Wurm in der Mitte fest.

Ein wildes Toben begann. Das Monster schleuderte Kopf und Schwanz mit erschreckender Gewalt nach links und rechts, aber der tückische Ring zog sich immer fester. Der Nematode war viel größer und schwerer als der Pilz, aber er war nicht im Boden verankert und konnte in dieser Position seine Kraft nicht voll ausspielen. Er war unfähig, das schmale Band zu sprengen.

Allmählich wurden seine Bewegungen schwächer, und er verendete.

»Einige Pilzarten zwingen den Wurm mit klebrigen Auswüchsen zu Boden und fuhren dann Fasern in seinen Körper ein, um die Innereien zu verzehren. Andere legen Sporen in ihm ab, die keimen und zu Parasiten werden.« Cal beobachtete den sterbenden Wurm leidenschaftslos. »In jedem Fall ist es tatsächlich das Dritte Königreich, das in diesem wichtigen Fall unsere Pflanzen schützt und dadurch zum Bewahrer unseres Reichtums wird. Es tötet tierische Parasiten und geht in vielen Fällen symbiotische Beziehungen ein, ohne die selbst die mächtigsten Bäume nicht gedeihen könnten. Wir haben gerade gesehen, wie ein Omnivore einem Gegner zum Opfer fiel, den er in keiner Weise für gefährlich hielt. Aber das ist nur ein Aspekt der Geschichte.«

Das war bedeutsam. Ein Omnivore war von einem scheinbar unschuldigen Pilz zu Fall gebracht worden. Selbst durch die Schleier der Halluzination erkannte Subble, mit welchem Nachdruck Cal diese Konzeption betonte. Der Appetit des Menschens war ähnlich dem des Wurms.

»Offensichtlich haben Sie dieses Thema erforscht.«

»Ich habe mich zumindest damit beschäftigt«, erwiderte Cal. »Nach Nacre mußte ich das. Die Repräsentanten des Dritten Königreichs hier bei uns sind primitiv, vielleicht weil es immer genug.. Nahrung für sie gab und eine weitere Evolution für ihr Überleben nicht nötig ist, aber auf Nacre bleiben sie der Schlüssel zum Verständnis der forgeschrittenen Arten. Ich habe noch nicht damit angefangen, die ökonomische Bedeutung zu erwähnen, die dieses Königreich für die Erde hat. In unserer Industrie verwenden wir Schimmelorganismen, um künstliche Säuren herzustellen, die wir für die Fertigung von Plastikmaterial, neuen Farbstoffen, fotografischen Entwicklungslösungen, Bleichmitteln, Keramikstoffen und so weiter benötigen. Pilze bei der Erdölzerlegung. Gärungsprozesse in elektrischen Batterien. Und dann der Reichtum an Wissen, den wir im Laboratorium gewinnen: Schimmelpilze und Bakterien sind die primitivsten Organismen, die DNS enthalten, den Grundbaustein des Lebens.«

»Reichtum, in der Tat«, sagte Subble beeindruckt.

Die DNS/RNS-Forschungen führten jetzt schon zu den gewaltigsten Fortschritten in den Naturwissenschaften.

»Aber ich weiß noch immer nicht, wie mir das alles bei der Erfüllung meiner Mission helfen soll.«

»Es ist nicht an mir, Ihnen das zu sagen«, erwiderte Cal ernst. »Aber meine Hoffnung ist, daß Sie während dieser Demonstration irgendwo den springenden Punkt entdecken, den ich nicht entdeckt habe. Wir sollten besser in der Lage sein, die fortgeschrittenen Pilze zu verstehen, wenn wir die primitiven verstanden haben. Ich fürchte, wir haben einen bösen Fehler auf Nacre gemacht, aber ich kann mich nicht dazu bringen, ihn zu definieren, und ich habe keine Idee, wie er wieder aus der Welt zu schaffen ist. Das ist es, was Sie lernen müssen. Und ich glaube, nur der Manta kann das Bild für Sie vervollständigen. Sie müssen lernen, unter seinen Bedingungen zu kommunizieren, so wie Sie jetzt lernen, es unter den meinen zu tun.«

»So verstehe ich es.«

Und das war wohl auch der Grund für die Droge. Cal könnte ihm das Material direkt präsentiert haben, nicht aber die Erfahrung des Halluzinogens, die Übung eines persönlichen Zurseitetretens mit dem Zweck, sich auf die Konzeption eines anderen einzustellen. Mit einem Fremden mochte es nicht zu einer standardmäßigen Kommunikation kommen, und die Nuancen des Aufeinandereingehens würden überaus bedeutsam sein. Er beherrschte die Technik jetzt, aber er hätte sich ganz bestimmt nicht gewünscht, sie zu üben, während er dem Manta gegenüberstand. »Überprüfen wir die anderen Räume«, sagte er.

Sie nahmen wieder ihre normale Größe an.

»War es nicht ein Champignon, den Alice im Wunderland aß, um ihre Größe zu verändern?« erkundigte sich Subble, erwartete aber keine Antwort. Das Dritte Königreich war wirklich allgegenwärtig, nachdem er erst einmal auf seine Existenz als solche aufmerksam geworden war.

»Gesundheit«, sagte Cal an der nächsten Tür. »Die meisten Leute kennen Pilzinfektionen wie Ringelflechten oder Histoplasmosen. Aber sie denken nicht daran, wieviel mehr sie den aus Pilzen gewonnenen Antibiotika und Heilmitteln verdanken. Sie haben eine Ansammlung von gesunden Menschen gesehen. Aber wie viele von ihnen wären ohne Penizillin und die anderen Pilzderivate so gesund geblieben?« Er öffnete die Tür.

Ein übler Geruch drang nach draußen. Die Kammer wurde durch einen gewaltigen, schäumenden Bottich ausgefüllt, in dem der grinsende Dschinn mit einem mächtigen Paddel herumrührte.

»Was für eine Überraschung«, rief Myko. »Dies hier ist mein Zuhause.«

Es waren Penicillium-Schimmelpilze, die in einer kohlensauren Nährflüssigkeit zum Wachsen angeregt wurden.

Cal schloß die Tür und bannte den Geruch.

»Gar nicht zu reden von der laufenden Arbeit mit Hefeorganismen im Zusammenhang mit Strahlenerkrankungen, Krebs und Gedächtnisverlusten!«:

»Oder mit geistiger Gesundung durch eine bewußtseinserweiternde Drogentheraphie«, fügte Subble hinzu. »Das ist ein kleiner Pilztrick, den ich so schnell nicht vergessen werde.«

In der Gesundheitskammer wurde ein kurzes Auflachen hörbar. Wie es schien, hatte Myko seine Freude an einem Feedback.

»Oder Gedankenkontrolle«, murmelte Cal. »Wissen hat seine Gefahren.«

Sie standen vor der Tür der Nahrungskammer.

