II Ein Krug Wein

 

Die Berge wichen dem nördlichen Seenland, als Subble seine Flugmaschine westwärts lenkte, um den überfüllten Luftraum über Appalachia zu meiden. Dann flog er über die umweltfreundlichen Schornsteine des mittleren Westens hinweg in Richtung Süden und erreichte die weiten Flächen des intensiv bewirtschafteten Farmlandes jenseits des Mississippi. Juggernauts trotteten wie gigantische Wanderameisen über die endlosen Pflanzungen, viel zu mächtig, um von einem Menschen mit bloßen Händen herausgefordert zu werden, aber sehr streitbar, wenn es darum ging, selbst den zartesten Getreidekeimling zu schützen.

Er glitt über die zahllosen, erhöht liegenden Pipelines der sich rapide erschöpfenden Ölfelder Oklahomas und landete schließlich auf einem der Wohntürme, die unmittelbar nördlich von der texanischen Grenze lagen. Auf dem breiten Asphaltdach stand reichlich Parkraum zur Verfügung, und er rollt ohne Zwischenfälle bis zum Besucherparkplatz. Ein Laufband brachte ihn zum nächsten Aufzug. Die ganze Anlage war standardmäßig und phantasielos. Alles lief bisher ab wie gewohnt.

Im zwanzigsten Stockwerk stieg er aus und kämpfte sich durch das kubistische Labyrinth, bis er das richtige Apartment fand. Auf sein Läuten öffnete sich die Tür sofort, und warme Luft strömte ihm entgegen.

Eine überwältigend schöne Frau stand vor ihm. Das Abbild von Nacre mit ihrem langen Rock und dem kurzen Leibchen einer Pseudozigeunerin erwachte zu fabelhaftem Leben. Ihr langes helles Haar war achtlos zu einem Knoten zusammengebunden, aber dieser Umstand konnte kaum von den klassischen Linien ihres Gesichts ablenken. Sie war blauäugig und barfuß und lächelte sanft.

»Sie sind.«

»Quilon«, sagte sie sofort. »Kommen Sie rein. Ich brauche Sie.«

Subble trat ein, den Frühlingsduft des einfachen Parfüms registrierend, das sie benutzte. Sein Wahrnehmungsvermögen sagte ihm, daß diese Frau viel komplizierter und gestörter war, als Veg sie gesehen hatte, aber nicht gefährlich im physischen Sinne. Sie ergänzte sich auf vielerlei mit dem derben, starken Vegetarier, und es war gar nicht verwunderlich, daß sie sich liebten.

»Ich bin.«

»Einer dieser Agenten«, sagte sie. Sie gab ihm einen Packen mit zusammengefalteten Sachen. »Ziehen Sie das an, bitte.«

Subble zog sich in ihr kleines Schlafzimmer zurück und wechselte die Kleidung, wobei er seinen harmlos aussehenden Anzug auf ihr Bett legte. Er machte sich keine Gedanken über die Dinge, die sie darin vielleicht finden mochte. Nur ein geschulter Waffenkenner würde die leichten Modifikationen an Stoff und Leder erkennen können, und außerdem würde er wachsam sein.

Sie hatte ihn mit einem archaischen, fremd aussehenden Raumkostüm von jener Sorte versehen, die angeblich in den frühen Tagen der Weltraumforschung in Gebrauch gewesen war: plump, schwerer Stoff und ein kugelförmiger Transparenthelm. Dies war jedoch ein Kostüm und konnte kaum mit etwas anderem verwechselt werden. Der Stoff war porös, und der Helm bestand aus Fiberglasgewebe.

»Gut«, sagte sie, als er wieder zum Vorschein kam. »Stellen Sie sich jetzt vor diesen Hintergrund und sehen Sie müde aus. Sie sollen den zweiten Mann auf dem Mond darstellen, damals um 1970 herum. Sie haben sich im Grenzgebiet der Dunkelzone verirrt, und die Sonne geht auf. In sechs Stunden müssen Sie einen Unterschlupf gefunden haben, oder Sol wird Sie braten. So ist es gut.«

Sie hatte eine Staffelei aufgebaut und war halb hinter einer großen Leinwand verborgen. Ihre rechte Hand beschäftigte sich mit Farbe und Bild, während sie ihm mit der linken Zeichen gab, um ihn in die Position zu bringen, die sie wünschte.

»Wenden Sie Ihr hübsches Gesicht von mir ab. ein bißchen tiefer. Beugen Sie die Knie. mehr. gut! Bleiben Sie so. Jetzt können Sie reden oder das tun, warum Sie gekommen sind, wenn Sie dabei ihre Pose nicht verändern.«

»Sie stellen kommerzielle Illustrationen her«, sagte Subble, ohne sich zu bewegen.

»Im Augenblick«, stimmte sie zu. »Aber ich male die ganze Zeit, ob ich dafür Geld bekomme oder nicht.«

»Sie bekommen noch andere Bezahlung als Geld?«

Obgleich sie ihn so plaziert hatte, daß er sie jetzt nicht beobachten konnte, informierten ihn seine Ohren und die Nase doch über ihre genaue Position und Verfassung. Ihr Atem ging ein bißchen unregelmäßig, der Herzschlag war beschleunigt, und das Parfüm konnte nicht den Geruch der Nervosität verbergen, den sie ausstrahlte. Sie war bei weitem nicht so selbstsicher, wie sie ihn glauben machen wollte.

»Die beste Bezahlung«, sagte sie. »Inneren Frieden.«

Aber sie war im Moment weit von einem solchen Lohn entfernt.

»Was haben Sie mit mir vor?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

Sie lachte. »Ein komischer Mann, der so etwas zu mir sagt! Aber es stimmt ja wohl - man zwingt sie, alles selbst herauszufinden, nicht wahr? Ich könnte mir allerdings vorstellen, daß dies ziemlich gefährlich ist.«

»Wir sind dafür ausgerüstet.«

Sie war jetzt ruhiger, so als ob sie einen Pluspunkt verbucht hatte. »Das merke ich schon. Sie behalten diese Pose bei, als seien Sie eine Statue. Nicht einmal ein leichtes Zittern. Man braucht eine sehr spezielle Kontrolle, um das zu schaffen. Aber nehmen wir einmal an, jemand weigert sich ganz einfach, mit Ihnen zu sprechen?«

»Ich kann dann immer noch viel von dem in Erfahrung bringen, was ich wissen will. Aber ich ziehe Kooperation bei weitem vor.«

Sie war wieder nervös. »Ziehen Sie das jetzt an«, sagte sie und brachte ihm ein anderes Kostüm.

Subble kehrte in ihr Schlafzimmer zurück und wechselte die Kleidung. Er stellte fest, daß sie hier keins ihrer eigenen Gemälde aufgehängt hatte. Und es waren überhaupt keine von Nacre vorhanden.

Das neue Kostüm war ein konservativer BusinessAnzug aus dem zwanzigsten Jahrhundert, dessen einziges unpassendes Merkmal aus einer bunten Wahlplakette mit der Aufschrift ICH UNTERSTÜTZE JACK am rechten Rockaufschlag bestand.

Aquilon hatte sich ebenfalls umgezogen und trug jetzt einen vom Kopf bis zu den Zehen reichenden Sporttaucheranzug, der echt zu sein schien. Der enganliegende Gummianzug stellte eine Figur zur Schau, die ohne jeden Makel war. Sie war eine der gesündesten, lieblichsten Frauen aller Zeiten, gemessen an seinem objektiven Standard. Es war ungewöhnlich für so ein Wesen, sich von der Umwelt abzukapseln.

»Dies ist für einen zeitgenössischen Bekenntnisnachdruck bestimmt«, sagte sie. »Sie stehen mir zugewandt da und blicken interessiert drein, so als ob sie im Begriff wären, sich unsterblich in ein süßes Mädchen zu verlieben. Nein, nicht lüstern. Interessiert. Sie sehen in ihr die ideale Hausfrau, Ehefrau und. Nein.«

Sie klemmte den Pinsel hinter das rechte Ohr und kam hinter der Leinwand hervor.

»Sehen Sie mich an. Ich bin die zukünftige Mutter Ihrer Kinder, aber Sie lieben mich noch nicht. Das ist alles noch latent. Heben Sie die Augenbrauen ein bißchen und strecken Sie eine Hand wie suchend aus, Finger gekrümmt, aber entspannt. Ihr Gewicht ruht auf den Fußballen, aber ein bißchen schief, als ob Sie einen Schritt nach vorne machen wollen. Ja!« Sie holte tief Atem, was ihren bemerkenswerten Busen noch mehr betonte. »Nun stellen Sie sich mich in einer Küchenschürze beim Bügeln Ihrer Hemden vor. Wir sind im Jahr 1960, müssen Sie wissen. Alles muß gebügelt werden. Man muß dies alles von Ihrem Gesicht ablesen können, einschließlich des Jahres und der Jahreszeit.

Frühling natürlich. Sie kennen den Spruch: Der Mann begehrt die Frau, aber die Frau begehrt das Begehren des Mannes. Aber es muß ein sauberes Begehren sein. Es ist für eine saubere Publikation bestimmt. Sie müssen der Typ Mann sein, dessen Begehren das nette Mädchen begehrt, wenn Sie verstehen, was ich meine. So! Behalten Sie diesen Ausdruck bei.«

Sie malte eifrig. »Nun zeigen Sie mir, wie Sie aus einem unkooperativen Kunden Informationen herausholen«, sagte sie mit einer Stimme, die plötzlich wie leblos klang. Genau wie Veg verlangte sie einen persönlichen Beweis.

Subble beobachtete sie und entdeckte die Falle. Die Staffelei verdeckte den größten Teil ihres Körpers, so daß er die Schwankungen ihres Atems und der Körperhaltung nicht direkt wahrnehmen konnte, und der undurchsichtige Anzug verbarg mögliche Errötungen der Haut und feine Muskelzuckungen und ließ auch keinen Körpergeruch frei werden. Sie legte eine getönte Gesichtsmaske aus Plastik an und atmete durch ein funktionierendes Sauerstoffsystem, so daß es auch hier keine Hinweise gab. Er konnte ihr Gesicht noch immer sehen, aber es war so ausdruckslos wie eine Fotografie.

Aquilon kannte sich mit Spezialagenten aus.

»Sehr hübsch«, sagte er. »Aber allein die Tatsache, daß Sie Ihr Gesicht leblos werden lassen können, gibt mir einen Anhaltspunkt. Und selbst wenn ich gar keine anderen Quellen hätte, könnte ich viel in Erfahrung bringen, indem ich Ihr Apartment studiere. Wenn es unbedingt nötig wäre, könnte ich sie ausziehen und den physischen Signalen wieder freien Lauf lassen. Interessant wäre das schon - man müßte die Wettbewerbsbedingungen ändern, wenn Sie an einer Schönheitswahl teilnehmen. Aber ich wiederhole: Ich will nur das, was Sie mir freiwillig geben.«

Sie nahm die Maske ab. »Informationen, meinen Sie.«

»Sicher.«

»Ich frage mich, ob es stimmt, daß man Ihr Bewußtsein nach jedem Auftrag löscht.«

»Es stimmt.«

»Ist das nicht so, als ob man stirbt?«

»Nein. Es ist so, als ob man vom Sterben befreit wird.«

Sie schüttelte sich ausgiebig, ohne sich weiterhin Mühe zu geben, ihre physischen Reaktionen zu kontrollieren.

»Warum?« fragte sie. »Ich meine, welchen Schaden können ein paar Erinnerungen anrichten?«

»Eine ganze Menge. Der springende Punkt ist, daß wir alle buchstäblich gleich sind - jeder einzelne Agent -, abgesehen von geringfügigen Unterschieden bei Hautfarbe, Gewicht, Fingerabdrücken und so weiter. Das ist so, um den Eindruck von Doppelgängern zu vermeiden und niemanden zu bekannt werden zu lassen. Wo es drauf ankommt, sind wir nahezu identisch - Verstand, Physis, Training. Wenn es einem Agenten gestattet wäre, individuelle Erfahrungen zu behalten, würde er sehr bald ein Individuum werden, und um die einheitliche Objektivität wäre es geschehen.«

»Aber einige Erinnerungen könnten Ihnen helfen, Ihre nächste Aufgabe besser zu bewältigen.«

»Solche Erinnerungen werden den einzelnen Individuen genommen und dann dem ganzen Corps einheitlich eingepflanzt.«

Sie errötete. »Sie meinen, wenn der Computer denkt, daß Sie sich an mich erinnern sollten, dann würde ich in Tausenden von Bewußtsein vorhanden sein? Und jeder einzelne Agent in der Welt würde wissen, wo ich lebe und. alles andere?«

Er lächelte beruhigend. »Es könnte.«

»Das ist es! Das ist der richtige Ausdruck.«

Er behielt ihn bei, während sie ihr Porträt vervollständigte, fuhr dann fort: »Der Computer könnte Sie auf dem ganzen Globus bekannt machen, aber es ist unwahrscheinlich, daß er eine so ungewöhnliche Frau wie Sie für geeignetes Material hält. Sie können sicher davon ausgehen, daß unsere persönliche Beziehung privat bleibt.«

»Das muß ich«, murmelte sie. »Ziehen Sie sich noch einmal um.«

Diesmal war es das sparsame Kostüm eines Dschungelmannes, kaum mehr als ein Lendentuch. Er mußte einhändig an einem Deckenhaken baumeln und mit der rechten Hand einen Knüppel aus Pappmache schwingen. Aquilon hatte ebenfalls etwas anderes angezogen, eine asiatische Toga.

