Eine Weile hatte Attila darauf bestanden, dass sie
bei öffentlichen Auftritten Englisch miteinander redeten, aber das
war doch wohl etwas zu formal. Die Kollegen grienten natürlich erst
mal. Aber hätte er sich eine Sekretärin nehmen sollen wie fast alle
anderen Kollegen? Oder so eine aufgetakelte Barbie, die dumm wie
Brot war und sich eines Tages kostspielig würde scheiden
lassen?
Attilas Anforderungsprofil war klar: vorzeigbar,
langfristig einsetzbar, keine Mätzchen, Kinder. Bis auf die Kinder
hatte sich Camille in den vergangenen zwei Jahren ordentlich
gemacht. Attila hatte gehofft, dass die Osteuropäerin etwas
normaler funktionierte als die desorientierte Mitteleuropäerin, die
vor jedem Stuhlgang erst mal ein Problemgespräch zum aktuellen
Stand der Gender-Debatte führen musste. Diese Ukrainerinnen warfen
Kinder doch eigentlich ab wie Gail Halvorsen einst die Schokolade
über Berlin, hatte Attila gelesen. Nur Camille nicht.
»Attilas Anforderungsprofil war klar:
vorzeigbar, langfristig einsetzbar, keine Mätzchen,
Kinder.«
Heute würde sich vieles entscheiden. Vormittags
Esoterik-Schnickschnack, nachmittags würde Camille in der
Uni-Klinik die Ergebnisse ihrer Fruchtbarkeitsdiagnose bekommen.
Die Experten würden die Ursache der ausbleibenden Schwangerschaft
zweifelsfrei festgestellt haben und vor allem eine wirksame
Therapie anbieten. Und dann wäre Schluss mit der Kleopatra-Nummer:
Dann würde nicht wiedergeboren, sondern überhaupt erst mal
angefangen. Wäreja noch schöner: Da befreite man eine Ukrainerin,
aber leider die einzige im ganzen Land, die nicht funktionierte.
Attila hatte mal ein Auto gehabt, Audi Coupé, wirklich schickes
Fahrzeug, aber durch und durch verkorkst - nichts als Ärger und
Kosten, Kosten, Kosten. Gab es womöglich nicht nur Montagsautos,
sondern auch Montagsfrauen? Vielleicht war er auch zu
zurückhaltend. Ein Rennwagen konnte ja auch nicht nur im ersten
Gang bewegt werden. Camille brauchte mal eine Fahrt mit Vollgas.
Attila hatte schon überlegt, ein Kind zu adoptieren. Aber wie sah
das aus? Dass der Vater nicht konnte und sich jetzt eine Familie
aus dem Katalog zusammenstellte, so wie Madonna.
Vielleicht war es sogar ganz gut, dass Camille
nicht gleich in den ersten Monaten schwanger geworden war. Niemand
konnte ihm vorwerfen, Camille nur als schicke Gebärmaschine
verpflichtet zu haben.
Attila hatte sich eine umwerfende Strategie
einfallen lassen, um Ressentiments umgehend zu ersticken. Man
musste nur zwei Informationen in jedem Gespräch möglichst früh
streuen. Erstens: Ihr Vater war Professor, na gut, nur an einer
Berufsakademie und eigentlich auch nur Dozent, aber das prüfte ja
keiner nach. Und zweitens hatte sie ihre Abschlussarbeit über
Architektur in der Literatur geschrieben - faszinierendes
Thema.
Ein bisschen klassische Bildung konnte nicht
schaden. Seit Attila ganz am Anfang seiner Laufbahn bei
Wesley auf einer Konferenz mal von »Däntens Tod« geschwärmt
hatte und alle daraufhin anfingen zu lachen, war er mit kulturellen
Themen sehr, sehr vorsichtig geworden.
Der »Dänten« hing an ihm wie ein alter Kaugummi
unter der Schuhsohle. Neulich, als man in der Video-Schalte die
üblichen Ski-Angebereien austauschte, sprach die Bindinger »St.
Anton« leicht französisch aus; es klang wie »Stontong«. Die älteren
Kollegen brüllten vor Lachen. Er hatte Camille auch geheiratet,
damit sie ihm half, künftig solche überflüssigen technischen Fehler
zu vermeiden. Dummerweise war sie deutlich weniger
kulturinteressiert, als sie beim Kennenlernen behauptet hatte.
Neben Mode interessierte sie sich vor allem für jede Art von
Esoterik. Gleich in den ersten Monaten in Berlin war sie auf ein
paar Landsmänninnen getroffen, die sich ebenfalls an irgendwelchen
Hokuspokus-Geschichten berauschten.
Attila hatte immer gedacht, dass Esoterik eine
Spezialität von gelangweilten und nicht durchgehend belichteten
Prominenten-Gattinnen sei: Pilates mit Promi-Tante eben. Aber
offenbar war die Ukrainerin an sich ebenfalls empfänglich für
Vodoo. Camille war jedenfalls seit ein paar Monaten fest überzeugt
davon, in einem früheren Leben eine ägyptische Pharaonin gewesen zu
sein. Und im Mittelalter eine Hexe, die verbrannt wurde.
Attila hörte sich ihre Geschichten beim Essen
anfangs durchaus vergnügt an. »Hauptsache, du warst auch mal eine
Sklavin«, hatte er neulich mal gesagt. Fand sie gar nicht lustig.
Der heilige Ernst, mit dem Camille ihre früheren Leben bearbeitete,
machte Attila skeptisch. Ihre Obsessionen wurden immer schlimmer:
Sie wollte eine Rückführungs-Therapie machen, nicht so eine
Express-Nummer am Wochenende, sondern vier Wochen lang bei einem
Guru in Kalifornien; und sie wollte Yoga-Lehrerin werden.
Attila betrachtete die Entwicklung seiner Frau mit
einiger Sorge. Was würden die Kollegen bei Wesley sagen,
wenn sich herumsprach, dass seine frisch erworbene Frau plötzlich
bei zottelbärtigen Handauflegern am anderen Ende der Welt
herumspränge? Vielleicht könnte man die Legende verbreiten, sie
müsse sich um ihre kranke Mutter in der Ukraine kümmern.
»Ein Kind hatte noch jede Frau an die goldene
Kette gelegt.«
Eigentlich war die Lösung ganz einfach: Camille
musste schwanger werden, und zwar sofort. Ein Kind hatte noch jede
Frau an die goldene Kette gelegt. Eine tolle, junge, moderne
Familie - deswegen hatten sie schließlich doch überhaupt
geheiratet.
Attila spürte seine Innereien schon wieder
rumpeln. Eine ordentliche Darmreinigung gehöre übrigens zu jeder
professionellen
Rückführung, hatte Camille ihm heute Morgen noch erklärt.
Papperlapapp. Was interessierte ihn die Vergangenheit? Bei
Wesley wurde Zukunft gemacht. Von ihm.
14 UHR

Vergnügt bohrte Martin die Stahlspitze in das
blutige Lamm. Das Fleischthermometer zeigte zweiundfünfzig Grad -
perfekt. Er hatte den gespickten Rücken bereits am Morgen in den
Ofen geschoben. Dorothea aß fast kein Stück Fleisch mehr, das nicht
bei Biosauna-Temperatur, dafür aber tagelang gegart worden war.
Außerdem hatten Gäste dann das gute Gefühl, man habe sich sehr
akribisch auf ihren Besuch vorbereitet. Elternzeit ist wie
Niedrigtemperaturgaren, dachte Martin. Dauert ewig, und am Ende ist
man fertig. Gut, dass Ming endlich da war. Optisch war sie eine
ziemliche Enttäuschung. Mit ihren kurzen Beinen und dem gedrungenen
Leib war sie gemacht für die Arbeit im Reisfeld. Aber bei Happy
Parents hatte man geschworen, dass genau diese
Maschinenbaustudentin aus Shenzen das beste Kindermädchen aus der
ganzen großen Kartei sei. Happy Parents vermakelte nur High
Potentials als Babysitter. Ming sprach wirklich ein sehr
ordentliches Hoch-Mandarin, das hatten sie überprüft. Sie war
gehalten, den Kindern das Zählen beizubringen, Sätze des Alltags
und chinesische Lieder, aber nicht den Kommunistenkram.
Martin war erleichtert: Er war Norbert los, Ming
würde Otto abholen, beide unter Absingen eines albernen Abzählreims
in Mandarin bespaßen und schließlich ins Bett bringen. Die Kinder
würden nur noch einmal nerven, in jenem kurzen Moment, da sie für
Dorothea die glückliche Familie spielen und vor dem hohen Besuch
auftreten mussten.
Elternsein war eine prima Sache mit dem richtigen
Personal,
das leise, aber effektiv im Hintergrund wirkte. So wie die
Garten-Gabis, die gerade Blumenerde und Töpfe mit Grünzeug
anschleppten, um einen Hauch von Algarve auf ihre Dachterrasse zu
zaubern. Oder war es Stockholmer Schären-Stil? Keine Ahnung, was
Dorothea heute Morgen mit ihrem schwulen Geranien-Gustl besprochen
hatte. Hauptsache, heute Abend war alles perfekt.
Martin fragte sich, wie zwei arbeitende, aber
nicht üppig verdienende Eltern ihr Leben jemals organisiert
bekämen. Er taumelte ja schon ohne all diese helfenden Hände
permanent am Rande des Nervenzusammenbruchs.
»Elternzeit ist wie Niedrigtemperaturgaren,
dachte Martin. Dauert ewig, und am Ende ist man fertig.«
In der Küche arbeitete Frederic am Rest des Menüs.
Frederic hieß in Wirklichkeit bestimmt Wojciech und kam aus der
hinterletzten Minenstadt in Polen. Aber er nannte sich »Frederic«,
weil auch der dümmste Rübenbauer dann an »Chopin« und »Warschau«
dachte. Frederic hatte den gesamten Jamie-Oliver-Krempel drauf,
allerdings würgte es Martin beim Gedanken an jenes gipsgleiche
Erbsenpüree, das in den letzten drei Jahren bei so ziemlich jedem
Abendessen aufgetischt worden war. Aber Dorothea bestand auf Jamie
Oliver. Immerhin besser als LichterLaferLaber.
Heute Abend würde es Kaviar in Plattpfirsichen
geben, nicht die Massenware aus dem Supermarkt, sondern echte
Weinbergpfirsiche von einem kleinen Winzer an der Mosel, der die
Früchte einzeln verpackt verschickte. Ein paar geeiste
Salbeiblätter als Deko, und fertig war der erste Knaller.
Zum Lamm gab es dann fair gehandelte Kenia-Böhnchen, die
tatsächlich aus Kenia stammten, von einem Sozialprojekt, das
Martins Agentur seit zwei Jahren betreute. Unter dem Motto »Bohnen
statt Bomben« hatten sie zusammen mit einem Pharma-Unternehmen
einen Modellgarten anlegen lassen, wo hochwertiges Gemüse von den
Eingeborenen angebaut wurde.
Die Medien hatten sich wie verrückt auf das Thema
gestürzt. Und die Pharma-Firma war froh, dass diese unselige
Debatte über den Verkauf abgelaufener Psycho-Pillen in Afrika
endlich vom Tisch war. Was war schon dabei, wenn man Antidepressiva
zu günstigen Preisen verkaufte, Haltbarkeitsdatum hin oder her? Es
ging doch darum, dass dieser Elendskontinent endlich eine
Perspektive bekam. Und wer HIV-positiv war, der hatte garantiert
auch eine Depression. War das Haltbarkeitsdatum da wirklich so
wichtig? Ein kleiner Fehler war bei der PR für die Mustergärtnerei
allerdings unterlaufen: Die Vorstellung, dass ein aidsinfizierter
Farbiger genau die Bohnen in der Hand gehalten hatte, die man sich
gerade in den Mund steckte, erzeugte nicht bei jedem Gourmet große
Freude. Die HIV-Rate da unten war nun mal gewaltig; kein Wunder,
wenn es jeder mit jeder trieb. Und ob sie sich jedes Mal die Hände
wuschen, nachdem sie in der Zigarettenpause geschnackselt hatten -
wer wusste das schon.
Immerhin: Die fair gehandelten Kenia-Bohnen waren
exklusiv, die hatte sonst keiner in Berlin. Sie hatten eine Story.
So wie das Traubenkernöl, das gregorianische Mönche bei Vollmond
pressten, während sie ihre Choräle sangen. Wissenschaftler hatten
festgestellt, dass dieses Öl deutlich mehr Schutzsubstanzen gegen
freie Radikale aufwies. Zufall? Oder bestand tatsächlich ein
Zusammenhang mit dem weltweit einzigartigen Pressverfahren?
Immer, wenn es akribisch wurde, detailverliebt und
präzise, waren Männer im Spiel. Es waren Männer, die die
Kehrschaufel emaillierten, es waren Männer, die in Armenien jene
Türstopper drechselten, die sie erst neulich angeschafft hatten. Es
waren Männer, die der Ikeaisierung der Welt entgegenwirkten, die
Produkte mit unendlich viel Zuneigung perfektionierten, gerade beim
Kochen. Man musste ja nur mal beobachten, wie die männlichen Köche
in den Fernsehkochshows vor den Frauen flohen. Lafer, Mälzer,
Schuhbeck versteckten sich hinter Salatbergen, um nur nicht den
halbgaren Fisch probieren zu müssen, den Sarah Wiener aus dem Ofen
zog, mit einem angekohlten Stück Zitronengras obendrauf. Das war
die asiatische Note. Yingyang und so. Frauensymbolik. Martin hatte
eine Zitronengras-Allergie. Zitronengras, das war das Maggi der
Generation Carport. Irgendwann würde es Kondome mit
Zitronengrasgeschmack geben. Und die schmeckten ungefähr wie der
Ofenfisch von Sarah Wiener. Nur konnten die Männer-Köche das
natürlich nicht sagen. Man darf Frauen ja nicht kritisieren, schon
gar nicht im Fernsehen, auch wenn jeder weiß, dass sie nicht
vorrangig wegen ihres Talents, sondern wohl vor allem quotenhalber
mitkochen dürfen.
»Am Ende war der Feminismus kein
Gesellschaftsentwurf, sondern eine Sprach- und Denkregelung: Jeder
Furz von Frauen roch nach Lavendel, der Mann konnte da nur noch
stinken. Und wer das Gegenteil behauptete, war ein Chauvi-Schwein.
Basta.«
Das war das Tückische an der Geschlechterdebatte:
Jedes kritische Wort wurde sofort als Waffe interpretiert. Jungs,
die frech waren, hatten ADS, aber Mädchen, die sich genauso
aufsässig verhielten, galten als selbstbewusst. So kamen eben nicht
die guten Frauen nach oben, die wie jeder Mann das Stahlbad des
Täglich-kritisiert-und-damit-fertig-Werdens durchgemacht hatten,
sondern jene, die den Feminismus für ihre Zwecke am besten
umgedeutet hatten, mal die Reiterhof-Variante, wie Ursula von der
Leyen, mal kulinarisch wie Sarah Wiener oder sexualsekretal wie
Lady Bitch Ray.Am Ende war der Feminismus kein
Gesellschaftsentwurf, sondern eine Sprach- und Denkregelung: Jeder
Furz von Frauen roch nach Lavendel, der Mann konnte da nur noch
stinken. Und wer das Gegenteil behauptete, war ein Chauvi-Schwein.
Basta.