»Lassen Sie mich raten«, sagte Subble. »Eßbare Pilze in den prächtigsten Variationen: Morcheln, Boviste, Pfifferlinge, Steinpilze, Trüffel. Und gebackenes Brot, fermentierte Alkoholika, gereifter Käse - all das, was wir Hefe- und Pilzkulturen zu verdanken haben.«

»Nur zum Teil«, sagte Cal lächelnd. »Ich könnte Ihrer Liste noch das himmlische Manna aus der Bibel hinzufügen, denn das war ein anderes Pilzprodukt, das die Leute in der Zeit der Not verzehrt haben, aber ich dachte eigentlich in eine andere Richtung. Tatsächlich wäre es nicht erforderlich, unser original Büffet aufzugeben. Ich könnte es mit Hilfe des Dritten Königreichs verdoppeln oder verdreifachen.«

»Indem Sie Schlachtvieh mit Pilzen füttern?«

»Indem ich unsere Abfälle an Hefekulturen verfüttere.«

»Lassen Sie die Tür zu«, rief Subble. »Das Penizillin war schon schlimm genug. Lassen Sie mich das Büffet so in Erinnerung behalten, wie es war. Erzählen Sie mir davon.«

Diesmal lachte Cal. »Der Prozeß ist ziemlich interessant, aber ich gebe zu, daß es einige unangenehme Begleitumstände gibt. Selbst unsere Abwässerkanäle sind zu wundervollen Nahrungsbecken geworden.« Aber er nahm die Hand von der Türklinke.

»Heute gibt es sechs Milliarden Menschen auf der Erde, und nicht mehr als zehn Prozent davon hungern wirklich. Trotz der erschreckenden Zuwachsrate ernähren wir unsere Bevölkerung besser als jemals zuvor. Man kann das nicht mit Steaks machen, egal wie brutal die intensive Viehhaltung auch betrieben wird. Ein Rind liefert weniger als anderthalb Pfund Trockenfleisch für jede hundert Pfund Nahrung, die es braucht. Dafür werden viele Monate und eine große Weidefläche benötigt, wenn man ein wirklich gesundes Produkt haben will. Ein großer Teil von dem, was die dichtgedrängten Viehbatterien hervorbringen, ist im technischen Sinn untauglich für den menschlichen Verzehr: geschmackloses, kaum nahrhaftes Fleisch, das mit Restsubstanzen von Insektiziden und schädlichen Hormonen verseucht ist.«

Dies schien Cal mehr zu beunruhigen als die Vorstellung von Nahrungsmitteln aus dem Abwässersystem.

»Ein Schwein liefert sechs Pfund Fleisch für dieselbe Menge Futter, und es tut es schneller und braucht weniger Platz«, fuhr er fort. »Aber es gibt immer noch nicht genug Raum und genug Futter für die Milliarden von Schweinen, die erforderlich wären, um uns zu beköstigen, wenn dies unsere größte Nahrungsquelle wäre. Mit anderen Tieren ist es genauso. Pflanzen sind als Nahrungsbringer viel effizienter - vom Nematodenbefall einmal abgesehen -, aber es gibt lediglich so und so viel fruchtbares Land. Sicher, wir legen künstlich beleuchtete Innenfarmen auf mehreren Ebenen an, und wir greifen auf das Meer und in beschränktem Ausmaß auch auf die Atmosphäre zurück, aber unsere größte einzelne Proteinquelle ist heutzutage Hefe.«

»Hefe? Pur?«

»Nicht gerade die Sorte, die den Brotteig aufgehen läßt«, sagte Cal. »Aber das Prinzip ist dasselbe. Hefepilze ernähren sich von fast allem, was organisch ist - von Sägespänen, Melasse, verfaulten Früchten, sogar von Petroleum und Teer.«

»Ein weiterer Omnivore!«

»So könnte man es nennen, ja. Hefepilze produzieren fünfundsechzig Pfund eßbare Bestandteile für hundert Pfund Nahrung, zehnmal mehr als bei jedem Tier. Und sie konsumieren Nahrungsstoffe, die andernfalls zum überwiegenden Teil nutzlos wären. Sie vervielfältigen ihr Gewicht pro Tag um viele Male und benötigen dazu nicht mehr Raum, als die Nährbehälter in Anspruch nehmen. Man kann sie mit anderen Nahrungsmitteln vermischen, denn sie verfälschen den Geschmack nicht und sind reich an Nährstoffen. Tatsächlich stammt die Hälfte von dem, was wir heute essen, von Hefepilzvarianten, ohne daß sich der Durchschnittsbürger dessen bewußt ist. Unser Truthahn, unser Spanferkel - wenn es sich um ein echtes Produkt handeln würde, wäre ein großer Teil davon mit Hefepilzproteinen versetzt worden. Dazu ist eine ganze Menge Kunstfertigkeit nötig.«

»Das muß es wohl«, stimmte Subble zu. »Wenn das Büffet in meiner Vorstellung aus Pilzkulturen gemacht war, dann habe ich es nicht gemerkt.«

»Sie sind dabei in guter Gesellschaft. Unsere Raumfahrer werden mit ihren eigenen Abfallprodukten ernährt - zersetzt durch Hefepilze. Wie dem auch sei, dies ist der wahre Brotkorb unserer Welt. Die Menschheit kann auf ihrem gegenwärtigen Stand ohne die großzügige Unterstützung des Dritten Königreichs nicht länger überleben.«

Sie gingen die Treppenstufen hoch und traten hinaus auf die Terrasse.

»Das ist es«, sagte Cal. »Das ist das, was das Dritte Königreich für die Erde bedeutet. Erinnern Sie sich daran, daß Nacre eine fortgeschrittene Pilzwelt ist. In dieser Beziehung ist uns der Planet um Milliarden von Jahren voraus. Irgendwo in all diesen Informationen liegt der Schlüssel zum Desaster verborgen, vielleicht für uns alle.«

Er beugte sich über die Lampe, die noch immer friedlich brannte, und löschte die kleine Flamme.

Fast augenblicklich verschwand die abwärts führende Treppe.

»Keine Nachwirkungen?« erkundigte sich Subble und deutete auf die Lampe.

»Nicht bei dieser Dosierung. Man soll es allerdings nicht übertreiben. Keines dieser Halluzinogene ist ein pures Vergnügen.«

Er dachte für einen Augenblick nach.

»Ich bin mir nicht sicher, was passieren würde, wenn man sich vollkommen an diese Droge gewöhnt. Theoretisch macht sie nicht süchtig, aber sie ist verdammt starker Tobak. Wir haben einen Meter davon entfernt gesessen, so daß sie ausreichend verdünnt wurde, aber wenn man sie unmittelbar über der Flamme inhaliert.«

». könnte mein Antigehirnwäschen-Syndrom eine Selbstzerstörung bewirken«, vervollständigte Subble.

»Ja. Die Droge würde im Endeffekt eine psychoneurotische Verwirrung bei Ihnen hervorrufen, da sie weitaus weniger daran gewöhnt sind als wir.«

»Sie haben mir das alles aus einem ganz bestimmten Grund gezeigt, nicht nur um mir den Hintergrund und praktische Erfahrung beizubringen. Was ist der Grund?«

Cal wich seinem Blick aus.