»Versuchen Sie so auszusehen, als würden Sie an einer Liane hängen«, sagte sie. Dann, als sei es ihr nachträglich eingefallen: »Sie haben prächtige Muskeln.«

»Gehört alles zur Ausstattung, meine Dame.«

Sie malte. »Läßt man Sie zwischen den einzelnen Aufträgen leben? Oder gibt es nur Arbeit und kein Spielen?«

»Nach jeder abgeschlossenen Mission gibt es eine Ruhepause«, sagte Subble.

»Im allgemeinen ist eine Anzahl von Agenten beiderlei Geschlechts im Erholungszentrum. Aber wir leben, wie Sie es ausdrücken, jederzeit. Bei der Erfüllung unserer Pflichten kommen wir mit einigen faszinierenden Leuten zusammen.« Er hing immer noch.

»Aber Sie können es nicht bewahren«, sagte sie. »Man könnte Sie genausogut vor ein Erschießungskommando stellen. Und Sie wissen, daß das Auslöschen kommt.«

»Ganz im Gegenteil. Mir gegenüber müssen Sie Ihre Worte übrigens nicht in Anführungszeichen setzen, Miss. Ich sagte Ihnen schon, daß wir vom Sterben befreit sind. Sie sehen einem mühseligen, allmählichen Altern, dem Verlust Ihrer Fähigkeiten, unausweichlicher Krankheit und dem Tod entgegen. Das ist ein lebenslanges Sterben. Ich sehe nur einer abgeschlossenen Mission und einem bezahlten Urlaub entgegen. Ich brauche mir keine Gedanken über das Alter und irgendwelche Körperbehinderungen zu machen oder mich gar um meine Zukunft sorgen. Der Tod ist für mich kein Schreckgespenst. Ich weiß, daß ich mein ganzes bewußtes Leben lang ein buchstäblicher Supermann sein werde, der den größten Herausforderungen der Welt gegenübersteht. Das beste aller Leben ist für mich reserviert.«

»Sind Sie sich bewußt, daß Sie seit sechs Minuten an einem Arm hängen?«

»Fünf Minuten und fünfunddreißig Sekunden genau«, sagte er.

Sie blickte auf ihre Uhr. »Sie sind schon ein Mann. Jetzt können Sie loslassen.«

Subble sprang geräuschlos auf den Fußboden. »Technisch gesehen bin ich gar kein Mann im eigentlichen Sinne. Ich bin eine Nummer. Ich bin an Hand eines dreibuchstabigen Kodes zu identifizieren - SUB, mit einem vermenschlichenden Anhängsel. Ich unterscheide mich von SUA oder SUC nicht mehr, als es mein Kode tut.«

»Ich glaube es nicht«, sagte sie ärgerlich. »Sie müssen doch Gefühle haben.«

»Nicht im Dienst. Wenn die Mission vorüber ist, werde ich mich ein paar Tage an Sie und Ihren Freund Veg erinnern und Ihre ohne jeden Zweifel charmante Art zu würdigen wissen. Aber im Augenblick.«

»Oh«, sagte sie, die Herausforderung annehmend. »Sie haben also jetzt keinerlei normale menschliche Reaktionen! Kein Vergnügen, keinen Ärger, kein.«

»Ich habe sie. Aber sie sind vollkommen unter Kontrolle.«

Für ein paar Sekunden schwieg sie. »Ich muß eine Serie für ein Natur-Magazin machen. Das Gesetz erlaubt nicht, daß es über den Schirm verbreitet wird, aber es wird in ziemlich hoher Auflage auf herkömmlichem Weg vertrieben. Werfen Sie Ihr Tarzankostüm einfach da rüber.«

»Sie wollen, daß ich nackt posiere?«

»Wenn Sie keine moralischen Skrupel haben.« Erwartungsvoll baute sie sich mit ihrem Pinsel vor einer neuen Leinwand auf. Subble legte sein Lendentuch ab.

Aquilon starrte ihn dreißig Sekunden an, bevor sie etwas sagte. »Das wird das Titelbild einer Nummer, die eine garantierte Verkaufsauflage von vierhundertundzwanzigtausend hat«, ergriff sie schließlich wieder das Wort.

»Agenten sind schon früher auf Titelseiten erschienen.«

»So weit gehen Sie - nur um Antwort auf ein paar Fragen zu bekommen?«

»In vernünftigem Rahmen wird ein Agent alles tun, um eine harmonische Beziehung herzustellen und die Integrität der Organisation zu bewahren. Mein Körper ist öffentliches Eigentum, und Sie scheinen einen guten Grund zu haben, ihn zu benutzen. Wenn Sie einmal Vertrauen zu mir gefaßt haben, werden Sie mir vielleicht die Information, die ich brauche, nicht länger vorenthalten.«

»Strecken Sie Ihre Arme aus, so als ob Sie in einen Swimmingpool springen wollen«, sagte sie. »Geben Sie mir eine Dreiviertel-Ansicht.« Dann, als er posierte, fing sie an, über sich selbst zu sprechen. »Wir haben eine Dreiecksbeziehung. Veg und Cal und ich - wir lieben uns. Ich weiß, daß das komisch klingt. Aber ich muß mich für einen von ihnen entscheiden und kann es nicht. Ich kann ganz einfach keine Wahl treffen. Das ist der Hauptgrund, aus dem wir uns getrennt haben. Zusammen ging es einfach nicht mehr, trotz. trotz allem, was geschehen ist. Ich muß zu einem von ihnen beiden gehen - wenn ich es kann.« Sie legte eine besorgte Pause ein. »Wieviel hat Veg Ihnen erzählt?«

»Daß er Sie geliebt hat. Daß Sie drei auf Nacre verschollen waren. Daß er einen >Manta< getötet hat.«

»Das war alles? Nur.«

»Das war alles. Er war der Ansicht, daß dies sein Anteil war und der Rest Ihnen und Calvin gehört.«

»Ja.« Eine ganze Weile malte sie schweigend. »Nun, ich muß jetzt eine Wahl treffen. Ich könnte mit dem einen schlafen, aber um fair zu sein, müßte ich es dann auch mit dem anderen tun. Das wäre Promiskuität, und beide würden das wissen. Mir liegt zuviel an ihnen beiden, um sie so zu verletzen. Es ist zu intim. Ich könnte mit irgend jemandem schlafen, der mir gleichgültig ist, denn es ist ja nur der Körper beteiligt - öffentliches Eigentum, wie Sie sagen. Es sind die Gefühle, die zählen. Wo das Herz mit dabei ist.«

Sie machte wieder eine Pause, blickte ihn offen an. »Ich könnte mit Ihnen schlafen, rein sexuell, meine ich, weil ich zu Ihnen keine Beziehung habe. Es wäre nichts als eine physische Erleichterung. Eine unpersönliche Angelegenheit. Würden Sie das gerne tun?«

»Meine Neigungen stehen in keinem Zusammenhang mit meinen Pflichten.«

»Wenn ich mich Ihnen also jetzt anbieten würde, physisch, dann würden Sie ablehnen?«

»Sofern keine vernunftsmäßigen Gegengründe vorliegen, ja.«

»Vernunftsmäßige Gründe!«

»Wollen Sie, daß ich mit dem Posieren fortfahre?«

»Nein, aber bleiben Sie, wo Sie sind. Ich möchte wissen, wie weit Ihre Kontrolle geht.« Sie berührte ihre Toga, und diese löste sich aufreizend von ihrem Körper. Darunter trug sie nichts. »Jetzt sehen Sie mich genau an.«

Subble tat, was sie verlangte. »Ist ein Kommentar erwünscht?«

Sie seufzte. »Sie haben Ihren Standpunkt bewiesen, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie haben sich überhaupt nicht täuschen lassen, nicht wahr? Ich meine, Sie haben gewußt, daß ich Sie becirzen wollte, um nicht über Nacre reden zu müssen.«

»Veg hat es mit seinen Fäusten versucht.«

»Mit ähnlichem Erfolg, da bin ich mir sicher. Und Cal wird seinen Verstand einsetzen. Und Sie nehmen das alles ungerührt hin und führen Ihren Auftrag genau nach Plan aus.«

»Ich habe keinen Plan. Ich war von Vegs Wesen genauso beeindruckt, wie ich es von Ihrem bin. Sie sollten meine physische Kontrolle nicht als Herabsetzung mißverstehen.«

Sie marschierte zu ihrer Kostümsammlung hinüber und warf ihm einen Bademantel zu. »Gehen wir uns betrinken.«

Eingehüllt in Mäntel mit den Aufschriften ER und SIE gingen sie auf ihre Küche zu.

Sie hob eine Hand. »Warten Sie.«

Er wartete.

Sie kam zu einem Entschluß und drehte sich um. »Hier entlang.«

Er folgte ihr durch die Tür und den Flur bis zum Aufzug. Sie drückte auf den Knopf für das Basement vierzig Stockwerke tiefer. Die anderen Passagiere blickten starr geradeaus und hielten es für unter ihrer Würde, den intimen Auftrag zur Kenntnis zu nehmen: aufgewühltes Haar, nackte Beine und Füße, Bademäntel im Partnerlook. Aber Subble schnappte die Bemerkungen von denen auf, die ausstiegen. Er lächelte. Das Basement war wirklich ein eigenartiger Bestimmungsort für so ein Pärchen.

Das Basement, bei dem es sich mit Sicherheit um das oberste von zahllosen anderen unterirdischen Geschossen handelte, war eine nüchterne Räumlichkeit aus verschiedenen breiten Korridoren. Es gab einen Wegweiser, aber Aquilon ignorierte ihn. Sie führte ihn einen der Hauptgänge hinunter.

Rohre mit einem mächtigen Durchmesser hingen unter der niedrigen Decke, und tunnelartige Öffnungen führten in Höhlen voller Ventile und Meßanzeigen. Ein milder, aber durchdringender Geruch hing in der Luft. Subble schnüffelte und isolierte die Hauptbestandteile: Moder, Tierdung, Saatgut, Insektizide, Ammoniak, Maschinenöl und Abfälle. Dies schien die Viehverwertungsabteilung des Komplexes zu sein. Viele Wohntürme hatten ihre eigene, um zwischenstaatlichen Kontrollen, Frachtgebühren und Steuern aus dem Weg zu gehen.

Noch ein anderer Geruch: derselbe Eindruck von Fremdheit, den er bemerkt hatte, als er nach der sich verflüchtigenden Spur des Dings in Vegs Wald gesucht hatte. Die. Kreatur war am letzten Tag hiergewesen. War das der Grund, aus dem sie ihn hierhin geführt hatte?

Am Ende der Halle saß ein Mann an einem Pult und brütete über einer Tabelle. Er blickte auf, als sie näher kamen. Er lächelte.

»Schön, Sie zu sehen, Quilon«, sagte er und rieb sich über die geschwollenen Augen.

Subble registrierte seine tief verwurzelte Müdigkeit, seine unterdrückte Verzweiflung und sein Elend. Dieser Mann war unglücklich verheiratet, unzufrieden mit seinem Beruf, gelangweilt und von Schuldgefühlen geplagt. Sein Puls beschleunigte sich, als Aquilon näher trat. Er war nicht verliebt in sie - dazu war er zu realistisch -, aber ihre physischen Qualitäten hatten es ihm schwer angetan. Mit großer Sicherheit hatte er Tagträume von einer schließlichen Liebesbeziehung, aber das war nicht die Ursprungsquelle seiner Schuld.

»Hallo, Joe«, gab Aquilon zurück und lächelte.

Der Ausdruck des Mannes änderte sich nicht, aber Subble spürte den elektrischen Funken, der durch seinen Körper strömte und ihn hellwach werden ließ. Er war scharf auf die Aufmerksamkeit einer schönen Frau, noch dazu wenn sie so verführerisch bekleidet war. Offensichtlich benutzte Aquilon ihn. Ihr Lächeln war zynisch und berechnend, so als ob Strom durch einen Rheostaten kontrolliert wurde, aber sie war bereit, seine Leidenschaft anzuheizen und ihr in gewisser Weise entgegenzukommen. Wie Veg hatte sie sich auf gewisse Notwendigkeiten eingestellt, wie auch immer diese aussehen mochten. Es würde nötig sein, herauszufinden, warum sie die Bekanntschaft mit Joe pflegte, wurde sich Subble klar. Vielleicht spielte die Gegenwart des Fremden dabei eine Rolle. Das Ding versteckte sich hier, und ein Bericht dieses Mannes konnte das ans Tageslicht bringen.

»Ich würde meinem Gast gerne die Farm zeigen, wenn's recht ist.«

Joe blickte Subble an. »Was tut ein Regierungsagent hier?« fragte er argwöhnisch. »Wir werden regelmäßig inspiziert. Wir sind eine Einrichtung der Spitzenklasse.«

»Bitte«, sagte Aquilon sanft und beugte sich über das Pult. Der Mann badete in ihrer Wärme, war bereit, ihr jeden Wunsch zu erfüllen.

»Aber es ist ja alles in Ordnung«, sagte er mit einem letzten Defensivreflex, während er sich wieder seiner Tabelle zuwandte.

Sie betraten die Einrichtung, und der Geruch steigerte sich gewaltig.

