I Ein Laib Brot

 

Nördlich von Appalachia hatte ein Stück Wildnis überlebt. Subble stellte eine Verbindung zwischen der sichtbaren Topografie und den bekannten Koordinaten her und brachte sein Luftfahrzeug neben einer Fichte mit dichten Zweigen weich zur Landung. Als er ausstieg, umfing ihn der eigentümliche Harzgeruch des Baums, und unzählige vermoderte Nadeln knirschten unter seinen Füßen.

Das gleichmäßige Geräusch von Metall, das gegen Hartholz hämmerte, führte ihn an einer stark verkrüppelten gelben Birke vorbei in ein Waldstück aus hohen Buchen. Auf seine ungezügelte Weise war der Wald geradezu angenehm. Subble wurde sich bewußt, daß es auf der Erde nur noch wenige Gegenden gab, die der ursprünglichen Natur so nahekamen.

Die Geräusche, die so nahe geklungen hatten, waren tatsächlich ein ganzes Stück entfernt. Subble bahnte sich einen Weg durch ein Dickicht aus jungen Eschen und Ahornbäumen und erreichte schließlich einen Waldpfad: zwei glatte braune Furchen, die sich im blättrigen Erdboden abzeichneten. Gruppen von Giftpilzen sprossen in regelmäßigen Abständen an seinen Rändern in die Höhe, und er entdeckte einen mächtigen Schimmelpilz, der einen verrottenden Baumstumpf überwucherte. Winzige Mücken wurden auf Subble aufmerksam und tanzten unermüdlich vor seinen Augen umher.

Der Pfad mündete in eine künstliche Lichtung, die durch eine gefällte Buche geschaffen wurde. Ein Mann stand mit dem Rücken zu ihm, einen gestiefelten Fuß auf den zernarbten Stamm gestützt. Sein breiter Rücken beugte sich, als er eine schwere Axt schwang. Der Holzfäller war stark. Man sah es an der Geschmeidigkeit des Schwungs und dem Anschwellen seiner karierten Hemdsärmel. Bei jedem zweiten Hieb flogen Holzstücke durch die Luft, als die Klinge eine Scharte in die Gabelung eines dicken Astes trieb.

Der Ast löste sich und krachte in das blättrige Gestrüpp auf der anderen Seite des Stamms. Der Mann drehte sich um und sah Subble. Er balancierte die Axt in der linken Hand und wischte sich mit dem kräftigen rechten Unterarm den Schweiß von der Stirn.

»Ja?« fragte er mit gerunzelter Stirn.

Das war der kritische Punkt. »Ich stelle Nachforschungen an«, sagte Subble und blieb auf Distanz.

Der Mann versteifte sich. Subble bemerkte das leichte Hervortreten der Sehnen auf dem Rücken der Hand, die die Axt hielt, die plötzlichen Falten in dem normalerweise freundlichen Gesicht und die leichte Gewichtsverlagerung.

»Ja?«

»Ich will nur ein paar Informationen. Wenn Sie Vachel Smith sind, Personalnummer 4409...«:

»Lassen Sie das. Seit zehn Jahren bin ich Veg und keine Nummer nicht.«

Subble ignorierte den Tonfall und die übertriebene Sprechweise.

»In Ordnung, Veg. Ich habe einen Job, genauso wie Sie, und ich habe ihn zu erledigen, ob ich nun will oder nicht. Je eher wir.«

Veg schleuderte die Axt auf den Buchenstamm, wo sie mit zitterndem Stiel steckenblieb. Er ballte die Fäuste und trat einen Schritt nach vorne.

»Als das letzte Mal ein verdammter Schleimscheißer aus der Stadt auf mich einquatschte, habe ich ihm das Schlüsselbein gebrochen. Kommen Sie zur Sache und verschwinden Sie wieder.«

Subble lächelte. »Na schön, ich will es kurz machen. Aber ich brauche Ihre Mithilfe. Es geht um Informationen, die sonst niemand geben kann.«

»Ja? Was?«

»Ich weiß es nicht. Deshalb muß ich fragen.«

»Sie wissen es nicht!« Veg schien sich nicht sicher zu sein, ob er lachen oder fluchen sollte, und sein Akzent legte sich beträchtlich. »Sie kommen auf mein Grundstück und wissen nicht mal, wonach Sie eigentlich suchen?«

Es war am besten, ihn weiterfragen zu lassen. »So ist es.«

Aber Veg fragte ihn nicht weiter. »Sie wollen sich über mich lustig machen, Mister!« Er kam näher.

Subble stieß hörbar den Atem aus und zeigte Ärger. Er war nicht so groß wie der Holzfäller und auch nicht so muskelbepackt, aber er wich nicht zurück.

»Wenn Sie mich mit Gewalt von Ihrem Besitz vertreiben wollen, muß ich mich gewisser Defensivmaßnahmen bedienen, die ich beherrsche«, sagte er, als Veg heranrückte.

»Ja?« Veg sprang ihn an.

Subble trat zur Seite und streckte den rechten Fuß heraus, als Vegs rechte Faust nach seinem Kopf zielte. Er rammte seine rechte Fußspitze gegen die Vegs, ging in die Knie, packte das Hemd des großen Mannes, drehte kraftvoll gegen den Uhrzeigersinn herum und warf ihn über seine Schulter.

Veg landete unverletzt und unbeeindruckt auf dem schlüpfrigen, feuchten Erdboden des Pfades.

»Ja!« sagte er abermals und griff zum zweitenmal an.

Subble duckte sich, wuchtete Veg eine Schulter in den Magen und setzte anschließend ein paar schnelle und wirksame Griffe an Nacken und Schultern an.

Veg hielt sich auf den Füßen, aber sein Kopf war bewegungslos, und seine Arme baumelten nach unten. Subble gestattete ihm, sein Gleichgewicht wiederzufinden, und gab seine Gliedmaßen frei.

»Ich hatte Sie gewarnt.«

Der Holzfäller schüttelte sich und bewegte den Kopf hin und her. »Ja«, sagte er.

»Jetzt habe ich mit Ihnen zu reden, denn das ist mein Job. Ich werde sofort gehen, wenn ich habe, was ich brauche. Ich bin auch bereit, einen Handel mit Ihnen abzuschließen.«

»Mister, ich habe mich noch niemals kaufen lassen.«

»Das hat Ihnen auch niemand vorgeschlagen. Sie legen eine Pause ein, und während Sie reden, mache ich solange weiter. Auf diese Weise verlieren Sie keine Zeit, und ich bin schnell wieder weg.«

Veg lachte. Nach dem Mißerfolg war seine gute Laune offenbar wiederhergestellt. »Sie sind ein zielstrebiger Bursche. Aber so schnell lasse ich mich nicht unterkriegen, Mister. Ich kenne Sie nicht und werde Ihnen nichts erzählen.«

Subble gab sich Mühe, den Mann nicht zu reizen. Er warf einen Blick auf den auseinanderklaffenden Baumstamm und entdeckte eine scheue, zimtfarbene Drossel mit Flecken auf der Brust.

»Wacholderdrossel«, sagte er.

Veg folgte seinem Blick. »Ja, ich kenne sie«, sagte er mit etwas weicherer Stimme. »Kommt alle zwei, drei Tage vorbei. Ich habe auch eine Rotdrossel - die sollten Sie mal singen hören. Das Nest habe ich allerdings nie gefunden.« Dann erinnerte er sich, mit wem er sprach, und runzelte wieder die Stirn.

»Ich muß ziemlich plump vorgegangen sein, um Sie so schnell gegen mich einzunehmen.« Das war eine wohl kalkulierte Einleitung.

»Es geht nicht gegen Sie, Mister. In jedem, der eine Wacholderdrossel erkennt, wenn er sie sieht, steckt etwas Gutes. Es geht gegen die Regierung - damit haben wir nicht viel im Sinn. Sie wissen wirklich nicht, warum Sie hergekommen sind?«

»Vor jedem Auftrag werden die Erinnerungen eines Agenten getilgt. Man hat mir drei Adressen gegeben und mich gewarnt. Das war buchstäblich alles, was ich über Sie wußte, bevor ich landete. Ihren Namen, wo ich Sie finden konnte, und eine Warnung vor Gefahr.«

»Das ist verrückt!«

»Es hindert mich daran, an den Fall mit einer vorgefaßten Meinung heranzugehen. Alles muß sich aus dem Fall selbst ergeben, nichts aus meinen Erwartungen oder irgendwelchen Unterlagen, die unvollständig oder unrichtig sein könnten.«

»Aber wenn Sie nicht einmal wissen, um was es geht. Ich könnte Sie anlügen, und Sie würden es nicht merken. Ich könnte Ihnen erzählen, daß ich ein kleiner Dieb bin, der.«

»Das sind Sie nicht.«

»Sagten Sie nicht, daß Sie keine Ahnung.«

Subble blickte wieder zu dem Baum hinüber, aber der Vogel war nicht mehr da. Eigenartigerweise galt das auch für die anderen allgegenwärtigen Tiere des Waldes. Irgend etwas hatte sie vertrieben. »Ich habe keine Informationen erhalten, aber mein Training versetzt mich in die Lage, mir sehr schnell welche zu beschaffen. Ich weiß über Sie jetzt schon eine ganze Menge.«

»Okay, Mister. Wie heißen Sie doch noch?«

»Subble.«

»Mister Regierungsagent, woher wollen Sie wissen, daß ich kein Dieb bin?«

»Ich will Ihnen eine allgemeine Vorstellung geben. Ich beherrsche gewisse Techniken, Ihre Atmung zu registrieren, Ihren Herzschlag, die Anspannung Ihrer Muskeln, die Nuancen Ihres Gesichtsausdrucks, die Modulation Ihrer Stimme, die Untertöne.«

»Wollen Sie behaupten, daß Sie durch bloßes Beobachten wissen, wenn ich lüge?«

»Ja. Sie sind kein hinterhältiger Mensch.«

»Ich bin auch kein Lügner. Bei Ihnen bin ich mir da allerdings nicht so sicher.«

Subble fühlte sich nicht beleidigt. »Sie sind scharfsinnig. Ich bin ein hinterhältiger Mensch. Ich bin sehr wohl in der Lage zu lügen, wenn meine Mission es erfordert, und ich mache das ganz hervorragend.«

Veg berührte seinen schmerzenden Nacken. »Sie können nicht nur das, nehme ich an.«

»Stimmt. Ich hätte Sie verstümmeln oder töten können. Aber ich mißbrauche meine Fähigkeiten nicht mehr, als Sie Ihre Axt mißbrauchen oder das Nest dieser Drossel zerstören würden. Sie könnten jeden jungen Baum im Wald fällen.«

»Um Himmels willen, nein! Dies hier ist Holz der vierten Generation. Ich hole nur die Bäume heraus, die den anderen das Licht nehmen, und.« Er machte eine Pause. »Ja, ich weiß, was Sie meinen. Sie laufen nicht herum und tun den Leuten weh, nur weil es Ihnen Spaß macht. Aber Sie können trotzdem nichts herausfinden, wenn ich nicht mit Ihnen rede.«

»Ich fürchte doch, wenn es keine andere Alternative gibt.«

Veg beobachtete ihn mit aufrechter Neugier. »Wie?«

»Indem ich Feststellungen mache, Fragen stelle und Ihre Reaktionen studiere.«

»Okay. Ich werde jetzt den Mund halten. Und Sie sagen mir dann, was Sie herausfinden.«

»Es wird Ihnen nicht gefallen, Veg.«

Der Mann nahm seine Axt auf und kehrte zu dem Stamm zurück, den er bearbeitete.

»Sind Sie Vegetarier?« fragte Subble. »Ja, Sie sind einer«, gab er sich sofort selbst die Antwort.

»Das haben Sie schon vorher gewußt!« schrie Veg erschüttert. »Sie hätten diese Frage gar nicht gestellt, wenn es Ihnen nicht bekannt gewesen wäre!«

»Ich wußte es. Aber Sie waren derjenige, der es mir erzählt hat. Ihr Spitzname, zum Beispiel, und der Geruch Ihres Atems und Ihre Anspannung, als ich vom Töten sprach. Sie haben seit zehn Jahren kein Fleisch mehr angefaßt.«

Veg preßte die Lippen zusammen. »Erzählen Sie mir etwas, was Sie nicht aus einer Schnüffelkartei der Regierung haben können«, sagte er. Er machte keine Anstalten weiterzuarbeiten.

»Wenn Sie Ihre Waffe weglegen würden.«

»Waffe? Oh!« Er schleuderte seine Axt zu dem Stamm und verfehlte ihn diesmal.

»Sehen Sie, wie aufgeregt Sie jetzt sind? Ich müßte ganz schnell handeln, wenn Sie mich damit angreifen würden. Sind Sie sicher, daß Sie.«

»Machen Sie weiter. Beweisen Sie es.«

Subbles Stimme war ganz leise, aber er beobachtete Veg sehr aufmerksam. »Interessieren Sie sich für Baseball? Nein. Shakespeare? Nein. Für irgendeinen anderen Dramatiker? Ja. Einen modernen? Ja, aber für keinen allzumodernen. Amerikaner? Ausländer? Aha, Engländer? Shaw natürlich!«

Veg wollte etwas sagen, tat es dann aber doch nicht. Es war stärkerer Tobak erforderlich, um ihn zu überzeugen.

»Wie steht es mit Frauen? Ja und nein. Es geht nicht um irgendeine Frau. Sind Sie verliebt? Ja, ich sehe, daß Sie es sind, und daß es ernsthafterer Natur ist. Aber irgend etwas ist nicht so, wie es sein sollte. Ist Sie hübsch? Ja, reizend. Haben Sie mit Ihr geschlafen, so wie Mann und Frau miteinander schlafen? Nein? Aber Sie sind nicht impotent. Nein! Würde sie es tun? Sie würde vermutlich. Ihr Name lautet Aquilon.«

Vegs Schlag ging um mehrere Zentimeter vorbei.