»Ich habe nicht den Mut, es Ihnen zu sagen. Ich hoffe inständig, daß ich mich irre. Das aber müssen Sie selbst herausfinden und dann das tun, was Sie tun müssen. Vielleicht finden Sie dabei zufällig auch eine Lösung für unsere persönlichen Probleme.«

Subble nickte. »Ich habe versprochen, auch Aquilon zu helfen. Das ist der wahre Preis für Ihre Kooperation. Ich werde tun, was ich kann. Aber zuerst muß ich Ihre Lampe und Ihr Kommunikationsgerät nehmen und mich auf den Weg machen, um den Manta zu treffen. Dort wird sich alles entscheiden.«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen Erfolg oder Mißerfolg wünschen soll.«

»Noch eins«, sagte Subble. »Ich hätte gerne Ihren Teil des Nacre-Abenteuers. Bisher kenne ich die Geschichte nur zum Teil.«

»Ja, da wäre ja noch das«, stimmte Cal zu. »Ich hätte es fast vergessen. Wir essen ein paar Hefepilzpfannkuchen und.«

Stunden später lagerten sie, entfernt von den Eingeweiden und dem Gestank, auf einem anderen schmalen Plateau.

Veg und Aquilon waren müde und in sich gekehrt. Der Manta war so unergründlich wie immer. Er hatte von dem Leichnam des Omnivoren gegessen und seine Säfte durch den Verdauungstrakt in seiner Unterseite in sich aufgenommen. Jetzt schien er damit zufrieden zu sein, sich zu entspannen. Aquilon hatte sich das, was übriggeblieben war, angesehen und beschlossen, doch lieber weiter Pilze zu essen. Nur Cal war von neuer Kraft erfüllt.

»Wißt ihr was?« sagte er. »Der Manta muß die bemerkenswerteste Kampfmaschine dieses Planeten sein! Habt ihr gesehen, wie er den Omnivoren zerstückelt hat? Unser Gewehr konnte dem Monstrum nichts anhaben, aber der messerscharfe Schwanz des Mantas machte ihn fix und fertig. Und der Omnivore wußte es. Er hatte Angst.«

»Wir haben nicht alles gesehen«, sagte Aquilon. »Aber warum greift der Manta uns nicht an?«

Sie fragte mehr, um ihn zu ermuntern, als aus wirklicher Neugier.

»Warum hält er Veg von mir fern, aber nicht von dir?«

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Cal.

Er befand sich in einer eigenartigen Hochstimmung, so als ob ihn die schreckliche Auseinandersetzung beflügelt habe. Er würde den Grund dafür herausfinden müssen. Konnte es irgendeine belebende Chemikalie im Blut des Omnivoren gewesen sein, das er zu sich genommen hatte? Oder hatte die Enthüllung seiner Schande Erleichterung statt Scham hervorgerufen? Nein, es war noch etwas anderes, etwas sehr Bedeutsames, das er bis jetzt noch nicht bestimmen konnte.

»Ich habe mich auch gefragt, warum die Herbivoren keine Angst vor dem Manta hatten. Und ich glaube, ich weiß die Antwort.«

Veg starrte mürrisch auf den Boden, das Gesicht von Aquilon abgewandt. Irgend etwas war zwischen den beiden vorgefallen, etwas, von dem Cal nichts wußte und das sie beide bedrückt gemacht hatte. Aber was? Sie hatten gar keine Zeit für ein privates Gespräch gehabt, und der Kampf mit dem Omnivoren konnte ihre persönliche Beziehung eigentlich nicht getrübt haben.

Der Charakter ihrer kleinen Gruppe hatte sich irgendwie verändert. Zu Beginn des Abenteuers war Veg der bestimmende Mann gewesen. Er hatte den Traktor gesteuert und den Rückweg zum Lager festgelegt. Dann, nach dem Abschlachten des ersten Mantas, hatte er unauffällig Aquilon Platz gemacht, der Künstlerin und Anatomin. Jetzt war das unmittelbare Problem ihres Überlebens überwunden, und ihre Rückkehr zur Basis schien wahrscheinlich - wenn sie die besondere Natur ihres Kontakts mit dem Manta erfassen konnten. Ganz offensichtlich konnte er sie alle drei töten und würde das vielleicht auch tun, wenn sie ihm einen Anlaß dazu gaben. Jetzt war die Zeit für intellektuelle Überlegungen, für Problemlösungen, die sich nicht auf einer physischen Basis vollzogen. Jetzt war Cal an der Reihe, der bestimmende Mann zu sein. Aber das war nicht der Ursprung seiner gehobenen Stimmung.

Aquilon war neugierig. »Du kannst die Handlungen des Mantas erklären?«

»Ich glaube schon. Aber es ist nicht einfach, und die Schlußfolgerungen können sehr unerfreulich sein.«

»Ich meine, wir sollten besser Bescheid wissen«, sagte Aquilon. »Wenn unsere Sicherheit betroffen ist. Und es ist ja nicht so, daß es nicht schon genug Unerfreuliches gegeben hat.«

Cal sah sie an, nachdenklich wegen der Wirkung, die seine Worte auf sie haben mochten. Sie war ein sehr sensibles Mädchen. Er blickte zu Veg hinüber, wußte aber, daß der große Mann die Implikationen mit einem Schulterzucken abtun würde.

»Es betrifft unsere Sicherheit und. unseren Stolz«, sagte er. »Die ökologische Kette auf Nacre scheint sehr einfach zu sein: eine Gattung von Herbivoren, eine von Omnivoren und auch, wie es aussieht, eine von echten Karnivoren. Aber das ist nur ein kleiner Teil der Geschichte. Es ist unmöglich für tierisches und fungoides Leben unter Ausschluß von Pflanzen zu existieren, die Photosynthese betreiben. Sie sind diejenigen, die Nahrung aus Licht und anorganischen Substanzen hervorbringen, indem sie Chlorophyll, den grünen Farbstoff, verwenden. Alles andere ernährt sich von ihnen, direkt oder indirekt.«

Veg zeigte langsam Interesse. »Es gibt hier keine.«

»Und doch sind sie hier. Sie müssen dasein. Sie sind in der Atmosphäre, mikroskopisch klein, und schweben in den höheren Regionen, wo genügend Sonnenlicht durchdringt. Tatsächlich ist es so, daß sich die wichtigen ökologischen Ketten in der Atmosphäre bilden und der Boden lediglich eine Halde für die Abfälle ist. Auf diese Weise bleibt das Pflanzenleben primitiv, da es keine Basis auf dem Boden errichten und keine Wurzeln schlagen kann, um Blumen, Bäume und so weiter hervorzubringen. Es ist wie mit dem Plankton in den Meeren der Erde, das dort gedeiht, wo die Bedingungen vorteilhaft sind, und auf den Boden absinkt, wenn es zu groß wird, um sich in den oberen Regionen zu halten. Das ist unser Staub hier - stetig nach unten sinkendes Plankton. Die Pflanzen scheinen hier nur eine untergeordnete Nische eingenommen zu haben, rückständig für alle Zeiten, so wie es vielen Pilzen auf der Erde geht. Natürlich ist das nur eine grobe Vereinfachung.«

Cal bemerkte ihre Ungeduld und wurde sich bewußt, daß er wie ein Lehrer wirkte. »Jedenfalls sind die Verhältnisse auf dem Boden beschränkt genug, um drei

Tiergattungen die Vorherrschaft zu sichern, wenigstens in den Gegenden, die wir gesehen haben. Die sogenannten Herbivoren ernähren sich von dem Staub und sind leichte Beute, aber ohne sie würden die anderen Gattungen umkommen. Offensichtlich würde es dem Omnivoren leichtfallen, sie auszurotten.«

»Aber was ist mit dem Manta?« fragte Aquilon. »Er sollte noch eher.«

»Laß ihn reden«, knurrte Veg.

Verärgert machte Aquilon den Mund zu.