»Er ist in Wirklichkeit ein Computer-Programmierer«, sagte sie, als sie ihn einen schmalen, mit Stroh übersäten Gang entlangführte. »Man hat ihn hierhingesetzt, weil er die Farm modernisieren soll. Er muß mit allem gründlich vertraut sein, bevor er den Fluß der Dinge ändern kann. Die Reihenfolge der Fütterung, der Anteil von Kalzium in der Nahrung, die Intensität des Lichts - das Vieh ist für solche Dinge sehr empfänglich. Das Programm muß genau auf jede Art abgestimmt werden, sonst sinkt die Profitrate.« Ihr Tonfall ließ erkennen, daß sie eine absinkende Profitrate wenig kümmerte. »Es ist natürlich alles automatisiert, und deshalb ist er abgesehen von einem Mechaniker der einzige, der Dienst tut, bis er seine Aufgabe erfüllt hat. Er muß gegenwärtig auch den Veterinär spielen, obwohl er dafür nicht ausgebildet ist. Und er haßt es.«

Subble nickte. Solche Dinge waren alltäglich. Programmierer fanden sich oft in verrückten Situationen wieder, genau wie Agenten. Aber die öffentliche Vorstellungskraft kleidete sie beide oft in Glanz, der seltsamerweise von einer gewissen Unbeliebtheit begleitet wurde.

»Dies sind unsere Häschen«, sagte sie.

Sie standen in einem gut beleuchteten Raum, der beidseitig mit Käfigen vollgestellt war. Die unterste Reihe reichte fast bis zur Raummitte, so daß es für die Füße nicht einmal einen Meter Bewegungsfreiheit gab. Die zweite Lage war etwa dreißig Zentimeter nach hinten versetzt und die dritte noch einmal dreißig Zentimeter. In Kopfhöhe war also genug Platz, unmittelbar unterhalb der zischenden Belüftungsdüsen. Es gab keine Klimaanlage in dem Raum, sondern es wurde offenbar nur Sauerstoff zugeführt. Und es war heiß. Der Geruch war bedrückend.

»Das sind die Ställe der Jungstiere«, erklärte sie. »Sehen Sie, es gibt keine Böden, nur ein Drahtgeflecht, so daß die Exkremente durchfallen können. Die Boxen der älteren Tiere sind komfortabler - sie haben einen festen Boden aus Plastik und eine weiche Unterlage. Wie würde es Ihnen gefallen, wenn Sie Ihr Leben in einem dieser Kästen verbringen müßten?«

Subble inspizierte den Käfig neben ihr. Ein Rollband brachte die Nahrungspille heran, und ein Träufelventil sorgte für Wasser. Ein anderes Band beförderte langsam den herabfallenden Dung weg. Der Käfig war ungefähr einen Meter zwanzig lang und halb so breit. Die Kopfhöhe reichte kaum aus, die Insassen eine normale Körperhaltung einnehmen zu lassen. Darin befand sich ein Mutterkaninchen, schneeweiß, und ihr Wurf von neun rosaohrigen Babys.

»Sie muß zwölf Familien in zwei Jahren aufziehen, dann wird sie selbst geschlachtet«, sagte Aquilon. »Ihr Fell wird seinen Weg in irgendeinen Herrenhut finden, und ihr zartes Fleisch wird als Qualitätsbraten abgepackt. Sie wird nie richtiges Tageslicht zu sehen bekommen, und ihr einziges Vergnügen, wenn man es so nennen kann, ist es, wenn der Rammler zu ihr kommt. Er hat nicht viel Zeit, denn er wird genau nach der Anzahl der Muttertiere gefüttert, die er bedient, und wenn er schwach wird, dann ist es aus mit ihm.«

Sie war soweit, ihm etwas Wichtiges zu erzählen, scheute jedoch davor zurück und führte ihn in eine andere Abteilung. Was war es, das diese Leute so mit Sorge erfüllte? Veg hatte keine Angst um sich selbst gehabt und Aquilon auch nicht, aber beide hatten vor irgend etwas Angst.

»In ihrer Nahrung befinden sich Antibiotika, aber es sterben immer noch eine ganze Menge in ihren Käfigen. Fliegen geraten irgendwie hinein. Und Schimmel. Pilze tauchen überall auf und sie scheinen so schnell zu mutieren, daß man nicht damit Schritt halten kann.«

»Wie auf Nacre?«

Die Frage verwirrte sie. »Manchmal wünschte ich mir, daß es so wäre. Hier ist das Hühnerhaus.«

Hier waren die Lichter schwach und rot. Subble hatte keine Schwierigkeiten, aber Aquilon mußte einen Augenblick warten, bis sich ihre Augen angepaßt hatten.

»Das ist so, damit sie nicht umherflattern und aufeinander einhacken«, sagte sie. »Einigen sind sowieso die Schnäbel entfernt worden, oder sie haben Augenklappen. Aber da nur jeweils vier in einem Käfig untergebracht sind, gibt es nicht allzuviel Ärger. Alles eine Frage der Wissenschaft. Auch die Musik hilft.«

Und wirklich: Die Lautsprecher spielten »Mögen die Schafe friedlich weiden«, als ob liebliche Melodien die Frische der Eier erhöhen könnten.

»Es sind keine Schafe, sie können nicht weiden, und friedlich sind sie auch nicht«, bemerkte Aquilon bitter.

»Was halten Sie davon?« erkundigte sie sich, als sie zu einem anderen Raum weitergingen.

»Gute standardmäßige Ausstattung«, sagte er. »Scheint so effizient zu sein, wie es die Kunst des Handwerks erlaubt.«

Sie ging schweigend weiter.

In der Schlachtabteilung ging es betriebsamer zu, obwohl auch hier alles vollautomatisiert war. Die ausgewählten Hähnchen wurden in Sackgassen befördert, durch bewegliche Bürsten weitergetrieben, bis eine Maschine Bänder um ihre Füße schlang, sie krähend und flatternd hochhob und sie mit dem Kopf nach unten auf ein abwärts führendes Fließband legte. Am Ende der Reise ergriff eine andere Maschine ihre zappelnden Köpfe und schnitt ihnen die Kehle durch. Das Blut spritzte in eine Wanne.

»Man betäubt sie vorher nicht einmal«, sagte Aquilon und schüttelte sich. »Weil ihr Zappeln dazu beiträgt, das Blut schneller auslaufen zu lassen oder so etwas. Ich habe versucht, Joe dazu zu bringen, eine Betäubung in das Programm aufzunehmen, und er würde es auch gerne tun. Aber er sagte, daß man ihn feuern würde, wenn er etwas aufnimmt, das die Kosten derartig erhöht. Er steckt genauso in der Klemme wie wir alle.«

Subble nickte zustimmend, obwohl die Realitäten der Situation für ihn keine moralische Frage waren. Ein Schlachthausbetrieb war nicht das Geeignete für einen Mann, dem Schmerzen Skrupel bereiteten - aber das Schicksal eines Arbeiters, den man wegen Ineffektivität feuerte, war auch keine lustige Angelegenheit.

»Wenn sie nicht schnell genug sterben«, fuhr sie gepreßt fort, »kümmern sich die Sterilisierungstanks um dieses Detail. Oder der Entfederer oder der Ausweider. Immerhin bin ich mir sicher, daß die meisten Hähnchen tot sind, wenn man sie verpackt.«

Sie versuchte nicht mehr, die Ironie herunterzuspielen.

»Dennoch, sie sind noch viel besser dran als die Kälber und Schweine.«

Subble erkannte, daß sie das Ganze ziemlich mitnahm. Dies war nicht das, was sie ihm ursprünglich hatte zeigen wollen, aber sie nahm die Sache sehr ernst.

Sie mußte nach einem Ort gesucht haben, an dem sie den Fremden verstecken konnte. Und dann hatte sie die Farm gefunden und sich mit den Bedingungen auseinandergesetzt, die hier herrschten.

»Machen wir, daß wir hier rauskommen«, sagte sie.

Sie hatte ihre Meinung wieder geändert, zögerte immer noch, das Geheimnis zu enthüllen, obwohl sie gemerkt haben mußte, daß er aufmerksam werden würde. Was hielt sie zurück?

Wieder im Apartment wusch sie sich krampfhaft in seiner Gegenwart, so als ob ihr Körper durch herumspritzendes Blut besudelt worden war.

»Verstehen Sie jetzt?« fragte sie, während sie Arme und Brüste abtrocknete und einen frischen Bademantel anzog.

Er zog sich aus und wusch sich ebenfalls, wohl wissend, daß sie ihn als befleckt ansehen würde, wenn er es nicht tat.

»Warum Sie in den letzten Monaten kein Fleisch und keine Eier mehr gegessen haben?« fragte er. »Nein.« Er wollte ihr Gelegenheit geben, es selbst zu erklären. Sie brauchte etwas, über das sie argumentieren konnte, bevor sie sich beruhigte.

»Wenn wir dies heute unseren Tieren antun, was werden wir uns morgen selbst antun?« verlangte sie zu wissen. Ihre Stimme klang bitter, ihre Augen röteten sich. »Sehen Sie nicht, wie weit wir schon gekommen sind? Dieser ganze Distrikt - eine Zusammenballung von Menschen in Käfigen, Reihe an Reihe, gefüttert mit Pillen, die durch Rohrleitungen kommen und die man Nahrung nennt, entsorgt durch gemeinschaftliche Spülklosetts. Jedes Bewußtsein wird abgelenkt durch standardisierte, künstliche Unterhaltung, die jemand programmiert hat, damit es nicht allzuviel Aufhebens gibt. Sie müssen den Hähnchen Beruhigungstabletten geben, damit sie sich nicht dem Kannibalismus zuwenden, wenn es in ihren dunklen, unnatürlichen Behausungen zu überfüllt wird. Und wir haben ebenfalls Drogen, nicht wahr? Damit wir das alles ein bißchen länger aushalten können.«

Sie ging ruckartig in die Küche und holte eine Flasche Gin. »Kommen Sie, betäuben Sie sich mit mir«, lud sie ihn ein und goß zwei Doppelstöckige ein.

»In der Natur geht es nicht freundlicher zu«, stellte Subble fest. »Was der Mensch tut, um sich mit Nahrung zu versorgen, ist lediglich eine methodische Erweiterung.«

»Ich weiß«, rief sie aus, »ich weiß, ich weiß. Sie ist absolut logisch, diese schreckliche Grausamkeit. Wir müssen also den kleinen Kälbern Eisen vorenthalten, damit ihr Fleisch weiß wird, und wir bringen von Natur aus saubere Schweine dazu, im Dreck zu waten, damit wir ein paar Pennies sparen können. Es gibt alles einen Sinn - aber wo bleibt dabei das Herz? Gibt es keinen besseren Weg als diesen?«

»Emotionen helfen nicht weiter.«

»So wie das Hähnchen zum Schlachthaus geht«, deklamierte sie und schwenkte ihr leeres Glas, »so geht die Menschheit zur Bombe! Ich bin bereit! Züchten Sie mich und füttern Sie mich und rupfen Sie mich und.« »Wenn es Ihnen eine Beruhigung ist«, sagte Subble, »sollten Sie wissen, daß die intensive Tierhaltung im Rückschritt begriffen ist.« Er war beunruhigt wegen ihres Verhaltens. »Der Zwang, das Programm zu überarbeiten, ist ein Beweis dafür. Synthetik ist effizienter.«

»Es spielt keine Rolle«, sagte sie, vor Verzweiflung fast zusammenbrechend. »Ich kann es immer noch nicht ertragen, Angehörige einer Spezies zu sein, die sich derart brutalisiert hat. Veg hat recht. Ich bin ein. Omnivore.«

»Wir alle müssen das sein, was wir sind - und das ist nicht völlig schlecht. Es gibt Entschädigungen, sogar Glorie. Sie wissen das.«

»Mit dem Verstand, nicht mit dem Herzen«, sagte sie und nippte an einem neuen Glas. »Ignoranz ist kein Segen. Ich wußte nie, was ich war, bis Nacre. Jetzt wünsche ich mir, ich könnte alles rückgängig machen - ein Leben voll gedankenloser Schlechtigkeit. Ich wünsche mir, daß ich wieder zurück wäre, wir drei auf Nacre, um für alle Ewigkeit dort zu bleiben.« Abrupt wechselte sie das Thema. »Wissen Sie, daß uns Veg Schönheit, Hirn und Muskel< genannt hat? Ich verstehe es als physisch, emotionell und intellektuell, nur daß ich die Reihenfolge durcheinandergebracht habe. Nun, Sie verstehen schon. Aber in Wirklichkeit ist es. Kennen Sie Omar Khayyam?«

»Den Astronomen und Poeten aus dem elften Jahrhundert? Zeitgenosse und Freund von Hasan, dem Assassin, der.«

»Hören Sie auf«, sagte sie mit plötzlicher Wildheit. »Ich meine das Rubaiyat, die Dichtung. >Ein Buch Verse unter dem Zweig, ein Krug Wein, ein Laib Brot und Du.<«

»>Neben mir singend in der Wildnis / Oh, die Wildnis mir zum Paradiese würde. < Das müßte Edward FitzGeralds Fassung sein, dritte Ausgabe, glaube ich.«

Sie blickte ihn düster an. »Sie revanchieren sich für das Posieren, zu dem ich Sie veranlaßt habe. In Ordnung, machen Sie sich Ihren Spaß. Welcher Unterschied besteht zwischen den Ausgaben?«

»Gemäß der wörtlichen Übersetzung von Heron-Allen lautet der Text: >Ich begehre ein wenig roten Wein und ein Buch Verse / Gerade genug zum Leben, und ein halber Laib ist nötig / Und daß du und ich sitzen an verlassenem Ort / Ist wertvoller als das Königreich eines Sultans. < Von McCarthy gibt es zwei Prosavarianten, von Whinfield eine Alternative dazu, von Graves eine weitere, und Fitz-Geralds eigene erste und zweite Fassung differieren ein bißchen. Wollen Sie, daß ich sie zitiere?«

»Warum sind Sie kein Englischlehrer geworden? Ganz bestimmt haben Sie die Gabe, etwas Wunderschönes zu zerstören!« Aber ihre Verzweiflungsstimmung war gebrochen.