»Das war leicht, denn der Name ist zufällig der zweite auf meiner Liste«, erklärte Subble. »Unter den gegebenen Umständen war es nur logisch, daß sie diejenige sein würde, in die Sie. Greifen Sie mich nicht noch mal an!«

Der große Mann blieb stehen. »Ja, Sie haben mich gewarnt. Abermals.« Er blickte Subble mit einem gewissen Respekt an. »Ich schätze, ich glaube Ihnen.«

»Ich will nicht in Ihre Privatangelegenheiten eindringen. Es geht mir lediglich um die Informationen, wegen denen man mich hergeschickt hat. Mein Angebot gilt. Wenn Sie irgend etwas für Ihre Mühe haben wollen.«

»Mister. Subble, nicht wahr.? Sie haben mehr auf dem Kasten, als ich vermutete. Aber wie ich schon sagte: es geht nicht gegen Sie. Es geht gegen die Regierung. Damit gibt es jedesmal Ärger. Ich ahne den Grund, aus dem Sie gekommen sind, und ich kann Ihnen nichts sagen. Nicht wenn irgend so ein Bürokrat.«

»Ich bin kein herkömmlicher Agent. Was Sie mir sagen, bleibt vertraulich. Ich sammele die Informationen, verarbeite sie und erstelle einen einzigen mündlichen Bericht, in dem nichts Irrelevantes enthalten ist. Um meine Nachforschungen voranzubringen und zu Schlußfolgerungen zu kommen, muß ich vielleicht ein paar persönliche Dinge ansprechen, aber außer mir braucht

die niemand zu wissen.«

»Sie sind sich dessen ziemlich sicher.«

»Das bin ich. Es tut mir leid, daß mein Wort wertlos ist, denn ich könnte und würde es leicht brechen. Natürlich könnte ich Sie jetzt belügen, aber ich tue es nicht. Nehmen Sie das als inoffizielle Versicherung. Ihre Beziehung zu Aquilon hat nichts. Lassen Sie das!«

»Schon gut. Okay, es geht also nur um Sie und mich. Aber das trifft nicht zu. Es geht auch um meine Freunde und die Regierung, und ich habe ganz einfach nicht das Recht.«

Subble hatte etwas in dieser Richtung erwartet. Die Natur seines Auftrags nahm langsam Gestalt an, und er war jetzt imstande, von Veg ziemlich viel in Erfahrung zu bringen. Aber seine Schulung auf dem Gebiet des Ausfragens - und auch auf dem des Kampfes - hatte ihn gelehrt, die Rechte der anderen peinlich zu beachten. Ein Agent, der seine Ziele durch Rücksichtslosigkeit erreichte, lief Gefahr, am Ende erfolglos zu bleiben, weil Gewalt unausweichlich Gegengewalt erzeugte. Und es war nicht klug, auf eine Art und Weise zu arbeiten, die das allgemeine Mißtrauen sämtlichen Agenten gegenüber noch verstärkte. Es lag Gefahr in der Luft - große Gefahr, wie er jetzt argwöhnte -, und die kam nicht von Veg allein. Es war überaus wichtig, nicht auch noch persönliche Feindschaft hinzuzufügen.

»Veg, ich habe den ganzen Tag Zeit. Und wenn ich mich nicht irre, den morgigen Tag auch noch. Ich habe keinen festen Termin, aber ich muß die Fakten herausbekommen, wie auch immer sie aussehen mögen. Wie wäre es, wenn ich ein paar Stunden bei Ihnen bleibe, damit wir uns besser kennenlernen, und Sie mir so viel erzählen können, wie Sie gerne möchten? Wenn Sie Ihre Geschichte beendet haben, werde ich nicht weiter in Sie dringen, und Sie haben die Gewißheit, daß Sie sich keinem Fremden anvertraut haben.«

»Und wenn ich mich entschließe, Ihnen nichts zu erzählen?«

»Dann erzählen Sie mir nichts.«

Veg dachte darüber nach und kratzte dabei seinen

rotblonden Kopf. »Sie werden mit >Quilon< reden?«

»Das muß ich. Und mit Calvin. Und mit jedem, der Bescheid weiß - über was auch immer.«

»Und Sie erstellen Ihren Bericht erst zum Schluß - lediglich eine Zusammenfassung?«

»Ganz recht.«

»Dann dürfte es so wohl am besten sein. Obwohl es mir, bei Gott, ganz und gar nicht gefällt.«

Subble lächelte, aber nur nach außen hin. Er konnte sehen, daß Veg schwere Bedenken hatte, nicht allein aus persönlichen Gründen. Es lag Gefahr in der Luft, und Veg wußte es. Und diese Gefahr war persönlich und unmittelbar.

»Ich erkenne, daß Sie mir nicht mehr allzusehr gram sind«, stellte Subble fest. »Sie respektieren physische Fähigkeiten, so wie es viele starke Männer tun. Aber Sie fürchten, daß ich verletzt oder getötet werde, wenn ich zuviel herausfinde, und daß es dann ernsthaften Ärger geben wird. Ich erwähne das nur, damit Sie sich bewußt sind, daß ich es weiß. Und Sie haben recht. Ich fürchte den Tod zwar nicht, aber wenn ich sterbe, wird es eine gründliche, amtliche Untersuchung geben. Sie wissen, was das bedeutet.«

»Ja«, sagte Veg unglücklich.

Subble ging nicht weiter auf die Sache ein. Es war immer schwierig, das Vertrauen eines normalen Menschen zu gewinnen, aber es war stets erforderlich. Er glaubte daran, daß Offenheit am besten war, und kurz über lang würde Veg merken, daß er gut beraten war, wenn er dem Agenten wenigstens genug Informationen gab, um sein Leben zu bewahren.

»Wie kann ich helfen?«

»Nun.« Veg blickte sich um und suchte nach einem Vorwand, um das Unvermeidliche zu akzeptieren. »Ja, es gäbe da eine kleine Sache, die ich mir für eine besondere Gelegenheit aufbewahrt habe. Hier entlang.«

Er trottete den neugeschaffenen Pfad entlang, kreuzte einen anderen Weg und folgte ihm. Subble sah die Hufspuren und den Mist von Pferden, Tieren, denen man heutzutage nur selten begegnete, die in diesen geschützten Gebieten jedoch noch Verwendung fanden. Maschinen aller Art waren hier verbannt.

Man fällte die Bäume mit Handwerkszeugen und schleppte die Stämme mit tierischer Kraft weg. Jeder, der nichts für das rauhe Leben übrig hatte, wurde genötigt, schnell wieder zu gehen. Es gab viele Menschen und zu viele Maschinen in der Welt, und die verbliebenen Wildniszonen waren eifersüchtig bewachte Gegenden.

Veg entfernte sich von dem Pfad, zwängte sich durch die runden Blätter einer jungen Linde und das gezackte Blattwerk der Ahornbäume und sprang über eine uralte Steinmauer. Vor über einem Jahrhundert hatten die Menschen solche Mauern mit den Händen errichtet, indem sie die Gesteinsbrocken verwendeten, von denen sie ihre Felder befreit hatten. So eine Mauer hatte den Dichter Robert Frost inspiriert, über ihre Pflege zu schreiben, aber jetzt kümmerte sich niemand um diese Pflege.

Ein sitzendes Eichhörnchen ließ seine erbeutete Eichel fallen und huschte lautlos davon.

»Tut mir leid, Freund, ich habe dich nicht gesehen«, murmelte Veg, als der hübsch gestreifte Körper verschwand. Veg blieb unter einer riesigen, markierten Buche stehen und legte die Hände vor den Mund.

»Hallo, Jones!« brüllte er.

Nach ein paar Minuten erschienen zwei dunkle Männer und machten auf der anderen Seite des Baums halt.

»Was ist los, einsamer Freund?« erkundigte sich der eine mit offenkundigem Sarkasmus. Er war ein kräftiger Bursche, kleiner als Veg, aber sehr selbstsicher. Er trug die üblichen Jeans und ein kariertes Hemd und hatte einen schmalen, gepflegten Schnurrbart. Sein Begleiter sah ähnlich aus, hatte allerdings keinen Schnurrbart.

»Also«, sagte Veg. Er stemmte angriffslustig die Fäuste in die Hüften. »Erinnert ihr euch an den Grenzzwischenfall im letzten Monat?«

»Du meinst, als du versucht hast, auf unserem Territorium zu wildern?«

»Ich meine, als ihr den Grenzstein um sieben Meter verschoben und drei meiner besten Eschen und einen Ahorn für euch in Anspruch genommen habt.« Er machte eine Handbewegung, und Subble sah den Stein in einiger Entfernung.

»Wieder in Anspruch genommen, meinst du!«

»Und ich habe gesagt, daß ich zu gegebener Zeit darauf zurückkomme.« Die beiden Männer nickten grinsend.

»Nun, der Zeitpunkt ist gekommen«, sagte Veg.

Der Mann mit dem Schnurrbart trat näher. »Ist das dein Sekundant?« fragte er und blickte Subble geringschätzig an. »Ein Schleimer aus der Stadt?«

»Das ist mein Sekundant. Er heißt Subble.« Veg wandte sich an Subble. »Dies ist Hank Jones. Er und sein Bruder bewirtschaften das Nachbargrundstück - und auch einen Teil von meinem Grundstück!«

»Stadtlaffen!« sagte Jones. »Nun, ich nehme an, Grenzverletzer dürfen nicht wählerisch sein.« Er ließ einen linken Schwinger gegen Veg vom Stapel.

An Subbles Standard gemessen war es umständlich und plump, aber die Grundregeln waren simpel und eindeutig. Die beiden Männer traten hinaus auf die Lichtung jenseits des Baums, tauschten wilde Hiebe aus und verzichteten dabei fast völlig auf die Deckungsarbeit. Es schien darum zu gehen, den Gegner durch Schläge zur Aufgabe zu zwingen, ohne ihm irreparablen Schaden zuzufügen. Fäuste, Füße und Kopf wurden bedenkenlos eingesetzt, aber niemals Finger oder Zähne. Und Augen und Geschlechtsteile wurden in Ruhe gelassen. Jones' Bruder feuerte seine Partei mit wüsten Ratschlägen an, mischte sich jedoch nicht ein.

Veg nahm den ersten Schlag am Ohr und schüttelte ihn ab. Seine eigene Faust bohrte sich in Jones' Bauch und trieb den Mann zurück. Jones führte den Gegenangriff mit dem Kopf zuerst. Die Wucht war so groß, daß Veg zu Boden stürzte. Als er sich auf Hände und Knie aufrichtete, setzte Jones seinen Stiefel ein und stieß ihn wieder nach unten. Anschließend ließ er einen harten Tritt mit der Stiefelseite gegen die Schulter folgen. Einsatz von Fußspitzen und Stiefelsohlen war ebenfalls nicht erlaubt, stellte Subble fest.

Veg knurrte und sprang hoch. Abwechselnd flogen seine Fäuste wie Kolben heraus, schon bevor sie ihr Ziel trafen. Er trieb Jones gegen die Buche und hämmerte gnadenlos auf seine Mittelpartie ein, bis der Mann umkippte.

Jones' Bruder trat auf das Paar zu, und auch Subble setzte sich in Bewegung. Veg gehörte zu den Leuten, die sich auf sich selbst verließen, und er würde keinen »Sekundanten« akzeptiert haben, wenn er es nicht für erforderlich gehalten hätte.

Die Kämpfer lösten sich sprunghaft von dem Baum, schmutzig und verschwitzt, aber mit unverminderter Energie. Veg wich zurück, um seine Balance wiederzugewinnen, und Jones' Bruder stieß ihm einen Stock zwischen die Füße. Veg stolperte, und Jones war sofort über ihm.

Subble schritt über den Kampfplatz und blieb vor seinem Gegner stehen. »Freund, wenn du mitmachen willst, dann such dir deinen eigenen Gegner«, schlug er vor.

Der Mann runzelte die Stirn und holte aus. Die Attacke war unglaublich plump, aber Subble nahm den Schlag an der Schulter und antwortete mit einem einfachen Haken unter die Gürtellinie. Er brauchte seine besonderen Fähigkeiten hier nicht einzusetzen und zog es vor, sie nicht zu offenbaren. Offensichtlich waren diese Zusammenkünfte Familienangelegenheiten, an denen alle interessierten Parteien teilnahmen.

Aus einem Kampf waren zwei geworden, und die vier Männer waren nicht mehr allein. Subble, der nur zum Teil in seinem sogenannten Kampf engagiert war, beobachtete die anderen Holzfäller, als diese von allen Seiten aus dem Wald hervortraten, bis ein großer Kreis von heiteren Gesichtern die Kämpfer umgab.

Die Geräusche von außerplanmäßigen Aktivitäten drangen bis in eine größere Entfernung, wie es schien, und die Nachbarn verschwendeten keine Zeit, herbeizueilen.

»Wie ich es sehe, tragen Veg und Hank Jones ihre Meinungsverschiedenheiten aus«, erklärte ein Mann seinem Begleiter. »Ich vermute, daß der Fremde als Vegs Sekundant fungiert und es für angebracht hielt, Job Jones auf Distanz zu halten. Ein Mann aus der Stadt.«

»Ich halte es mit dem Fremden«, sagte der andere. »Nach Lage der Dinge erfüllt er seine Aufgabe.«

»Ja?« warf ein dritter ein. »Ich bin für Job.«

»Du hast auf einen Verlierer gesetzt, Sohn. Kein Jones kommt lange ohne seinen Bruder zurecht.«

Der dritte hob die Faust. »Was dich angeht, bin ich sein Bruder!« Und der dritte Kampf fing an. Auf die gleiche Weise wurde auch für die beiden neuen Gegner Partei ergriffen, und bald war ein viertes Gefecht im Gange.