Lars steuerte sein Auto auf einen einsamen
Parkplatz in einem verlassenen Industriegebiet an der Spree. Mitten
in Berlin gab es überall Ecken, die menschenleer waren. Irgendwo
fand sich immer ein lauschiges Plätzchen für einen Quickie oder ein
kleines Nickerchen am Nachmittag.
Zufrieden klappte Lars den Liegesitz zurück. Das
Mittagessen mit dem Chef war schnell und überraschend schmerzlos
verlaufen. Faszinierend: Diese neue Generation von Business-Typen
war in Fünf-Minuten-Einheiten durchgetaktet. Lars hatte sechs
Einheiten bekommen; das war viel. Seinen Chef interessierte vor
allem, was dieser Hai von Wesley alles hatte wissen wollen,
der Lars einen Tag lang auf die Finger geschaut hatte.
Lars war Realist genug, um einzuschätzen, dass er
nicht besonders gut abgeschnitten hatte. Also versuchte er, den
Hai unglaubwürdig zu machen. Der habe überhaupt keine Ahnung vom
Business, erklärte Lars und flocht umgehend ein, dass er den
Vertrag mit seinem wichtigen Kunden um ein Jahr verlängert hatte,
erst heute Morgen. Der Chef nickte anerkennend.
Er war promovierter Informatiker, nicht nur fünf
Jahre jünger als Lars, sondern dazu auch noch ein netter Kerl,
verheiratet mit einer scharfen Designerin, mit der er ein süßes
Mädchen hatte. So viel Glück machte Lars fertig. Wenn der Chef ein
Arsch wäre, käme er besser mit der Situation zurecht. Aber
erfolgreicher als er selbst und obendrein in Ordnung, da fühlte er
sich sofort wie ein Versager, ein alternder Versager
obendrein.
Der Chef machte sich Sorgen wegen der
stagnierenden Zahlen, er hatte die Terminlisten überprüft, immer
weniger Außentermine, er wollte wissen, wo es klemmte. Lars war gut
in Form. Er redete wie ein Wasserfall. Er dozierte sich brillant
aus der Klemme, machte konstruktive Vorschläge, lenkte mit jedem
Satz von seiner eigenen Lustlosigkeit ab. Der Chef nickte
verständnisvoll, klopfte ihm auf die Schulter: »Gut, dass wir
erfahrene Kämpfer wie Sie an Bord haben, Lars! Arbeiten Sie nicht
zu viel, Sie sehen müde aus!« Lars grinste gequält.
Zum Abschied sagte der Chef: »Jeder hat mal so
eine Phase.« Das klang versöhnlich, aber Lars wusste genau, was er
dachte: Diese Phase sollte nicht zu lange dauern und sich auch
nicht wiederholen. War doch klar, wie der Hase lief. Sympathie,
Erfahrung, alles keine Kategorien - am Ende musste hinten ein
fettes Plus stehen, bei jedem einzelnen Posten, auch bei Lars.
Immerhin: Er hatte erst mal Bewährung bekommen; von Kündigung kein
Wort. Nach acht Jahren brauchte er mindestens zwei sehr gut
begründete Abmahnungen. Oder er hatte Recht auf eine fette
Abfindung.
Insgeheim wünschte er sich manchmal diese Lösung.
Dann könnte er morgen abrauschen nach Ko Phanghan. Zur
Full-Moon-Party.
Die quälende Frage war, wie er jemals das
Rentenalter in Würde erreichen sollte, ohne unterwegs von den Chefs
dieser Welt aufgefressen zu werden. Vielleicht machten sie vorher
schlapp, so wie sie an beiden Enden brannten; das roch alles nach
früher Verbitterung und Herzinfarkt mit Mitte vierzig, dafür hatte
Lars eine Nase. Die ersten grauen Haare kamen, hinten eindeutige
Anzeichen von Glatze, da konnten die Führungskräfte noch so viel
Marathon laufen. Und diese Mundfalten - der hatte doch
Magenprobleme. Lebt nur für die Firma, dachte Lars, will ganz hoch
hinaus, schrecklich, so wollte er nie werden. Der hatte
wahrscheinlich seit Wochen keinen Sex mehr. Einer wie der Chef
hatte nachts null Chancen im wahren Wettbewerb des Lebens. Lars
nickte ein.

Maik wachte auf, weil seine Knochen schmerzten,
vor allem der Rücken. Er liebte sein Auto, den Nissan Patrol
mit zwei Sitzreihen und Ladefläche. Nicht so eine blank gewienerte
Angeberkarre, die Ökologen zu Recht als zwei Tonnen schweren
Schwachsinn bezeichneten, sondern sein Arbeitsauto, geduldig,
ausdauernd, belastbar, treu wie ein Pferd. Wer Bäume, Kettensägen,
Felsbrocken durch die Gegend fuhr, musste keine Öko-Debatte
scheuen. Besonders stolz war Maik auf die Winsch, jene mächtige
Rolle, die ein Stahlseil locker aufwickelte, auch wenn ein Elefant
daranhing.
Maik checkte das Handy: eine SMS von Ulrike (»Denk
bitte an Henrys Fußballtraining heute, 17h. Wo steckst Du? Ich
liebe Dich«), zwei Anrufe aus dem Büro. Maik hatte immer
noch Watte im Kopf. Er stieg aus dem Wagen und blickte sich um.
Zwei fette Walkerinnen mit Hund verschwanden Richtung See.
Maik war allein. Gut so. Er war gern allein.
Leider viel zu selten. Maik richtete seine Schritte exakt in die
Richtung, in der er am wenigsten Weg vermutete. Er wollte richtigen
Wald, nicht die platt gelatschten Autobahnen, die Tausende von
Läufern, Kinderwagen, Spaziergängern planiert hatten. Wald, das war
Kanada. Oder Finnland. Hinter jedem Baum ein Grizzly. Maik
versuchte, seine schweren Schuhe so zu setzen, dass er kaum
Geräusche machte. Bei Karl May hatten ihn jene Passagen besonders
fasziniert, in denen Winnetou und Old Shatterhand auf den Finger-
und Zehenspitzen schlichen und selbst den kleinsten Blättern
auswichen. Genau so bewegte sich auch Häuptling Cooler Panther.
Maik träumte von einer Kanutour auf dem Yukon: Goldwaschen und
Fliegenfischen, ganz allein. Echte Fliegenfischer banden ihre
Fliegen selber, mit Haaren aus dem Gesicht eines Kaninchens, das
sie eigenhändig gehäutet hatten. Männer, die nie ein Tier mit
Haaren und vier Beinen selbst erlegt, abgezogen, gegrillt und
verspeist hatten, waren keine Männer, fand Maik. Das ganze Leben
war eine Mutprobe. Einem Hasen das Fell über die Ohren zu ziehen
und dabei in seine niedlichen kleinen Knopfaugen zu blicken, das
war ja wohl die geringste Übung. Nur wer hart sein konnte, war auch
in der Lage, wirklich weich zu sein. Das würden Frauen leider nie
kapieren.
»Männer, die nie ein Tier mit Haaren und vier
Beinen selbst erlegt, abgezogen, gegrillt und verspeist hatten,
waren keine Männer, fand Maik. Das ganze Leben war eine
Mutprobe.«