»Es mag sich eines Tages die Gelegenheit ergeben, in die Rolle einer solchen Person zu schlüpfen«, sagte er. »Viel wichtiger ist jedoch, daß die Literaturkenntnisse unter anderem dazu beitragen können, die Schlüsselaspekte einer komplexen Situation besser zu verstehen. Deshalb werden wir in dieser Beziehung sehr sorgfältig geschult.«

»Genau wie mir meine Anatomiekenntnisse als Künstler hilfreich sind?«

»Ungefähr so.«

»Also, kommen Sie Cal nicht mit diesem Kram. Er haut sie in die literarische Pfanne, bevor sie das ganze Zitat rausgebracht haben.«

»Ich werde mich daran erinnern«, sagte er lächelnd.

Sie war bei ihrem dritten puren Drink. »Gleich als ich Ihr Gesicht sah, wußte ich, wer Sie waren und was Sie wollten«, murmelte sie in ihr Glas. »Aber es ist nicht so einfach, wie Sie denken. Nun, ich nehme nicht an, daß es Sie kümmert, ob es einfach ist oder nicht. Aber dies. Also, ich kann Ihnen nicht sagen, was es ist. Wenn ich vielleicht genug trinke, werde ich es Ihnen erzählen. Vielleicht müssen Sie doch mit mir schlafen, um mich zum Reden zu bringen. Sie könnten sich dazu zwingen, da bin ich ganz sicher. Vielleicht werde ich mich auch umbringen.«

»Sind Sie gewillt, mir die Gemälde zu zeigen?«

Sie blickte ihn scharf an. »Welche Gemälde?«

»Diejenigen, die nicht an Ihrer Schlafzimmerwand hängen.«

»Was soll's?« sagte sie und warf einen Eiswürfel in ihren Gin. »Er mußte darauf kommen. Er ist ein Agent.«

Sie stand unsicher auf, ging zu einem abgeschlossenen Wandschrank hinüber und suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel.

»Ich habe diese Bilder noch niemandem gezeigt.«

Sie brachte mehrere große Leinwände und lehnte sie gegen das Tischbein. Sie hielt die erste in die Höhe. »Das ist die Herde der Herbivoren«, sagte sie. »Ich habe sie an Hand meiner Notizen nachgemalt.«

Subble studierte das Bild mit Interesse. Aquilon hatte sehr viel Talent, und ihr Herz und ihre Seele waren in das Gemälde eingegangen.

Die dargestellte Landschaft war düster. Die Nebelwelt Nacre, bekannt für ihre Helligkeit im Weltraum, verleugnete ihr Licht an der Oberfläche. Die aufgedunsenen Pilze, die Veg beschrieben hatte, waren undeutlich im Hintergrund sichtbar. Im Vordergrund befand sich die Herde: stehende Klumpen wie Kraken, deren Tentakel zu fleischigen Säulen geworden waren. Die rosafarbenen Atmungsorgane waren so fein gezeichnet, daß sie zu winken schienen.

Aber es war mehr die Technik, die ihn berührte, als die naturgetreue Nachempfindung einer fremden Landschaft. Irgendwie hatte Aquilon Gefühle in dieses Gemälde hineingelegt und es zum Leben erweckt. Es wühlte ihn viel mehr auf, als das vorhin ihre Nacktheit getan hatte, denn dies hier war ursprünglich und nicht gekünstelt. Er sah sie mit einem Respekt an, den er bisher nicht empfunden hatte.

Sie hob das zweite Exemplar hoch, ein kleineres Blatt, das auf einen Karton geklebt war.

»Das ist ein Original«, sagte sie. »Ich habe es auf dem Felsenvorsprung nach der Wanderung am ersten Tag gemalt.«

Subble erwähnte nicht, daß Veg darüber nichts berichtet hatte. »Sie malen, wenn Sie müde sind?«

»Ich male, weil ich müde bin«, sagte sie ruhig. Ihre Sprache wurde schleppend, als der Alkohol seine Wirkung tat. »Wie kann ich sonst meine Gefühle ausdrücken?«

Sie griff abermals nach der Flasche, aber Subble hielt ihre Hand fest.

»Es wäre mir lieber, wenn Sie das nicht täten«, sagte er. »Mir macht Alkohol wenig aus, weil mein Unterbewußtsein mit meinem Bewußtsein verbunden ist. Es gibt keine Barrieren, die eingerissen werden müßten. Aber Sie.«

»Was denn - auf einmal Gefühle? Was kümmert es Sie, was ich tue?«

Subble antwortete nicht sofort. Er betrachtete das Bild und dachte über die Umstände seiner Entstehung nach. Sie waren geklettert, und Aquilon mußte todmüde gewesen sein, weil sie Cal zu helfen hatte. Unfähig, ihre Gefühle auf normale Weise auszudrücken, hatte sie sich dem Malen zugewandt. Ihre Augen waren auf das phantomdunkle Grau des Himmels gerichtet gewesen, während ihr Pinsel eine Szene auf die Leinwand bannte. Das Gemälde, obwohl an Ort und Stelle angefertigt, mußte aus Erinnerung oder Imagination entstanden sein, denn der Schleier, den die mikroskopisch kleinen Lebensformen in der Atmosphäre zusammen mit der hereingebrochenen Dämmerung errichteten, verdunkelte alles, was mehr als ein paar Handbreit von dem Felsenvorsprung entfernt war. Aber es hatte stetig Gestalt angenommen: ein Abbild des Wegs, den die drei in der letzten Stunde bewältigt hatten, um die Schultern des Berges kriechend, behaftet mit Pilzen, die an stilisierte Baumwollballen erinnerten.

Der Weg, den sie gegangen waren, mußte mühsam und häßlich gewesen sein, und Aquilons Wiedergabe war hervorragend. Ihr Bild war eine Komposition aller Aspekte der Kletterpartie. Die Strapaze des steilen Anstiegs war da, die Härte der nackten Felsen, das Schwindelgefühl müder Füße, die auf dem Schleim zertretener Pilze ausglitten. Da war eine Andeutung von der Hoffnungslosigkeit eines Mannes, dem die Kraft oder der Wille zum Leben fehlten, und vielleicht auch die eines Mädchens, das damals nicht lächeln konnte.

Aber das Gemälde selbst war großartig.

Und hatte sie es dann zur Seite gestellt, auf dieser fernen Welt, und es gegen die senkrechte Felswand gelehnt, die am inneren Rand des Vorsprungs in die Höhe ragte? Der blasse, blaue Felsen des Berges, den sie gemalt hatte, würde sanft mit dem dunklen Schleier des Himmels jenseits des Abgrunds kontrastiert haben, und hier, eingerahmt von wogenden weißen Pilzen, könnte die einsame Schönheit solch einer Frau ihren Frieden gefunden haben.

»Als Sie versucht haben, mich zu verführen, mußte ich Widerstand leisten«, sagte er langsam. »Das bedeutete nicht, daß ich sie unattraktiv fand. Und als ich versuchte, Ihnen einen Rat zu geben, geschah das nicht, weil mich Ihr Wohlbefinden nicht kümmerte. Nun, da Sie mir gezeigt haben, wie es in Ihnen aussieht, bitte ich Sie, es nicht. hierdurch herabzuwürdigen.« Er zeigte auf die Flasche und stellte fest, daß er noch immer ihre Hand hielt.

Diese zufällige Intimität war viel eindringlicher als das Reden und die Nacktheit, die sie zuvor praktiziert hatten. Sie blickte ihn an, wurde sich dessen bewußt, und entzog sich ihm sanft.

»Ein Krug Gin«, sagte sie. »Ich glaube, wir haben nicht den richtigen Start erwischt. Es tut mir leid.« Sie rührte die Flasche nicht an.

Das dritte Bild war ganz anders. Wildheit beherrschte es. Ein Monstrum funkelte den Betrachter aus einem einzigen Auge an, und dahinter erhob sich der Kopf einer unglaublichen Schlange, lauter Zähne, weder Augen noch Nase. Subble hatte niemals eine solche bedrohliche Mischung gesehen.

»Der Omnivore von Nacre«, sagte Aquilon.

Das letzte Gemälde zeigte den Manta, sofort erkennbar als die Kreatur, die Veg beschrieben hatte. Er war in voller Bewegung, vermutlich vom sich zurückziehenden Traktor aus gesehen, und auf seltsame Weise wunderschön.

»Das ist meine Mission«, sagte er und studierte das Bild.

»Ich weiß.« Sie legte ihren Kopf auf den Tisch und weinte.

Subble stand auf und legte die Bilder zur Seite. Er wanderte durch das Apartment und betrachtete die gesammelten Werke, die sich überwiegend mit irdischen Themen beschäftigten. Wenige von ihnen hatten den Zauber der vier, die sie gerade gemeinsam angesehen hatten. Aquilon hatte angedeutet, daß sie ihr gegenwärtiges Leben verabscheute, und ihr Werk betonte dies. Ihr Herz war auf Nacre, bei den beiden Männern, die sie dort gekannt hatte, und bei den Kreaturen, an die sie sich erinnerte.

Sie rührte sich hinter ihm, warf die Flasche weg und ging ins Badezimmer. Er hörte, wie das Wasser verschwenderisch floß, und wußte, daß sie versuchte, sich zu übergeben.

Er kam an die Bilder, die sie von ihm gemacht hatte: ein Raumfahrer, der über eine öde Mondlandschaft stolperte, ein ansehnlicher Gentleman aus dem zwanzigsten Jahrhundert, ein Affenmensch, der an einem Dschungelbaum hing, und ein Taucher au naturel. Jedes Porträt war akkurat und detailgetreu und hatte - in wachsendem Maße - vom ersten bis zum letzten das gewisse Etwas. Der Raumfahrer könnte ein jeder gewesen sein, aber der Taucher war Subble. Nicht nur ein Agent - Subble, das Individuum. Und, so seltsam es auch war, diesen Gedanken auf das Bild eines nackten Mannes anzuwenden, Aquilon hatte etwas von sich selbst auf die Leinwand gebracht. Sie war erstaunlich schnell, denn diese Bilder waren mehr als nur einfache Skizzen, und ihr Talent war angeboren, nicht antrainiert. Ihr Werk reflektierte, was in ihr vorging.

Subble war kein Künstler, aber die Interpretation von Illustrationen gehörte zu einer Reihe von Gebieten, auf denen er ziemlich kompetent war. Er konnte viel über den Charakter und die Stimmung eines Künstlers in Erfahrung bringen, indem er seine Technik studierte.

Er stand eine ganze Weile da und nahm die Bilder in sich auf.

Seine Kleider lagen noch immer auf dem Bett. Er ging, um sie zu holen. Aquilon lag neben seinem Anzug und beobachtete ihn.

»Sie geben auf?«

Er nahm seine Kleider mit der Absicht, sie, in den Nebenraum zu bringen, bevor er sich umzog. »Es sind schon zwei Männer, die Sie lieben.«

»Und nun genieren Sie sich«, sagte sie. »Sie wollen nicht, daß ich Ihren Körper noch einmal sehe.«

Er ging zur Tür.

»Kommen Sie her«, sagte sie.

Er legte seine Sachen auf den Stuhl neben der Tür und ging zu ihr.

Aquilon schlang die Arme um ihn, küßte ihn und zog ihn nach unten, so daß er neben ihr lag.

»Du weißt, daß wir jetzt nicht miteinander schlafen können«, sagte sie.

»Ich weiß.«

Umschlungen lagen sie da, die Bademäntel geschlossen. »Was ist mit deiner Unbezwingbarkeit geschehen?« murmelte sie in sein Ohr.

»Ich habe gesehen, was du bist.«

Sie legte den Kopf an seine Schulter. »Wenn ich nur wüßte, was ich bin, dann wäre ich nicht hier.«

»Du bist eine wirklich wunderbare Frau. Dein Körper hat damit nichts zu tun.«

Seine Schulter wurde feucht von Tränen. »Willst du mir helfen?«

»Ich werde es versuchen.«

»Wenn ich nur wirklich wunderbar wäre«, rief sie aus. »Aber ich bin häßlich auf eine Weise, die niemand heilen kann. Wenn ich mich nur entscheiden könnte, so oder so. Veg und Cal sind sauber, auf ihre Weise, aber ich bin schmutzig, und ich kann mich einfach nicht entscheiden, wem ich mich. aufbürden soll. Und nun stehe ich zwischen ihnen, weil ich zu keinem Entschluß kommen kann. Und ich kann nicht einmal.«

Sie verkrampfte sich und biß in die harten Muskeln seiner Schulter. »Ich kann dir das nicht erzählen. Cal muß es tun. Alles, was ich tun kann, ist.«

Sie machte eine Pause, rollte sich auf den Rücken, schloß die Augen, nahm seine Hand und erzählte ihm von dem Omnivore.

Cal atmete mit einem Mitleid erregenden Keuchen, aber er redete, kaum daß Veg gegangen war. »Das hättest du nicht tun sollen, Quilon.«

Aquilon ließ sich neben ihm niedersinken und kramte in dem Packen herum.

»Er kann so etwas viel besser allein erledigen«, sagte sie. »Du und ich, wir würden ihm nur im Weg stehen.«

Sie entfaltete eine Nottasse und holte den Wasserbehälter hervor. »Du solltest etwas hiervon trinken.«

»Ich glaube nicht, daß du es verstehst«, sagte Cal vorsichtig und lehnte den Trunk ab. »Wie gut kennst du Veg?«

Sie sah ihn überrascht an. »Nun, seit drei Monaten natürlich. Seit ich mich der Expedition anschloß. Wir sind gut miteinander ausgekommen. Aber ich dachte, ihr beiden seid alte Freunde.«

»Mehr als das«, sagte er verdrießlich. »Wir sind ein Team: Gehirn und Muskel. Und nun ist Schönheit dazugekommen.«

Aquilon errötete leicht.