Subble lachte innerlich. Er hatte recht gehabt: Kampf bereitete diesen rauhen Burschen genausoviel Vergnügen wie ihre Arbeit. Jeder Vorwand war ihnen recht. Sie konnten nicht ruhig danebenstehen, wenn die anderen Krieg führten. Sie mußten sich beteiligen. Aber es ging Mann gegen Mann, nicht Gruppe gegen Gruppe.

Er duckte einen Schwinger von Job Jones ab und schlug auf bewährte Weise zurück. Job torkelte gegen einen anderen Kämpfer und kam ihm ins Gehege, als der gerade mit der Faust Maß nahm.

»Tut mir leid«, murmelte Job.

»Vergiß es«, sagte der andere und fuhr mit seinen Bemühungen fort.

Der Ring war jetzt ziemlich voll und erinnerte an einen Ballsaal, der vor rastlosen Tänzern überquoll. Es war unmöglich zu sagen, auf welcher Seite jeder einzelne Mann stand, aber jedes Paar hielt sich für sich, und niemand schlug absichtlich nach jemand anderem als seinem gewählten Gegner. Wie beim Tanzen führte jedes Paar in dem Wirrwarr seine eigenen Figuren aus. Es schien sogar eine Musik dazu zu spielen.

Eine Hand fiel auf Subbles Schulter. »Sie haben genug getan«, sagte Veg heiter. »Setzen Sie sich etwas.«

Überrascht hörte Subble auf.

Job Jones ließ unverzüglich von ihm ab und ging auf die andere Seite zu seinem Bruder hinüber, während sich Veg hinhockte und das Getümmel betrachtete. Hank Jones spielte mit urwüchsigem Geschick auf einer Mundharmonika. Es gab also wirklich Musik!

Es dauerte nicht lange, dann gesellte sich der Mann, der Subbles Partei ergriffen hatte, zu ihnen, während sein Gegner neben den sitzenden Jones-Brüdern Platz nahm. Aus den Reihen der Unbeteiligten formten sich noch immer neue Kampfpaare, die man an ihrer sauberen Kleidung und dem Fehlen von Kampf spuren unterscheiden konnte. Neuankommende Zuschauer sorgten für ständige Ablösung. Die Männer trugen einen gemeinsamen Stempel von derber Selbstsicherheit und frischer Lebensart, was deutlich mit dem kontrastierte, das Subble als Stadtnorm kannte.

»Nicht genug Platz für alle gleichzeitig«, erklärte Veg.

Irgend jemand holte eine Gitarre hervor und klimperte mehr oder weniger im Gleichklang mit der Mundharmonika. Ein anderer Mann nahm einen Stock und schlug damit den Takt auf der zernarbten Buche.

Subble war erstaunt über das Ausmaß der Schlacht. Ein Dutzend Paare kämpfte auf der Lichtung, und noch mehr Männer verteilten sich in den Randzonen. Jemand hatte einen Wagen herbeigeholt, der mit einem riesigen Bierfaß beladen war. Holzbecher mit der schäumenden Flüssigkeit machten die Runde, zusammen mit Eimern, die Waldbeeren und dreieckige Bucheckern enthielten.

Subble ließ sich ein warmes Bier geben und nahm einen Schluck. Die Aktivität hatte ihn angenehm durstig gemacht, was, wie er sich klar wurde, zum Teil das Ziel der ganzen Sache war. Es handelte sich technisch gesehen um ein Malzgetränk. Aber da es selbstgebraut war, enthielt es ungefähr zwanzig Prozent Alkohol. Er lächelte. Die örtlichen Steuerbeamten hatten dieses Faß bestimmt nie zu Gesicht bekommen.

Veg bemerkte seine Reaktion. »Sie sind doch nicht deshalb hergekommen?« fragte er mit plötzlicher Betroffenheit.

Subble leerte seinen hochprozentigen Becher. »Sie wissen, daß dem nicht so ist.«

Die Schlacht verebbte, als sich die Bierdünste ausbreiteten. Die aktiven Teilnehmer verringerten sich auf zehn, dann auf acht, als sich die einzelnen Kampfpaare in durstige Zecher aufspalteten.

Die Reihen der Sitzenden bildeten einen Kreis fast um die ganze Lichtung. Die Männer unterhielten sich angeregt und schwangen ihre Becher.

Das Getümmel schmolz bis auf zwei, schließlich bis auf ein einziges Gefecht zusammen. Das Publikum sah jetzt sehr begierig zu und nahm nicht so sehr Anteil an dem einen oder an dem anderen Mann, sondern mehr an dem Kampf als solchem.

»Welcher von _ beiden ist unserer?« erkundigte sich Subble, der die Übersicht verloren hatte. »Oder spielt es keine Rolle mehr?«

»Es spielt eine Rolle«, sagte Veg. »Ich hoffe, es ist Buff. Er ist ein guter Mann.«

Buff war ein guter Mann, und nach einer Weile sprach man ihm den Sieg zu. Die letzten beiden griffen nach Bechern und tranken sie keuchend aus, während sie sich auf den Boden sinken ließen. Die Musik endete mit einem Tusch, und erwartungsvolles Schweigen breitete sich aus.

»Jetzt fängt der Spaß an«, murmelte Veg. Dann laut: »Dieses Zusammentreffen hat den Zweck, meine Grenzstreitigkeiten mit den Jones-Jungs zu bereinigen. Für wen bist du eingetreten, Buff, du schiefohriger Bastard?«

»Nicht für dich, Rübenkopf«, rief Buff zurück. »Ich war für Zebra.«

»Warst du für mich, du Vieh?« brüllte Hank Jones als nächster.

»Nee, Schnauzer«, sagte Zebra. »Ich war für Kenson.«

Und so ging es weiter. Abwechselnd forderten Veg und Jones jedes einzelne Glied der Siegerkette heraus, wobei sie bei jedem Schritt launige Beschimpfungen austauschten, während sich das Faß gurgelnd in die schäumenden Gefäße entleerte und Bucheckernschalen den Boden bedeckten. Lange bevor die Reihe durch war, war sich Subble über das Ergebnis im klaren, aber er enthielt sich eines Kommentars.

»Ich war für diesen geckenhaften Fremden hier«, verkündete der Mann, der für Subble eingetreten war, und rülpste.

»Und wer, zur Hölle, war dein Mann, du Stadtflüchtling?« brüllte Veg zum Verständnis derjenigen, die sich zu spät eingeschaltet hatten, um Bescheid zu wissen.

»Du warst es«, rief Subble.

Ein Begeisterungssturm für den Sieger brach los.

In wenigen Augenblicken hatte eine Gruppe bärenstarker Männer den Grenzstein in die Position gebracht, die Veg anzeigte, und ein spontan gebildeter Chor sang mehrere Verse des Eisernen Holzfällers.

Ich sehe, du bist ein Holzfäller Und keine gewöhnliche Pflaume.

Denn kein anderer als ein Holzfäller Rührt seinen Kaffee mit dem Daumen.

Wie es schien, hatte Jones keine Lust mehr, auf seinem Instrument zu spielen, aber er kam zum Händeschütteln herüber. »Ich hätte diese Bäume ohnehin nicht gefällt«, sagte er.

Die Menge löste sich auf. Die Männer kehrten auf ihre eigenen Grundstücke zurück, glücklich über die Unterbrechung. Der Schankmeister lud seine Sachen auf und rumpelte den Pfad hinunter. Subble fragte sich, wer für die Kosten der Erfrischung aufkam, und gelangte zu der Ansicht, daß es sich vermutlich um eine ständige Einrichtung handelte. Statt Bäume zu fällen, braute er vielleicht, bekam aber vom Sägewerk trotzdem seinen Anteil. Wie auch immer, das System schien reibungslos zu funktionieren.

Subble gab unverbindliche Redensarten von sich, aber ganz plötzlich war seine Aufmerksamkeit woanders. Am Rande des Geschehens hatte etwas Tödliches Beobachtungsposten bezogen, etwas, das nicht mehr war als ein dunkler Schatten hinter Bäumen. Er brachte seine trainierten Sinne in die richtige Richtung und registrierte ein momentanes Flimmern, die Andeutung einer Bewegung, ein unterdrücktes Pfeifen. Ein Wolf mochte so auf die Feuer der Frühmenschen gestarrt haben, darauf wartend, daß die Flammen erloschen, darauf wartend, daß der Schlaf kam.

»Sie haben sich gut geschlagen«, sagte Veg, und der Schatten war verschwunden.

Subble schnüffelte, aber er registrierte nur die verrottenden Blätter und die emporsprießenden Pilze des Waldbodens. Er hatte es verloren.

Sie trotteten zum ursprünglichen Arbeitsplatz zurück. Der Wald war so leer wie zuvor, obwohl Subble wußte, daß sich noch viele Männer innerhalb einer Meile aufhielten. Bald würden die entfernten Geräusche ihrer Arbeit wieder aufklingen.

Vegs Zunge hatte sich durch mehrere Becher des Gebräus gelöst. »Sie begreifen schnell, und Sie kämpfen fair, wenn Sie einmal dabei sind. Was halten Sie von unserer Truppe?«

»Es ist eine feine Truppe. Ich wünschte, es wäre möglich.«

»Sub, kommen Sie mir nicht wieder mit der Reserviertheit eines Regierungsagenten. Wir haben gemeinsam eine Schlacht geschlagen, und wir haben gewonnen!« Aber es war Vegs eigene Reserviertheit, die sich aufgelöst hatte.

Eine Schlacht: Fäuste und Trinken und ein Symbol der Freundschaft. Warum war es so, daß sich die Menschen oft erst dann respektieren konnten, wenn sie ihre Kräfte im Kampf gemessen hatten? Hier war es rein physisch. Aber auch in den komplizierteren, weniger offenen Zusammentreffen, bei Männern und bei Frauen, ging es kontinuierlich weiter. Menschen und Tiere maßen sich miteinander, bevor sie etwas von sich abgaben, und wenn sie dabei nicht gleich eine Hackordnung errichteten, dann doch wenigstens eine gewisse Rangfolge. War dies ein fundamentales Charakteristikum des Lebens?

Subble bedauerte, daß er nicht die Freiheit hatte, diese These gründlich zu untersuchen. Agenten waren Männer der Tat, nicht der Gedanken, wo auch immer ihre Neigungen liegen mochten.

»Nun, ich habe wenig Beziehungen dazu«, sagte er zu Veg. »Mein Werdegang ist nicht wie der Ihre. Ich habe niemals an einer solchen. Schlacht teilgenommen. Ich bin konventioneller aufgewachsen.«

Veg holte eine zusammenklappbare Säge aus einem hohlen Baumstamm.

»Ich bin nicht der Klügste, aber ich weiß, daß Ihre Erziehung nicht konventionell war«, sagte er. Er ging hinüber zu einem Stapel entrindeter Fichtenstämme. »Packen Sie ein Ende, und dann können wir uns näher kennenlernen.«

Subble nahm den hingehaltenen Griff und stimmte sich auf den Rhythmus des Sägens ein. Er wußte, daß es auf das Ziehen, nicht auf das Schieben ankam, und daß man keinen Druck anwenden durfte. Das Eigengewicht der Säge führte sie ganz von selbst durch das Holz. Die Zähne waren scharf und standen sich schräg gegenüber, so daß die Schnitte breiter waren als die Dicke des Sägeblatts. Das Schärfen würde ein mühsames Unterfangen sein, aber die Säge arbeitete hier ganz hervorragend.

Was er nicht gewußt hatte, war die Bedeutung einer ausbalancierten, bequemen Position, die den Blutkreislauf der Beine sicherte und den Armen und dem Oberkörper genug Bewegungsfreiheit gestattete. Er machte es nicht korrekt, und obwohl er nicht ermüdete, wußte er, daß ein normaler Mann auf diese Weise sehr schnell erschöpft sein würde.

Veg hatte die Stämme mit Markierungen von je einem guten Meter Länge versehen, und jedesmal wenn ein Stück abgetrennt war, knöpfte er sich die nächste Markierung vor und begann von neuem.

»Nehmen Sie mich«, sagte er, während er ohne erkennbare Anstrengung an seinem Ende zog.

»Die Leute halten mich für einen durchschnittlichen, unwichtigen Komiker, der kein Fleisch essen will, und

das ist auch okay. Aber es gibt Dinge, die ich.«

Er machte eine Pause, und Subble wußte, daß ihm beinahe etwas über die Bedrohung entschlüpft wäre, die ihr geheimnisvolles Auge auf die Schlacht gerichtet hatte. Mit Sicherheit wußte er davon, und die Sache war definitiv für Subbles Mission von Bedeutung. Aber Veg war noch nicht bereit, darüber zu sprechen.

Sie sägten eine ganze Weile weiter. Subble kopierte Vegs Haltung, und schließlich hatte er den Bogen raus. Die Bewegungen waren entspannend und erinnerten vage an den ständigen Wellenschlag an einem einsamen Strand. Sie gaben dem Verstand Gelegenheit zur inneren Sammlung. Ströme von süß riechenden Sägespänen flossen über seine Füße und in seine Socken und erteilten ihm eine weitere Lektion in waldgerechter Kleidung. Die Späne, die sich auf seinen Fußspitzen festsetzten, hatten eine längliche Form, waren wie kleine Würmer und entsprachen nicht dem Sägemehl, das er erwartet hatte. Ihre Beschaffenheit hing wohl von der Natur und der Härte des Holzes ab, dachte er.