»Der Manta, der echte Karnivore, hält die Balance aufrecht indem er den Omnivoren zur Beute nimmt, der wiederum alles frißt, was vorhanden ist - vom Staub bis zu den Menschen. Der Manta hingegen braucht die Herbivoren überhaupt nicht als Nahrung.«

»Das ist es!« rief Veg aus.

Aquilon bedachte ihn mit einem Seitenblick.

»Der Manta verzehrt keine Herbies. Er beschützt sie!«

»Laß ihn reden«, sagte Aquilon.

»Wenn ich recht habe«, fuhr Cal schnell fort, »dann definieren diese Kreaturen alles im Rahmen ihres eigenen Systems. Es gibt lediglich drei tierische Klassifizierungen: Herbivore, Omnivore und Karnivore, eine Klasse, die keine andere Kreatur zur Beute nimmt, eine, die alles zur Beute nimmt, und eine, die nur eine andere Klasse zur Beute nimmt - die mittlere. Demnach hat der Herbivore nur den Omnivoren zu fürchten und wird von dem Manta sogar geschützt. Sie unterscheiden einander mehr vom Typus her als von der physischen Erscheinung, da ihre äußere Form ziemlich flexibel ist. Und sie mögen in der Lage sein, ähnliche Einteilungen auch bei nicht artverwandten Gattungen vorzunehmen. Wie es das Schicksal will, repräsentieren wir drei.«

Die beiden anderen wurden lebendig. »Herby!«

»Omnivore!«

»Und Karnivore«, vervollständigte Cal. »In diesem Licht gesehen sind die Motive klar. Für ihn ist Veg eine hilflose Kreatur, die beschützt werden muß. Jedesmal, wenn ihn ein Manta gesehen hat, ist er ihm gefolgt, vermutlich aus einem Impuls heraus. Natürlich muß er ihn beschützen, da die Gefahr so nahe ist.«

»Er hat ihn vor mir geschützt«, sagte Aquilon nicht unbedingt erfreut.

»Als ich mich inmitten der Herde befand, segelte der Manta über mich hinweg«, rekapitulierte Veg. »Er hätte mich mit diesem Schwanz in zwei Hälften zerteilen können, aber er hatte es auf sie abgesehen. Und als der Omnivore angriff, rührte er sich nicht, bis ich der Bestie in den Weg kam. Er muß gedacht haben, daß Cal für sich selbst sorgen könne, während Quilon ihn überhaupt nicht kümmerte.« Er machte eine Pause. »Und ich habe den ersten getötet. Er wollte mir helfen, und ich habe ihn niedergeschossen.«

»Andernfalls hätte er Quilon töten können«, erinnerte Cal ihn.

Aquilon begann die persönliche Gefahr, in der sie sich befand, zu begreifen. »Aber warum hat mich dieser da nicht geradewegs angegriffen, anstatt zu beobachten?«

»Er muß erkannt haben, daß wir alle drei fremd sind«, sagte Cal, der die Empfindung hatte, eine Erklärung anbieten zu müssen, obwohl ihm diese Frage großen Kummer bereitete. »Er weiß vielleicht noch nicht so richtig, wie er mit uns umgehen soll, und hält sich zurück, bis er zu einem Entschluß gekommen ist.«

»Also noch kein Grund, die aus Alligatorhaut bestehenden Riemen des Packens abzuschneiden«, murmelte Veg.

»Kennst du nicht den Unterschied zwischen Krokodil- und Schweineleder?« erkundigte sich Aquilon. »Diese Riemen sind aus Omnivorenhaut.«

Veg sah verlegen aus. „

»Kein Wunder, daß er nach einer so großen Überraschung ein Auge auf uns halten will«, fuhr sie fort.

»Ein großes Auge«, sagte Veg und blickte es an.

»Aber wenn er schließlich doch zu einer Entscheidung kommt.«

»Ich schlage vor, daß wir zur Basis zurückkehren, bevor es soweit ist«, sagte Cal.

Aquilon blickte in den tiefen Brunnen des Mantaauges und schüttelte sich. Der Tod starrte zurück.

Mit neuem Ansporn kletterten sie weiter. Der Manta folgte, ohne irgend etwas zu unternehmen - noch.

Am Nachmittag nahm der Pfad ein Ende. Einen Augenblick schleppten sie sich noch an korallenartigen Zapfen und hängenden gelben Ketten vorbei, die den Pfad üppig Überwucherten, im nächsten standen sie vor einer weiten Ebene, die sich im Dunst verlor.

Veg studierte den Kompaß. »Knapp zehn Kilometer. Aber die können wir heute nicht schaffen.«

»So nahe?« fragte Aquilon ihn. »Wieso nicht?«

»Klar, die Ebene können wir schaffen. Aber es ist der Abstieg, der mir Sorgen macht. Wir müssen auf einer Höhe von fünfzehnhundert Metern sein. Irgendwo müssen wir runter.«

»Oh.«

»Noch eine Nacht auf der Straße wird uns nicht schaden«, sagte Cal. »Wenn der Manta es erlaubt. Ich würde verdammt gerne wissen, wie gescheit diese Kreatur ist.«

»Gescheit wie ein Mensch, meinst du?« fragte Veg.

»Das habe ich nicht gesagt. Wir wissen, daß er ein komplexes Gehirn besitzt oder etwas im analogen Sinne, und seine Handlungen verraten ganz bestimmt mehr als blinde Impulse. Mit seiner überragenden Kampfausrüstung braucht er tatsächlich jedoch gar keine Intelligenz, wie wir sie verstehen. Es gibt nicht genug Herausforderungen. Er könnte Genie besitzen, aber.«

Aquilons Pinsel und Leinwand erschienen. Sie schien ihre Furcht vor dem Manta abgeschüttelt zu haben. Wieder einmal zeigte sich die Vitalität ihrer Persönlichkeit in zwei Dimensionen, als der Pinsel seine spontanen Farben auf die Leinwand zauberte. Die Nervosität unterdrückend, die sie spüren mochte, saß sie vor dem Manta und malte sein Porträt: den Buckel des Körpers, die flackernde Tiefe des mächtigen Auges, das sie ohne zu blinzeln fixierte, den grausamen, peitschenlangen Schwanz, der sich jetzt auf dem Boden kreisförmig um seinen Fuß gelegt hatte.

Der Manta saß ganz ruhig da, während sie das Porträt beendete. »Versuch eins mit dem Omnivoren«, sagte Cal, der ihre Absicht erkannte.

Aquilon gehorchte und produzierte aus der Erinnerung eine wirkungsvolle Wiedergabe des angreifenden Monstrums. Sie zeigte sie dem Manta, erzielte jedoch keine Reaktion.

Sie versuchte es mit einem Herbivoren, einem Pilz, einem vergrößerten Mantaauge, alles ohne Erfolg. Es würde nicht möglich sein, zu einer Kommunikation zu kommen, wenn sie nichts fand, worauf der Manta reagierte. Auf einen weiteren Vorschlag Cals hin zeichnete sie einen Omnivoren, der eine Gruppe von Herbivoren angriff. Immer noch nichts. Sie fuhr fort und porträtierte lebensnahe Karikaturen der drei Menschen. Schließlich malte sie ein Bild, das sie vor den Männern verbarg und nur dem Manta zeigte. Als das auch keine Reaktion hervorrief, zögerte sie, errötete leicht und gab Veg, der sich gerade auf den Weg machen wollte, um den zurückgelassenen Packen zu holen, ein Zeichen.