»Hast du dir nicht klargemacht.«

Aus ihrer Röte wurde Erblassen. »Ich hatte es vergessen.« Sie sprang geschmeidig auf die Füße. »Ich gehe ihm nach. Es war nicht meine Absicht.«

»Laß es.« Mit einer müden Handbewegung winkte Cal sie zurück. »Er würde niemals eine harmlose Kreatur töten. Er wird das Ganze als Witz hinstellen. Vielleicht wird er wirklich einen Herbivoren mitbringen, den du dann bestaunen kannst. Und das ist vielleicht auch gut so.«

Er blickte auf das Wasser, das sie noch immer in der Hand hielt, und wandte sich ab. »Bisher können wir höchstens fünf Kilometer zurückgelegt haben. Ich schaffe es nicht.«

»Natürlich schaffst du es«, sagte Aquilon. »Ich werde dir helfen.« Aber sie war bereits müde. Noch über dreißig Kilometer? Cal schüttelte bedauernd den Kopf und versuchte zu lächeln. »Darum geht es nicht allein. Mit deiner Hilfe könnte ich die Strecke bewältigen - vielleicht. Aber ich kann auch nichts essen, mußt du wissen.«

»Du meinst, du bist ebenfalls ein.«

»Nein. Es ist sehr schwierig zu erklären. Ich kann mich nicht, wie du wahrscheinllich, von dem ernähren, was das Land hergibt, und ich habe keinen eigenen Proviant bei mir. Und ohne den kann ich nicht lange überleben. Das Wasser wäre eine gewisse Hilfe, aber ich würde längst tot sein, bevor wir das Lager erreicht hätten.«

Aquilon öffnete den Mund, war aber nicht fähig, etwas zu sagen.

»Mach dir nichts draus«, sagte Cal sanft. »Ich habe es selbst heraufbeschworen, als ich darauf bestand, mitzukommen. Es war ein kalkuliertes Risiko. Ich wußte, daß es mein Ende sein würde, wenn der Traktor ausfiel. Ihr beide habt eine größere Chance, wenn ihr nicht darauf wartet, daß ich sterbe.«

»Cal.« Sie zögerte. »Ich kenne dich bei weitem nicht so gut, wie ich dachte, aber.« Sie wedelte mit den Händen in der Luft herum, so als ob sie ein Gedankenbild formen wollte, das sich mit Worten nicht ausdrücken ließ. »Wie auch immer, ich kann dich hier nicht einfach zurücklassen. Der Omnivore.«

Der kleine Mann zuckte die Achseln. »Ich kann dir nur sagen, daß ich mir schon längere Zeit gewünscht habe, zu sterben. Nun hat das Schicksal mir die Gelegenheit dazu gegeben. Ich fühle mich nicht als Opfer. Für mich ist das Ende klar - und ich möchte es allein erleben.«

Aquilon blickte ihn an. Sie spürte, wie sich ihre Pupillen zu schwarzen Höhlen in der Bleiche ihres Gesichts zusammenzogen. Sie versuchte, ihre physischen Reaktionen zu kontrollieren, aber es war zu plötzlich zuviel auf sie eingestürmt. Cals Blick blieb ganz fest. Er war kein alter Mann, aber die scharfen Linien um die Augen und Mund verrieten, wie er litt. Nein, er wollte sich nicht opfern.

Sie stellte die Tasse in dem Bewußtsein ab, daß er sich zu trinken geweigert hatte, damit er schneller sterben konnte.

»Ich hole Veg«, sagte sie, unfähig ihn noch länger anzusehen.

»Seltsam«, sagte Cal, als er Aquilon bei der Arbeit zusah. »Wenn diese Kreatur ein echter Karnivore, ein Fleischfresser, ist.«

Aquilon blickte nicht von dem Leichnam hoch. Veg hatte ihn in ihr »Lager« geschleppt, und diese überraschende Entwicklung der Dinge hatte die Diskussion um Cals Schicksal für den Augenblick vertagt.

»Wir können es nicht richtig beurteilen, nicht wahr?« sagte sie. »Wir kennen die Merkmale, die für Erdentiere typisch sind - die Form der Zähne und so weiter -, aber dieses hier hat keine Zähne. Ich hoffe, daß die Laborexperten auf Grund meiner Bilder zu einer Beurteilung kommen. Aber wenn es anders ist als die Herbivoren und Omnivoren.«

»Nennen wir es die Ahnung eines Paläontologen«, sagte Cal lebhaft. »Diese Kreatur vermittelt den Eindruck eines Karnivoren. Die Geschmeidigkeit, die Schnelligkeit, die Bewaffnung. Seht euch die messerscharfen Seiten des Schwanzes an! Dieses Ding ist wie dafür geschaffen, während des Laufens Beute zu schlagen. Aber eins stört mich. Wenn, es wirklich unser Karnivore ist, warum hatten die Herbivoren dann keine Angst vor ihm? Es muß sich mitten in der Herde versteckt haben.«

»Er hat recht, weißt du das?« sagte Veg überrascht. »Du hast es zuerst gesehen Quilon. Du sagst, daß es aus der Herde kam. Aber es ist ganz einfach unnatürlich, daß die Herbies keine Angst vor dem Jäger haben.«

Diesmal blickte Aquilon auf. »Herbies?«

»Nun, wie würdest du sie nennen? Du hast dem Manta seinen Namen gegeben.«

»In Ordnung«, sagte sie. »Herbies.«

»Nicht lächeln jetzt.«

Aquilon lächelte nicht.

»Es sei denn, sie haben gewußt, daß es unmöglich ist zu entkommen«, überlegte Cal. »Seine Geschwindigkeit ist phantastisch.«

»Aber es kam erst zum Vorschein, als wir da waren«, stellte Aquilon fest. »Warum griff es uns an, obwohl die. Herbies doch viel einfacher zu erbeuten waren?«

»Es wollte wieder ein Wettrennen veranstalten«, sagte Veg. »Es wollte herausfinden, wie es abschneidet, wenn wir unsere Maschine nicht bei uns haben. Wie ein Hund.« Er wurde ganz ernst, denn wenn er das geglaubt hätte, würde er seine Hemmnisschwelle, es zu töten, nicht überwunden haben. »Aber wir können uns so ein Wettrennen nicht erlauben - mit ihm nicht und mit dem Omnivoren auch nicht.«

Für eine gewisse Zeit kam Schweigen auf. Die Erwähnung des Omnivoren hatte eine niederdrückende Wirkung.

»Dieses Auge«, sagte Aquilon. »Nie zuvor habe ich so etwas gesehen. Es ist fast so schwer wie das Gehirn. Und dieses Gehirn hat sehr viele Windungen.«

»Das gibt mir auch zu denken«, gestand Cal ein. »Ich wollte, ich könnte mir die Details näher ansehen, aber ohne meine Brille.«

Veg blickte auf den Wasserbehälter und stellte ihn bedauernd zur Seite. »Wie gut kann es deiner Meinung nach sehen?«

»Das Auge ist über zwanzig Zentimeter lang und hat einen Durchmesser von fast acht«, sagte Aquilon ernst. Das scharfe Messer in ihrer Hand blinkte, als sie den Lichtkegel darauf richtete und geschickt Gewebeteile durchtrennte. »Es gibt so viele größere Nervenstränge, die es mit dem Gehirn verbinden, daß es fast unmöglich ist zu sagen, wo der eine aufhört und der andere anfängt. Das Auge selbst ist gefüllt mit einer Art lichtbrechender Flüssigkeit. Fast wie eine elektronische Röhre. Man kann die Eigenschaften nicht einmal abschätzen, aber meine Meinung ist, daß der Manta viel besser sehen kann als wir.«

»Dem stimme ich zu«, sagte Cal. Sein ganzes Verhalten war anders, wenn es ein Problem gab, mit dem er sich auseinandersetzen konnte. »Insgesamt ist diese Kreatur eine erstaunliche.«

»Wie ich es sehe, bleibt uns kaum noch eine Stunde Tageslicht«, unterbrach Veg. »Wir müssen weiter, wenn wir nicht in der freien Ebene von der Nacht überrascht werden wollen.«

Cal runzelte die Stirn. »Veg, ich möchte dir sagen.«

»Quilon, du nimmst den Packen, wenn du ihn tragen kannst. Ich kümmere mich um Cal.«

Veg hob den kleineren Mann hoch und setzte ihn vorsichtig auf seine Schulter.

»Wir haben hier einige Zeit verloren. Aber wir können sie wieder aufholen, wenn wir jetzt losgehen.«

Schweigend rollte Aquilon ihre anatomischen Skizzen zusammen, stieß das Seziermesser in den Boden, um es zu säubern, und legte sich die Riemen um. Veg bestimmte das Tempo, gute sechs Kilometer in der Stunde, trotz der Last. Cal versuchte nicht, noch etwas zu sagen.

Es gab am Rand des Bergkamms eine Art Pfad, der sich zwischen regenbogenfarbenen Pilzen und Felsvorsprüngen hindurch wand. Am Fuß des Bergs waren die Pilze prächtig - ganze Reihe von ihnen, Trichter, Spiralen und Türme, die wie ein Märchenland aus Zuckerguß wirkten. Aber drei Kilometer aufwärts hingen nur noch weiße, müde Klumpen an den Rändern der Simse, unfähig auf den Felsen festen Fuß zu fassen, aber auch nicht gewillt, die schmalen Brückenköpfe aufzugeben, die sie erobert hatten. Sogar der Staub erschien dünn und trocken.

Es war ein mühevoller Aufstieg - aber irgend etwas hatte den Pfad geschaffen, und irgend etwas mußte ihn auch jetzt noch benutzen. Und er führte weitgehend in die Richtung, in die sie gehen mußten.

Als die Dämmerung kam, saßen sie gegen den Berg gelehnt und erholten sich von der Anstrengung. Veg hatte keine Klage geführt, aber Cal sah schlecht aus, und Aquilon fühlte sich von dem hautabschürfenden

Gewicht des Packens am ganzen Körper wund. Die Luft war jetzt kühler, aber dies schien ihren Durst nur noch zu verstärken. Keiner von ihnen rührte die Wasserflasche jedoch an.

Veg löste einen der fußballartigen Pilze von seinem unsicheren Standort. »Ihr wißt, daß ich gegen einen dieser Sorte getreten und einen nassen Fuß dabei bekommen habe.«

Cal hob den Kopf. »Gib ihn mir«, sagte er.

Veg reichte ihn hinüber, und der kleine Mann quetschte ihn versuchsweise. Einige Tropfen Flüssigkeit fielen auf den Boden.

»Sehen wir uns das an«, sagte er.

Aquilon reichte ihm eine Tasse, und er quetschte noch etwas und sammelte den Saft.

»Warte«, sagte Veg. Er nahm den Pilz und preßte ihn mit beiden Händen.

Flüssigkeit spritzte zwischen seinen Fingern hervor, füllte die Tasse und floß über seine Beine.

»Es ist ein Wasserschwamm«, rief er aus.

Cal hielt das randvolle Gefäß in den Händen und blickte tief hinein. Die Flüssigkeit war fast durchsichtig. Er schnupperte daran. Er setzte die Tasse an die Lippen.

»He!« riefen Veg und Aquilon gleichzeitig.

»Wasser«, sagte Cal behaglich. »Wir müssen praktisch sein. Wenn ich es überlebe, haben wir eine brauchbare Quelle. Ihr beiden teilt euch die Flasche. Zu dem Zeitpunkt, an dem ihr es braucht, werdet ihr es entweder bekommen, oder eure Last ist leichter geworden.« Aquilon blickte Veg an, und er blickte sie an. Cal war praktisch, in Ordnung. Er behauptete, daß er sterben wollte, und ohne Wasser würde er das mit Sicherheit auch tun. Er hatte bei dem Experiment nichts zu verlieren und konnte vielleicht eine Galgenfrist für sie alle herausholen.

Sie beobachteten ihn, als er die Tasse austrank.

»Ich kann mich an keinen Berg zwischen uns und der Basis erinnern«, sagte Aquilon zweifelnd. »Bist du sicher, daß der Kompaß.« Sie suchte nach einer Ablenkung von der morbiden Warterei, der sie ausgesetzt waren.

»Der Kompaß zeigt richtig an«, sagte Cal und streckte sich bequem aus. »Er arbeitet nach dem Kreiselvektoren-Prinzip. Dieser hier wurde auf die Basis eingestellt. Solange er läuft, muß er genau anzeigen.«

Veg blickte auf den gefährlich aussehenden Pfad vor ihnen. »Ich wünschte, sie hätten das Notsignal nach dem Kreiselopfer-Prinzip eingestellt oder so etwas Ähnliches«, murmelte er. »Noch immer fast dreißig Kilometer zu gehen. Immer aufwärts und abwärts, wie es scheint.«

Das brachte die Unterhaltung zum Erliegen. Die Dunkelheit nahm langsam zu, und es blieb ihnen nur noch wenig Zeit, um einen geeigneten Platz für die Nacht zu finden.

»Keine Zeit mehr zum Reden«, sagte Veg. »Wenn wir ein ebenes Plateau oder einen anderen sicheren Platz finden, kann uns nichts passieren. Quilon, laß den Packen da liegen. Ich hole ihn später. Aber wir lassen jetzt besser alles zurück was wir erübrigen können. Du nimmst das Gewehr und etwas Munition.« Er durchwühlte den Packen und suchte nach den Gegenständen, die er entfernen konnte. Bald türmte sich ein kleiner Haufen neben der Nebelpistole auf. »Keine Omnivoren hier«, sagte er, als er ihren Blick auf sich ruhen sah.