»Also, warum ich kein Fleisch esse«, sagte Veg anstelle dessen, was er eigentlich vorgehabt hatte. »Es ist schon okay, darüber zu reden, wie überbevölkert die Welt ist, daß es nicht genug Platz zum Leben gibt, daß nicht genug Nahrung vorhanden ist, daß alle verrückt werden, weil sie keinen Raum haben, wo sie mal richtig losbrüllen können. So erzählt man mir, daß ich von all dem eine Neurose bekomme, und daß ich mir deshalb das Leben etwas schwerer machen muß. Glauben Sie das?«

»Nein«, sagte Subble, der die richtige Antwort auf die zweideutige Frage spürte. Veg versuchte, mit den Problemen ins reine zu kommen, die die Frustration des territorialen Imperativs aufgab, obwohl er augenscheinlich mit den Bedingungen nicht vertraut war. Jede Kreatur suchte sich ihr eigenes Territorium, das sich von dem anderen Vertreter der jeweiligen Spezies unterschied. Vögel sangen, zum Teil jedenfalls, um durch die Töne die Grenzen ihrer Domäne, ihres Jagdgebietes, abzustecken, und die Menschen liebten es, ihr Heim als ihre Burg zu bezeichnen. Der Wettbewerb, an dem er gerade teilgenommen hatte, war eine ziemlich handgreifliche Manifestation dieses Bedürfnisses gewesen. Es war wichtig für Veg, genau zu wissen, wo seine Grenzen verliefen, und das obwohl das Land ihm nur insoweit gehörte, als begrenzte Schnittrechte eingeräumt waren. Die erfolgreiche Verteidigung dieser Grenzen gab ihm eine fundamentale Befriedigung. Er hatte für sein Territorium gekämpft und gewonnen. Neurotisch? Kaum. Es war eine Rückkehr zur Normalität.

»Sie haben verdammt recht, nein. Diese verrückten Psychiater haben niemals ihren kleinen Zeh in den Wald gesetzt. Sie haben niemals den Planeten verlassen. Und warum.«

Abermals diese Pause. Veg tastete sich an den Kern heran und machte dann wieder einen Rückzieher.

»Sie sind ein Vegetarier, und das ist möglicherweise einer der Gründe dafür, daß man mich hergeschickt hat«, sagte Subble, um ihm zu helfen. »Aber Sie sehen sich nicht in der Lage, mir etwas über den Zusammenhang zu erzählen.«

»Ja.«

Sie sägten eine Weile schweigend weiter. Ein kleiner Wurm kletterte auf Subbles Schuh. Er kämpfte, um sich auf den unsicheren Sägespänen zurechtzufinden, und erstarrte, als er sich beobachtet glaubte. Alle Kreaturen hatten ihre Probleme und ihre Ängste, dachte Subble. Ein Wurm schützte sich durch Bewegungslosigkeit, ein Mensch durch Schweigen.

Veg versuchte es wiederum. »Sagen Sie mir, ob Sie jemals so etwas gehört haben. Vielleicht ergibt es für Sie einen Sinn. Als ich ein kleiner Junge war, hat mein Bruder. Nun, er war ein guter Junge. Jeder mochte ihn. Ich mochte ihn. Wir kämpften manchmal gegeneinander, aber es gab nie echten Ärger, will ich sagen. Ich hatte die Muskeln, und er hatte den Grips, so fühlten wir uns nicht eingeengt. Wir machten alles gemeinsam, aber ich wußte, daß er derjenige war, der es zu etwas bringen würde. Auf lange Sicht, verstehen Sie, wegen seines Verstands. Mir machte es nichts aus. Er war der Richtige dafür. Dann wurde er krank. Er war im Krankenhaus, aber er sah ganz okay aus. Ich besuchte ihn da, und er sagte, daß er sich gut fühlte, und sie erzählten ihm, daß er bald wieder in die Schule gehen könnte. Ich glaube, das war das einzige Mal, daß ich ein bißchen eifersüchtig auf ihn war. Er konnte den ganzen Tag herumliegen, während ich mich mit dem langweiligen Unterricht herumplagen mußte. Dann starb er. Ein Lehrer kam eines Tages zu mir und erzählte mir, daß er den Weg gegangen war, vom dem sie immer gewußt hatten, daß er ihn gehen würde. Fast vom ersten Tag an hatten sie es gewußt. Sie hatten es nur ihm und seinen Freunden und mir nicht gesagt. Krebs! Und alle diese Ärzte hatten gelogen und uns erzählt, daß es ihm immer besser ging, obwohl er im Sterben lag. Sie und ihr heuchlerischer Eid!

Ich glaubte es zuerst gar nicht. Ich träumte, daß er noch immer da war und daß er nur ein Bein oder so was gebrochen hatte, und daß sie es alle für sehr schlimm hielten, aber am Schluß doch wieder alles in Ordnung käme, verstehen Sie? Ich glaube, ich brauchte ein paar Jahre, um zu begreifen, daß er wirklich gegangen war, tief in meinem Innersten. Und es traf mich schwer. Ich meine, hier war also mein Bruder, ein guter Junge, gegen den niemand etwas hatte, aber er starb.

Und ich wurde mir klar darüber, daß, wenn es diesen Gott gegeben hätte - ich glaube nicht an Gott -, diesen Burschen, der nach unten blickt und sagt: >einer von diesen zwei Jungs muß gehen, es ist nicht genug Platz für beide da<, und er eine Wahl hätte treffen müssen, dann.

Verstehen Sie, ich war derjenige, den er hätte nehmen müssen, weil ich der Welt ohnehin nicht viel zu geben hatte. Man muß das Schaf retten und den Bock entfernen oder so, und er war das Schaf. Aber dieser Gott nahm den Falschen. Und da war dieses Schicksal, dieses gute Leben, das für meinen Bruder bestimmt war - und der falsche Junge, um es auszufüllen. Ich lebte sein Leben, und es war alles falsch, alles falsch.

Aber dann dachte ich, daß der Fehler nun einmal gemacht war, und es zu spät war, ihn zu korrigieren, und daß doch nicht alles verloren sein würde, wenn ich so viel davon rettete, wie ich nur konnte. Was ich zu tun hatte, war. Nun, ich mußte etwas in der Weise daraus machen, wie er es wohl gemacht hätte, verstehen Sie? Ich mußte beweisen, daß es vielleicht doch kein großer Fehler war, sondern nur ein kleiner, und daß sich letzten Endes doch nicht so viel geändert hatte.«

Schweigend zersägten sie ein weiteres Stück. Der kleine Wurm hatte den Schuh aufgegeben und war in dem zertretenen Blattwerk darunter verschwunden, und die Sägespäne türmten sich gewaltig auf - acht oder zehn Zentimeter hoch. Eine emsige Fliege hatte sich darauf niedergelassen und genoß vielleicht ihre Frische. Die Szene verdunkelte sich alarmierend, hellte sich dann wieder auf, als eine unbeobachtete Wolke den Weg der Sonne kreuzte. Es war erstaunlich, wie fesselnd der Mikrokosmos wurde, wenn man sich ein bißchen darauf konzentrierte.

»Gibt irgend etwas davon in Ihren Augen einen Sinn?« fragte Veg nach einer Weile.

»Zuviel Sinn«, sagte Subble, während er einen persönlichen Schmerz spürte, der ihn überraschte.

»Aber zu wissen, wie er starb, tut noch immer weh«, sagte Veg ermutigt.

Wie oft fürchteten sich die Leute davor, ihre wahren Gefühle auszudrücken. Sie hatten Angst, sich lächerlich zu machen, und stellten deshalb künstliche Gefühle zur Schau. Veg war betroffen, weil er die Maske heruntergelassen und das Künstliche abgelegt hatte, aber jetzt war alles in Ordnung.

»Ich habe darüber nachgedacht, und wenn es etwas gibt, dessen ich mir sicher bin, dann ist es die Erkenntnis, daß ein Tod wie dieser falsch ist. Es ist mir egal, was sie über Statistiken und Lebenserwartung sagen - so viele Jungs hätten sterben können, und ausgerechnet er mußte es sein. Dann aber erkannte ich, daß auch diese anderen Jungs die Brüder von irgend jemandem waren, verstehen Sie? Und wenn ich sie gekannt hätte, wüßte ich vermutlich auch für sie einen Grund, aus dem sie weiterleben sollten. Es war nicht richtig, den Bruder von irgend jemandem zu töten. Und dann dachte ich über die Tiere nach. Und als ich damit fertig war, tötete ich nichts mehr, was sich bewegte, und gestattete auch nicht, daß es ein anderer für mich tat. Es ist so, als ob dieses Fleisch sein Fleisch wäre.«

»Aber Sie sind bereit, zu kämpfen«, stellte Subble fest.

»Ja. Ich habe niemals diese pazifistischen Typen verstanden, die Gewaltlosigkeit predigen und gegen den Krieg demonstrieren und dann nach Hause gehen, um ein großes, saftiges Steak zu verzehren. Ein Mensch kann sich wenigstens wehren. Ein Schlag gegen das Kinn verletzt ihn nicht, aber.«

Subble bewegte sich so schnell, daß Veg, der ihm ins Gesicht sah, die letzten Worte sprach und seinen Satz beendete, bevor er sich bewußt wurde, daß er allein war.

»Wa.«

Aber Subble kam schon zurück, um weiterzusagen - enttäuscht. Die Bedrohung am Waldesrand hatte sich noch schneller bewegt, was die Sache nur mysteriöser machte. Wenige belebte Dinge auf der Erde konnten einem Agenten entkommen, der sich in Bewegung gesetzt hatte.

»Was für eine Art Mensch sind Sie?« fragte Veg irgendwie kriegerisch. »Sie waren wie der Blitz.«

»Ich war hinter diesem Ding her. Es belauert uns schon den ganzen Nachmittag. Ich bin mir ziemlich sicher, daß man mich deswegen hergeschickt hat.«

»Sie haben es gesehen?« Veg stellte sich nicht unwissend, obwohl das für Subble keinen großen Unterschied gemacht hätte.

»Nur einen Schimmer. Gerade genug, um mir zu verraten, daß es ein Tier ist, ein fremdes. Sie haben da gefährliches Spielzeug, Veg.«

»Ja.« Der große Mann schien fast erleichtert zu sein, etwas dazu sagen zu können. »Aber es ist nicht das, was Sie denken. Ich weiß nicht, was Sie denken, aber das ist es nicht.«

»Ich habe keine Meinung. Ich bin hergeschickt worden, um Informationen über eine Angelegenheit zu sammeln, die bedeutsam für die Sicherheit der Erde ist. Ich fälle kein Urteil und komme zu keiner endgültigen Entscheidung. Wenn ich Ihnen sage, daß dieses Ding gefährlich ist, dann ist das keine Meinung, sondern eine Feststellung. Es reagierte schneller als ich.«

Vegs Augenbrauen zogen sich zusammen. »Nur weil Sie es nicht gekriegt haben, ist es eine Bedrohung für die Welt?«

»Ich bin ein sehr schneller Mann, Veg. Meine Fähigkeiten sind eine Bedrohung für jede normale Gemeinschaft, wenn sie nicht vollständig unter Kontrolle sind.«

Veg war ihm jetzt wieder feindlich gesinnt. »Warum sollte ich Ihnen also überhaupt vertrauen?«

»Es ist keine Frage des Vertrauens. Sie müssen mich so nehmen, wie ich bin, und entsprechend Ihre Entscheidungen treffen.«

»Okay. Sagen Sie mir, was Sie sind.«

»Ich gehöre zu einer speziellen Sorte von Regierungsagenten. Ich muß Ihnen etwas über die Hintergründe erzählen.«

»Erzählen Sie.«

»Dieser Kontinent ist im Vergleich zu einigen anderen verhältnismäßig dünn besiedelt, aber seine ökonomischen und politischen Organisationsformen sind dennoch enorm kompliziert. Jedes kleine Rädchen wirkt außerordentlich auf das Ganze.« Subble erkannte, daß Veg ihm nicht folgen konnte, und ging die Sache anders an. »Nehmen wir das Verbrechen. Wenn ein Mann aus dem Wald seinen Nachbarn umbringt, um an seine Schnittrechte zu kommen, werden die anderen Holzfäller sehr schnell ahnen, wer es getan hat, oder?«

»Ja. Es gibt hier nicht allzu viele Geheimnisse.«

»Das ist die >Isolierte-Gemeinschaft-Methode<. Jeder kennt jeden, und die Gruppe wird mit jeder Schwierigkeit fertig. Aber nehmen wir einmal an, ich würde hier jemanden töten und mit meinem Flieger nach Hause zurückkehren, bevor irgend jemand etwas davon merkt.«

»Schätze, wir müßten es dem Sheriff melden. Aber er hätte es ziemlich schwer.«

»Genau. Ein Verbrechen ist nicht mehr einfach aufzuklären, wenn viele Gemeinschaften betroffen sind, die miteinander in Beziehung stehen, und es viele gegensätzliche Interessen gibt. Die Beurteilung der Situation durch Ihren Sheriff würde wertlos sein, wenn es darum geht, mich dingfest zu machen, denn er weiß nichts von mir und meinen Motiven. Ich könnte in Appalachia in irgendein Körperkosmetikgeschäft gehen, um meine Gesichtszüge zu modifizieren, mein Haar umzustilisieren und zu färben, meine Körperform durch Stützgurte und Injektionen zu verändern - in einer halben Stunde würde ich für Sie nicht mehr wiederzuerkennen sein. Selbst wenn der Sheriff genaue Kenntnis von meiner Identität hätte - was vermutlich nicht der Fall wäre -, würde bis zu meiner Ergreifung so viel Zeit vergehen, daß mein Rechtsanwalt sich um die Beweismittel gegen mich kümmern könnte. Und glauben Sie mir, die Veränderungen, die ein Körperkosmetikinstitut an meinem physischen Erscheinungsbild vornehmen könnte, sind nichts im Vergleich zu dem, was ein Anwalt an meinem rechtlichen Erscheinungsbild tun könnte.«