Attila stöhnte leise. Es war keine gute Idee
gewesen, mit dem Rad zu fahren. Sein Hinterteil brannte. Die Beine
baumelten so leer an ihm herab wie bei einer Bauchrednerpuppe. Er
hatte unterschätzt, was der lange Lauf heute Morgen und die
Magenreinigung gleich darauf bei ihm anrichten würden. Er hatte
überlegt, den Termin abzusagen. Aber wie hätte das gewirkt? Als
Schwäche. Als Gleichgültigkeit. Als Bequemlichkeit. Es waren gerade
die kleinen Gesten, die sich auf der Arbeitsebene herumsprechen und
ihm eine menschenfreundliche Aura verleihen würden. Empathie war
angesagt.
Attila hatte lange überlegt, was er anziehen
sollte. Es war ja keine rein dienstliche Besprechung, aber auch
nicht nur privat. Attila wollte alles über Golf erfahren: Klubs,
Reisen, vor allem Kontakte. Wie funktionierte das genau? Wo lag der
von allen gepriesene Wert, wenn man stundenlang zuerst kleine weiße
Bälle durch die Gegend drosch und hinterher noch viel länger danach
suchte?
Attila hatte lange im Ankleidezimmer zugebracht,
um die richtige Garderobe zu finden. Zuerst hatte er einen hellen
Sommeranzug ausprobiert, was auf seinem Wanderer-Rad
allerdings eine Spur zu affig gewirkt hätte. Shorts fielen aus, er
war ja nicht im Urlaub. Jeans waren womöglich immer noch eine Spur
zu casual, aber das war Attila egal. Man musste auch mal ein Risiko
eingehen. Und zu den Jeans das Poloshirt von La Martina mit
»Team Nepal«.
Attila mochte den kolonialen Charme. Wenn er sich
eine Epoche aussuchen dürfte, in der er wiedergeboren werden würde,
dann die große Zeit des Empires, als britischer Edelmann im Indien
der Maharadschas, zwischen Tigerjagd und Edelsteinhandel. Dieses
Polohemd gab ihm einen Hauch dieser Zeit. Dazu passte sein
Magengrummeln.
Eigentlich waren die vielen Gedanken zur Garderobe
völlig überflüssig. Bernhard war nicht wirklich wichtig; ein alter
Studienkollege, der als gut bezahlter Lobbyist für den
Bundesverband mittelständischer Süßwarenhersteller durch muffige
Abgeordnetenbüros streunte und für die Segnungen des Zuckers warb.
Idealer Job für Bernhard, der eigentlich nichts konnte, aber schon
als Jugendlicher ein starker Golfer gewesen war. Damit hatte er
sich sein Leben lang alle wichtigen Zugänge verschafft.
Bernhard wusste viel, kannte jeden, wurde überall
eingeladen - und alles nur wegen der Golferei. Golf bedeutete
offenbar eine ökonomische und gesellschaftliche Abkürzung, die
nicht allein deswegen schlecht sein musste, weil Attila bislang
noch nicht darauf gekommen war. Gleich nach dem Marathon würde er
zum King of Greens aufsteigen. Die Bindinger hatte angeblich schon
ein Handicap. Attila verkniff sich alle Wortspiele, die sich
anboten.
Als Attila den Garten des Cafés betrat, fiel ihm
sofort der erwartungsvolle Blick dieses leicht aufgeschwemmten
Mannes auf, der aussah, als sei er in diesen komischen
durchfallbraunen Anzug hineingeschweißt worden. Woher kannte er den
Typen, der da so angeberisch mit seinem iPhone spielte? Von
Wesley jedenfalls nicht. Irgendein Dienstleister bestimmt,
offenbar harmlos. Oder ein Computer-Heini, einer von diesen
Systembetreuern, die ständig in allen Büros umherwieselten und
heimlich speicherten, auf welchen Sex-Seiten er gesurft war.
Diese Nerds sahen auch nach der zwölften Million
noch aus wie die letzten Heckenpenner. Aber konnten es sich
anscheinend leisten, mittags schon im Café herumzulungern. Attila
hob die Hand zum Gruß. Alte Grundregel: Je weniger du dich an einen
Menschen erinnern kannst, desto herzlicher begrüße ihn. Der
Kotbraune grüßte freudig zurück. Um ein Gespräch zu vermeiden,
strebte Attila ins Café. Hoffentlich war Bernhard noch nicht da.
Attila verspürte enormen Druck auf dem Magen. Und marschierte
direkt zur Toilette.
Während er sich in der engen Klokabine mühte,
seine revoltierenden Eingeweide möglichst geräuschlos zu entleeren,
schoss ihm ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf: Er durfte ja
gar nichts essen, nicht mal trinken, außer Wasser. Wie sollte er
erklären, dass er sich eine Stunde lang mit einem stillen Wasser
beschäftigte?
Bernhard musste ihn für ein Sektenmitglied halten,
für magersüchtig, ultrageizig oder abgebrannt, jedenfalls für einen
Vollidioten.
Minutenlang hatte sich Attila bemüht, das Plastik
der Klobrille nicht zu berühren. Jetzt gab er auf. Mit einem
Seufzer ließ er sich auf die Brille sinken. Seine Oberschenkel
waren zu schwach. Sein Magen dankte es ihm mit einer kapitalen
Furz-Sonate, die einen feinen Sprühregen von Abführsäure in der
Schüssel verteilte. Erschrocken hörte Attila am Rauschen des
Wasserhahns, dass sich draußen offenbar ein Zeuge befand, der sich
soeben die Hände wusch.
Attila hasste diese Momente, wenn er vom Klo
zurück in eine Gaststätte kam und genau wusste, dass dort irgendwo
ein Mensch saß, der geheimste Dinge von ihm wusste und sie bestimmt
haarklein seiner Begleitung erzählen würde. Was wäre, wenn
ausgerechnet Bernhard nun seinen Furz-Orkan mitgehört hatte?
»Echte Kerle hatten vor der Wahrheit keine
Angst, ziemlich selten jedenfalls. Und dann hatten sie einen guten
Grund.«
Attila hatte genau zwei Chancen: Entweder
errichtete er für Bernhard ein komplexes Lügengebäude, das
jederzeit einstürzen konnte. Oder er versuchte es schlichtweg mit
der Wahrheit. Echte Kerle hatten vor der Wahrheit keine Angst,
ziemlich selten jedenfalls. Und dann hatten sie einen guten
Grund.

Jochen fühlte sich schick in seinem braunen Anzug.
Er hatte sich einen strategisch günstigen Platz zwischen Eingang
und Zaun gesucht; alle Gäste mussten an ihm vorbei. Seit einer
halben Stunde blätterte er nun schon in dem P-Magazin, aber es
schien keinen Menschen zu interessieren. Auch das iPhone
fiel nicht besonders auf. In dieser Wohngegend lag praktisch auf
jedem Tisch eines davon.
Zweimal hatte er versucht, eine einzelne Frau
anzusprechen, ob sie nicht so ein schickes Handy geschenkt haben
wollte. Die erste hatte so getan, als hörte sie ihn überhaupt
nicht, die zweite hatte wortlos ihr iPhone aus der hinteren
Jeanstasche gezogen. Der Kellner hatte schon skeptisch geguckt.
Gäste, die nicht viel konsumierten, aber zugleich einen
Strukturvertrieb im Café aufzogen, waren nicht übermäßig
beliebt.
Jochen spielte gelangweilt mit dem iPhone,
als auf einmal dieser Typ den Garten betrat. Woher kannte er das
blasierte
Gesicht? Ja, klar, der Jogger von der Tanke, der schon in aller
Herrgottsfrühe durch die Stadt rannte. Merkwürdig, er war mit dem
Rad gekommen. Jochen hätte ihn eher für einen Jaguar-Fahrer
gehalten, der von morgens bis abends in einem Büro hockt und in der
Mittagspause seine Assistentin vögelt. Anwalt oder so was.
Die zackig hochrasierten Bürstenhaare am
Hinterkopf im Zusammenspiel mit der lang gewachsenen Tolle vorne
wie-sen auf den ewigen Popper hin, der schon in der Schule
Lacoste-Polos und einen überheblichen Blick auf seiner Vespa
spazieren gefahren und Segelschuhe mit weißen Sohlen getragen
hatte. Heute trug er La Martina, was in seinem Ranking der
peinlichsten Marken ganz dicht hinter Ed Hardy kam. Der Typ
hatte offenbar keine Ahnung von Stil. Zum Laufen hatte er doch auch
nur einen Blackberry dabei? Vielleicht war er reif für ein
iPhone?
Ihre Blicke begegneten sich. Grüßen oder nicht,
fragte sich Jochen. Er hob kurz das Kinn und sagte ein stummes
Hallo. Das war ein Gruß, aber kein richtiger, halbwegs höflich,
aber nicht peinlich. Der Popper stutzte einen Moment, dann erhob er
die Hand zu einer richtigen offiziellen Geste der Begrüßung, er
lächelte sogar.
Jochen fühlte sich geschmeichelt. Dieser Mann
hatte es nun wirklich nicht nötig, ihn zu grüßen. Natürlich konnte
man den Popper für ein Arschloch halten, schon wegen der Frisur.
Andererseits musste man auch mal anerkennen, dass er es offenbar
geschafft hatte: Er konnte sich einen Nachmittag im Café leisten,
zugleich brachte er die Disziplin auf, schon morgens früh zu
trainieren. Wahrscheinlich besaß er eine Dachgeschosswohnung und
darin einen unglaublichen Feger von Frau. Jochen überlegte, ob er
diesem Mann eine Mitgliedschaft im P-Klub antragen sollte? Lieber
nicht. Der Kerl war alles, aber kein Schnäppchenjäger.
Sein Leben lang hatte Jochen solche Typen
verachtet. Inzwischen allerdings sah er deutliche Vorteile von Geld
und Erfolg. Was hatte er davon, dass er fast mal ein
Millionen-Unternehmen gegründet hätte und deswegen in bestimmten
Kreisen noch immer einen legendären Ruf genoss? Was hatte er davon,
dass er sich mit Pink Floyd auskannte wie kaum ein anderer,
dass er wusste, was Syd Garrett 1965 in St. Tropez getrieben hatte
und wie die Science-Fiction-Hörbilder »Astronomy Domine« oder
»Interstellar Overdrive« entstanden waren.
Fakt war: Er musste an der Tanke arbeiten, um über
die Runden zu kommen, er musste sich als Drücker verdingen, er aß
wie vor zwanzig Jahren kalte Ravioli mit zerbröselten Erdnussflips.
Nur an guten Tagen hatte er auch eine Scheiblette, die er
obenauflegen konnte. Jetzt war auch noch Bretti weg. Und diese
Radio-Stalinistin würde ihm heute Abend womöglich noch den letzten
Rest Perspektive stehlen, wenn sie das revolutionäre Format von
Beyond Cool killen würde.
Wenn Jochen mal ganz ehrlich war zu sich, und das
war er selten, dann hatte er ziemliche Angst vor der Zukunft. Er
musste sein Leben ändern, hier und jetzt sofort. Jochen beschloss,
nachher im Supermarkt einen Apfel zu kaufen und das Altpapier
runterzubringen. Er würde sogar sein Bett beziehen, wenn er noch
irgendwo ein frisches Laken fände. Und morgen würde er mit Laufen
anfangen, so wie dieser La-Martina-Popper. Marathon, das
war’s.
Das würde auch seine neue Nachbarin beeindrucken,
von der er sich neulich Spülmaschinentabs geliehen hatte, obwohl er
gar keine Spülmaschine besaß. Aber er fand, dass Fernsehwerbung
immer einen guten Anknüpfungspunkt für erste Gespräche bot. Leider
war die Nachbarin gerade auf dem Sprung, wie sie sagte. Aber da
ging was, das
spürte Jochen. Für die Nachbarin würde er eine Ausnahme machen mit
dem Frauenverachtungsgelübde.
15 UHR

Dieser Jochen war ja eine seltsame Type. Maik
hatte fast vor dem Café geparkt. Degenerierte Wohlstands-Kids
hatten seinen Geländewagen stumm bestaunt. Und dieser Jochen hatte
vor einem leeren Cola-Glas gesessen und so getan, als ob er ein
Bohemien sei. Maik roch zehn Meter gegen den Wind, dass der Kerl
voller Komplexe und Probleme steckte. Wer nachts auf der Tanke
Schichten schob und tagsüber in einem schlecht sitzenden Anzug in
einem Café lungerte, der führte ein Leben in Unordnung. Aber
immerhin war er ein korrekter Typ, der ihn mit seinem Anruf bei
Ulrike aus höchster Not gerettet hatte. Echte Kerle fragten nicht
lange, sondern spielten mit. Maik bedankte sich noch einmal,
drückte Jochen noch einen Zwanziger in die Hand und ging zurück zu
seinem Auto.
»Echte Kerle fragten nicht lange, sondern
spielten mit.«
Es gab nichts mehr zu reden. Der Coole Panther
machte keine überflüssigen Worte.
»Hast du dein Portemonnaie wieder?«, hatte Ulrike
gesmst. »Ja«, antwortete Maik. Wenn seine Frau die demonstrative
Kürze seiner SMS zu deuten verstand, dann müsste sie eigentlich
kapieren, dass er keine Lust hatte, permanent Banalitäten durch die
Gegend zu schicken, zumal er ohnehin schon auf dem Weg nach Hause
war. Das Fußballtraining von Henry war ein heiliger Termin, ein
symbolischer Akt, ein Ritual, von dessen sklavischer Einhaltung der
gesamte Familienfrieden inklusive Ulrikes Wochenlaune abhing.
Erfüllte Maik diese Pflicht, war alles im Lot.
Maik lenkte den Wagen auf die Autobahn
stadtauswärts nach Reihenhausen, das unglaublich praktische
Endlager für einst lebensfrohe Zeitgenossen. Er hatte das Gefühl,
dass sich sein Herzschlag verlangsamte, die Bluttemperatur sank,
seine Reflexe einfroren und sich das Denken nur noch auf zwei, drei
Themen konzentrierte: Wie geht es den Kindern? Was sollen die
Nachbarn denken? Was schaffen wir uns als Nächstes an?
Ein schwerer Laster vor ihm bremste abrupt. Maik
tippte lässig auf die Bremse. Er schnallte sich nie an. Dann konnte
er ja gleich einen Helm zum Fahrradfahren aufsetzen, so wie all die
anderen schwanzlosen Lurche in seinerSiedlung. Maik überlegte, was
wohl geschehen würde, wenn er genau jetzt in die Leitplanken
donnerte, sich mehrmals überschlug und der schwere Wagen so brutal
auf den Asphalt knallte, dass die Feuerwehrleute sich übergeben
mussten beim Anblick jener Matsche, die mal Maik gewesen war. Was
wäre dann?
Ulrike würde heulen, die Kinder auch. Aber relativ
bald hätte die Versicherung überwiesen, Anna bekäme ein Pferd,
Henry einen neuen Computer, und alle hätten sich auf das bewährte
Mantra geeinigt, dass das Leben schließlich weitergehen
müsse.
Maik stellte sich vor,dass alle Frauen, die er
jemals gevögelt hatte, auf seiner Beerdigung erscheinen würden, am
besten im Spalier aufgestellt, durch das der Sarg getragen würde.
Er wusste nicht genau, ob er einen solchen Aufmarsch eher peinlich
oder großartig finden sollte. Ulrike würde sich vermutlich wundern.
Immerhin würde das Leid auf diese Weise in Grenzen gehalten. Gut
so.
Eines Tages würde er wirklich verschwinden, am
liebsten
nach Costa Rica, die Schweiz Mittelamerikas. Gute
Gartenarchitekten konnten überall arbeiten auf der Welt, zur Not
sogar in Bangladesh. Lieber zweimal im Jahr die Papphütte
weggeschwemmt, als lebenslänglich Leni und Heinz. Ulrike würde
klarkommen. Interessant wäre allenfalls, wann sie einen neuen Kerl
hätte und, vor allem, wen.
Maik fand, dass ihm ein neues Leben zustand, wenn
er im alten nicht übermäßig viel Unordnung hinterließ. Es war
schließlich sein Leben, sein einziges. Ein Viertel davon hatte ihm
die DDR schon genommen. Er wollte am Ende seiner Tage auf gar
keinen Fall diesen fürchterlichen Gedanken haben: »Hätteste mal …«
Hätteste damals doch diese Frau gevögelt … Hätteste damals mal
deinen Plan verwirklicht … Hätteste dich damals doch getraut, mit
Fee durchzubrennen … Hoffentlich hatte er die Kohle für Costa Rica
nicht erst zusammen, wenn er nur noch mit Rollator durch die
Straßen zockeln könnte.