Sie wollte protestieren, wurde sich aber klar darüber, daß ihr die Kraft fehlte, den Packen oder die überzähligen Dinge noch weiterzutragen.

»Dann.trink du wenigstens das Wasser«, sagte sie.

Zu ihrer Überraschung nickte er und setzte die Flasche an den Mund. Sie war sicher, daß er nicht egoistisch handelte, obgleich sich ihr Durst plötzlich vervielfachte. Er hatte etwas anderes im Sinn. Möglicherweise wollte er seine Kräfte bewahren, um sie zu tragen, falls Cal.

Veg hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Sie streifte den Riemen ab und folgte ihm müde den Berg hinauf.

Sie kletterten. Der unermüdliche Veg trug seinen Kameraden, ohne auch nur ein bißchen langsamer zu werden, während sich Aquilon, obwohl sie unbepackt war, anstrengen mußte, Schritt zu halten. Die Nacht schlug über ihnen zusammen. Der Nebel schien physische Substanz anzunehmen und wurde so dicht, daß sie wenig mehr als den Pfad unmittelbar vor ihnen erkennen konnten. Der Staub, den ihre Füße aufwühlten, bedeckte ihre Körper mit Schmutz. Der Pfad ging weiter, strebte seinem verborgenen Höhepunkt entgegen.

»Glück«, rief Veg aus.

Aquilon, die das Wort mißverstand, schloß zu ihm auf und blickte nach vorne. Sie hatten ein ideales Plateau erreicht, kaum mehr als eine Verbreiterung des Pfades, aber flach und beinahe eben. Oberhalb und unterhalb fiel der Berg so schroff ab, daß es für einen nächtlichen Ruhestörer sehr schwierig werden würde, sich ihnen unbemerkt zu nähern.

Veg setzte Cal ab.

»Ich muß den Packen holen«, sagte er und verschwand in der Nacht.

»Nimm das Gewehr mit«, rief sie ihm nach.

Sie hatte Wert darauf gelegt, die Waffe nicht zurückzulassen, obgleich sich selbst ihr leichtes Gewicht als enorme Belastung während des Marsches erwiesen hatte. Aber er war schon weg. Seine schweren Tritte verklangen auf dem Pfad nach unten.

Cal blieb, wo er war, schlafend oder bewußtlos. Aquilon zog ihre Bluse aus. Sie wagte nicht daran zu denken, was sein Zustand bedeuten mochte, und rollte die Bluse zusammen, um sie unter seinen Kopf zu legen, so daß er den Staub nicht einatmen mußte. Sie holte ihren Pinsel und den Zeichenblock hervor. Auch diese vergaß sie niemals.

Ein paar Minuten später öffnete Cal die Augen und sah, daß sie malte.

»Mein Gott, wo nimmst du die Energie zum Malen her?«

»Dein Gott?« erwiderte sie, verwundert aber auch erregt, weil sie erkannte, daß es ihm besser und nicht schlechter ging. Jeder Augenblick, der jetzt noch verging, war ein Beweis dafür, daß es sicher war, den Saft des Schwammpilzes zu trinken. »Du hast eine so wunderliche Ausdrucks weise.«

Er ließ sich nicht zu einer Erwiderung herab, sondern beobachtete sie mit einem halben Lächeln.

Aquilon betrachtete die Leere jenseits des pilzübersäten Perimeters und ließ den Pinsel über die Leinwand gleiten. Wieder einmal floß die Farbe wie in einem magischen Automatismus, aber der Automatismus stützte sich auf die Technologie, und die Magie kam von ihr. Der Pinsel war ein kompaktes, ausgeklügeltes Gerät, das in ihren geübten Fingern zu einem Zauberstab wurde. Die Berührung eines der versteckt angebrachten Wahlknöpfe konnte jede Farbkomposition innerhalb des sichtbaren Spektrums produzieren und sie in sparsamer oder großzügiger Form herausfließen lassen. Veg hatte darüber gestaunt, daß sie diese Abstufungen in Farbton und Dichte so subtil zu handhaben wußte, und sie hatte ihm gesagt, daß der Pinsel tatsächlich eine Verlängerung ihres Arms war. Und das, obwohl im Scherz gesagt, kam der Wahrheit ziemlich nahe. Sie war sich der Kontrolle, die sie ausübte, gar nicht bewußt. Sie verlangte nach einer Grauschattierung, und sie kam; königsblau - schon war es da. Der Pinsel konnte genausogut unmittelbar an ihr Gehirn angeschlossen sein oder vielleicht auch an ihre Seele, an ihr kreatives Wesen. Die Bildeindrücke, die sie aufnahm, verschmolzen zu einem großen Ganzen, das sich auf der Leinwand reflektierte.

Die Leute fragten sie immer, warum sie keine Kamera benutzte. Wie konnte sie ihnen den Unterschied zwischen einem lebenden Pinsel und einer toten Maschine erklären? Man sagte, daß der Künstler seine Bildeindrücke verzerrte, während die Kamera exakt war. Die Wahrheit war jedoch, daß der Künstler die lebendige Essenz einfing, während die Kamera ein totes Abbild festhielt, ein begrenztes Fragment der Geschehnisse, aus denen die Realität bestand. Im Leben gab es keine eingefrorenen, begrenzten Szenen. Wenn die Linien ihres Pinsels nicht so klar umrissen waren wie die einer Fotografie, dann lag das daran, daß die Linien des Lebens nicht so klar umrissen waren wie die des Todes. Wenn ein lebendes Wesen auf eine Formel reduziert werden konnte, dann lebte es nicht länger.

Aber sie hatte den Versuch aufgegeben, den Leuten dieses Konzept zu erklären. Cal würde es verstanden haben und hatte es deshalb nie nötig gehabt, zu fragen. Veg hatte vermutlich niemals darüber nachgedacht. Er nahm die Dinge so, wie sie waren, und das war auch gut.

Was die anderen anging, murmelte sie etwas über technische Dinge wie etwa die Zerbrechlichkeit einer guten Ausrüstung oder die Vergänglichkeit einer Fotografie, über die Verzerrungen, die durch fremde Strahlungen und Wellenlängen hervorgerufen wurden, über die Umständlichkeit, schwere Geräte durch die Gegend schleppen und sie in Notsituationen aufstellen zu müssen. »Wie können Sie ein Farbfoto von einer fremdartigen Kreatur machen, die unerwartet für höchstens eine halbe Sekunde auftaucht und wieder verschwindet?« fragte sie. »Aber der Pinsel ist noch langsamer«, beharrte der namenlose Kritiker. »Nicht für mich!« Sie meinte damit, daß sie einen Bildeindruck in ihrem Kopf festhalten und akkurat nachmalen konnte, bevor er verblich, aber das verstanden sie nicht.

Nein, der Pinsel kannte keine Grenzen, genauso wie der Geist keine Grenzen kannte. Deshalb konnte er niemals durch maschinelle Prozesse ersetzt werden. Nicht an den Grenzen der Zivilisation. Genauso wie der Mensch niemals dort, wo es darauf ankam, durch Automation abgelöst werden konnte. Maschinen und Maschinengehirne hatten versucht, Nacre zu enträtseln, aber die heimtückischen Pilze und Schimmelgewächse hatten sie zum Schweigen gebracht, während die Forscherkolonisten litten und starben.

»Du paßt zu deinen Gemälden«, sagte Cal ernsthaft.

Aquilon wandte sich von ihm ab, übermannt von einem Gefühl, das sie nicht verstehen konnte.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte dich nicht verletzen. Du und dein Werk, ihr seid sehr anmutig. Kein Mensch könnte eins von beiden betrachten, ohne darauf zu reagieren.«

Sie legte ihr Bild zur Seite, blickte aber weiterhin über den Rand des Plateaus hinweg. Es gab dort nichts zu sehen. Man konnte leicht glauben, daß es keinen Abgrund gab, sondern nur einen himmlischen Vorhang, der das Plateau einhüllte. Und natürlich gab es keine Sterne. „

»Liebst du mich?« fragte sie zu ihrer eigenen Überraschung.

»Ich fürchte, ja.«

»Das ist der wahre Grund, aus dem du mitgekommen bist - im Traktor.«

Er leugnete es nicht.

Sie sah ihn wieder an und wußte dabei, daß ihr Gesicht jetzt nicht mehr war als ein blasser Fleck, der von ihrem Haar überschattet wurde. Die Pilze am Rand ihres kleinen Lagers strahlten Licht aus, und sanfte Pastellfarben glänzten in dem Schweigen ringsum - rot, gelb, blau und grün. Sie wünschte, daß sie sich dessen schon bewußt gewesen wäre, bevor sie ihr Gemälde weggelegt hatte. Aber vermutlich trat der Effekt erst auf, wenn die Dunkelheit vollständig geworden war. Die Farben schienen Helligkeit zu verbreiten, taten es aber nicht. Cal war nur als etwas Dunkles sichtbar, das den dekorativen Hintergrund verdeckte.

»Cal«, flüsterte sie, wobei sie wie ein verängstigtes kleines Mädchen klang. »Cal, würdest du mich auch lieben, wenn ich nicht schön wäre?«

»Ich würde dich lieben.«

Sie ging zu ihm, fand seine Hände und hielt sie zwischen den ihren.

»Als ich sechs war«, sagte sie, »war ich hübsch. Dann kam der Virus. Ich war nur einen Tag lang krank, aber danach. Ich wußte nicht einmal.«

»Die Krankheit unserer Zeit«, murmelte Cal. »Eine schreckliche Schönheit ist geboren.«

»Ich. ich dachte, ich würde lächeln«, sagte sie. »Und sie schrien. Immer wenn ich glücklich war, schlugen sie mich, und ich wußte nicht, warum. Ich mußte lernen, niemals zu lächeln.« Sie holte Luft. »Und sie.

sie nannten mich nach dem Nordwestwind, dem kalten Nordwind.«

Er streichelte ihr Haar. »Das war Grausamkeit.«

»Sie wußten Bescheid, während ich ganz verwirrt war.«

»>Den Besten mangelt es an jedweder Überzeugung, während die Schlechtesten voll sind von leidenschaftlicher Heftigkeit. < Vergib mir, daß ich auf die Literatur zurückgreife, Quilon, aber ich kann es nicht besser sagen als William Butler Yeats. Es gibt zuviel Kummer in unserem Dasein.«

»Ich will nicht William Butler Yeats«, funkelte sie ihn an. »Ich will dich.«

»Und doch würdest du mich verändern«, machte er ihr sanft klar.

Sie beugte den Kopf, so daß ihr blondes Haar auch den Rest ihres Gesichts verdeckte, das vielleicht noch sichtbar sein mochte, und hielt noch immer eine seiner Hände fest. »Wir sind verschieden, du und ich und Veg. Wir sehen ganz. normal aus, aber wir sind es nicht. Wir sind hin und her gerissen, verängstigt und sehr allein.«

»Das ist eine Halb Wahrheit, Quilon. Wir.«

Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter und vergaß seine Schwäche. »Ich habe mir das nie vor Augen geführt. Daß es andere gibt. Wir brauchen einander, Cal, weil wir selbst nur halbe Menschen sind. Du hast nicht das Recht zu sterben, nicht von dir aus, was auch immer dir zugestoßen ist.«

Plötzlich und überraschend schluchzte sie.

Cal legte die Arme um sie, lehnte sich zurück gegen den Felsen und die nachgiebigen Schimmelpilze, die daran hafteten, und fuhr fort, ihr weiches Haar zu streicheln. Sein Verhalten zeigte, daß er sich getroffen fühlte, aber resigniert blieb.

»Ich wünschte, ich könnte wieder lächeln.«, sagte sie leise.

Aquilon erwachte, als Vegs schmaler Lichtkegel über sie glitt. Cal sank zurück gegen den Felsen. Er war zu höflich gewesen, um sie zu bitten, etwas zur Seite zu rücken, und eine seiner Hände ruhte noch immer auf ihrem nackten Rücken. Auch er wurde langsam wach.

»Nichts davon jetzt, Freund«, sagte Veg nicht unfreundlich. »Laß sie los und komm hier rüber. Wir haben ein Problem.«

Aquilon richtete sich auf, hob Cals Kopf und arrangierte das Hemdpolster so, daß er Veg ansehen konnte, ohne sich zu bewegen. Aber er zog es vor, trotzdem aufzustehen. Sie zuckte die Achseln und blieb an Ort und Stelle, um die Bluse wieder anzuziehen. Es schien jetzt keinen Zweifel mehr zu geben: das Pilzwasser war ein Erfolg.

Veg legte den Packen nieder und richtete das Licht darauf. »Seht ihr das?« fragte er mit schwerer Stimme.

»Irgend jemand hat die Riemen durchgeschnitten!«

Veg lachte, ein bißchen hohl. »Wohl eher irgend etwas«, berichtigte er Cal. »Riemen aus original Krokodilleder. Ich hatte nie viel für sie übrig, aber ihr wißt, daß ich das nicht getan habe. Es war verdammt mühsam, das Bündel hier raufzuschleppen und dabei die Lampe zu halten, um den Pfad erkennen zu können. Mußte alles auf den Armen tragen.«

»Aber was könnte.«

»Wer sonst als Bruder Manta?«

Aquilon, immer noch auf der anderen Seite des Plateaus, dachte nach. »Ja, der Manta könnte es getan haben. Das würde bedeuten, daß es mehr als einen in dieser Gegend gibt. Aber ich verstehe wirklich nicht, warum. Und warum gerade die Riemen?«

»Diese Kreaturen sind nicht dafür ausgerüstet, besonders gut zu klettern«, sagte Cal.