»Sie wollen mir erzählen, daß sie mit einem Mord durchkämen?«

»Ja. In der komplexen Welt von heute kann es beinahe jeder - wenn er weiß, wie. Er muß lediglich vermeiden, in den paar Stunden entdeckt und verhaftet zu werden, die er braucht, um seine Spuren zu verwischen

- im rechtlichen Sinne -, und das Unterfangen, ihn der Gerechtigkeit auszuliefern, wird so kompliziert und teuer, daß es die Anstrengung nicht wert ist.«

Veg schüttelte den Kopf. »Ich bin nur ein einfacher Junge vom Land. Ich glaube Ihnen, daß es in der großen Stadt rauh zugeht. Aber was hat das mit den Gründen zu tun, aus denen Sie hier sind?«

»Fraglos dürfen wir Mörder nicht davonkommen lassen - und auch keine anderen Kriminellen. Aber das ist nur ein Teil des Problems. Was wir brauchen, ist eine sorgfältig geschulte und disziplinierte Streitmacht von Agenten, die die meisten Fälle so schnell aufklären können, daß Komplikationen gar nicht erst entstehen. Männer, die man in Augenblicksschnelle alarmieren kann und die unverzüglich eingreifen. Männer, die den Verstand und die Muskeln haben, ganz allein zurechtzukommen, aber auch die Disziplin, um übermenschlich fair zu sein. Männer, deren Berichte so ähnlich sind, daß der Zentralcomputer sie in wechselseitige Beziehung bringen kann, ohne vorher irgendwelche individuellen falschen Ansichten oder Vorurteile berichtigen zu müssen.«

Veg runzelte abermals die Stirn. »Sie haben immer noch nicht meine Frage beantwortet.«

Subble antwortete mit einem Lächeln. »Ich bin fast da. Sie würden bei Ihrem Streit mit Jones nicht zulassen, daß Jones' Bruder einen Schiedsspruch fällt, oder?«

»Nein, zum Teufel! Er würde.«

»Sie verstehen also, was ich mit Vorurteilen meine. Die Schwierigkeit ist, daß jede Person auf dieser Welt in irgendeiner Weise Vorurteile hat, selbst wenn sie das gar nicht will. Aber wenn Tausende von Berichten von Tausenden von Agenten über Tausende von einzigartigen Situationen in jeder Stunde übermittelt werden, dann sind Vorurteile ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Der Computer muß sicher sein, daß ihm der Fall akkurat präsentiert wird, oder der Bericht ist wertlos. Aber er kann nicht einen Haufen von identischen Robotern losschicken.«

»Sie sind ein Mensch?« wollte Veg wissen.

»Ich bin ein Mensch, aber kein gewöhnlicher. Das heißt, nicht gewöhnlich im üblichen Sinn.«

»Hören Sie auf, um den heißen Brei herumzuschleichen, und sagen Sie es mir!«

»Ich bin ein ausgeschlachtetes menschliches Chassis, das man nach Computererfordernissen wieder zusammengesetzt hat - körperlich und geistig.«

»Ein Androide!«

»Nein. Ich bin ein Mensch, mit den Erinnerungen und den Gefühlen eines Menschen. Ich bin geboren und aufgezogen worden genauso wie Sie, und ich bin sicher, daß ich meine eigenen Probleme und Erfolge hatte. Aber die Vergangenheit, die ich jetzt habe, ist auf den Körper aufgepfropft worden.«

Veg kämpfte mit der Vorstellung. »Sie meinen, Sie sind nicht wirklich? Sie können nicht.«

»Ich bin wirklich, aber nicht so, wie ich geboren wurde. Was auch immer ich war, ist weggeschnitten und durch das vollkommene Gerüst des idealen Agenten ersetzt worden. Meine Erinnerungen - jede einzelne sind seine Erinnerungen, und meine Fähigkeiten sind seine Fähigkeiten. Es gibt Tausende wie mich, Männer und Frauen.«

»So daß Ihr Bericht genauso aussehen wird, wie der von jemand anderem?«

»Mehr oder weniger. Es ist nicht bloß eine Frage der Standardisierung, sondern der Konformität bis zu den höchsten Ansprüchen. Ich kann Dinge tun, die meine ursprüngliche Verkörperung niemals hätte erreichen können.«

»Sich so schnell zu bewegen wie der Blitz beispielsweise«, stimmte ihm Veg zu. Dann, nach einem Augenblick: »Ich glaube, ich weiß jetzt, warum Sie verstanden haben, daß ich das Leben meines Bruders ausfülle. Sie tun dasselbe. Sie sind eine weitere Schlingöse, die man aus einem Kanthaken gemacht hat - nur daß Sie noch nicht einmal wissen, was Sie sein werden.«

Subble beschloß, nicht nachzufragen, was der Unterschied zwischen einer Schlingöse und einem Kanthaken war.

Sie waren fertig mit dem Sägen.

Veg richtete sich auf und streckte seine verkrampften Beine. »Sub, ich glaube, ich weiß jetzt alles über Sie, was ich wissen will. Ich werde Ihnen so viel erzählen, wie ich kann, aber ich kann Ihnen nicht alles sagen. Ich meine, ich weiß mehr, aber.«

»Aber da wäre Aquilon. Ich verstehe schon.«

»Ja. Quilon und Cal und alles übrige. Und wenn ich aufhöre, dann stellen Sie keine weiteren Fragen mehr. Sie machen, daß Sie wegkommen, und ich werde Sie nie wiedersehen, okay? Und Sie schnüffeln auch nicht hinter dem her, was sich hier im Wald befindet.«

»Einverstanden«, sagte Subble.

Das Unbehagen, das normale Menschen in seiner Gegenwart verspürten, war für ihn Gewohnheitssache und störte ihn nicht. Vielleicht rührte ein Teil dieser Antipathie von der Tatsache her, daß Agenten nur Leute befragten, die etwas zu verbergen hatten. Veg hatte zugestimmt, bis zu einem gewissen Grad mit ihm zu kooperieren, mehr war nicht erforderlich.

Als Veg redete, vergaß Subble die simple Art des Mannes und seine umständliche Sprechweise und nahm die Episode in sich auf, als hätte er sie selbst erlebt. Er versetzte sich in Gedanken auf einen fernen Kolonialplaneten, betrachtete eine Szenerie, die ganz anders war als auf der Erde, atmete durch einen Nasenfilter und sah sich an der Seite einer reizenden, aber ernst blickenden Frau.

»Nicht lächeln, Quilon«, sagte der große Mann, während er die Unterarme auf die Kontrollinstrumente stützte.

Das Mädchen neben ihm führte beide Hände mit einer natürlichen, anmutigen Bewegung zu den Lippen, als ob sie prüfen wolle, daß ihre Gesichtszüge sie nicht verrieten.

»Quilon«, fuhr Veg fort, »du weißt, daß du in Sommershorts wunderschön aussiehst. Es wäre eine Schande, wenn du diesen Eindruck jetzt durch ein Lächeln ruinierst.«

Ohne zu lächeln beugte sich Aquilon vor und lehnte ihre Stirn gegen seine muskulöse Schulter.

»Nicht«, bat sie leise.

Veg starrte geradeaus. Er wurde sich bewußt, daß er sie verletzt hatte, aber er wußte nicht, warum. Tatsächlich bewunderte er Aquilons Ernsthaftigkeit. Sie verlieh ihren Zügen eine klassische Schönheit, die nur wenige lebende Frauen besaßen.

Er hatte viele lächelnde Frauen gekannt und keine von ihnen respektiert. Sie pflegten in der Nähe des Raumhafens herumzuhängen, scharf auf sein Geld und seine Muskeln und vor allem auf seine außergewöhnliche Profession: Raumfahrer. Die älteren von ihnen waren kompetent - und teuer - und nicht immer vertrauenswürdig. Die Teenies legten eine Bereitwilligkeit wie junge Hunde an den Tag und waren ganz wild darauf, ihn Sachen zu fragen, die aufregend sein mußten. Allzuoft nahmen sie die prosaische Wahrheit dann als verschleierte Kritik an ihrem fraulichen Wert.

Er war kein philosophisch veranlagter Mann, abgesehen von einem Gebiet, das er für sich behielt. Er wollte wenig mehr als körperliches Vergnügen und mitfühlende Gesellschaft, aber die Umstände hatten ihm Zynismus aufgezwungen. Er war unzufrieden, und als er den Gründen dafür nachging, hatte er festgestellt, daß dem so war, weil man in ihm nicht den Menschen sah. Die willigen Frauen des Raumhafens waren erpicht auf Neuigkeiten aus dem Weltraum und suchten dessen Nähe, aber sie waren nicht erpicht darauf, selbst Weltreisen zu unternehmen. Sie hatten wenig Interesse an den persönlichen Bedürfnissen und Gefühlen des Mannes in der Uniform. Sie bezahlten mit Sex und glaubten, daß das genug war. Es stimmte, daß er Sex brauchte, aber das war nur die körperliche Seite der Medaille. Sex dauerte Minuten. Was war mit den Stunden, die übrigblieben?

Aquilon war anders. Zuerst einmal war sie selbst in den Weltraum gegangen, und das war ein eindeutiges Zeichen von Entschlossenheit, Fähigkeit und Mut. Zweitens war sie jung und von erstaunlicher Schönheit - todsichere Voraussetzungen, um im Weltraum in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten. Sie ermutigte keinen Mann, aber sie brauchte einen, wenn auch nur, um vor anderen Männern geschützt zu sein.

Sie war zu Cal gekommen.

Wenn diese Wahl lächerlich erschien, so wurde doch schnell erkennbar, daß dem keineswegs so war. Cal hatte keine Absichten auf sie und wußte viele Dinge.

Sie konnte mit ihm reden, ohne Zuneigung zeigen oder auf der Hut sein zu müssen, und sie konnte ihn berühren, ohne gezwungenermaßen daran erinnert zu werden, daß sie eine Frau und er ein Mann war. Sie konnte sicher in seiner Kabine schlafen, denn er drängte sich in keiner Weise einem anderen Menschen auf. Ja, sie bediente ihn, indem sie ihm Bücher aus der Schiffsbibliothek brachte, seine Koje machte, seine Instrumente reinigte und ihm bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Uniformen im Weltraum getragen wurden, seinen Rock zuknöpfte. Cal war nicht immer kräftig genug, diese Dinge selbst zu tun.

Aber niemand mischte sich ein. Zuerst hatte es etwas Unruhe gegeben, aber Veg hatte mit den betreffenden Männern gesprochen, und es hatte sich gelegt.

»Wie bei Ferrovius und dem römischen Höfling«, hatte Cal weise bemerkt.

Veg hatte es nicht verstanden, und so hatte es der kleine Mann erklärt: »Ferrovius war eine Person in Shaws Schauspiel Androklus und der Löwe. Er war so ähnlich ausgedacht wie du, Veg, und ich glaube, auch im Temperament ließen sich gute Vergleiche ziehen. Er war ein früher Christ, damals als ein solcher Glaube noch nicht in Mode war, und hatte sich der Gewaltlosigkeit verschrieben. Als ihn der Römer auf die Wange schlug, hielt er ihm ehrerbietig die andere hin. Dann aber schlug er vor, daß der Römer etwas Ähnliches machen solle.

>Ich saß die ganze Nacht mit diesem Jüngling zusammen und kämpfte um seine Seele<, erzählt er uns. >Und am Morgen war er nicht nur ein Christ, sondern sein Haar war so weiß wie Schnee.<

Danach hatte Veg, der sich nur wenig für Literatur interessierte, die Mühe auf sich genommen, das ganze Schauspiel zu lesen, und er hatte dabei festgestellt, daß der irische Dramatiker wie er selbst Vegetarier war. Der Kosmos war klein.

In jedem Fall hatte Veg der übrigen Schiffsbesatzung klargemacht, daß Cal sein Freund war. Als Aquilon auf den Plan trat, wurde sie Cals zweiter Freund. So einfach war das. Was sie aufregte, regte auch Cal auf. Und das wiederum machte Veg unruhig und verursachte ferrovianische Pazifismusübungen.

Die Beziehung zwischen Veg und Aquilon war etwas kühler. Sie war absolut höflich, und es gab harmlose Neckereien, wie das gerade der Fall gewesen war. Aber sie begriffen einander nicht so ganz, wie ihm der jüngste Dialog soeben wieder bewußt gemacht hatte.

Sie berührte seinen gespannten Bizeps. »Tut mir leid, Veg. Es war mein Fehler.«

»Na ja«, sagte er grinsend.

Plötzlich strahlte seine Welt, obgleich man das von dem, was er sah, nicht sagen konnte. Er steuerte den Traktor um einen der riesigen Pilze herum und rümpfte die Nase, als er sich einbildete, den feuchten Geruch wahrzunehmen. Er starrte durch die Frontscheibe und versuchte, den Dunst zu durchdringen, der den Planeten Nacre einhüllte. Die Ebene vor ihnen verlor sich in der Dunkelheit. Im Vordergrund waren nur die massiven Pilzgewächse zu erkennen, die wie Ballons aus dem fruchtbaren Staub emporwuchsen.

»Sind wir in der Nähe der Berge?« fragte Aquilon, während ihre schlanken Finger mit einem kleinen, aber ziemlich eigenartigen Malerpinsel spielten. Veg grunzte.