Attila hatte den Golftermin stark abgekürzt.
Bernhardwar in Plauderlaune gewesen, während Attila versucht hatte,
seinen Magen mit verschiedenen autosuggestiven Beschwörungen zu
beruhigen. Attila war fest überzeugt, dass Bernhard tatsächlich der
Zeuge seines Flatulenz-Konzerts auf der Toilette gewesen war. Und
Bernhard wusste auch, dass die ekligen Geräusche von Attila
stammten.
Attila hatte sich dennoch dagegen entschieden, den
Grund seiner Radikalabführung darzulegen. Er murmelte etwas von
Austern, die wohl schlecht gewesen waren, und bestellte sich zum
Beweis seiner inneren Stabilität einen doppelten Espresso. Das war
mengenmäßig praktisch nichts, dennoch entfaltete der Kaffee eine
gewaltige Sprengkraft. Attila
hatte kaum die Tasse an die Lippen geführt, da musste er auch
schon einen Sprint Richtung Klo ansetzen. Bernhard guckte halb
amüsiert, halb besorgt, als er zurückkehrte. Weil jedes Gespräch
ein verlässliches Ergebnis brauchte, hatte sich Attila, wenn auch
widerwillig, bereit erklärt, an einem Samstagvormittag mitzukommen
in Bernhards Golfklub, um ein paar Bälle zu schlagen und zu sehen,
wer sich dort herumtrieb. Attila hasste die Rolle als Praktikant.
In seiner Position war er Meister, nicht Schüler. Was sollten denn
die anderen Golfer denken? Andererseits musste er sich jeden Tag
blamieren, auch an Wochenenden.
Er schob gerade sein Rad über den Marmor des
Hausflurs in den Hof, als Camille anrief. Sie stand noch im Foyer
der Klinik, mit den Untersuchungsergebnissen unterm Arm. »Bei mir
ist alles in Ordnung«, rief sie freudig in den Hörer, eine Spur zu
laut, wie Attila fand.
Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu
übersetzen, was diese Nachricht bedeutete: Er hatte ein Problem.
Und was für eins. Er sank über dem Rad zusammen. Seine Beine
zitterten. Attila, der Schreckliche, verbreitete Furcht im ganzen
Land, aber einen kleinen Tropfen Heldensaft bekam er nicht aus den
Lenden gepresst. Da musste ein Versehen vorliegen, keine Frage.
Überall wurden Reagenzgläser vertauscht, Röntgenbilder, Babys, das
war sicher auch bei Camille passiert.
»Ist das ganz sicher?«, fragte er seine
Frau.
Sie sagte nur: »Hundert Prozent.«
»Wir sollten unbedingt ein zweites Gutachten
einholen«, fand Attila, vor allem eins auf psychologischer
Grundlage. War doch völlig klar, dass Camille durcheinander war:
die kulturelle Veränderung, der gesellschaftliche Druck, all das
Neue und Ungewohnte. Es war völlig eindeutig, dass Camille die
Schuld trug. Es musste nur bewiesen werden.
»Ich finde, jetzt bist erst mal du an der Reihe«,
sagte keck die Frau, die er aus dem Elend geholt und zu dem gemacht
hatte, was sie jetzt war: die Gattin des künftigen Chefs von
Wesley. Etwas mehr Dankbarkeit war doch wohl
angezeigt.
»Ich spreche natürlich heute mit Professor
Schneider darüber«, erwiderte Attila förmlich und spürte zugleich
eine bislang unbekannte Beklommenheit aufsteigen, die er als eine
Art Angst identifizierte. Angst? Was war das? Kannte er nicht.
Wollte er nicht. Hatte er nicht.
»Es gab Themen, bei denen es nicht viel zu
sagen gab. Potenz, eine funktionierende Samenmaschine,
Zeugungsmacht, das alles war doch eine Selbstverständlichkeit, erst
recht für eine Führungskraft. Was sollte man groß darüber
reden?«
Er hatte keine Probleme damit, nutzlose
Mitarbeiter zu feuern, er sagte Geschäftsführern eiskalt ins
Gesicht, welche Probleme sie hatten mit ihren Unternehmen - aber
der Gedanke an ein Schwanzgespräch machte ihm dann doch ernste
Sorgen.
Es gab Themen, bei denen es nicht viel zu sagen
gab. Potenz, eine funktionierende Samenmaschine, Zeugungsmacht, das
alles war doch eine Selbstverständlichkeit, erst recht für eine
Führungskraft. Was sollte man groß darüber reden? Diese ewige
Quatscherei war auch so eine Frauenerfindung.

Martin war am Schreibtisch eingenickt. Vor ihm,
auf feinem Papier, der Entwurf zum Vorwort seines ersten Buches.
Jeden Tag feilte Martin daran. Zufrieden war er allerdings noch
immer nicht. »Lange hatte Darwin recht: Die Evolution schien ein
unaufhaltsamer Prozess der kontinuierlichen Qualitätsverbesserung
zu sein. Das eherne Gesetz des Fortschritts lautete: Das Bessere
ist der Feind des Guten. Ob bei Gänseblümchen, Fruchtfliegen oder
Nasenbären - stets galt: Starke Eltern zeugen noch stärkere
Kinder.
»Die Spannung zwischen Männchen und Weibchen,
die bislang die Fortpflanzung sicherte, ist einer ziellosen
Kopulation gewichen, der jede evolutionäre Logik fehlt.«
Doch der Mensch hat diesen ebenso brutalen wie
segensreichen Mechanismus nicht nur außer Kraft gesetzt, sondern
sogar umgekehrt, wie dieses Buch anhand eindrucksvoller Belege aus
allen Disziplinen der Wissenschaft belegt. Fakt ist: Die Evolution
läuft inzwischen rückwärts.Aus Darwins Treppe zur ewigen
Verbesserung wird die NIWRAD-Spirale, die unerbittlich nach unten
weist. Die Menschheit entwickelt sich unaufhaltsam zurück. Die
Spannung zwischen Männchen und Weibchen, die bislang die
Fortpflanzung sicherte, ist einer ziellosen Kopulation gewichen,
der jede evolutionäre Logik fehlt.
Grundlage für diese bahnbrechende Erkenntnis ist
eine ebenso einfache wie erschütternde Beobachtung. In sozial
problematischen Gegenden verläuft die Reproduktion ungefähr
doppelt so schnell wie in besser gestellten Vierteln. Frauen aus
der Unterschicht bekommen Kinder mit Anfang zwanzig, in zwei
Jahrhunderten wachsen also acht Generationen nach. Hoch gebildete
Frauen dagegen bekommen ihr erstes Kind immer später, oft erst mit
vierzig. In zwei Jahrhunderten wachsen also nur fünf Generationen
nach. Soziale Brennpunkte weisen gleichsam im Zeitraffer auf die
Gesellschaft der Zukunft hin: Das über Jahrhunderte
ausdifferenzierte Rollenspiel zwischen Mann und Frau, aber auch die
klare Aufgabenzuweisung an Mutter und Vater findet hier kaum noch
statt. Frauen sehen aus und reden wie Männer und umgekehrt: Alle
haben Brüste und Bauch, Tätowierungen und Fremdenlegionärsfrisur,
sind abhängig von Alkohol oder Drogen und verbringen den Tag im
Dreieck von Sozialamt, Discounter und Fernseher. Sie vermehren sich
ungehemmt, wobei völlig gleichgültig ist, unter wessen Regime die
Kinder verwahrlosen. Erziehungsinstanzen sind Internet und
Ghetto-Gang.
Da eine soziale Durchmischung der Eltern kaum noch
stattfindet, wird die Diktatur der Massen unausweichlich kommen.
Die Eliten unseres Landes dezimieren sich zugleich selbst und
werden ihren Einfluss in einer Aufregungsdemokratie immer weniger
durchsetzen können.
Die rapide wachsende gesellschaftliche Mehrheit
ist geprägt von unzureichender Bildung, unklarer Verantwortung und
zerfallenden Rollenbildern. Der Mehrheitsdruck wächst unaufhörlich,
zugleich schrumpfen die Eliten. Die NIWRAD-Spirale hinterlässt eine
vormoderne Gesellschaft, die mit demokratischen Spielregeln nicht
mehr zu organisieren ist. Die Menschen werden sich in archaischen
Strukturen organisieren, vom Stamm bis zur Herde; es zählt das
Recht des Stärkeren.«
Rumms. Das war mal ein Auftakt. Jetzt fehlte nur
noch der Rest vom Buch.
Martin war begeistert von sich: ein großer Wurf.
Ein mutiges Werk, das soziale Beobachtungsgabe, philosophische
Tiefe und gesellschaftskritischen Mut vereinte zu einer
erschreckend realistischen Vision des Deutschland 2020, mit der er
den Verlustängsten der bürgerlichen Stände ein neues Ventil gab.
Eine einzigartige Chance: Auflagenmillionär, Haltungsgott und
Medienstar - endlich raus aus dem PR-Mief. Dorothea würde stolz auf
ihn sein - sie hasste den Pöbel und sah ihn auch zu Höherem
berufen. Die Welt sollte endlich mal sehen, was für ein Kerl er
war.
Mit diesem Text würde er heute glänzen, beim
Brainstorming. Vielleicht konnte er das Papier in der Agentur
verteilen oder wenigstens unauffällig liegen lassen, so als habe er
es einfach nur vergessen. Alle würden sich darauf stürzen, sobald
er verschwunden war. Er spürte, dass etwas Großes im Werden
begriffen war.