Veg packte ihn an der Schulter und drehte ihn herum, so daß er den Pfad sehen konnte, der nach unten führte. Aquilon blickte an ihnen vorbei in dieselbe Richtung.

Dort, weniger als sieben Meter entfernt, beobachtete sie vom Rand des Plateaus aus ein einzelnes leuchten- des Auge.

Morgen: das Auge blieb. Sie hatten geschlafen, abwechselnd, während sein Ehrfurcht einflößender, prüfender Blick auf ihnen ruhte. Es gab nichts anderes zu tun. Veg weigerte sich, auf den Manta zu feuern, und sie wußten, daß sie ihm nicht entfliehen konnten. Genau dies, dachte sie, mochte die Ansicht der Herbivoren gewesen sein. Warum vor einer solchen Kreatur fliehen oder gegen sie kämpfen? Beides würde nichts helfen.

Bei Tageslicht hatten sie Gewißheit. Es war das Auge eines anderen Mantas, vielleicht des dritten, den sie gesehen hatten. Er kauerte am Rand ihres kleinen Plateaus. In ruhender Haltung wirkte er nicht so erschreckend, aber nach allem, was sie über seine Natur wußten, konnten sie ihn auch kaum ignorieren.

Aquilon stand auf, schüttelte den unvermeidbaren Staubfilm ab und streckte ihre Glieder auf eine natürliche, aber ungemein aufregende Art und Weise.

»Ich wünschte, wir hätten den anderen als Nahrung aufbewahrt«, sagte sie. »Den Packen kann ich ausbessern, aber wir müssen immer noch essen.«

»Wir können etwas von dem weißen Pilz probieren«, sagte Veg. »Wenn das Wasser in Ordnung ist, ist es der Rest vielleicht auch. Das würde uns diese Sorge nehmen, wenigstens so lange, bis wir die Basis erreichten.«

»Aber sogar Erdenpilze können einen umbringen«, protestierte Aquilon. »Und viele von diesen sind schlimmer. Wie können wir so ein Risiko eingehen?« Sie war hungrig genug, es trotzdem zu tun.

»Ich habe letzte Nacht etwas davon probiert«, sagte Veg ein bißchen betreten. »Schmeckte entsetzlich, hat mir aber nicht geschadet. Besser als der Staub.«

Er war Cals Beispiel also schnell gefolgt!

»Der Staub?« fragte sie schockiert. »Du hast versucht, den Staub zu.«

»Der Staub ist organisch«, sagte Cal.

»Die Sonne erreicht niemals die Oberfläche von Nacre. Das ist der Grund, aus dem wir nichts Grünes sehen, abgesehen von gelegentlichen Pilzdekorationen.

Aber die lebenden Zellen treiben ständig dahin. Sehr nahrhafte Hefe, wenn man sie verdauen kann. Die Herbivoren haben damit offensichtlich keine Schwierigkeiten.«

»Oh, ich verstehe«, sagte sie. »Und die Omnivoren fressen die Herbivoren. und die Mantas müssen es auch tun.«

»Die ökologische Pyramide«, gab ihr Cal recht. »Sie muß existieren. Natürlich fressen die Omnivoren auch Staub und Pilze. Sonst würden sie den falschen Namen tragen.«

Veg schnitt aus einem der saftigeren Fußbälle ein Stück heraus.

»Was auch immer der Manta ist, er ist jedenfalls schnell zu Fuß. Vermutlich muß er das auch sein, um sich vor den Omnivoren zu schützen.«

Er blickte auf das Tier, das unbeweglich am Rand saß.

»Versuch das hier, wenn du Hunger hast, Quilon.« Er hielt ihr ein Stück der weißen Substanz hin.

Sie streckte die Hand aus, um es entgegenzunehmen.

Der Manta schoß in die Luft, wobei sein Körper fast die bedrohliche Form annahm, die er während des Rennens gehabt hatte. Er schnellte zwischen sie.

Aquilon taumelte mit einem Schrei zurück. Veg stand da wie erstarrt, als die Kreatur an seiner Seite zur Ruhe kam, neben dem Pilz. Sie starrten den Manta an.

»Bist du sicher, daß er zahm ist?« fragte Aquilon scherzhaft.

Veg beobachtete ihn verwirrt. »Ich dachte, ich hatte es letzte Nacht hinter mir«, gab er zu. »Als ich sah, wie das Auge hinter mir her kam, und ich kein Gewehr bei mir hatte. Aber alles, was er tat, war, mir zu folgen. In diesem Augenblick fing es an, mir leid zu tun, daß ich den anderen abgeknallt hatte. Vielleicht war es gar kein Angriff gewesen.«

Cal sprach von der anderen Seite. »Ich glaube nicht, daß er jetzt angegriffen hat. Er schien die Absicht zu haben, euch beide zu trennen.«

»Hände weg von der Dame?« sagte Veg geheimnisvoll. »Aber letzte Nacht wart ihr beide euch ziemlich nahe.«

Aquilon errötete. »Vielleicht dachte er, daß wir.«

»Jetzt mach aber mal 'nen Punkt«, rief Veg mit gespieltem Ärger. »Ich kann sehr gut ohne einen moralischen Manta auskommen. Zumindest dann, wenn er mich als den überzähligen Mann ansieht.«

»Vielleicht sollten wir heiraten?« murmelte sie süß.

»Ich könnte niemals eine.« Veg unterbrach sich, aber es stand zwischen ihnen, ein Scherz, der weh tat. Sie hatte seine Galanterie als echtes Interesse mißdeutet, und er hatte sie in ihre Grenzen verwiesen. Sie waren Mann und Frau, aber in der Praxis gab es einen fundamentalen Unterschied. Sie hatte gedacht, daß sein Vegetarismus nur eine persönliche Vorliebe war, aber nun erkannte sie, daß seine ganze Lebensanschauung davon geprägt wurde.

Im gemeinsamen Einverständnis wandten sie sich von diesem Thema ab.

»Der Pilz«, sagte Aquilon aufgeregt. »Vielleicht ist er giftig. Vielleicht wollte er uns daran hindern, ihn zu essen.«

Veg hielt die weiße Masse noch immer in der Hand. Langsam führte er sie zum Mund, die Kreatur neben ihm dabei beobachtend.

Der Manta blickte zurück, bewegungslos.

Veg biß hinein.

Nichts geschah.

»Versuch du es«, sagte er und warf das Reststück zu Aquilon hinüber.

Sie fing es geschickt auf und wiederholte die Prozedur, während der Manta geschmeidig herumfuhr, um sie zu beobachten. Der leichte Fäulnisgeruch ließ sie würgen. Es war, als würde man eine verrottete Tomate essen, aber sie zwang ihre Zähne, hineinzubeißen.

Der Manta zeigte keine Reaktion.

Sie blickte zu Cal hinüber und bot ihm den Bissen an, aber er schüttelte ablehnend den Kopf.

Veg zuckte die Achseln. »Ich werde uns jetzt eine vollständige. äh. Mahlzeit zubereiten«, sagte er und nahm das Messer zur Hand.

Aquilon ging zu Cal hinüber. Sie wußte, daß er hungrig war, und daß ein paar Stunden Unterernährung für ihn dasselbe waren wie Verhungern für einen normalen Menschen. Er hatte ganz einfach nicht die physischen Reserven, damit fertig zu werden.

»Was willst du tun?« fragte sie und blickte ihm in die Augen. »Du sagtest, daß du nicht essen könntest.«

»Ich nehme nicht an, daß es etwas nutzt, wenn ich euch vorschlage, mich hier zurückzulassen und zum Hauptlager zurückzukehren.«

Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Wenn du uns nur sagen würdest, wie wir dir helfen können.«

»Ihr könnt mir nicht helfen. Ich werde in wenigen Stunden sterben, egal was ihr tut. Wenn ich euch nur von der Wahrheit überzeugen könnte.«

Veg, der noch mehr Pilze abschnitt, hatte aufmerksam zugehört.

»Vielleicht ist es an der Zeit, daß du uns etwas erzählst, Cal. Ich kenne dich seit drei Jahren, aber du hast nie ein Wort verlauten lassen. Du bist niemals in die Kantine gekommen. Was ist los mit dir? Warum bist du immer so schwach, daß du kaum gehen kannst? Warum kannst du nichts von unseren Essen zu dir nehmen?«

Cal schloß die Augen, als ob er Schmerzen habe. »Ihr würdet es nicht verstehen.«

Aquilon nahm seine Hände, wie sie es in der Nacht zuvor getan hatte. »Wir werden dich nicht sterben lassen, Cal«, sagte sie. »Wir werden alle zusammenbleiben.«

Veg kaute auf einem Pilz herum und widersprach nicht.

»Der Tod ist mein Schicksal«, sagte Cal. Seine Worte klangen ziemlich unmelodramatisch. »Alles, was ich euch sonst noch erzählen könnte, wäre eine Lüge.«

»Dann erzähl uns die Lüge«, sagte Veg mit vollem Munde.

Aquilon war von der Einfachheit dieses Satzes überrascht. Sie vergaß immer wieder, daß das wenig subtile Verhalten des großen Mannes nichts mit Dummheit oder Gefühlskälte zu tun hatte. Wäre dem so gewesen, hätte man ihm gar nicht gestattet, in den Weltraum zu gehen. Mit einem einzigen Schlag hatte er Cals ausgeklügeltes Verteidigungssystem zum Einsturz gebracht.

Cal blickte sie an, um ein Zeichen von Nachgiebigkeit erkennen zu können, hatte dabei aber keinen Erfolg. Veg verzehrte sein Pilzgericht, und Aquilon tat es ihm nach, mehr um den Schein zu wahren, als weil sie gegenwärtig großen Appetit hatte. Das Zeug war vom Übel.

»Eine Geschichte also«, sagte Cal schließlich. »Und dann geht ihr weiter - ihr beide.«

Er bekam keine Antwort.

»Ich war ein Paläozoologe, der nach Fossilien suchte«, sagte Cal und schloß die Augen. »Man kann im allgemeinen eine bestimmte Art nicht lokalisieren, indem man einfach ein Loch in den Boden gräbt. Meine Spezialität waren Insektenfresser aus dem Eozän, und ich ging einem Gerücht auf dem Grund, demzufolge der Schienbeinknochen eines primitiven Primaten in einer Erdablagerung entdeckt worden war. Das spielte sich in einer ziemlich rückständigen Ecke der Welt ab, und ich hatte der lokalen Politik nicht genug Beachtung geschenkt. Ich sprach nicht einmal die Sprache.«

»Ich glaube kein einziges Wort«, sagte Veg gleichmütig.

»Ich wurde als Spion verhaftet - das war eins der Worte, die ich schnell aufgeschnappt hatte - und war nicht in der Lage, ihnen die wahre Natur meiner Mission klarzumachen. Die Leute, die mich gefangenhielten, verstanden nichts von Paläontologie. Ich glaube, ihre Religion leugnete jede unheilige Abweichung vom gewohnten Erscheinungsbild des Menschen. Sie waren überzeugt davon, daß ich ihnen Informationen vorenthielt, und sie hatten teuflische Methoden, Zwang auszuüben. Auf dem Gebiet der modernen biologischen Wissenschaft waren sie nicht rückständig. Seltsam, wie

Rückschritt und Fortschritt manchmal koexistieren.«

»Was haben Sie mit dir gemacht?« wollte Veg wissen. »Gemäß deiner Geschichte, meine ich.«

Cal fuhr mit sichtlicher Anstrengung fort. Aquilon war geschockt, als sie die Müdigkeit und das Unglück von vielen Jahren so tief eingeätzt in seinem Gesicht wahrnahm.

»Es spielt jetzt keine Rolle - mit einer Ausnahme. Meine Nahrung wurde. eingeschränkt. Sie arrangierten es so, daß ich von nichts anderem leben kann als von.« Er sprach nicht weiter.

»Wir müssen es wissen«, sagte Aquilon weich.

». Blut.«

Für mehrere Minuten herrschte Schweigen.

Schließlich ging Veg zu dem Packen hinüber und holte eine Tasse hervor. Er kauerte nieder.

»Kannst du es so nehmen, oder muß es durch eine Transfusion verabreicht werden?« fragte er einfach.

Cals Selbstbeherrschung löste sich auf und stürzte Aquilon in höchste Verlegenheit. Was war aus der intellektuellen Stärke geworden, die sie bei Cal so bewundert hatte? Dies war ein schluchzendes Baby von einem Mann. Wäre es menschlicher gewesen, ihn sterben zu lassen?

»Sie haben mich in einen Vampir verwandelt«, flüsterte Cal. »Ich lebe von Plasma. Meine Mahlzeit muß ich mir beim Doktor holen. Er ist der einzige auf dem Schiff, der Bescheid weiß. Die Blutgruppe - Rhesusfaktor - spielt keine Rolle. Ich nehme es auf oralem Weg. Wie ich mir gewünscht habe, zu sterben!«

Aquilon wirbelte herum, als ihr die Bedeutung von Vegs Frage klar wurde. »Du kannst nicht.« schrie sie.

Veg war dabei, sein Messer sorgfältig in der Flamme eines seiner Streichhölzer zu sterilisieren. »Halt dich da raus«, sagte er schroff.

Er mußte es gewußt haben. Er hatte den letzten Rest des Wassers getrunken, damit er. Blut haben würde.

»Aber du kannst nicht einmal einen Herbivoren töten«, sagte sie außer sich. »Wie kannst du da.« Veg wischte sich den Arm ab und setzte das Messer an. Aquilon machte Anstalten, sich auf ihn zu stürzen, hielt sich dann jedoch zurück.