Der Traktor beschleunigte und wuchtete sich durch die Atmosphäre. Der Wind peitschte in das offene Cockpit und ließ Aquilons Haar wie kurze blonde Fähnchen erscheinen. Sie blickte geradeaus, tief durch die verborgenen Nasenfilter einatmend. Sie lächelte nicht.

Veg fuhr langsamer, als die Hügelkette auftauchte. Nacre war niemals kartografisch erfaßt worden, vor allem weil es keine rationelle Methode gab, dies zu tun, aber an dem Problem wurde jetzt gearbeitet, und ihm machte die Erforschung Spaß. Der Fuß der Berge trat deutlich hervor, während die Spitzen in den alles einhüllenden Nebel ragten und verschwanden. Aquilons Finger bewegten sich in der Luft, eifrig bemüht, die Bilder, die sie sah, auf die Leinwand zu bannen.

»Sieh dir die Vegetation an!« rief sie aus. »Diese Giftpilze!«

Jetzt, da sie sich langsamer vorwärts bewegten, konnte Veg erkennen, was sie meinte. Die Ebene war größtenteils konturenlos gewesen, eine neblige Wüste, aber der Fuß des Berges war aus nächster Nähe gesehen eine einzige Pilzpracht. Was wie nacktes Gestein ausgesehen hatte, waren in Wirklichkeit graue und blaue Pilze. Die hoch aufragenden Exemplare formten eine Art Schirm über den kleineren Gewächsen. Was Sand zu sein schien, waren Myriaden von winzigen Stäbchen, die aus dem braunen, schwammartigen Unterbau hervorragten. Dazwischen gab es Farbabstufungen - rot, gelb, blau und schwarz. Die einzelnen Pflanzen waren geformt wie Trichter, Hörner, Gabeln und Teller. Aus der Entfernung verschwamm alles zur Formlosigkeit, was überwiegend an der Atmosphäre lag. Aus der Nähe war es ein Wunderland der Formen und Farben.

Er hielt an.

»Rühr nichts an«, warnte er sie. »Einige dieser Pilze könnten giftig sein.«

Anschließend kam er sich albern vor, denn er erinnerte sich an ihre Ausbildung. Sie müßte ihn warnen. Es bestand keine Gefahr, daß jemand hineinbiß.

Aquilon klappte ihre Staffelei auseinander und malte eifrig. Sie trug braune Shorts und eine weiße Bluse und füllte beides so gut aus, daß Veg sie kaum ansehen konnte. Wieder fragte er sich, warum sie das bequeme Leben, das sie auf der Erde hätte haben können, aufgegeben hatte, um in den einsamen Weltraum zu gehen. Aber sie gab nichts davon zu erkennen, als sie ihren Pinsel schwang und Bild auf Bild in Farbe duplizierte.

Er ging zum hinteren Ende des Traktors und öffnete die Haube der rückwärtigen Ladeluke. Dort, aufrecht gehalten durch weites, gepolstertes Gurtwerk, befand sich ein sehr kleiner, schmaler, bebrillter „Mann mit spärlichem braunem Haar. Hosenbeine und Ärmel trug er so lang, als wolle er vermeiden, daß jemand seine Glieder sah, und der Hemdkragen schmiegte sich ganz eng um seinen schmalen Hals.

»Wie geht's dir, Cal?«

Der kleine Mann lächelte tapfer.

»Ganz gut«, sagte er, aber sein Gesicht war verkrampft und weiß.

»Wir haben angehalten, um ein paar Bilder zu machen«, erklärte Veg. »Vielleicht willst du ein paar Muster?«

Die eingesunkenen Augen hellten sich auf. »Du hast schon einige besondere Variationen gefunden!« Die abgemagerten Hände hoben sich, um die Schnallen des Gurts zu berühren, sanken dann wieder müde nach unten. »Vielleicht könntest du noch ein paar für mich auswählen.«

»Sicher«, sagte Veg verlegen.

Er konnte sehen, daß die Fahrt für seinen Freund sehr anstrengend gewesen war. Er vergaß immer wieder, daß andere seinen Enthusiasmus für hohe Geschwindigkeiten nicht teilten. Cal hatte sich der Schwerkraft von Nacre noch nicht richtig angepaßt, obgleich sie geringer war als auf der Erde, und die Filter erschwerten seine Atemtätigkeit. Im Raum, unter den Bedingungen der Nullgravitation, kam er gut zurecht und konnte sich bei der Beschleunigung einem Flüssigkeitsbad anvertrauen. An Land litt er. Aber Cal war Cal. Er hatte darauf bestanden, an der Erkundungsfahrt teilzunehmen, gleichgültig wie rauh die Reise auch werden mochte. Er war genauso gespannt wie Aquilon auf das, was vielleicht in der Hügelkette zu finden war. Es war nicht Mut, der ihm fehlte, sondern Kraft.

Veg streifte Schutzhandschuhe über und marschierte auf die üppigsten Exemplare los.

»Nicht diese!« rief Aquilon und veranlaßte ihn zu einem tiefen Atemzug durch den Mund.

Ihre Stimme war dazu angetan, ihn so reagieren zu lassen. Er stieß die Luft hastig aus und begriff, daß sie diese Gruppe für ein Porträt haben wollte. Er ging weiter.

Die Atmosphäre von Nacre war ausgiebig getestet und als sicher eingestuft worden - in Grenzen allerdings. Einige Atemzüge durch den Mund würden kaum ernsthaften Schaden hervorrufen, aber das ganze Personal war darauf trainiert worden, automatisch durch die Filter zu atmen, sogar im Schlaf. Veg wußte dies, aber die ungefilterte Luft kam ihm unrein vor, und es ekelte ihn, sie zu inhalieren.

Die Flora und die Fauna waren eine andere Sache. Einiges davon war auf unerwartete Art und Weise tödlich, und das meiste mußte noch getestet und klassifiziert werden. Die Regel lautete: Nicht berühren, bevor es das Laboratorium nicht auseinandergenommen und für harmlos erklärt hat.

Aquilon sah ihn an, als er um die Ecke des Geländestücks bog, aber er störte sie nicht beim Zeichnen. Veg machte halt, breitete eine Sammelfolie aus und streckte vorsichtig die Hand nach dem Angebot aus, das ihm am nächsten war.

Die Pilze waren sogar noch bunter, als er gedacht hätte, und sie standen so dicht beisammen, daß es kaum möglich war, einen ganz bestimmten herauszupflücken. Dort, wo er mit den Füßen Kleingewächse zerquetscht hatte, trat ein gelber Brei zutage. Er bedauerte diese unbeabsichtigte Zerstörung. Er griff nach einem fünfzehn Zentimeter großen Stinkhorn, blau wie der Erdenhimmel, und hatte dabei Angst, daß die emporragende Spitze abbrechen und in seiner Hand , zerbröseln würde, aber zu seiner Erleichterung und Überraschung war der Pilz so hart wie ein Stück Holz. Er zog ihn aus dem Boden, knipste bedauernd die drahtartigen Wurzelfasern ab und legte ihn auf das Tuch.

Ein Stück weiter entfernt stand ein Exemplar von der Größe eines Tennisballs, um das sich unzählige spaghettiartige Fäden wanden. Als er mit der Hand näher kam, bewegten sich diese Fäden verblüffenderweise. Er zuckte zurück und verlor beinahe das Gleichgewicht. Sein Blick glitt vorbei an den Pilzfelsen und fiel auf das laubengleiche Gelände dahinter.

Er versteifte sich.

»Quilon«, rief er mit gedämpfter Stimme.

Sie wußte sofort, daß es um etwas Wichtiges ging. Sie kam schnell, aber ruhig und folgte der Richtung seines Blicks.

»Ich sehe es«, sagte sie, jetzt genauso angespannt und still wie er.

Da war eine Bucht in dem Meer aus Staub, und davor hockte eine Kreatur, die etwa die Größe eines kleinen, gebückten Mannes hatte. Auffallendstes Merkmal war ein einzelnes, enorm großes Auge.

»Was ist es?« fragte sie ihn.

Veg antwortete nicht.

Die Kreatur stand unbeweglich da, das Auge, acht Zentimeter im Durchmesser, unverwandt auf sie gerichtet. Der Körper war eine zusammengekrümmte, kugelförmige Masse, die sich auf einen einzelnen muskulösen Fuß stützte.

Sie tauschten einen Blick.

Veg beantwortete die nicht ausgesprochene Frage mit einem Kopf schütteln.

»Wir sollen lediglich die Topographie der Landschaft erkunden«, sagte er. »Wir können es nicht wagen, uns mit den lokalen Lebensformen einzulassen - nicht mit etwas, das so fremdartig ist wie dies dort drüben.«

»Es sieht nicht gefährlich aus.«

»Aber achtzehn Menschen wurden getötet, bevor wir hier ankamen - von irgend etwas.«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Als Mitglieder einer halb privaten Expedition, die einen vielversprechenden, aber gefährlichen Planeten erforschen sollte, waren sie zur Vorsicht verpflichtet. Die Bezahlung war in gewissem Rahmen abhängig von der erfolgreichen Lösung des Problems, und qualifizierte Freiwillige waren rar. Seltsame Leute ließen sich verpflichten und seltsame Dinge passierten, aber das einzelne Individuum vermied Risiken weniger aus Gründen der persönlichen Sicherheit, sondern mehr, um den Erfordernissen der Expedition als Ganzes gerecht zu werden. Ein törichter tapferer Mann war eine Belastung.

Gelegentlich hatte sich Veg gewundert, warum man Cal erlaubt hatte, Mitglied der Gruppe zu werden, da er doch die besten Voraussetzungen besaß, um sich selbst umzubringen. Vielleicht deshalb, weil er auch die besten Voraussetzungen hatte, seinen Finger, zittrig wie er auch sein mochte, auf die Wurzel des Übels zu legen und dadurch viele andere Leben und viel Zeit zu retten.

Wie dem auch war, sie mußten diese fremdartige Kreatur beobachten, sich ihr aber nicht nähern, so groß die Versuchung auch sein mochte.

Aquilon hatte bereits angefangen zu zeichnen, ohne dabei eine Gemütsregung zu zeigen. Farbe floß aus ihrem Pinsel, scheinbar aus eigenem Antrieb. Einmal schnippte sie ihn kurz in Richtung Vegs. Ein glänzender roter Tropfen löste sich und klatschte auf seine Wange. Befriedigt wandte sie sich wieder ihrem Bild zu, wo ihre magischen Pinselstriche schnell ein lebensnahes Abbild des Tieres dort drüben schufen.

»Es. hat einen Schwanz«, sagte Veg und wischte sich ohne Ärger das Gesicht ab, »aber keinen Rachen. Anders als die Omnivoren. Wie kämpft es?«

Sie gab keinen Kommentar ab, bemalte nur in schneller Reihenfolge weitere Leinwände.

Alle Tiere, die sie auf Nacre beobachtet hatten - und davon gab es nicht allzu viele -, schienen nach einer ziemlich ähnlichen Zeichnung gefertigt worden zu sein, so als ob sie von einem gemeinsamen Vorfahren abstammten. So wie die Tiere der Erde vier Gliedmaßen und zwei Augen entwickelt hatten, beschränkten sich die auf Nacre auf einen Fuß und ein Auge. Und wie auf der Erde hatten sich diese Tiere in große und kleine, in mutige und scheue, in Räuber und Beute aufgespalten. Die wildesten von ihnen allen waren die Omnivoren.

»Es könnte Waffen haben, die nicht zu sehen sind«, sagte Veg, der, während Aquilon zeichnete, nichts zu tun hatte. »Dieses Auge.«

Selbst aus der Entfernung war das Auge ungemein eindrucksvoll. Die glänzende, konvexe Oberfläche war geformt wie eine Linse, tief und dunkel wie ein Brunnen. Im Inneren, vielleicht jenseits des sichtbaren Spektrums, schien etwas zu flimmern, fast wie Glut.

». ist etwas dran«, stimmte ihm Aquilon zu und zeichnete ein vergrößertes Bild des Organs.

Veg zog sie schließlich weg, beide Hände auf ihren schlanken Schultern, während sie mit dem Malen fortfuhr.

»Wir sollten besser nach Hause gehen und über diese Sache berichten. Könnte wichtig sein.«

Widerstrebend gab sie nach. Sie wichen zurück, bis die Kreatur hinter der schützenden Flanke des Bergs aus ihrem Blickfeld entschwand. Dann hielt Veg Wache, während Aquilon zum Traktor hinübereilte, um Cal mit der Situation vertraut zu machen. Vegs Hand lag auf seiner Waffe, aber er hoffte, daß er sie nicht zu ziehen brauchte. Zum einen benutzte er nur ungern eine Waffe, obgleich er es tat, wenn er dazu gezwungen wurde. Und zum anderen hatte er keine Garantie dafür, daß der Abwehrnebel, den sie ausstieß, Wirkung erzielen würde, da diese Kreatur ziemlich anders war als alle, die sie bisher gesehen hatten.

Nachdem er Aquilon einen gewissen Vorsprung gegeben hatte, legte er den Weg zum Traktor ebenfalls zurück. Es war unvorsichtig von ihm gewesen, Pilze zu sammeln, ohne das Gebiet vorher gründlich zu inspizieren. Dieses Ding hätte sich heimlich an sie heranmachen können.

»Mehr habe ich nicht«, sagte er entschuldigend zu Cal, als er den einzigen Pilz deponierte und den Laderaum zuschloß.

Der kleine Mann nickte nur, und Veg wußte, daß er sich wünschte, die neue Kreatur selbst gesehen zu haben. Ein einziger kurzer Blick hätte Cal mehr gesagt als eine zehnminütige Beobachtung durch Veg.