Es roch ein bisschen komisch, registrierte Lars
benommen, als er aus einem Albtraum erwachte. Es könnte sein
eigener Atem sein. Der Mundraum war mit Pelz ausgelegt, Restpelz
vom Vorabend. Neulich hatte Lars ein Schamhaar in seinen
Backenzähnen gefunden. Anhand von Länge, Stärke und Farbe hatte er
versucht, herauszufinden, wem es gehören könnte. Der Kreis der
Verdächtigen war relativ klein, viele Frauen trugen ja gar keine
mehr.
Lars schwitzte. Er war im Traum an einer
Tankstelle gewesen und hatte mit dem Chef ein Personalgespräch
geführt. In seinem Cabrio saß Sandra, am Steuer. Neben ihr lümmelte
lässig Sandy, die aber aussah wie Jasmin. Sie hatte
einen Arm um Sandra gelegt, beide waren nackt. Sandra löste mit
entschlossenem Blick die Bremse und setzte an, ihn und den Chef zu
überfahren. Da war er aufgewacht, nass geschwitzt.
Sein Herz pumpte schwer. Man konnte auch in seinem
Alter einen Herzinfarkt kriegen, ohne Vorwarnung. Er dachte in
letzter Zeit oft darüber nach, wenn er in seinem Gym auf dem
Laufband stampfte. Die Leichtigkeit von früher war dahin. Und
neulich hatte er links so komische Stiche. Links! Auf der
gefährlichen Seite. Er durfte nicht mehr so oft ausgehen. Der
steckte das alles nicht mehr so leicht weg, der verdammte Körper,
Regeneration dauerte länger als früher.
Die kleine, süße, blonde Cindy mit dem
Bauchnabelpiercing an der Vitaminbar neben den Freihanteln hat ihn
vorgestern gefragt, ob er nicht langsam mal mit Marathon anfangen
wollte, das sei doch die beliebteste Sportart für Männer ab
vierzig. Angelacht hatte sie ihn dabei mit ihren gebleachten
Zähnen. Da wusste er, dass er sich seine Anbaggerversuche sparen
konnte. Und auch die Brust nicht mehr so anspannen musste, wenn er
an ihr vorbei ging. Lars rief in seinem Büro an, aber nur in der
Zentrale, er konnte jetzt nicht mit Jasmin sprechen, noch nicht,
auf keinen Fall. Er sagte in der Zentrale Bescheid, dass er
überraschend noch einen Außentermin bekommen habe, er schaue später
noch mal rein.
Lars tat alles weh nach seinem kurzen Schlaf im
Auto. Er fühlte sich alt und eingerostet. Er verabredete per SMS
ein Doppeldate für den Abend: Doro und ihre Freundin Nicky. Danach
checkte er die Anrufliste im Handy. Das tat er mindestens einmal
täglich, sonst verlor er völlig den Überblick. So wie jetzt. Er
hatte die Anrufe zwei Tage lang einfach vergessen, nur
zwischendurch die SMS abgerufen.
Achtundvierzig Stunden ohne Kontrolle. Dabei konnte er sich kaum
merken, was er vor acht Stunden getan hatte. Manchmal dachte er
schon an Alzheimer. Die Klubnacht und der anschließende Quickie
hatten dann alles komplett durcheinandergebracht, wie sollte er da
jemals wieder durchblicken.
Er ging die Liste durch. Au weia. Rita, Sandy,
Jasmin und eine 0190-Nummer, angerufen letzte Nacht. Und zwar um 4
Uhr 12, 4 Uhr 18, 4 Uhr 32 und um 5 Uhr 12. Das Letzte war eine
seiner Sexhotlines, das war egal, aber die anderen?! Hatte er mit
ihnen gesprochen? Er konnte sich an nichts erinnern, völlig hacke.
An die Gespräche mit Katrin und Nina davor schon. Danach: ein
fürchterliches Loch. Um 5 Uhr 12, war er da nicht schon mit dieser,
wie hieß sie noch, Sandra, unterwegs gewesen?
Er checkte die Gesprächsdauer. Zweimal anscheinend
sofort aufgelegt, beim dritten Anruf, dem bei Jasmin, vier Minuten
geredet. Mit wem? Mit ihr? Oder ihrem Anrufbeantworter? Er wusste
nicht, was er schlimmer finden sollte. Sie hatte sich heute Morgen
im Büro zumindest nichts anmerken lassen.
Sein Kopf fiel zurück. Und wer war überhaupt diese
Sandy? Wer hatte ihre Nummer in seinem Handy gespeichert? Und wann?
Und warum? Die Scham legt sich um seinen Hals wie eine eiserne
Kette. Ich bin das Allerletzte, dachte Lars, ich bin ein vierzig
Jahre alter Volltrottel. Wenn er richtig überlegte, eigentlich
schon fast einundvierzig. Daran wollte er jetzt nicht denken, der
Rest war hart genug.
Jasmin! Ausgerechnet seine Assistentin. Die mit
den bauchfreien Tops über den strammen Brüsten. Lars spürte eine
aufkommende Erektion. Er ignorierte sie. Er wollte sich strafen. Er
musste sein Leben ändern. Heute noch. Diesmal aber wirklich. Sonst
würde er hier noch mit fünfzig so würdelos
herumliegen, in einem verlassenen Industriegebiet, wo ihn niemand
jemals finden würde, wenn er genau jetzt röchelnd starb, weil der
Infarkt ihn erwischt hatte, ausgerechnet ihn, den
Unverwundbaren.

Soeben hatte Jochen beschlossen, die Schicht für
heute zu beenden. Mit einer Cola light und einer Tasse Milchkaffee
hatte er es fast zweieinhalb Stunden im Café ausgehalten. Aber kein
einziger Kunde hatte angebissen. Dafür war der Kellner alle drei
Minuten gekommen und hatte gefragt, ob’s denn noch etwas sein
dürfte.
Der Popper war lange wieder verschwunden; er hatte
sich mit einem anderen Popper weithin hörbar über Golf unterhalten.
Auf der Liste der überflüssigsten Themen auf der ganzen Welt
kämpfte Golf gegen Konjunkturprognosen und Hühneraugenpflaster um
die Spitzenplätze.
Der schräge Typ, dessen Frau er heute Morgen die
Diebstahlgeschichte aufgetischt hatte, war vorbeigekommen, um sein
Portemonnaie abzuholen, und hatte ihm noch zwanzig Euro in die Hand
gedrückt. Korrekt. So war er heute wenigstens zu etwas Kohle
gekommen.
Just in dem Moment, da er endlich aufstehen
wollte, nachdem er ein letztes Mal die Chancen für Blickkontakte
ringsum gecheckt hatte, klingelte Jochens Handy. Bretti war dran.
Jochen mühte sich, seine Freude zu unterdrücken, und gab sich
betont cool. Bretti wollte heute Abend mit ihm reden. Offenbar
hatte er doch noch so etwas wie ein Gewissen. Jochen tat so, als ob
er eigentlich gar keine Zeit hätte. Er murmelte etwas von »neuen
Mitbewohnern«, um Bretti zu verletzen.
Gerade als Bretti ungehalten wurde und »Red doch
nicht
so’n Scheiß …« sagte, da kam ein weiterer Anruf. Jochen erkannte
im Display die Nummer seiner Mutter. Verdammt. Er hätte die alte
Dame längst zurückrufen müssen. »Wart mal’ne Sekunde«, rief er in
Brettis Tirade und wechselte zum anderen Gespräch. »Ja, hallo,
Mutter, ich wollte dich auch noch anrufen, aber ich habe gerade
einen Kunden in der anderen Leitung«, sagte Jochen. Seine Mutter
sagte nur: »Ja, ja, immer gehen andere vor« und schwieg dann eine
ihrer endlosen Pausen. Im Hintergrund hörte er den Fernseher
laufen, wahrscheinlich ein hirnloser Verkaufskanal, der zeltartige
Morgenmäntel anbot.
Jochen graute bei der Vorstellung, dass seine
Mutter zu den Frauen gehörte, die in die Live-Show hinein anriefen
und sich in Begeisterungsschreien über die sensationelle Qualität
von Plastikwäsche ergingen, nur um auch mal ins Fernsehen zu
kommen.
Jochen verfluchte sich. Warum war er überhaupt
drangegangen. »Ich ruf’ dich gleich noch mal in Ruhe an«, sagte er
und brachte es tatsächlich fertig aufzulegen. Er hörte noch ein
weiteres »Ja, ja« seiner Mutter. Jochen wechselte die Leitung.
»Bretti?« Doch Bretti hatte aufgelegt. Jochen tippte eine SMS: »Bin
ab 21h da. Aber ohne Weiber.« Bretti antwortete umgehend mit
»ok«.
Jochen überlegte, ob er jetzt sofort seine Mutter
anrufen sollte. Aber das war unglaubwürdig. Ein erfolgreiches
Kundengespräch dauerte länger. Jochen fragte sich, was seine Mutter
genau in diesem Moment wohl machte. Sie hockte allein in ihrem
düsteren Reihenhaus, so wie fast immer seit dreißig Jahren.
Entweder hatte sie sich vor den Fernseher gesetzt. Oder sie saß in
der Küche, blickte trübsinnig aus dem Fenster in der Hoffnung, dass
jemand vorbeikäme und überlegte, welche ihrer vielen Pillen sie
denn jetzt mal nehmen könnte.
Manchmal hatte Jochen das komische Gefühl, Akteur
einer gigantischen Inszenierung zu sein, der Einzige allerdings,
der nichts davon wusste. Vielleicht war seine Mutter nur eine
Schauspielerin, die ihn absichtlich in Konflikte stürzte,
vielleicht war auch Bretti gar nicht Bretti, sondern ebenfalls ein
Darsteller genauso wie der Popper, der Kellner, Frau Kackdie-Wandan
vom Radio und alles wurde abends zur besten Sendezeit in einem
TV-Sender übertragen, den er gar nicht kannte?
Vielleicht war er, Jochen, der Star einer großen,
Jahre dauernden Fernseh-Serie, ohne es zu wissen - so wie die
Truman-Show: geboren, aufgewachsen, gelebt fürs Fernsehen.
Vielleicht hatte er deswegen keinen Sex, weil natürlich Kinder
zuguckten, die seit Jahren mit Jochen-T-Shirts zur Schule
gingen.
Eines Tages würde er genügend Punkte gesammelt
haben und mit einem großen Finale belohnt werden. Er würde ein paar
Millionen kassieren und die geilsten Frauen aus den Tausenden von
Fanbriefen heraussuchen. Jochen gab die Hoffnung nicht auf, dass er
etwas Besonderes war.
16 UHR

Martin stand wie jeden zweiten Tag in der
Apotheke. Er war Premium-Kunde. Der Apotheker, ein pickeliger,
dicker Mann mit weißen Klümpchen in den Mundwinkeln, sah
branchentypisch ungesund aus, hatte ihm aber freiwillig zehn
Prozent Rabatt auf alles eingeräumt. Normalerweise kaufte Martin
Soja-Eiweiß, weil Dorothea glaubte, davon abzunehmen, er erwarb
Vitasprint für sich und Orthomol für alle. Der Glaube
an teure bunte Süßigkeiten, die mit ihrer leicht bitteren Note
Heilkraft, Jugend und Vitalität versprachen, klebte ihn und
Dorothea zusammen.
Heute war die Aufgabe besonders heikel. Dorothea
hatte ihm morgens »ganz dünne Binden« auf seinen Aufgabenzettel
geschrieben. Martin fühlte sich wie der Dienstbote. War er ja auch.
Aber nicht für alles. Es gab Frauensachen, die sollte ein Mann gar
nicht so genau wissen. Dazu gehörte zum Beispiel alles, was aus
einem Slip ragen konnte und aussah, als habe es einen
Langstreckenflug hinter sich. Ob »ganz dünn« eine Chiffre für
»homöopathisch« war, also was Sanftes, eine Art Wellness-Binde,
nicht so süß? Der Apotheker war wirklich ein feiner Kerl. Er
grinste nicht mal, als Martin endlich seine Bestellung aufgab,
nachdem alle anderen Kunden den Laden verlassen hatten. »Tja, da
wollen wir mal sehen«, sagte der Pillendreher und ging auf ein
Regal zu, das Martin noch nie zuvor gesehen hatte.
»Warum sind Frauen toll, wenn sie Kondome
kaufen, aber Männer lächerlich, wenn sie nach Binden
verlangen?«
Tatsächlich: Saugfähiges, so weit der Körper
tropfte. Windeln, für Babys wie für Senioren, nur keine ganz dünnen
Binden. Martin war froh, dass er sich in einem Alter befand, das
ziemlich genau zwischen den beiden großen Windelphasen des Lebens
lag. Frauen kannten dieses Gefühl ja gar nicht. Sie trugen fast
immer Watte zwischen den Beinen. Während Martin und der Apotheker
sich durch den Bindenberg arbeiteten und Packungsaufschriften
studierten, traten zwei Zahnspangen-Mädchen durch die Tür.Als
Martin die Teenies bemerkte, sagte er rasch: »Dann kommt meine Frau
noch mal selber.« Er wollte die Wühlerei in dem peinlichen Regal
umgehend beenden. Nachher dachten die jungen
Dinger noch, er brauchte Einlagen. Aber der Blödmann von Apotheker
musste trotzdem noch mal alle Peinlichkeiten zusammenfassen. »Tja,
tut mir leid, der Herr, ganz dünne Binden sind offenbar gerade
ausverkauft.« Martin überlegte angestrengt: Was war peinlicher?
Zuzugeben, dass er Binden für seine Frau kaufte? Oder die Mädchen
in dem Glauben zu lassen, er leide an Inkontinenz? »Ich werd’s
meiner Frau ausrichten«, sagte Martin so lässig, als kaufte er
jeden Tag Tampons, Vaginalzäpfchen und Enthaarungscreme. Die
Mädchen grinsten. Warum sind Frauen toll, wenn sie Kondome kaufen,
aber Männer lächerlich, wenn sie nach Binden verlangen? Die
Geschlechterdebatte musste von Grund auf neu geführt werden.