»Irgend etwas, was ich für dich tun kann, meine Schöne?« fragte er.

Cal nahm dies mit Interesse zur Kenntnis. Offensichtlich trat das, was ihre Beziehung vorhin getrübt hatte, in den Hintergrund, und das unterschwellige Flirten fing wieder an.

So ermutigt winkte Aquilon abermals.

Veg kam - und der Manta bewegte sich. Staub wirbelte hoch, als sein flacher Körper zwischen sie schoß. Aquilon schrie auf und ließ die Zeichnung fallen, während Veg zurücksprang.

»Immer noch verboten«, kommentierte er traurig. »Dieses Ding achtet genau auf das, was es für meine Interessen hält. Sonst weißt du vielleicht, was ich tun.«

Sein Blick fiel auf das Bild, das mit der Vorderseite nach oben auf dem Boden lag. »Ja, du weißt es wirklich.«

Cal sah auf das Bild. Es war eine Zeichnung von Veg, der Aquilon umarmte.

Der nächste Tag begann mit unangenehmen Turbulenzen. Auf Nacre, dem verschleierten Planeten, der im Weltraum wie eine Perle glänzte, war der Wind selten mehr als ein laues Lüftchen, und die Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht lagen innerhalb eines Zehn-Grad-Limits. Abgesehen von dem unaufhörlichen Fallen des Staubs schien es keinen Regen zu geben, aber an diesem Morgen entwickelte sich etwas - etwas, das einem Sturm sehr nahekam.

Sie bewegten sich weiter vorwärts, legten die letzten Kilometer in Richtung Basis zurück. Vegs Schätzung bestätigte sich innerhalb von zwei Stunden. Auf der anderen Seite des Kamms fiel der Berg jäh ab. Die menschliche Basis war so nahe, daß sie das entfernte Geräusch von Maschinen hören konnten, aber das Lager blieb im Nebel verborgen.

Die Klippen waren an dieser Stelle übermächtig. Es gab keine Möglichkeit für sie, sie zu bewältigen. Ein paar Pilze ragten über den Abgrund hinaus, wagten sich aber nicht weiter vor. Veg brüllte in die Tiefe hinein, erreichte damit jedoch nichts. Sie würden einen Umweg machen müssen.

So plötzlich wie er gekommen war, verließ der Manta sie auch wieder. Er segelte über den Rand des Abgrunds, schraubte sich nach unten und verschwand im Dunst.

Erstaunt blickte Veg ihm nach. »Er kann fliegen!«

Dann wandte sich sein Verstand wichtigeren Dingen zu.

»Die Anstandsdame hat sich entfernt!« Er legte den Arm um Aquilons schmale Taille und zog sie an sich. Er küßte sie.

»Nicht schlecht«, sagte er nach einem Augenblick. »Für einen Omnivoren. Vielleicht sollten wir wirklich heiraten!«

Sie trat nach ihm und ging außer Reichweite.

Cal fragte sich noch immer, was den Bruch zwischen ihnen hervorgerufen hatte, der jetzt offenbar wieder geheilt, ja, mehr als geheilt war, machte sich aber nicht die Mühe, Fragen zu stellen. Er verspürte keine Eifersucht. Es reichte, daß die Uneinigkeit nicht mehr bestand.

Mit nicht viel Enthusiasmus wandten sie sich nach rechts und bewegten sich einen nicht zu steilen Abhang hinunter, der parallel zu der Schlucht verlief. Noch drei Kilometer zurückzulegen - und die hatten einen Umweg machen müssen.

.. Eine Stunde später mußten sie wieder haltmachen. Über der abschüssigen Ebene erschien eine schmale Linie von Scheiben, die mit erstaunlicher Geschwindigkeit aus dem Dunst hervorkamen.

»Mantas«, sagte Veg. »Dutzende von ihnen.«

»Ich fürchte, Ragnarök ist nahe«, sagte Cal. »Unser Wächter ist mit Gesellschaft zurückgekehrt. Wenn es uns doch nur gelungen wäre, irgendeinen Kontakt herzustellen.«

Aber er war nicht ernsthaft besorgt. Wenn ihr sofortiger Tod auf der Tagesordnung gestanden hätte, wäre der ursprüngliche Manta in der Lage gewesen, dies allein zu erledigen. Was jetzt kam, war etwas anderes und darum vielversprechend.

In wenigen Augenblicken hatte die Reihe der segelnden Kreaturen die Entfernung zurückgelegt und umkreiste die Menschengruppe. Nach den drei Kontakten mit Einzelwesen war es eigenartig, so viele auf einmal zu sehen. Ein geschlossener Kreis bildete sich, alle anderthalb bis zwei Meter ein Manta, die Augen auf das Zentrum gerichtet, wo das menschliche Trio stand. Die meisten von ihnen waren schlank und schwarz, obgleich sie sich in Größe und Statur unterschieden. Es gab keine Möglichkeit, sie mit Sicherheit auseinanderzuhalten, denn die Form jedes einzelnen Körpers war, abgesehen von der Größe, nicht konstant. Cal konnte sich nicht einmal sicher sein, daß sich ihr ursprünglicher Kompagnon unter ihnen befand.

»Sie haben den einen gefunden, den ich erschossen habe«, stieß Veg hervor. »Sie sind hier, um Rache zu nehmen.«

»Das bezweifle ich«, sagte Cal. »Woher wollen sie wissen, wer von uns die Waffe abgefeuert hat?« Aber das ließ an eine Untersuchung von Seiten der Mantas denken, an einen Prozeß. »Vermutlich sind sie nur neugierig, wie diese verrückte Sammlung von Fremden es schafft, harmonisch miteinander umzugehen.«

Er glaubte daran jetzt selbst kaum und war sich sicher, daß sich auch keiner der anderen täuschen ließ. Es gab so vieles, was sie über diese Kreaturen nicht wußten. Die Mantas mußten sie aus einem bestimmten Grund eingekreist haben. Hatten sie einen Führer? Einen, der Entscheidungen traf?

Er schielte auf ein großes, graufarbenes Individuum, wenigstens zweihundert Pfund schwer und fast anderthalb Meter groß. Sein Auge war auf ihn gerichtet. Drohend? Intelligent? Konnte Größe ein Anzeichen von Status sein, da der größte wahrscheinlich der älteste war?

Außerhalb des unmittelbaren Rings bewegten sich die kleineren Mantas, hüpfend und Spiralen in der Luft ziehend. Ihre Wege kreuzten und überkreuzten sich. Es schien sich um ein zielloses Muster zu handeln, ameisengleich. Und wie Ameisen verhielt jedes Mitglied, wenn es auf ein anderes traf, tauschte Blicke aus und wich zur Seite.

Cal beobachtete all dies mit wachsender Erregung. »Dieses Auge - warum habe ich nicht vorher daran gedacht! Es ist konstruiert wie eine elektrische Röhre, eine Kathode. Es muß ein Kommunikationssignal aussenden!«

»Aber warum haben meine Bilder keine.«

»Ich verstehe jetzt alles«, redete Cal, der ihr kaum zuhörte, weiter. »Klar, in diesem einen optischen Organ sammeln sich mehr Wahrnehmungen, als wir mit unseren multiplen Sinnen aufnehmen können. Es handelt sich um ein hochwirksames, natürliches Radargerät, das einen kontrollierten Strahl abgibt und die zurückkommenden Daten koordiniert. Der Staub verhindert

Verzerrungen, weil er die Reichweite begrenzt. Es würde mich nicht überraschen, wenn das Auge Tiefen feststellt, indem es die Zeitverzögerung des zurückkommenden Signals analysiert.«

»Aber wenn das Auge so gut sieht.« setzte Aquilon an.