»Ich fahre auf dem Rückweg daran vorbei. Du kannst es durch dein Periskop betrachten.«

»Wenn auf diesem Planeten doch nur das Radio arbeiten würde.«, beklagte sich Aquilon, als er sich vorne zu ihr gesellte.

Diese Klage war ein alter Hut.

Erkundungstrupps waren nicht gerne ohne Kontakt mit der Basis, aber der Staub schien die meisten elektromagnetischen Wellen in der Atmosphäre zu blockieren. Später würde man alternative Kommunikationsmöglichkeiten entwickeln, aber augenscheinlich mußten sie eine phänomenale Entdeckung für sich behalten, weil sie keinen anderen von der Basis erreichen konnten.

»Vielleicht sehen wir es niemals wieder.«

Er startete die mächtigen Motoren und fuhr langsam an. Das Gefährt bog um die Schulter des Bergs und stieß in die Bucht hinein.

Das Tier blieb an Ort und Stelle, blinzelte unergründlich. Veg fuhr vorsichtig daran vorbei, machte dann halt und wendete, wobei er hoffte, daß Cal einen zufriedenstellenden Ausblick hatte. Extraterrestrisches Leben aller Art faszinierte den Mann, was vor allen Dingen für die größeren Tiere galt. Dies war für ihn ein Höhepunkt.

Der Traktor wendete und schlug den Weg ein, auf dem er gekommen war. Aquilon, immer noch neugierig, kletterte auf den Rücksitz und blickte während der Abfahrt über die Lehne.

Veg warf einen kurzen Blick auf eine mehrere Quadratzentimeter große nackte Stelle ihres Oberschenkels, biß sich dann auf die Lippe und konzentrierte sich aufs Fahren. Sein Ausdruck war gedankenvoll.

Die Kreatur bewegte sich. Veg konnte es auf dem rückwärtigen Sichtschirm sehen. Sie machte einen ungelenken, hohen Sprung, krümmte sich in der Luft zusammen und landete vier Meter näher auf ihrem einen Fuß. Das funkelnde fremdartige Auge beobachtete weiterhin aufmerksam.

»Ich glaube, es ist genauso neugierig, wie wir das sind«, sagte Aquilon strahlend. Als die Geschwindigkeit zunahm, blickte sie immer noch nach hinten. »Es folgt uns.«

Veg grinste, erleichtert, daß sie jetzt alle drei sicher im fahrenden Wagen saßen. »Vielleicht möchte es ein Wettrennen.« Er beschleunigte auf dreißig Stundenkilometer. »Sag mir Bescheid, wenn es aufgibt.«

»Noch nicht«, antwortete das Mädchen.

Sie beobachtete die Kreatur, die wieder und wieder sprang und dem Traktor dabei näher kam, während Veg sie beim Beobachten beobachtete.

»Es holt auf!«

Veg grunzte und spielte mit den Kontrollen. Er ließ der mächtigen Maschine freien Lauf, bis die Skala fast fünfzig Stundenkilometer anzeigte.

»Es holt immer noch auf«, sagte Aquilon, ehrlich aufgeregt jetzt und in dieser Verfassung noch attraktiver. »Aber es ist nicht mehr. dasselbe. Ich meine.« Sie zögerte und blickte ihn an, als erwarte sie eine Zurückweisung. »Es. Ich glaube, es hat seine Körperform geändert. Um schneller hüpfen zu können.«

Das war keine Übertreibung, wie er selbst feststellen konnte. Der Körper war flach geworden und hatte sich verlängert. Von Springen konnte nicht mehr die Rede sein. Der Fuß war zu einem kolbenartigen Abstoßglied geworden. Es berührte den Boden in Abständen von sechs bis sieben Metern und beförderte den Körper in flachen Flugbahnen vorwärts. Das große Auge befand sich an der Vorderseite eines Kopfes, der jetzt geformt war wie eine Rakete und in den halslosen Rumpf überging, während der Schwanz hinterherflatterte.

Veg versuchte, den Schirm, das Mädchen und das Gelände vor ihm gleichzeitig zu beobachten, mußte dies jedoch abwechselnd tun.

»Da haben wir aber etwas aufgegabelt«, murmelte er und nahm die Herausforderung an. »Wenn es wirklich ein Wettrennen möchte.«

Noch einmal beschleunigte der Traktor. Er war für hohe Geschwindigkeiten auf rauhem Terrain erbaut worden, eine der leistungsfähigsten Maschinen, die auf der Erde produziert wurden. Veg schaltete die Frontscheinwerfer ein und manövrierte das Gefährt geschickt um die emporschießenden Pilze herum.

Aquilon hielt sich an der Haltestange hinter dem Sitz fest, während der scharfe Wind an ihrem Körper zerrte. Ihre Bluse wurde aufgebläht, und das Haar legte sich wie eine starre Haube über ihr Gesicht. Sie blickte immer noch zurück. Ein Ausdruck feierlicher Erregung lag auf ihren hübschen Zügen. Ihre Lippen waren geöffnet, aber sie atmete durch die Nase. Voller Spannung fixierte sie das Einbein hinter ihnen.

Bei neunzig Stundenkilometern fing es - langsam - an, zurückzufallen.

Widerstrebend ließ sich Aquilon auf den Sitz sinken, wobei sie gegen die wütenden Luftströmungen ankämpfen mußte.

»So etwas Schnelles habe ich noch nie gesehen.« Erst jetzt wurde sie sich bewußt, daß sich ihre Bluse aus dem elastischen Hüftband gelöst hatte und nur noch lose um Schultern und Arme hing.

Veg nickte anerkennend, gab aber keinen Kommentar ab. Diesmal würde er sie nicht wieder wütend auf ihn machen!

Sie ordnete ihre Kleidung und beugte sich vor, um auf den Schirm vor dem Fahrer blicken zu können.

»Sieh doch!«

Unmittelbar hinter ihnen holte die Kreatur wieder auf.

Vegs Kiefer fiel nach unten. »Aber wir haben hundertzehn Stundenkilometer drauf«, protestierte er.

Aquilon beobachtete aus nächster Nähe, während Veg frustriert an ihrem Kopf vorbeiblickte. Bei dieser Geschwindigkeit hatte er wirklich keine Zeit, sich auf den Schirm zu konzentrieren. Er erreichte jetzt die Grenze der Sichtmöglichkeiten unter Nacre- Bedingungen, und Cal würde die rauhe Fahrt ganz bestimmt nicht gefallen.

»Es hat sich wieder verändert«, sagte sie ein bißchen selbstgefällig und gab ihm eine Beschreibung.

Das Ding hüpfte überhaupt nicht mehr und stieß sich auch nicht länger ab. Statt dessen blieb es ganz dicht am Boden, wobei sich sein Fuß so schnell bewegte, daß die Bodenberührung gar nicht wahrnehmbar war. Der Körper bewegte sich auf fast geradem Kurs vorwärts, flach ausgestreckt wie eine dünne Scheibe von dreieinhalb Metern Durchmesser. Das riesige Auge starrte weiterhin nach vorne, hypnotisch und düster glühend.

»Wie konnte ich es nur für ungelenk gehalten haben?« flüsterte Aquilon. »Es ist wunderschön, wie ein Schmetterling. Nein, eher wie ein Manta, ein Rochen zu Hause auf der Erde. Nur daß es in der Luft schwimmt, so schnell.«

Der Traktor sprang nach vorne, mit aufbrüllenden Motoren.

»Dieses Mal«, sagte Veg mit grimmigem Enthusiasmus, »dieses Mal zeige ich ihm wirklich unsere Staubfahne!«

Er drückte einen Knopf, und ein gepanzertes Schiebedach glitt über das Cockpit. Die Turbulenzen im Inneren hörten auf, aber schwere Vibrationen schüttelten die Insassen, als das Gefährt gradlinig über die Ebene jagte, die Nebel auseinandertreibend und die Pilze in seinem Weg zerschmetternd. Veg war stolz auf die Maschine, die für jedes Rad einen eigenen Antrieb und eine überwältigende Kraft besaß.

Dichte Staubwolken stiegen auf und versperrten die Sicht nach hinten. Wieder verschwand der Verfolger aus dem Blickfeld. Aber einen Augenblick später erschien er abermals, seitlich und immer noch mit der Traktorgeschwindigkeit von fast hundertfünfzig Stundenkilometern mithaltend.

»Hat es überhaupt eine Grenze?« Aquilon atmete schwer und blickte die Kreatur hingerissen an. »Eine derartige Vorstellung.«

Als der Traktor weiter beschleunigte, verlor das flache Ding da draußen langsam an Boden und tauchte schließlich erneut im Nebel unter. Diesmal kehrte es nicht zurück.

Veg ging langsam mit dem Tempo herunter, leicht benommen von der Geschwindigkeit. Er hatte selten einen Vorwand, den Traktor richtig zu jagen.

Aquilon war die erste, die reagierte. Sie hob ihren flachsfarbenen Kopf wie ein wachsames Reh.

»Es brennt«, sagte sie. »Irgend etwas brennt.«

Veg lachte und kniff sie mit seinen behandschuhten Fingern ins nackte Knie. Dann roch er es ebenfalls. »Oh!«

Der Traktor schleuderte alarmierend.

»Ein Rad ist blockiert«, grunzte er. »Muß den Motor abstellen. Der verdammte Staub scheint.«

Wieder ein Schleudern, das sie beide zur Seite warf. Veg fluchte und kämpfte mit den Kontrollen. Aquilon nahm ihren Busen von seiner Schulter und drückte sich in die entgegengesetzte Ecke. Der Staub stieg in wogenden Wolken empor und verbarg Himmel und Erde.

Das stabile Gefährt stürzte nicht um. Sie saßen ruhig da, während sich der Sturm draußen legte, würgten dann gemeinsam, als der Gestank von durchgeschmorter Isolation nach innen drang. Veg öffnete das Schiebedach und schob es mit der Hand zurück. Der heranwirbelnde Staub vertrieb die beißende Luft und gab ihren Filtern etwas Handfestes zu tun.

»Wir sind gestrandet«, sagte Veg dumpf. »Eigene Schuld. Diese Maschine wird sich in den nächsten Wochen nicht wieder bewegen.«

Aquilon zog die Schlußfolgerung selbst. »In diesem Nebel und Staub gibt es keine Spuren, denen sie folgen könnten, wenn sie feststellen, daß wir verschollen sind. Und wir können sie nicht alarmieren. Eine großangelegte Suchaktion würde zu lange dauern.«

Ein Stöhnen wurde laut. Ihre Augen weiteten sich. »Wir haben Cal ganz vergessen.«

Veg stieß die Tür auf und sprang auf den Boden. Aquilon glitt hinüber und stieg etwas vorsichtiger aus. Gemeinsam bahnten sie sich durch die sich setzenden Staubpartikel einen Weg zur Rückseite des Traktors.

Cals Brille war zerbrochen und hing über einem Ohr, aber es war kein Blut in seinem Gesicht. Veg löste seinen Gurt und hob ihn nach draußen.

Aquilon schlang beide Arme um den bewußtlosen Mann und hielt ihn fest, während Veg seinen Körper auf Verletzungen untersuchte.

»Er ist in Ordnung«, verkündete er. »Das Schleudern hat ihn in Ohnmacht fallen lassen.« Er hoffte, daß er recht hatte.

Aquilon setzte Cal auf den Boden und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Es dauerte nicht lange, bis sich seine Augen öffneten.

»Es scheint etwas aufgewühlt worden zu sein«, murmelte er.

Veg entspannte sich. Erst jetzt gestand er sich selbst ein, wie besorgt er gewesen war. Der Schock hätte seinen Freund in ein Koma fallen lassen können, und wenn irgendeine innere Verletzung.»Aufgewühlt! Freund, wenn ich in einem Schoß wie diesem aufwachen würde, dann wäre ich tatsächlich aufgewühlt. Und ich wüßte, verdammt noch mal, ganz bestimmt etwas Besseres zu sagen als das.« Er überspielte seine Betroffenheit mit vorgetäuschter Grobheit.

Cal lächelte, aber Aquilon tat es nicht. Veg wandte sich ab, wieder einmal verärgert über sein Talent, stets das Falsche zu sagen. Sie alle wußten, daß seine kleinen Scherze nichts anderes waren als notdürftig verkleidete Bitten um.

Um was? Um dasselbe, was die RaumhafenProfessionellen für Geld oder Glanz anboten? War es schon soweit, daß er hinter der Freundin seines Freunds herjagen mußte? Und falls er sie durch einen unglücklichen Zufall wirklich bekommen sollte - wäre sie für ihn dann nicht dasselbe wie all die anderen, die er verachtete? Aquilon war ein nettes Mädchen. Welcher Dämon gab ihm den Traum ein, sie zu zerstören?

»Sporen«, sagte Cal und setzte sich mit Aquilons Hilfe aufrecht.

»Sporen?« Für einen Augenblick fürchtete Veg, daß Cals Verstand doch gelitten hatte.

»Dies ist eine Pilzwelt - ungenügende Lichtverhältnisse für Chlorophyllpflanzen, in Bodennähe jedenfalls. Viel von diesem

>Staub< ist in Wirklichkeit eine überschüssige Menge von Sporen, mikroskopisch klein, denn auf diese Weise reproduzieren sich die meisten Pilzarten. Ein Palynologe könnte dir sagen, daß fünfzigtausend hoch sieben von ihnen auf einen flachen Teelöffeln passen. Sie schweben in der Luft und dringen in alles ein. Es gibt so viele Arten von ihnen, daß man sie selbst auf der Erde fortwährend in neuen Materialien entdeckt. Vermutlich haben sich einige von ihnen in die Kugellager der Räder hineingearbeitet und im Öl gekeimt, was dazu führte.« Cal war wieder ganz normal.