Zufrieden registrierte Lars drei neue SMS und vier
verpasste Anrufe auf seinem Handy. Die Mails checkte er nebenbei.
Neue Entlassungswelle bei der Konkurrenz, größerer Druck von
ausländischen Anbietern, Umsatzeinbrüche. Appelle der
Geschäftsführung: Das Unmögliche möglich machen, jetzt erst recht,
der ganze Blödsinn.
Rita hatte ihm eine schlüpfrige Mail geschickt,
sie hätte seinen Anruf heute Morgen leider verpasst, sie fragte,
wann sie das nächste Mal »kommen« könnte, das fand sie witzig. Er
schrieb zurück: »Jederzeit«.
Sein Kumpel aus dem Sportgeschäft schlug
übermorgen als spontanen Termin für das nächste Männertreffen vor.
Lars mochte diese Runden. Bier, ein halbes Hähnchen vom Grill, eine
Runde Billard, das entspannte ihn ungemein. Sie redeten über Frauen
und Fußball, aber blieben unter sich. In solchen Nächten wurde
nicht gejagt. Er sagte sofort zu. Au weia. Eine SMS von dieser
Sandy. Sie fand den Abend
total süß und würde ihn gerne wiedersehen. Ob die Einladung für
das romantische Dinner noch stehe? Romantisches Dinner? Er konnte
sich an nichts erinnern. Da war ich ja wieder richtig in Form,
dachte Lars. Das sollte er Jasmin mal zeigen. Sein Bekannter, der
Nachtclubbesitzer, hatte ihn für heute Abend auf zwei Gästelisten
setzen lassen, das war Gold wert. Ohne Listenplatz war er schon
mehrmals an der Tür gescheitert. Oder musste sich blöde Sprüche
anhören wie: »Willst du deine Tochter abholen, oder was?« Egal.
Doro smste ihre Vorfreude auf den Abend. Läuft doch, dachte Lars,
läuft doch.

MaiktrödelteaufdemHeimweg.ErwolltewederHeinz noch
Leni eine Sekunde zu früh begegnen. Nur weil die beiden die
Immobilie mitfinanziert hatten, dachten sie, sie könnten auch
gleich darin wohnen. Maik hasste seine Schwiegereltern auf eine
herrlich unkomplizierte Weise: Sie waren einfach rundum scheiße.
Wie hatte er jemals auch nur eine Sekunde finden können, dass
Ulrike und ihre Eltern eine mustergültige Familie wären?
Wahrscheinlich nur, weil seine eigene Sippe sich auf ewig
zerstritten hatte. Maik wollte heile Welt sehen damals. Dabei war
das Grauen nur anders lackiert.
Er wusste genau, wie es enden würde, wenn er sein
eigenes Haus beträte. Nach spätestens drei Minuten würde seine
Schwiegermutter fragen: »Was hat er denn schon wieder …?«, so laut,
dass er, die Kinder, Heinz, alle hörten, was sie von ihm hielt:
»er« - der Ossi, klar. - »schon wieder« - meckert ja eh nur. Das
war kein Mobbing mehr, sondern offener Terror. Und Ulrike würde nur
entgegnen: »Ach, Mama …« Sagenhaft, so viel Verteidigungsmut.
Anstatt die alte Hexe in ihren albernen Matrosenklamotten
ein für alle Mal zum Teufel zu jagen. Er schrieb Ulrike eine SMS:
»Bin spät dran: Schick Henry bitte raus.« Als er in die Straße bog,
die ihm wie ein Querweg auf dem Friedhof erschien, sah er den
weißen Mercedes von Heinz. Immerhin wienerte er nicht daran
herum.
Henry kam gerade aus der Tür. Sein Sohn mochte es,
mit dem schweren Auto zum Fußball gebracht zu werden. Er sprang
lässig auf den Beifahrersitz und ignorierte den Gurt. »Anschnallen
ist für West-Berliner«, sagte Maik. Sein Sohn dachte genauso.
»Wie war die Schule?«, fragte Maik.
»Okay«, sagte Henry.
»Viel Hausaufgaben?«
Henry schüttelte den Kopf.
»Spielst du am Wochenende?«
»Keine Ahnung.«
»Soll ich bleiben?«
»Die anderen Eltern sind bestimmt alle da.«
Henry wusste, dass sein Vater keine Lust hatte,
eine Stunde lang auf der kleinen Steintribüne am Trainingsplatz
auszuharren zwischen besorgten Fußball-Muttis in Goretex-Jacken,
die Trinkflaschen und Tupper-Dosen mit matschigen Karottensticks
bereithielten, falls der adipöse Sohn wegen Unterzuckerung
kollabieren sollte.
Früher hatten Maik und seine Freunde ganze
Nachmittage auf dem Fußballplatz gebolzt, bis die Zunge wie
Esspapier am Gaumen klebte. Die Mütter hatten weder Zeit noch Lust
zur Betreuung und motzten allenfalls abends über schmutzige Hosen
und abgewetzte Schuhe. Die Frauen hier waren völlig anders, jede
Sekunde krankhaft bemüht, den Kindern die bestmöglichen
Startchancen im Kampf gegen Milliarden Chinesen und Computer-Inder
zu verschaffen.
Im Fußballklub von Reihenhausen konnte man den
Prozess der »Muttiplikation« prototypisch beobachten. Einstmals
stolze, halbwegs selbstbewusste und bisweilen sogar einigermaßen
attraktive Frauen verwandelten sich im Moment der Entbindung in
Monstren, die mit finsterem Blick jede Regung ihres Kindes
beobachteten, alle möglichen Indizien für Hochbegabung aufsaugten,
viel lieber aber jegliche Verdachtsmomente für eine möglichst
individuelle Krankheit.
Heerscharen von Therapeuten siedelten rings um
Reihenhausen, alle mit dem einen Ziel, gelangweilten Müttern die
überreichliche Zeit mit Scheinproblemen zu vertreiben. Ein Kind
ohne Therapie bewies doch nur eines: dass sich die Eltern nicht
genug um den Nachwuchs kümmerten.
Maik grüßte das gute Dutzend Muttiplizierter sehr
knapp - nur keinen Vorwand für ein Gespräch liefern. Aber an einen
Plausch war ohnehin nicht zu denken: Die Mütter gingen davon aus,
dass der Trainer genau registrierte, welche Eltern der
Übungseinheit aufmerksam folgten. Sie folgten dem Training mit
maximaler Konzentration. So stiegen die Chancen, dass der Sohn am
Wochenende für das Punktspiel in die Startelf berufen würde.
Jede Mutter auf der Tribüne musste für den Trainer
eine Drohung sein: »Wehe, Sie stellen meinen Jungen nicht auf -
dann drücke ich Ihnen aber ein Fachgespräch über herausragende
Trainingsleistungen aufs Ohr. Ich habe alles verfolgt.« Eines Tages
würde das Training von den Eltern mit der Videokamera
aufgezeichnet, als Beweis für Einsatz. Am schlimmsten war das
Modell Pipi Langstrumpf - außen locker, innen total verkrampft: Mit
Mitte vierzig entbunden, zum fünfzigsten Geburtstag die Haare rot
gefärbt und Zöpfe gemacht, Rock aus einer norwegischen
Internet-Boutique, der aussah wie aus alten Boxershorts
zusammengenäht,
dazu Botox, LowCarb und eine Handvoll Tavor für den Tag.
Diese Frauen hier waren alles, nur nicht normal. Maik winkte Henry
zu. Der Junge war weder talentiert noch begeistert. Er dachte
wahrscheinlich, er würde seinem Vater eine Freude machen, wenn er
einmal die Woche über den Fußballplatz hoppelte.
Und Ulrike natürlich: Mit einer Stimme wie aus der
Milchschnitten-Reklame umarmte sie Maik und Henry regelmäßig nach
dem Training und schluchzte: »Meine beiden starken Männer!«
Muttifizierte Frauen erlebten einen Höhepunkt nur noch dann, wenn
Vater und Sohn dreckig und stinkend nach Hause kamen.

Jochen hatte sich auf sein Rad gesetzt, war in den
Park gefahren und suchte eine freie Bank am See. Er wollte die
ersten Stunden seines neuen Lebens nicht gleich mit hektischer
Aktivität beginnen, sondern erst einmal mit grundsätzlichen
Veränderungen anfangen, seinem Teint zum Beispiel. In den letzten
Jahren hatten Hautfarbe und -konsistenz britische Züge angenommen.
Auch durch die stärkste Sonnenbrille sah er aus wie ein britischer
Tourist, nur, dass er nicht vor einem Sangria-Eimer kniete. Etwas
Sonne würde nicht schaden. Jochen hatte das braune Sakko ausgezogen
und über die Banklehne gelegt. Was würde eine Frau wohl denken, die
jetzt des Weges kam?
Neulich hatte er auf einer Single-Site gelesen,
dass fast alle Frauen davon träumten, mal richtig derbe genommen zu
werden. Aber was verbarg sich hinter dieser Chiffre? Wie ging das
eigentlich - »richtig derbe«? Jochen hatte nicht so viele
Erfahrungen mit Sex, aber er wusste, dass es eine begrenzte Anzahl
von Zonen und Öffnungen gab, die sich für
einen überschaubaren Zeitraum mehr oder weniger grob stimulieren
ließen. So richtig schmutzige Dinge darüber hinaus wollten Jochen
nicht einfallen, wenn man mal Lebensmittel, Tiere oder Fäkalien
wegließ. Man konnte noch Sachen sagen wie »du Drecksau« - aber das
war’s dann auch. Wie aber sollte jetzt »richtig derbe« gehen oder
gar »schmutzig«? Am Ende war es ja doch wieder das uralte
Rein-Raus-Spiel. Oder gab es Dinge, die Jochen bislang nicht
gewahrgeworden war? Unwahrscheinlich, nach geschätzten drei
Millionen Stunden auf Sex-Sites.
Jochen beobachtete zwei Erpel, die eine Ente
verfolgten. Einer hat sich mit dem Schnabel an ihren Heckfedern
festgebissen. Sie flatterte wie verrückt und zog ihn über den See,
wie beim Wasserski. Der zweite Erpel folgte unauffällig. Er hoffte
wohl, sich über die entkräftete Dame hermachen zu können, wenn der
erste aufgegeben hatte - klassischer Nachficker. Jochen war auch
ein Nachficker, theoretisch jedenfalls. Er hatte immer gehofft,
dass eine von Brettis Bekanntschaften auch mal in seinem Bett
landen würde. Zumindest Bretti hätte damit kein Problem
gehabt.
Die Erpel waren gnadenlos. Sie würden die arme
Ente totvögeln. Na und, dachte Jochen, wenn es die Schöpfung so
wollte. Sie folgten einfach einem Programm, das die Natur so
geschrieben hatte. Keiner dachte nach. Vielleicht hatten sogar alle
Spaß dabei. Wollte die Ente sich überhaupt wehren und abhauen? Wäre
ja unlogisch, wenn sie tot wäre, dann gäbe es keine Nachkommen. Die
Natur aber wollte doch nichts anderes, als sich zu
reproduzieren.
»Enten haben’s gut, dachte Jochen, die denken
nicht über Gender-Fragen nach, sondern ficken einfach und ziehen
danach die Kinder auf, weil es eben so ist.«
Enten haben’s gut, dachte Jochen, die denken nicht
über Gender-Fragen nach, sondern ficken einfach und ziehen danach
die Kinder auf, weil es eben so ist. Mehr als die Hälfte aller
Frauen dachten schon während des Aktes darüber nach, wie gut die
Nummer denn nun sei, hatte Jochen neulich im Internet gelesen.
Allein der Gedanke daran, dass eine Frau mitten drin daran dachte,
wie gut er war, nahm Jochen jede Lust. Sex ohne Denken, das wär’s.
Jochen wäre der ideale Erpel; alles, was fehlte, war die passende
Ente.