»Das ist der Grund! Wir sehen innerhalb unseres >sichtbaren< Spektrums, aber der Manta muß keineswegs notwendigerweise auf derselben Ebene operieren. Selbst wenn er die Farben erkennen könnte, würde er sie kaum als die Wiedergabe eines dreidimensionalen Objekts interpretieren. Sein Sehvermögen verwendet nicht dieselben Vorstellungen von Perspektiven wie das unsere. Du hättest ihm genausogut ein glattes, leeres Blatt zeigen können.«

Veg war in dem Kreis auf und ab gegangen. »Der Manta sieht also zu gut für uns?«

»Zum Teil ja, aber.« Cal unterbrach sich, dachte darüber nach. »Wir wissen aus dieser Sektion, daß buchstäblich das ganze Gehirn des Mantas mit dem Auge verbunden ist. Wenn er ein moduliertes Signal aussendet. Nun, sein ganzer Intellekt ist darin inbegriffen. Stellt euch die Kommunikationsmöglichkeiten vor, wenn zwei von ihnen ihre Blicke ineinander versenken. Die Kraft jedes einzelnen Gehirns wird übermittelt. Bilder, Gefühle - alles in einem einzigen Augenblick.«

»Sie müssen ziemlich gescheit sein«, sagte Veg.

»Nein, vermutlich ist das Gegenteil der Fall. Sie.«

Beide starrten ihn verwundert an. Er versuchte es aufs neue.

»Versteht ihr nicht, jede Menge von der vielgerühmten Intelligenz des Menschen wird allein dafür benötigt, Informationen zu übermitteln und zu empfangen. Jeder von uns muß eine Mauer der Isolation, der Unkenntnis überwinden. Wir haben keine direkten Kommunikationsmöglichkeiten und müssen deshalb komplexe verbale Kodierungen und symbolische Darstellungen beherrschen, nur um unsere Gedanken und Bedürfnisse bekanntzugeben. Bei solchen Kontakten aus zweiter Hand ist es kein Wunder, daß sich das Gehirn gewaltig anstrengen muß. Aber der Manta verfügt sozusagen über Telepathie: ein Blick, und schon besteht vollkommene Kommunikation. Er benötigt keine echte Intelligenz.«

»Ja. Natürlich«, sagte Veg zweifelnd.

Der graufarbene Führer (der vermutete) fuhr herum, um den Blick eines der hin und her hüpfenden Mantas zu treffen, als ein seltsam heißer Windstoß über die Versammlung hinweghuschte. Dann setzte er sich in Bewegung, und die anderen taten es ihm nach.

»Da geht noch etwas vor sich«, sagte Aquilon nervös. »Ich glaube nicht, daß sie sich um uns kümmern. Jedenfalls wollen sie nicht mit uns reden.«

»Wenn wir nur eine geeignete Ausrüstung hier hätten«, sagte Cal enttäuscht. »Einen Fernsehsender vielleicht. Dann könnten wir einen unmittelbaren Kontakt herstellen. Wir könnten ihre Signale fotografieren und analysieren. Aber jetzt gibt es keinen Weg für uns, ihre Motive herauszufinden.«

Aber er wußte, daß etwas dran war an dem, was sie gesagt hatte. Dies war ein seltsamer Tag in einer seltsamen Gegend, und die seltsame Handlungsweise der Mantas stand sehr wahrscheinlich damit in Zusammenhang. Hatte die Menschengruppe ihre Wichtigkeit überschätzt?

Über dem Plateau teilten sich die grauen Nebel. Ein strahlendes Licht erschien, das schnell größer wurde. Die Mantas, die sich in der Ebene verteilt hatten, reagierten mit Energieausbrüchen, die den Boden zum Zittern brachten.

»Seht, wie sie sich bewegen!« rief Veg bewundernd.

Das Licht expandierte weiter, näherte sich ihnen in einem leuchtenden Bogen.

»Was ist das?« fragte Aquilon und hielt sich an Vegs Arm fest. »Dieses Licht. wie ein Brennofen. Wo kommt es her?«

Sie merkte, was sie tat, und zog heftig ihre Hand zurück. Aber die Lichterscheinungen blieben davon unberührt. Die Mantas waren wie besessen, jagten wie verrückt gewordene Leuchtkäfer hin und her.

So weit Cal sehen konnte, erschienen weitere Blendfeuer über der Ebene. Wenn das, was er beobachtete typisch war, dann erstreckten sich die Leuchterscheinungen über viele Kilometer, Vulkanausbrüche? Aber wo war der Lärm, das Beben der Erde? Dies war ein lautloses Leuchten, unregelmäßig flackernd, so als ob sich ein Vorhang vor einem Projektor bewegte.

Dann begriff er. »Die Sonne! Der Sturm hat die Sonne durchgelassen!«

Das näher kommende Licht traf einen der schwellenden Pilze, die die Ebene in der Nachbarschaft bevölkerten. Fast sofort fing das Gewächs an, sich hin und her zu bewegen und zu schrumpfen. Dann, als die Strahlung und die Hitze seine Haut durchdrangen, dehnten sich die in ihm schlummernden Gase aus. Die Haut des Pilzes warf große Blasen, und schließlich zerplatzte das ganze Gewächs.

»Daran habe ich nie gedacht«, sagte Aquilon fasziniert. »Nacre sieht das direkte Sonnenlicht nur äußerst selten. Das einheimische Leben ist nicht daran gewöhnt.«

»Wie ein Waldbrand«, stimmte Veg zu. »Alles, was erfaßt wird, geht zugrunde, und keiner weiß, wie er sich in Sicherheit bringen soll.«

Cal fiel ein, daß dies der Grund für die Kahlheit der oberen Ebene sein mochte. Bei solchen Ausbrüchen waren die höheren Lagen besonders empfindlich, und die Sonne verbrannte in gewissen Abständen alles Lebende. Waren die Mantas gekommen, um sie zu warnen? Stürme in den Grenzgebieten konnten immer noch genug Staub aufwirbeln, um die dort stehenden Pilze zu schützen.

In nächster Nähe öffnete sich der Himmel, und das schreckliche Licht strömte fast genau an der Stelle nach unten, wo sie sich aufhielten. Cal erkannte, daß das Gewicht der emporragenden Pflanzen zu groß für die atmosphärischen Bedingungen wurde und zu gelegentlichen Kollapsen führte, wie es auch manchmal bei Stürmen auf der Erde der Fall war. Hier, wo die Beschaffenheit des Geländes Luftströmungen hervorrief, konnte dieses Kollabieren so heftig werden, daß die Pflanzen von der Spitze bis zum Fuß aufrissen und ihren Standort der Sonne nackt auslieferten. Aber dies alles konnte kaum sehr lange dauern. Heranziehender Staub würde die Lücken schnell wieder füllen. Die Mantas mußten gewußt haben, was auf sie zukam. Sie hatten sich sehr töricht benommen, indem sie zu diesem Zeitpunkt hierhergekommen waren, egal aus welchem Grund. Es sei denn, der Sturm übte auf sie eine besondere Faszination aus. Jetzt sprangen sie in Massen aus dem Bereich des gefährdeten Gebiets, um dem sengenden Lichtkegel zu entgehen.