Sie hatte geglaubt, die Motivationen dieser Männer zu kennen, und sie hatte geglaubt, daß sie sich gegenseitig verstanden. Aber ihr Wissen um die Anatomie, menschlich oder tierisch, und alles, was damit zusammenhing, hatte sie zu der Überzeugung kommen lassen, daß Cals Geschichte eine Lüge war. Keine Droge oder chirurgische Technik, die sie kannte, konnte einem Menschen das antun, was Cal behauptet hatte. Allenfalls war es möglich, eine infantile Abhängigkeit von Milch hervorzurufen, die dem Blut tatsächlich sehr ähnlich war. Und wenn man es doch speziell auf Blut beschränken konnte, allerdings nicht so eng, daß die Art dieses Blutes oder die Tiere, von denen es kam, eine Rolle spielten, dann konnte bestimmt auch ein chemisches Surrogat in ausreichender Quantität von einem Labor hergestellt werden. Die orale Verabreichung entlarvte das Ganze - eine Transfusion war eine präzise Angelegenheit, aber der Verdauungtrakt eines Menschen war so ausgerüstet, daß er mit vielerlei Dingen fertig werden konnte.

Cal hatte ihnen wirklich eine Geschichte aufgetischt, wie von ihm angedroht - und Veg mußte sie als das erkannt haben, was sie war. Warum nahm er die Fiktion dann als Wahrheit - und handelte auch noch danach? Wie konnte er, im wahrsten Sinne des Wortes, sein Blut dazu hergeben, eine Scharade aufrechtzuerhalten?

Und dann verstand sie es. »Ich glaube nicht, daß ich jemals gewußt habe, was wahre Freundschaft ist«, sagte sie ruhig. »Aber du mußt dir deine Kraft bewahren, um ihn tragen zu können. Sonst kommt keiner von uns zurück.«

Veg zögerte. »Er muß essen.«

Sie hielt ihm ihren eigenen Arm hin. »Ich brauche nichts zu tragen«, sagte sie.

Veg betrachtete sie und nickte. »Du bist schon eine Frau«, sagte er doppeldeutig. Diese Worte löschten seine vorangegangenen Reaktionen auf ihren scherzhaften Heiratsvorschlag und die Motive, die dahintersteckten, aus.

Er sprang auf die Füße und stürmte an ihr vorbei.

Als sie sich umdrehte, erkannte sie den Grund. Cal hatte es fast bis zum Rand des Abgrunds geschafft. Über seine Absichten konnte es keinen Zweifel geben. Veg packte den kleinen Mann und brachte ihn zum sicheren Teil des Plateaus zurück.

»Ihr wißt nicht, was ihr tut«, keuchte Cal schwächlich. »Ich muß sterben.«

»Du hast keine Wahl«, sagte Veg. »Es sei denn, du willst, daß ihr Blut im Staub versickert.« Er kam zu Aquilon zurück, das Messer in der Hand.

Abermals bewegte sich der Manta und schoß mit alarmierender Schnelligkeit zwischen sie.

»Was, zum.« Veg grunzte, ärgerlich jetzt. »Du kannst Cal berühren, und ich kann Cal berühren. Aber er läßt nicht zu, daß ich dich berühre. Was ist los mit dem Krüppel?«

»Wirf mir das Messer rüber«, sagte Aquilon.

Sie preßte die Zähne zusammen, um sich gegen den Schmerz und den Schock zu wappnen, machte einen sauberen chirurgischen Schnitt in den fleischigen Teil ihres Unterarms und ließ das Blut in die Tasse tropfen.

Die vier bewegten sich den Abhang hinauf. Veg hatte die Spitze übernommen, Cal auf den Schultern. Aquilon folgte mit dem Gewehr und ihrem Zeichenblock. Am Schluß kam der Manta, unregelmäßig hüpfend. Offensichtlich war er nicht an langsames Reisen gewöhnt. Aquilon war sich seiner nervös bewußt. Fast glaubte sie den Schlag seines Schwanzes auf ihrem entblößten Rücken zu spüren. Aber er kam niemals zu nahe heran.

Die Stelle des Bergs fing an abzuflachen, als sie sich der nach außen gewölbten Spitze eines Hangs näherten. Die kugelförmigen Pilze wurden größer und zahlreicher. Sie säumten den Pfad wie fette Schneemänner, und auch die kleineren Zuckergußgewächse tauchten wieder auf.

Der Boden bebte. Ein lautes Krachen und Dröhnen wurde in der Dunkelheit über ihnen laut. Irgend etwas stürmte den Pfad hinunter!

Veg legte Cal an der Seite nieder und wirbelte herum. »Nur einer macht einen solchen Lärm«, sagte er grimmig.

Aquilon packte das Gewehr und betätigte den Zündknopf. Sie fühlte die Wärme der Kammer in den Händen. Als sie sah, wie der Wasserstrahl in dem durchsichtigen Lauf vaporisierte, kam ihr der Gedanke, daß es möglich gewesen wäre, das Pilzwasser zu destillieren, um die Bakterien abzukochen und die Giftstoffe zu eliminieren, die sich vielleicht in der Flüssigkeit befunden haben mochten.

Das Gewehr war heiß und schußbereit. Veg trat auf sie zu und streckte die Hand nach der Waffe aus. Der Manta machte einen Sprung und funkelte drohend.

Veg wich zurück. »Wirf es her!«

Zu spät.

Eine große gefleckte Gestalt kam aus dem Nebel vor ihnen geschossen. Sie würde, wie Aquilon wußte, ungefähr eine Tonne wiegen. Die stachlige, fleckige Haut hing in gewaltigen Falten und ließ die Kreatur wie eine riesige, gehörnte Kröte erscheinen. Ein einzelnes kleines Auge war in das Fleisch des vorderen Körperteils eingebettet und funkelte bösartig. Dies war die Feindseligkeit in Person. Dies war der Omnivore.

Cal, der ihm am nächsten war, krümmte sich auf dem Boden zusammen. Die wilde Bestie, zu gierig auf ihre Beute, sprang und flog über ihn hinweg, wobei die scharfen Zähne des peitschenden Schwanzes wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt zusammenschlugen.

Jetzt befand sich Aquilon unmittelbar vor dem Monstrum. Das Gewehr in ihren Händen zischte.

Der Omnivore wandte sich ihr zu, hob seinen starken Schwanz über den Kopf. Die teuflischen Kiefer darin klafften auf, als der Schwanz wie eine tödliche Schlange hin und her pendelte, doppelt gefährlich, weil es sich um eine äußerst spezialisierte Angriffswaffe handelte. Es gab keinen verbindenden Ernährungstrakt, kein weiches Gewebe, keinen schwachen Punkt. Diese Kiefer konnten einen menschlichen Arm halbieren, und der Schwanz konnte einen menschlichen Körper in die Luft wirbeln und gegen den Felsen oder die geifernde Unterseite schleudern.

Ihre Kugeln waren nur wie Nadelstiche, und sie hatte keine Zeit, ein Projektil in die andere Kammer zu schieben. Die kräftigen Sprungmuskeln an dem einzigen Fuß des Omnivoren zückten, bereit zum nächsten Satz.

Veg trat von der Seite heran. Er brüllte, versuchte, die Aufmerksamkeit des Omnivoren abzulenken, obwohl er nur mit einem kümmerlichen Messer bewaffnet war.

Das Monstrum fuhr herum, trotz seiner albernen Schreie auf ihn aufmerksam geworden. Es konnte ihn natürlich nicht hören, aber sein Wahrnehmungsvermögen war vielseitiger als das anderer Nacre-Kreaturen. Es konnte ihn riechen und die Wärme seines Körpers spüren. Die Kiefer des Schwanzes krachten laut zusammen, als es sich dem neuen Gegner zuwandte.

Der Manta, der sich zeitweilig ganz ruhig verhalten hatte, erwachte wieder zum Leben. Er erhob sich in die Luft und nahm dabei wieder einmal die Form an, die ihm seinen Namen eingebracht hatte. Das Auge schien Funken zu sprühen, als die Kreatur um die beiden Menschen herumkurvte und vor dem Omnivoren landete.

So unmittelbar vor dem Monstrum wirkte der Manta winzig. Wenn er stand, war er etwa einen Meter zwanzig groß und konnte nicht mehr als achtzig oder neunzig Pfund wiegen - bei irdischen Schwerkraftverhältnissen. Und doch schreckte der massige Omnivore zurück. Er sprang rückwärts, drehte sich in der Luft herum. Sein mit Zähnen versehener Schwanz zuckte hervor wie eine Art schützender Nachhut und kreuzte den zweiten Sprung des Mantas.

Die Scheibe des Mantas breitete sich aus, plötzlich riesig. Aquilon konnte das Zischen der Luft hören, als er lossprang. Er glitt über den Omnivoren. Es gab ein scharfes KRACKS - wie das Knallen einer Peitsche -, und die grauen Zähne am Ende des Monsterschwanzes kamen durch die Luft genau auf Veg zugeflogen. Er

prallte zurück - und torkelte über den Rand des Pfads.

Mit einem Schrei huschte Aquilon herbei, leicht benommen von der Erschöpfung um den Verlust des Blutes, das sie gespendet hatte.

Veg rollte hilflos den Abhang hinunter. Pilze zerplatzten unter ihm, bremsten aber seinen Fall. Er krachte gegen einen der Giganten, prallte zurück wie von einem Gummipuffer und .blieb liegen, den Kopf unter einem der kleineren Gewächse verborgen.

Aquilon kletterte nach unten, um ihm zu helfen. Sie war froh, daß der Abhang hier nicht so erschreckend steil war wie weiter unten. Als sie ihr Ziel erreichte, schwer atmend und schwindlig, richtete sich Veg auf und spuckte weiße Klumpen aus.

»Alles in Ordnung?« fragte sie töricht.

»Gib mir 'nen - pfui - Kuß, und wir finden es heraus«, erwiderte er lächelnd.

Es waren weitere Pilzstücke, die er ausspuckte, keine Beleidigung für sie.

Überwältigt von der Erleichterung gab sie das Lächeln zurück.

Sie sah ihn blinzeln, sah wie sich seine Kiefermuskeln in dem krampfhaften Bemühen, die Gesichtskontrolle nicht zu verlieren, verhärteten. Horror zeigte sich in seinen verengten Augen.

Hinter ihm erschien die Gestalt des Mantas, die den Abhang hinuntersegelte. Das Auge war auf Aquilon gerichtet. Plötzlich faltete sich der Körper zusammen.

Zu spät führte sich Aquilon vor Augen, was sie getan hatte. Sie hatte ihn mit ihrem Lächeln entsetzt, mit jenem schrecklichen Gesichtsausdruck, den sie niemals wieder hatte zeigen wollen. Nun war alles, was sich zwischen ihnen entwickelt hatte, dahin. Sie wußte, was es hieß, sich den sofortigen Tod zu wünschen. Tod.

»Cal!« rief sie, als sie sich erinnerte. »Er ist noch immer da oben mit dem.«

Veg hastete den Abhang hinauf, gefolgt von dem hüpfenden Manta. Aquilon schloß sich ihnen an, aber in ihrem Kopf begann sich gleich alles zu drehen. Sie hatte ihren Körper schon zu sehr erschöpft, und dann war da noch der Schock dieses. Lächelns gewesen. Aber das Leben ging weiter, und es gab andere Dinge, um die man sich Sorgen machen mußte. Sie verlangsamte ihre Schritte und setzte ihren Weg vorsichtig fort.

Sie erreichte den Pfad, voller Angst vor dem, was sie erwarten mochte. Es hatte keinen Laut von Veg gegeben - oder sonst etwas. Es war zu still.

Der Omnivore lag tot da, sein Körper in zerfetzte Teile zerschnitten, so als ob ein kosmisches Messer über ihn gekommen war. Bläßliches Blut tropfte aus dem Leichnam, bildete kleine Rinnsale auf dem Fleisch und versickerte im Staub darunter, dick und zähflüssig wie das eines Menschen. Cal versuchte, etwas davon in seiner Tasse aufzufangen.

Es war ein schrecklicher Anblick, gleichzeitig lächerlich und mitleiderregend. Irgendwie verwirrte die Vorstellung, daß Cal das Blut des Omnivoren trinken sollte, Aquilon mehr als das Spenden ihres eigenen Bluts. Und doch war es eine Lösung, die sich von selbst anbot, wenn sie als Gruppe überhaupt überleben wollten. Ihre gegenwärtige Verwirrung bewies, daß ihre Kraftreserven in dieser Beziehung ziemlich begrenzt waren. Sich davon freizumachen, ließ den Schock über das andere, über dieses Lächeln, für den Augenblick in den Hintergrund treten.

Es war richtig. Es war eine Fügung des Schicksals. Der Omnivore konnte sie ernähren, und das Risiko, das der Verzehr seines Fleischs und Bluts barg, war nicht größer als das, was sie bereits auf sich genommen hatten, als sie den widerlichen Pilz aßen und den Saft tranken. Wenn es funktionierte, bedeutete das statt eines grausamen Todes das Leben für sie alle.

Es machte sie noch immer krank.

Irgend etwas berührte ihren Fuß und ließ sie hochspringen und nach unten blicken. Die Zähne des Omnivorenschwanzes lagen da wie der Kopf eines verstümmelten Hundes, reflexartig zuschnappend, so als ob sie ein noch anhaltendes Eigenleben führten. Muskelfasern ragten aus dem Stummel hervor und verbanden sich mit dem Staub zu verklumpten Fäden.

.. Aquilon beugte sich über den Abgrund und ließ ihrer Übelkeit freien Lauf.