Als Lars wieder im Büro eintraf, waren die
üblichen Vorbereitungen im Gange. Die Mädels trugen Karottensticks
durch die Gegend und ver-schwanden auf der Toilette, um sich
aufzuhübschen. Manche brachten sogar andere Schuhe von zu Hause mit
oder eine frische Bluse.
Lars rief den neuen Azubi zu sich. Der Grünschnabel
war zwar ein autistischer Nerd, kannte sich aber gut mit Musik aus.
Lars hatte ihn ein paar Mal während seiner Streifzüge getroffen.
Das Jüngelchen hatte beim ersten Mal etwas irritiert geguckt, fand
die nächtlichen Begegnungen jetzt aber eher cool, hoffte Lars,
zumindest tat er so.
Vom Azubi ließ er sich ab und zu seinen
iPod neu bespielen. Dieser ganze HipHop-Quatsch war nicht
sein Ding. Ihm doch egal, was diese singenden Unterschichtler von
sich gaben. Lars wollte die richtige Musik dabeihaben, wenn eine
von den Frauen fragte, was er denn so hörte. Wer in Musikfragen
nicht vorn war, verspielte jede Chance vom Start weg. Also machte
ihm der Azubi alle zwei Wochen
ein kleines Update. Dafür durfte er ab und an etwas früher gehen.
Lars rief den Nachtclubbesitzer an, der musste die Gästelisten
sichern, unbedingt. Er fragte Katrin und Nina, ob die Dates für
morgen und übermorgen klappten. Verdammt. Eigentlich war doch
übermorgen Männerabend. Egal. Er schwindelte einfach von einem
Geschäftstermin, ob man nicht erst um Mitternacht einen kleinen
Drink …? Ja, Katrin war einverstanden. Nach drei oder vier Stunden
hatte er eh die Lust an dem notgeilen Männergequatsche verloren.
Lars studierte seinen Kalender, den privaten natürlich. Wenn jemand
an der Scheibe klopfte, winkte er beschäftigt ab. Die sahen doch,
dass er arbeitete. Weiße Flecken auf dem Kalender besagten: keine
Verabredung. Jedes dieser leeren Felder war für Lars eine
Bedrohung.

Attila quetschte die Acrylfarben aus der Tube wie
Teewurst aus dem Plastikdarm. Rot, viel Rot musste auf die
Leinwand. Und gut verschmieren mit dem Gelb. Die Übergänge schufen
die eigentliche Spannung in jedem Bild. Attila fühlte sich als
Meister der Übergänge. Wenn er eines Tages endlich genug Bilder
gemalt hätte, um eine Ausstellung in der Nationalgalerie zu füllen,
würden die führenden Kritiker der Republik seitenweise von seinen
Übergängen schwelgen.
Eigentlich war ja der Samstag sein Maltag, immer
von zwölf bis dreizehn Uhr, nach Frühstück und Zeitungslektüre. Er
habe eine unheimlich kreative Ader, hatte sein Coach gesagt, den er
sich bis zum vergangenen Jahr geleistet hatte. Weil er nie ein
Instrument gelernt und zum Schreiben keine Geduld hatte, war Attila
auf die Malerei gekommen - zur Perfektionierung seines
Mythos’.
Die großen wilden Bilder der Neuen Leipziger
Schule hatten es ihm angetan. Die hatte er in einem
Ausstellungsbericht entdeckt, weil er eines Morgens im Büro
zufällig das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung gefunden
hatte. Normalerweise las er nur den Wirtschaftsteil. Große
Gesichter, starke Leiber, wüste Farben - was diese Schwuletten da
auf die Leinwand droschen, das würde er auch noch hinbekommen. Nur
empathisch musste es sein.
Dummerweise sahen die Proportionen bei ihm etwas
merkwürdig aus, weniger nach Kunst als vielmehr einfach nicht so
gut. Also hatte sich Attila auf abstrakte Motive verlegt, vor allem
auf Übergänge. Viel Farbe, mit Spachtel und breitem Pinsel
aufgetragen, das war sein Ding, das ging auch zügig voran. Außerdem
fanden es Besucher beeindruckend, wenn er ihnen einen Blick in sein
Atelier gewährte, aus dem man über ganz Berlin blicken konnte.
Niemand erwartete, dass ein harter Hund wie er auch ein Meister des
Sensiblen war. »Hitler hat auch Postkarten gemalt«, dachte Attila
dann immer für sich. Harhar.
Heute gelangen ihm die Übergänge besonders gut. Er
hatte einfach unglaublich viel Energie in sich, wenn auch nicht
gerade positive. Camille hatte noch mal angerufen und ihm eine
weitere Information zukommen lassen, die sie im halböffentlichen
Raum des Klinikfoyers nicht anzusprechen gewagt hatte. Die
Quacksalber im Fruchtbarkeitstempel hatten offenbar ermittelt, dass
heute Nacht die Nacht der Nächte war. So empfängnisbereit wie
zwischen zwei und vier Uhr morgens würde Camille die nächsten Jahre
kaum jemals wieder sein.
Er musste praktisch nur seine Unterhose
ausschütteln, und seine Frau würde endlich schwanger sein. Das war
seine Chance: Wenn er beweisen wollte, was in ihm steckte, dann
heute Nacht. Von wegen Impotenz oder Zeugungsprobleme
oder der ganze Mist. Noch zehn Stunden, dann war es so weit, dann
begann die Nacht, um Halbgötter, ach was, um Doppelgötter zu
zeugen. Er würde Camille ein Kind machen, größer und mächtiger als
je ein Baby zuvor. Attila glaubte fest an die Technik der
Autosuggestion. Die Welt war so, wie man sie sich dachte. Er durfte
nicht eine Sekunde lang an seiner Mission zweifeln, erst recht
nicht an seinen überirdischen Fähigkeiten. Er würde Camille seinen
Samen bis in die letzte Windung ihres Körpers sprühen, ganz
einfach.
Er hatte keine ernsthaften Erektionsprobleme. Aber
vielleicht sollte er zur Sicherheit doch noch eine Porno-DVD
besorgen, egal was, Hauptsache Frauen, die wie Frauen aussahen. Die
Pay-TV-Filme in Hotels machten ihn immer besonders scharf; er
wollte dieses Zeug allerdings nicht zu Hause rumfliegen haben. Wenn
die Putzfrau eine solche DVD fand, war er erpressbar bis an sein
Lebensende. Halb Amerika war über irgendwelchen Sex-Kram
gestolpert.
Attila überlegte, wie er sich für den
entscheidenden Moment zuverlässig stimulieren konnte. Er fühlte
sich wie ein Hengst vor dem großen Championat; wie Muhammad Ali vor
dem wichtigsten Kampf seiner Karriere; wie Franz Beckenbauer vor
dem WM-Finale 1974. In jedem Leben gab es drei, vier Duelle, die
man unbedingt gewinnen musste. Hier entschied sich ein ganzes Leben
- Held oder Niete. Hätte dieses erdbeerblonde Bürschchen nicht
gleich sein erstes Wimbledon-Finale gewonnen, wäre er vielleicht
ein guter Tennisspieler geworden, aber nie der einzigartige Boris
Becker. Es waren die Big Points, die ein stinknormales Leben in
einen Mythos verwandelten: Heute Nacht würde er im Ring stehen,
ganz allein, ohne Team, ohne Assistenz, sogar ohne
Blackberry. Erklärungen, Ausreden, Entschuldigungen wollte
keiner hören. Er allein musste Leistung
bringen, niemand anders. Aber auch er allein würde den Ruhm
einheimsen.
Attila machte sich auf zum Klo. Der verdammte
Espresso jagte immer noch wie eine Achterbahn durch seine
Darmkurven. Er würde dem Professor den saubersten Verdauungstrakt
seiner Mediziner-Karriere präsentieren.
17 UHR

Heute gab Angelika aus der Zentrale ihr kleines
Fest; sie war aus der Mutterschaft zurückgekehrt. »Mutterschaft«,
das klang wie »Gefangenschaft«. Alle trafen sich im Küchenbereich.
Mindestens zwei Dutzend Kollegen waren schon da, Moët &
Chandon wurde ausgeschenkt. Wie konnte sie sich den leisten?
Dazu hatte der Chef ein teures Buffet spendiert, da ließ er sich
nie lumpen. Angelika sah sehr süß aus, mit den leicht geröteten
Wangen vom ersten Glas Schampus. Lars hatte vor ein paar Wochen
irgendwas unterschrieben, eine Glückwunschkarte zur Geburt
anscheinend.
Mütter! Er sollte die Finger davon lassen. Er
wollte eigene Kinder, später. Aber die Brut anderer großziehen? Da
protestierte seine DNA. Außerdem fühlte er sich in fremden
Wohnungen nicht wohl, die nach einem richtigen Zuhause aussahen. Er
dachte dann an sein Dach, sehr cool, aber nicht so richtig
eingewohnt. Lars fühlte sich schlagartig depressiv. Er war fast
einundvierzig. Keine Frau, kein Kind. Was wollte er eigentlich?
Egal.
Auf dem Tisch in der Mitte stand ein Foto von so
einem süßen Sabber-Fratz - Angelikas jüngster Wurf. Lars umarmte
Angelika innig. Sie roch immer noch gut, fast so gut wie vor drei
Jahren, als sie angefangen und er sie nach Dienstschluss auf einen
Drink mitgenommen hatte, weil sie in dieselbe Richtung musste. Sie
war damals gerade erst
hierher gezogen und recht einsam, das hatte Lars sofort gespürt
und hemmungslos ausgenutzt. Damals fand er sich gut. Der Abend war
billig: ein Dinner bei seinem Lieblings-Italiener Enrico, der ihn
immer wie einen alten Freund begrüßte, was Frauen offenbar
beeindruckend fanden. Dann eine Flasche Rotwein bei Kerzenschein,
tiefe Blicke, vor dem Essen ein kleiner Aperitif, danach Grappa
aufs Haus - schon war Angelika sturmreif geschossen.
Im Auto hatte er ihr schon zwischen die Beine
fassen dürfen. Im Dachgeschoss hatten sie es nicht mal mehr bis zum
Sofa geschafft, und das alles für vielleicht vierzig Euro - so
einfach hatte er es nicht mehr oft gehabt seitdem. Wie oft hat er
das volle Programm abgespult, alles bezahlt, den guten Zuhörer
gemimt und seine weichste Seite gezeigt, um dann doch alleine ins
Bett gehen zu müssen. Egal.
Ein paar Monate lang hatten sie sich getroffen.
Lars hatte ihr dann erklärt, dass die Liaison nicht mit seiner
Position zu vereinbaren sei. Ein paar Tränen, sie hatte sich
natürlich gleich verknallt. Und offenbar hatte sie die Geschichte
überall im Büro herumerzählt.
Vor einem Jahr hatte sie einen Anwalt geheiratet,
bekannter Strafrechtler mit neunundreißig, gut aussehend, gepflegte
Manieren, und jetzt dieses süße Kind - kaum zu fassen. Lars küsste
sie auf die Wangen, starrte kurz auf das beeindruckende Dekolleté
und ging mit einer Halberektion möglichst unauffällig aufs
Klo.
Als er zurückkehrte, hielt der Chef eine kleine,
persönliche Rede über den Wert der Familie. Begeistertes Klatschen,
dann begann der furchtbare Teil: Alle zeigten sich die Fotos ihrer
Kinder und fachsimpelten über die ekligsten Details des
Baby-Durchfalls. Lars stand krampfhaft lächelnd dabei und musste
sich beherrschen, nicht sofort loszuheulen.
Lars musterte die Runde. Objektiv sah er am besten
aus:
Er trug den elegantesten Anzug, das lässigste Hemd, seine Haare
saßen einwandfrei, das Gehalt war akzeptabel. Zweifelsohne erlebte
er in einer beliebigen Woche mehr Irrsinn als diese ganzen
langweiligen Pupser in einem Jahr zusammen. Aber die hatten alle
Partner, ein Zuhause und meistens Kinder. Alles in ihm schrie nach
Nachwuchs, sein ganzes genetisches System lechzte nach
Fortpflanzung.
Er hätte Angelika nicht sitzen lassen sollen. Aber
nein, er musste ja wieder mit dem Schwanz denken und für drei, vier
Club-Luder alles aufs Spiel setzen. Na ja, vielleicht waren es auch
ein paar mehr gewesen, eine zu viel auf jeden Fall. Sie hatte ihn
sogar vor die Wahl gestellt: Herumtreiberleben oder erwachsen
werden. Vielleicht hätte er nicht um eine Woche Bedenkzeit bitten
sollen.
»Zweifelsohne erlebte er in einer beliebigen
Woche mehr Irrsinn als diese ganzen langweiligen Pupser in einem
Jahr zusammen. Aber die hatten alle Partner, ein Zuhause und
meistens Kinder. Alles in ihm schrie nach Nachwuchs, sein ganzes
genetisches System lechzte nach Fortpflanzung.«
Jasmin blickte schon wieder spöttisch herüber.
Vielleicht sollte er doch mal mit ihr ausgehen. Der Chef klopfte
ihm auf die Schulter. »Na, Lars, wann kommt denn endlich Ihr
Nachwuchs?« Lars grinste: »Zu viel Arbeit, Boss.« Puuh, noch mal
die Kurve gekriegt.
Lars flüchtete ins Büro, Termine klarmachen.
Katrin hatte bestätigt, Nina wusste noch nicht genau, da brauchte
er für übermorgen noch ein Standby. Er schickte dieser Sandy eine
SMS, dass heute Abend klarginge und verabredete sich trotzdem für
später mit Doro und Nicky, falls Sandy, das Phantom, zu blöd sein
sollte. Aber so hartnäckig, wie die sich aufführte, hatte sie eine
Chance verdient. Sie schien ja richtig scharf zu sein. Dieser Kampf
um jeden einzelnen Geschlechtsakt machte ihn manchmal wahnsinnig.
Was das alles kostete - und was man sich dafür manchmal für einen
Quatsch anhören musste, bis die mal so weit waren. Dieser ganze
Single-Mythos ist Lug und Trug, dachte Lars. In Paarbeziehungen
haben sie statistisch eh mehr Sex als jeder Single, dabei war seine
Trefferquote noch eine der besten. Die Schwulen haben es besser,
dachte Lars, die müssen sich wenigstens nicht mit Frauen
abgeben.