»Seht doch!« rief Aquilon und deutete mit der Hand.

Ein Manta war in dem sonnenlichtüberfluteten Gebiet gefangen. Er hastete wild hin und her, unfähig Schutz zu finden.

Aquilon bewegte sich vorwärts. »Die Sonne tötet ihn. Er kann nichts sehen und kommt deshalb nicht weg!«

»Es gibt nichts, was wir tun können«, sagte Cal warnend. »Wir dürfen nicht eingreifen.«

»Wir dürfen ihn nicht sterben lassen!« rief sie.

Veg griff nach ihrem Arm, aber sie stieß seine Hand zur Seite, ohne ihn dabei auch nur anzusehen. Abermals griff er nach ihr, um sie zurückzuhalten, aber sie war schon weg und rannte leichtfüßig über die Ebene. Ohne zu zögern, stürmte sie in das Sonnenlicht, geradewegs auf den geblendeten Manta zu.

Innerhalb weniger Augenblicke hatte sie ihn erreicht. Die Kreatur wälzte sich auf dem Boden, und Cal sah, wie der gefährliche Schwanz ziellos hin und her zuckte. Der Manta versuchte, sein Auge in den Schatten zu bringen, aber es gab keinen.

Aquilon blieb kurz stehen und blickte auf ihn hinunter. Cal kannte den Grund für ihr Zögern: Bisher hatte sie noch keinen lebenden Manta mit ihren Händen berührt. Dann riß sie sich ihre leichte Bluse vom Leib und warf sie über das gequälte Auge der Kreatur. Sie würde nur wenig Schutz bieten, aber die Idee war gut. Sie umschloß den kugelförmigen, zusammengekrümmten Körper mit beiden Armen und hob ihn hoch.

Schwer beladen mit seinem Gewicht rannte sie mühsam aus dem Licht. Der Schwanz schleifte auf dem Boden hinterher.

Veg rannte los, um ihr zu helfen, aber sie war bereits aus der Gefahrenzone und legte den Manta auf den Boden. Er war von mittlerer Größe und wog ungefähr fünfzig Pfund.

Der Sonnensturm war vorüber, so als sähe er keinen Sinn mehr darin, mit seinem Toben fortzufahren, weil das Opfer in Sicherheit war. Einzeln und in Gruppen kehrten die Mantas zurück.

Aquilon begann, die Bluse vom Kopf ihres Mantas abzuwickeln. »Ich habe gar nicht gewußt, daß sie so kaltblütig sind«, sagte sie, als sei dies das Wichtigste an der ganzen Sache.

Der Kreis bildete sich erneut. Der größte Manta kam nach vorne, und Aquilon trat zur Seite. Er betrachtete die zitternde Kreatur auf dem Boden. Dann erhob er sich ohne Vorankündigung in die Luft. Der Körper des Geblendeten schüttelte sich, als die mächtige Scheibe darüber hinwegglitt und ihn mit kaum wahrnehmbaren Schlägen in Stücke hieb. Schnell war nichts weiter übrig als ein Haufen zerstückelten Fleischs.

»Nein, nein!« schrie Aquilon.

Sie wehrte sich, aber diesmal war Vegs Griff ganz fest. Wirkungslos schlug sie nach ihm, fiel ihm dann schluchzend in die Arme.

»Ich wollte ihm doch nur helfen! Denken die vielleicht, daß er durch meine Berührung ver.«

»Paß auf!« brüllte Veg.

Er schleuderte sie nach links und warf sich selbst nach rechts.

Der große Manta kam, sein grausames Auge blitzend. Die Scheibe schien sich enorm auszudehnen. Veg streckte die Arme aus, so als ob er die Kreatur durch die Masse seines eigenen Körpers aufhalten und zum Stoppen bringen könne, aber der Manta drehte sich in der Luft und umkurvte ihn.

Aquilon blickte hoch. und schrie auf, als der Manta zuschlug. Viermal peitschte der Schwanz in ihr Gesicht, bevor sie die Hände zum Schutz hochreißen konnte. Dann war die rächende Gestalt wieder weg, und sie stürzte zu Boden, die Knöchel gegen die Wangen gepreßt. Blut quoll zwischen den Fingern hervor.

Veg kniete sofort neben ihr nieder. Er packte ihre Gelenke mit seinen großen Händen und bog sie gewaltsam zur Seite.

Zutiefst betrübt blickte ihm Cal über die Schulter. Als Aquilon das Gesicht hob, sah er, daß sich ihre Tränen mit dem verschmierten Blut vermischt hatten. Auf beiden Seiten wiesen Wangen und Kinn tiefe Schnitte auf, aber das Blut floß und spritzte nicht hervor. Ihre Augen hatten nichts abbekommen, und es war auch keine Arterie getroffen worden.

Sein Blick fiel auf ihre nackten Schultern und den Rücken. Nachdem sie nur ganz kurz den Strahlen der Sonne Nacres ausgesetzt worden war, rötete sich die Haut bereits und bildete Blasen. Die Verletzungen erstreckten sich bis hinunter zu den Trägern ihres Büstenhalters.

Cal zog sein eigenes Hemd aus. Die Erfordernis eines Tuchs überwand seine große Abneigung, die Skeletthaftigkeit seines Körpers zu entblößen. Er reichte es Veg, der es ohne Umstände entgegennahm und Aquilons Gesicht damit so gut säuberte, wie er nur konnte.

Die Schnitte waren sauber angesetzt worden, nicht ausgefranst, und der Blutfluß hörte schnell auf.

»Ich brauche ein neues«, stieß Veg hervor.

Da erkannte er erst, was er da in der Hand hatte.

»He!« Er blickte Cal verlegen an, packte dann den kurzen Ärmel seines eigenen Hemds und zerrte daran. Seine Muskeln spannten sich, als der widerstandsfähige Stoff zerriss. Er befeuchtete ihn mit der Zunge und wischte sorgfältig die restlichen Blutflecke weg.

»Ich kann das auch machen«, bot Cal an.

»Vielleicht solltest du das wirklich tun«, sagte Veg, der sich an etwas erinnerte, grimmig. »Ich habe noch etwas mit Bruder Manta zu erledigen!«

Während des Aufstehens griff er nach dem Gewehr und nahm es an sich. Sofort aktivierte er die Brennkammer.

»Nein, nicht!« rief Cal, der seine Absicht erkannte. »Du kannst den Manta nicht an unseren Maßstäben messen. Wir wissen nichts über seine Motive. Er könnte gedacht haben, daß Quilon für das Quälen und Blenden des Jungen verantwortlich war. Sie haben keine klare Vorstellung von der Sonne. Vielleicht verehren sie sie sogar als Verkörperung des Bösen. Sie könnten sogar glauben, daß wir das Licht mit uns gebracht haben.«

Veg beachtete ihn nicht. Er suchte nach dem großen Manta.