Veg trat in die Seite des Traktors und blieb vor einem dort untergebrachten Fach stehen.

»Vorräte?« erkundigte sich Aquilon.

Als sie neben ihm stand, ging ihm ihr Kopf kaum bis zur Schulter.

»Gewehr und ein Kompaß«, sagte er angewidert. »Wir sind in Schwierigkeiten, meine Hübsche.«

Sie schlüpfte unter seinem Arm durch und wühlte in dem Fach herum. »Es ist ein komplettes Überlebenspaket«, sagte sie befriedigt. »Messer, Streichhölzer, Erste-Hilfe-Handbuch. Damit schaffen wir es zurück zur Basis.«

Veg sah sie nur an.

»Hör zu«, fuhr sie unschuldig fort. »Der Kompaß zeigt knapp vierzig Kilometer an. Das ist nicht so weit.« Sie unterbrach sich, als sie merkte, daß Veg keine Antwort gab. »Was ist los?«

»Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die logisch denken konnte. Die angezeigten Kilometer sind Luftlinie. Wenn wir dem ebenen Boden folgen, dürften es eher hundertundfünfzig sein. Wir waren ein paar Stunden unterwegs - mit dem Traktor. Du und ich, Quilon, könnten es schaffen.«

»Oh!« Ihre Hand flog zum Mund. »Cal.«

»Ja.«

Veg fing an, das Fach auszuladen und die Utensilien aufzubauen, die das Paket enthielt.

Schon hatte sich ein dünner Film aus dem allgegenwärtigen Staub auf den horizontalen Flächen des Gefährts gebildet. Nur die geisterhaften, toten weißen Pilzriesen lockerten die Dunkelheit der verhüllten Ebene auf. Es war nicht kalt, aber Veg sah Aquilon zittern, als er das Paket zuschnürte, das Gewehr hochnahm und sich an Hand des Kompasses orientierte.

»Könntest du dich nicht auf den Weg machen und Hilfe holen?« fragte sie ohne große Hoffnung.

»Du könntest es an einem Tag schaffen, und wir wären unterdessen im Traktor sicher.«

»Wenn ich das Terrain kennen würde, ja«, sagte Veg ernsthaft.

»Aber es gibt da ein paar böse Abgründe, die noch schlimmer sind, weil man sie nicht sehen kann. Das

Lager befindet sich genau unter einer Klippe. Wenn mir etwas zustoßen würde, wenn ich nur ein bißchen aufgehalten würde, wärt ihr erledigt. Mit nur einer einzigen richtigen Waffe, ohne Nahrung und nur einem bißchen kostbarem Wasser können wir uns nicht trennen.«

Er kraulte sie unter dem Kinn, versuchte, die Stimmung ein wenig aufzuheitern. »Außerdem hätte ich dich gerne da, wo ich dich im Auge behalten kann.« Er zeigte in den Dunst hinein. »Hier entlang! Und hoffen wir, daß das Gelände eben bleibt. Hilf der Lady, Cal.«

Aquilon verstand den Wink und nahm den Ellbogen des kleinen Mannes. Sie setzten sich in Bewegung, folgten dem vorangehenden Veg. Das Tempo war langsam, kaum drei Stundenkilometer, aber Cal stolperte fast sofort. Er hatte die nutzlose Brille weggeworfen, aber das war nur ein Teil des Problems. Er konnte seine unmittelbare Umgebung erkennen und brauchte unterwegs auch nicht zu lesen. Schweiß tropfte auf seine Brauen, als er sich bemühte, Anschluß zu halten, aber es war offensichtlich, daß selbst dieses langsame Tempo die Kräfte seines ausgemergelten Körpers überstieg.

Die Frau, einen halben Kopf größer als er und schwerer, legte ihm fest den Arm um die Hüfte, hob ihn halb hoch und half ihm vorwärts. Der Druck ihres Arms veranlaßte Cal zu einer Grimasse, aber er sagte nichts. Veg, das Gewehr schußbereit und das Gelände vor ihnen mit den Augen durchbohrend, versuchte, sich nicht umzudrehen, verlangsamte seine Schritte jedoch so, daß ein gewisses Gleichgewicht erreicht wurde.

Zwei Stunden später kam eine Gruppe von Tieren in Sicht.

»Herbivoren«, sagte Veg. »Pflanzenfresser. Keine Gefahr.«

»Nahrung«, sagte Aquilon. »Warum warten wir nicht hier, bis du ein Kleines zurückbringst? Wir könnten die Pause gebrauchen.«

In erster Linie meinte sie, daß Cal die Pause gebrauchen konnte.

Veg machte Anstalten, etwas zu sagen, wurde dann anderen Sinnes. Sie hatte es vergessen, das war alles.

Immerhin, er konnte ihr etwas Lebendes besorgen. Er legte das Paket auf den Boden und näherte sich mit schnellen Schritten der Herde, das Gewehr noch in der Hand.

Mehr als dreißig Kilometer zurückzulegen! Er könnte es ganz leicht schaffen. und Aquilon ebenfalls. Aber Cal.

Das Unangenehme war, daß sie es mit Cals Tempo nicht schaffen konnten. Die ständigen Ruhepausen eingeschlossen würde es wenigstens drei Tage in Anspruch nehmen, und wenn sie es so lange auch ohne Nahrung aushalten konnten, würde sie das fehlende Wasser doch erledigen. Er war jetzt schon durstig, und es gab nur eine Bierflasche destilliertes Wasser, bestimmt für einen Erste-Hilfe-Fall. Natürlich würden sie davon trinken - aber wie lange?

Früher oder später würde Cal aufgehen, daß er ihre Chancen beeinträchtigte. Dann würde es wirklich Ärger geben. Veg hatte nicht die Absicht, seinen Freund zu verlassen. Er würde ihn ganz einfach tragen müssen. Vielleicht konnten sie auf diese Weise genug Zeit gutmachen. Aquilon konnte den Packen tragen. Er würde ihn leichter machen müssen, indem er alles hinauswarf, was sie nicht unbedingt benötigten.

Er trat nach einem fußballgroßen Pilz, der aus einer Staubspalte hervorquoll. Der Pilz blieb im Boden haften und nahm seinen Stiefel auf wie ein Schwamm, brachte ihn beinahe zu Fall. Veg fluchte und gewann sein Gleichgewicht wieder. Er war genauso wütend auf sich selbst, weil er seine Stimmung an einem harmlosen Lebewesen ausgelassen hatte, wie auf den Pilz, der dem Tritt Widerstand entgegengesetzt hatte. Eine transparente Flüssigkeit tropfte von seiner Fußspitze. Er hatte den Pilz also doch verwundet. Er ging weiter, geplagt von leichten Gewissensbissen, die er nicht ganz einordnen konnte.

Er näherte sich dem Rand der Herde, ohne sich zu bemühen, das Gewehr in Anschlag zu bringen. Die friedlichen Herbivoren von Nacre waren ein alltäglicher Anblick und bedrohten niemanden. Ihr Fleisch war eßbar, aber er hatte nicht vor, eins zu schlachten, nicht einmal für Aquilon. Sie würde das selbst tun müssen - und damit rechnete er nicht.

Wie buchstäblich alle Tiere hier waren auch diese einbeinig. Er konnte einige von ihnen herumhüpfen sehen, wobei sie mit jedem Sprung einen Meter oder noch weniger zurücklegten. Renner waren sie nicht. Sie zogen nicht viel umher, und eine Herde bewegte sich ungefähr auf die gleiche Weise vorwärts wie eine Sanddüne: Partikel auf Partikel. Hier waren etwa fünfzig Exemplare versammelt, und nicht mehr als ein halbes Dutzend war in Bewegung, um am vorderen Rand frische Weidegründe zu suchen. Die anderen grasten, wobei ihre langen, rosafarbenen Atmungsorgane von den Spitzen ihrer birnenförmigen Köpfe abstanden und den einzelnen Individuen ein kaninchenähnliches Erscheinungsbild verliehen. Insgesamt gesehen erinnerte die Gruppe an ein sanft wogendes Kornfeld. Veg hatte gehört, daß diese Atmungsorgane unter anderem, Wasser aus der Atmosphäre gewinnen konnten. Zu schade, daß menschliche Wesen dazu nicht auch in der Lage waren!

Es gab die Herbivoren in allen Grauschattierungen und den verschiedensten Größen. Wie festgestellt worden war, wuchsen sie ihr ganzes Leben lang. Einige wenige waren größer als er selbst und auch etwas massiger. Er bückte sich, um einen mittelgroßen Vertreter hochzunehmen, der aussah, als würde er nicht mehr als fünfzig Pfund wiegen. Er hatte mit diesen Kreaturen schon früher Kontakt gehabt, aber nie sein Erstaunen über ihre absolute Fremdartigkeit ablegen können.

Er legte seine Hände um die schmälste Körperstelle, indem er es unmittelbar oberhalb des runden Fußes packte, bevor es seine Absicht erkennen und davonhüpfen konnte.

Er zog an dem Tier.

Es kam leicht nach oben, ohne einen Ton von sich zu geben. Der Fuß, in einem vollen Kreis auf den Boden gestemmt, um den nahrhaften Staub aufzunehmen, pendelte kraftlos hin und her, als er die Kreatur vor sich hoch in die Luft hielt. Der rundliche Körper war ein formloser Klumpen, wie der eines Oktopusses. Das eine Auge quoll leicht hervor, ohne Unruhe zu zeigen. Das längliche Atmungsorgan stand jetzt schräg ab, eine zuckende Masse dünner Fasern.

Die wedelnden Fühler wischten durch sein Gesicht wie ein feuchter, sanfter Pinsel. Durch sie hindurch sah er, wie sich Aquilon der Herde näherte.

»Dein Schoßtier«, rief er laut, wobei er wußte, daß der Lärm diese Kreaturen nicht stören würde. Keins der Tiere, die man bisher auf Nacre entdeckt hatte, gab irgendwelche Laute von sich oder besaß Hörorgane. Es handelte sich um einen schweigenden Planeten, was, wie Cal angemerkt hatte, sehr schlimm war, denn der immerwährende Nebel machte das Sehen zu einer weitaus weniger nützlichen Wahrnehmungsart als irgendwo sonst. Der fallende Staub behinderte das Licht und blockierte Strahlen und Signale.

Die Entfernung zwischen ihm und Aquilon hatte sich halbiert, und sie wedelte mit den Armen und schrie laut.

»Veg! Hinter dir!«

Er wirbelte herum, den Herbivoren noch in der Hand.

Irgend etwas löste sich aus der Herde. Es stieg viel zu hoch nach oben, um ein normales Mitglied der Gruppe zu sein. Schlank und schwarz, wie es war, kontrastierte sein Körper scharf mit den grauen Schattierungen seiner Nachbarn. Ein großes Auge war in dem Wesen sichtbar, unnatürlich bösartig und völlig andersartig als die leeren Spiegel der Herbivoren. Es landete am Rand der Gruppe, die Veg am nächsten war, und bewegte sich auf ihn zu, wobei der Körper eine plötzlich vertraute flache Form annahm.

»Der Manta!« schrie Aquilon.

Veg legte seine Bürde nieder und ließ das Gewehr durch ein routiniertes Schulterzucken in seine Hände gleiten. Dies war das letzte, was er erwartet hatte, und er fühlte sich in der Gegenwart einer solchen Drohung nackt. Das Rennen im Traktor war eine Sache gewesen, es jedoch im Freien zu treffen.

Die Hitzekammer seines Gewehrs leuchtete, als sich der Druck aufbaute. Seine Hände hatten automatisch die richtigen Dinge getan, so als seien sie begieriger auf das Töten als er selbst. Der Dampf brauchte nur ein paar Sekunden, um sich zu formen - Sekunden, die ihm jetzt sehr lange vorkamen -, aber danach war das Gewehr schußbereit, nur noch abhängig von der Zielgenauigkeit des Schützen und der Quantität der Munition.

Der Manta, leicht zur Seite geneigt, kam unglaublich schnell. Jetzt sah Veg den peitschenartigen Schwanz, und schockartig wurde ihm klar, was dieser Schwanz anrichten konnte. Er hatte nicht feuern wollen, aber jetzt hatte er keine andere Wahl mehr.

Der Dampf zischte, als er den Abzug betätigte - einmal, zweimal.

Der Manta kam noch immer, unverletzt.

Fluchend riß Veg ein Explosivgeschoß aus dem Arsenal und klatschte es in die Hilfskammer. Er wartete noch einen Augenblick, wobei er das Geschoß, um es genau zu sagen, als. unsportlich verabscheute.

Der Manta war kaum mehr als eine schmale Linie. Mit dem Kopf voran bewegte er sich jetzt mit einer solchen Geschwindigkeit, daß er bereits an Veg vorbei war, bevor der zum zweitenmal richtig zielen konnte. Der Manta passierte ihn dreißig Zentimeter oberhalb des Kopfes, schlug jedoch nicht zu.

Jetzt landete er zwischen ihm und Aquilon und stand ihr gegenüber. Veg sah, wie sie vor diesem riesigen Diskus voller Schrecken zurückwich, sie, die ihn mit seinem fahnenartigen Schwanz und dem großen Auge für so wunderschön gehalten hatte.

Er hatte es auf sie abgesehen!

Veg feuerte.

Diesmal schüttelte sich der Manta, als das Geschoß seinen Körper aufriß. Er drehte sich, zog sich in der Luft zusammen, stürzte dann schwer zu Boden und bewegte sich nicht mehr.

Veg hatte ihn schließlich doch getötet.