»Sie könnten sogar recht haben«, fuhr Cal verzweifelt fort. »Unsere Schiffe starten und landen und erschüttern die Atmosphäre, wenn wir Nachschub heranholen. Vergiß nicht, der Mensch ist ein Omnivore.«

Veg stand da, das Gewehr schußbereit, die Kammer erhitzt.

Cal wußte, daß die Waffe viel Unheil anrichten konnte, wenn ihr Dampf einen Hagel von Projektilen auf die stehenden Mantas abfeuerte. Ihre Hauptvorteile waren, abgesehen vom Zischen des entweichenden Dampfs, ihre lautlose Wirkungsweise und die zuverlässige Munition, denn die Schubkraft kam vom Gewehr selbst und nicht von der Explosion der Geschosse. Aber es würde katastrophal sein, jetzt zu schießen. Die Mantas würden den Zweck der Waffe sehr schnell erkennen und den Angreifer vernichten. Eine gute Waffe in den Händen eines zornigen Mannes.

»Wenn ich mit dem Omnivoren leben kann, dann kann es auch der Manta«, sagte Veg. »Sie hat einen vor der Sonne gerettet, und der große Schweinehund killt ihn und geht auf sie los. Er hat versucht, sie zu blenden. Du hast es gesehen!«

»Aber sie hat den einen nicht vor der Sonne gerettet!«

Überrascht blickte Aquilon hoch.

»Dieser Manta ist durch das Licht geblendet worden«, sagte Cal in der Hoffnung, Vegs Aufmerksamkeit abzulenken, bis er sich weit genug abgekühlt hatte, um sich darauf zu besinnen, daß er nichts vom Töten hielt.

»Denk daran, daß ihre Augen viel empfindlicher sein müssen als die unsrigen und daß die Sonne für sie tödlich sein kann. Die ersten Sekunden können sein Sehvermögen so gründlich zerstört haben, als sei ihm ein glühendes Eisen ins Auge gerammt worden. Für ein so empfindsames Organ dürfte es keine Möglichkeit der Heilung geben.«

»Aber er lebte«, sagte Veg. »Sie hat ihm das Leben gerettet.«

Cal lehnte sich zurück und blickte ihn an. »Leben«, sagte er. »Du verehrst das Leben. Du denkst, alles ist in Ordnung, solange du nicht tötest, es sei denn vielleicht aus Rache. Du bist ein Narr.«

»Ich. ich habe gedacht, ich würde ihm helfen«, sagte Aquilon und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um die Wunden zu fühlen. Sie war nicht ernstlich verletzt worden, das stand jetzt für sie alle fest. Die Attacke des Mantas hatte nicht den Zweck gehabt, sie zu töten oder auch nur zu blenden.

Cal suchte ihren Blick und schüttelte den Kopf. »Du meinst es so gut, Quilon, aber du denkst mit deinen Gefühlen, nicht mit deinem Verstand. Verstehst du es denn nicht - der Manta hat außer seinem Sehorgan keinen anderen Wahrnehmungssinn. Ein Mensch hat Ohren und Augen und so viele andere Sinne, daß ihn der Verlust eines einzigen nicht wirklich verletzt. Er kann mit einem oder zwei behinderten Sinnen sehr gut weiterleben. Vor zwei Tagen hast du das Gehirn des Mantas seziert. Du weißt also, daß das Auge die einzige nennenswerte Wahrnehmungsverbindung ist. Dagegen sind unsere eigenen Augen schwächliche Lichter. Wenn es jedoch zerstört wird.«

Er holte tief Luft. »Wenn es zerstört wird, wird jeder Kontakt des Mantas mit der Außenwelt abgeschnitten. In solch einem Fall ist es nur ein Akt der Gnade, das Leben so schnell wie möglich zu beenden. Ich weiß das, glaube es mir.«

»Okay«, sagte Veg etwas ruhiger. »Nun erzähle mir, warum er auf Quilon losgegangen ist. Wenn er so gnädig ist.«

»Ich fürchte, er ist ein Tier«, sagte Cal traurig. »Er begreift nicht, daß ein Omnivore nicht notwendigerweise ein Feind sein muß. Und doch - er hätte sie ganz leicht töten können. Diese kleinen Schnitte werden ihr Gesicht nicht einmal dauerhaft verstümmeln. Sie sind sauber und präzise, wie bei einer Operation. Eine symbolische Bestrafung.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Aquilon mit Mühe. Ihre Worte kamen gepreßt hervor, so als ob sie Schwierigkeiten hatte, ihre Gesichtsmuskeln zu kontrollieren. Die Schnitte fingen wieder an zu bluten, und Cal tupfte sie hastig ab.

»Seht!« rief Veg, der die Hauptgruppe noch immer im Auge hatte. »Kleine Mantas!«

Die Menge teilte sich. Es stimmte. Dort, geführt von einem Ausgewachsenen, waren acht kleine Mantas, die ersten Babys, die sie gesehen hatten. Ihre kleinen Sprünge waren unsicher, die Landungen ungelenk, und sie hatten noch nicht gelernt, ihre Körper in der Luft kontrolliert abzuflachen. Aber sie waren ohne jeden Zweifel Mantas. Sie konnten noch nicht älter als ein paar Tage sein.

»Sie haben verstanden«, sagte Cal.

Mit gekonnten leichten Schlägen seines peitschenartigen Schwanzes brachte der Erwachsene sie auf einen Weg, der genau zu Aquilon führte.

Cal erhob sich und trat zur Seite. Als sie vor ihr haltmachten, verließ sie der Erwachsene. Menschen und Mantas warteten gespannt.

Erstaunt blickte Aquilon auf die kleine Gruppe hinunter. Aus einer Höhe von zwanzig Zentimetern blickten acht klare, kleine Linsen zurück, erwartungsvoll blinzelnd. Ergriffen beugte sie sich vor und breitete die Arme aus, und die Babys hüpften vertrauensvoll in den Kreis.

»Sie sind für mich«, sagte sie voller Verwunderung.

»Zu jung, um vor dem Omnivoren Angst zu haben«, murmelte Cal. »Könnte eine menschliche Mutter jemals so viel Vertrauen zeigen? Diese acht werden unsere Lebensweise verstehen lernen. Jetzt können wir Nacre besiedeln. Und.«, er brach in ein Lächeln aus, das die Agonie von Jahren zur Seite vergessen ließ, ». wir werden lernen, sie zu verstehen.«

»Für mich«, wiederholte Aquilon und umarmte die kleinen Körper.

»Nicht lächeln, Quilon«, warnte Veg, biß sich dann aber auf die Lippe.

Cal bemerkte es und fing an zu erkennen, was geschehen war, um diesem Scherz die Grundlage zu entziehen.

Denn Aquilon lächelte.

Ganz allmählich löste sich der seit so vielen Jahren unterdrückte Reflex, und die Winkel ihrer schön geschwungenen Lippen zogen sich nach oben. Ihr Gesicht leuchtete, strahlte einen emotionalen Glanz aus, der Menschen und Mantas gleichermaßen berührte und sich in den zuschauenden Augen aller widerspiegelte. Jetzt, im Unterbewußtsein die ganze Tragweite des Mantageschenks enthüllend, den physischen Vorwand und die psychologische Wirklichkeit, zeigte sie die ganze Schönheit, die in ihrem Herzen war, und entfaltete sie wie eine prächtige Blume. Warm und rein und edel, so überwältigend, daß die Betrachter wie betäubt waren.