Attila stand unter der Dusche, schon zum dritten
Mal heute. Ausnahmsweise war die Temperatur deswegen auch richtig
eingestellt und nicht zu warm, so wie sonst immer, wenn Camille vor
ihm gebraust hatte. Das war ja einer der fundamentalen Unterschiede
zwischen Mann und Frau: Männer duschten immer eine Spur zu kalt,
sie wollten ihre Grenzen testen. Frauen dagegen stellten das Wasser
immer eine Idee zu warm; sie wollten Nähe spüren. Männer wollten
härter sein, Frauen weicher. Und gegenseitig verachteten sie sich
dafür.
Attila wurde das Gefühl nicht los, dass ihm
merkwürdige Dinge zwischen den Beinen klebten. Die Vorstellung,
dass gleich mehrere Leute in eine sehr private Körperöffnung
starren würden, bereitete ihm wenig Freude. Es gab Grenzen,
leider auch solche, die ausnahmsweise nicht er definierte. Wieder
und wieder spielte Attila das Gespräch mit dem Professor durch. Der
Vorsorge-Teil war egal; er hatte nichts, er war topfit. Professor
Schneider würde ihm hinterher gratulieren zu einer hervorragend
gepflegten Körpermaschine. Er überlegte, ob er seine
Marathon-Charts mitnehmen sollte; daran konnte man eine ganze Menge
ablesen. Wie aber sollte er dem Weißkittel klarmachen, dass es da
eventuell, überhaupt nicht sicher, nur ganz vielleicht, ein kleines
Problem gab.
Attila stieg aus der Dusche und blickte in seinen
sündteuren Rasierspiegel mit Innenbeleuchtung. Im Kampf um jeden
Millimeter gewann bei Punktegleichstand am Ende der, der genau
einen Mitesser weniger auf der Nase hatte. In der Champions League
des Lebens zählte jede Kleinigkeit. Der Spiegel war ziemlich brutal
in seiner Detailversessenheit. Man sah alles, die kleinsten Falten,
die durch die Abführerei noch eine Spur tiefer eingegraben zu sein
schienen. Reife war okay, aber nicht Verschleiß.
Attila drehte den Spiegel weg. Sah er verschlissen
aus? Er musste das genau beobachten. Es gab inzwischen sehr
wirkungsvolle kleine Eingriffe an Hals und Wangen, mit denen man
optisch zehn Jahre gewann. Im Urlaub würde Attila mal einen Schuss
Botox probieren. Sah ja niemand, wenn sein Gesicht für ein paar
Tage gelähmt sein sollte. Die Frage war, ob er telefonieren könnte
oder einfach nur vor sich hinsabbern würde?
»Das war ja einer der fundamentalen
Unterschiede zwischen Mann und Frau: Männer duschten immer eine
Spur zu kalt, sie wollten ihre Grenzen testen. Frauen dagegen
stellten das Wasser immer eine Idee zu warm.«
Letztes Jahr hatte er im Urlaub Viagra
ausprobiert. Die zwei Tage Dauerlatte waren nicht besonders
angenehm gewesen, schon gar nicht in den Shorts und nicht mal für
Camille, aber jetzt wusste er wenigstens, wie das Zeug
funktionierte. Im Ernstfall würde eine halbe Pille allemal reichen
- gut zu wissen.
Attila überlegte, ob er für seinen großen Auftritt
heute Nacht nicht noch rasch eine dieser rautenförmigen Standhilfen
besorgen sollte. Was wäre, wenn er, aus welchen Gründen auch immer,
ausgerechnet um 1:59 Uhr MEZ von einer unerklärlichen
Lendenschwäche befallen sein würde. Das Viagra würde ihm zwar
wieder einen anhaltenden Ständer bescheren, den er morgen
wahrscheinlich noch mit ins Büro nehmen müsste. Das ließe sich mit
einem strammen Slip und einer weiten Anzughose aber halbwegs
kaschieren. In den entscheidenden Minuten würde er aber auf jeden
Fall bereitstehen. Er würde den Professor fragen.
Über die neuesten Errungenschaften der
kosmetischen Industrie hielt Attila sich stets auf dem Laufenden.
Zum einen war das ein boomender Zukunftsmarkt. Immer mehr Rentner
mit immer mehr liquiden Mitteln wollten immer jünger aussehen, ohne
sich besonders dafür anzustrengen. Zum anderen hatte er überhaupt
keine Hemmungen, derlei Eingriffe an sich selbst vornehmen zu
lassen.
Es musste ja nicht gleich eine Herztransplantation
sein. Aber hängende Lider und faltige Hinterbacken würde er schon
gern an einem Wochenende loswerden. Bei der Gelegenheit könnte er
sich auch gleich Fett absaugen und ein Sixpack-Implantat einbauen
lassen, dazu noch ein paar
Haarbüschel auf die lichte Stirn und meinetwegen sogar eine
Penispumpe. Wo war das Problem? Im Laufe eines Flugzeuglebens
wurden alle Teile mindestens einmal ausgetauscht. Von dem
ursprünglichen Flieger war nach zwei Jahrzehnten keine einzige
Schraube mehr vorhanden. Formel-1-Wagen wurden sogar jedes Jahr
komplett neu gebaut.
»Wenn Männer als Opfer geboren wären, könnten
sie auch gleich Frauen sein.«
Der menschliche Körper war genetisch nun mal für
nicht mehr als fünfzig Jahre ausgelegt. Folglich musste er eines
Tages eben rundum erneuert werden: neue Gelenke, neue Organe, das
war normal, aber kein Leid. Attila hasste nichts mehr als Senioren,
die sich den ganzen Tag ihre Opfer-Geschichten erzählten. Wenn
Männer als Opfer geboren wären, könnten sie auch gleich Frauen
sein.

Martin dachte nach: Ein Besuch bei Harry wollte
gut vorbereitet sein. Harry war der führende Wein-Guru der Stadt;
in seinem kleinen, unauffälligen Laden trafen sich alle, die
wirklich was zu sagen hatten in Berlin, und dann noch Werber,
PR-Götter und Unternehmensberater. Man beachtete sich scheinbar
beiläufig, aber in Wirklichkeit wurde jedes Signal des sozialen
Status’ gescannt. Klamotte, Schuhe, Weinwissen, Kreditkarte,
Autoschlüssel - wer war wirklich reich, wer war wirklich originell,
wer kannte sich aus, wer blendete nur vor sich hin? Schon mal eine
gute Aufwärmübung für die Agentur.
Martin hatte sein Ego-Marketing vor zwei Jahren
radikal umgestellt. Eine schonungslose Selbstanalyse hatte ergeben,
dass er zu viele, zu widersprüchliche Botschaften mit seinem
Äußeren aussandte. Was wollte er wirklich? Es hatte lange gedauert,
bis er sich eingestanden hatte, worum es ihm tatsächlich ging:
Nein, er wollte nicht für einen durchschnittlichen Agentur-Heini
gehalten werden. Ja, er war klüger als diese Pappenheimer. Das
Problem war: Nahezu alle Agentur-Menschen hielten sich für besser
als ihre Kollegen.
Martin hatte die Brille als Botschafterin seiner
Kernkompetenzen ermittelt. Jahrelang hatte er das weit verbreitete
Wim-Wenders-Modell getragen, sich inzwischen aber noch weiter
differenziert, Richtung Le Corbusier mit einem Hauch Bert Brecht.
Es war sozialkritischer, gesellschaftlich schwerwiegender als zum
Beispiel das Ray-Ban-Pilotenmodell, das Stefan Aust seit
Jahrzehnten trug, egal, wie die Trends gerade waren. Aust hatte es
vorgemacht: die Brille als Markenzeichen, als Körperteil, eine
Lebensentscheidung, die mit den Jahren zeitlose Weisheit
signalisierte. Wer Moden mitmachte, war ja nicht cool, sondern
Mitläufer, Mitmacher, Nachmacher. Hatte Andreas Baader jemals etwas
nachgemacht? Martin wusste es nicht so genau. Aber er dachte mal,
eher nicht. Er hatte durch alte RAF-Bilder gegoogelt. Andreas
Baader war sein heimliches Idol. Der hatte sich um nichts geschert,
sein eigenes Leben schon gar nicht. Der war wirklich radikal
gewesen. Hatte Andreas Baader jemals eine Brille? Nee, nur
Sonnenbrille. Andreas Baader fuhr dafür einen Iso Rivolta. Martin
hatte sich, auch aus Kostengründen, für eine total individuelle
Brille entschieden, die aber auf keinen Fall zwanghafte
Originalität versprühen durfte, weil sie aus Büroklammern oder
Zahnarztbesteck gebastelt oder einfach nur lila war.
Es hatte einige Überwindung gekostet, dieses
rabenschwarze Gestell auf die Nase zu setzen, das aussah wie eine
Brezel in Klavierlack. Aber er hatte endlich sein Markenzeichen
gefunden. Dorothea gefiel das Modell auch, sagte sie jedenfalls.
Die Frage, ob Männer mit ausgefallenen Brillen im Erotik-Ranking
der Frauen ganz weit oben rangierten, hatte sich Martin
vorsichtshalber noch nicht gestellt.
Martin rückte die Brille zurecht, als er Harrys
Weinladen betrat. »Bordeaux, Bordeaux, Bordeaux.« Die Kommandos
seiner Frau klangen ihm in den Ohren. Was sollte Holtkötter
eigentlich denken, wenn am Ende des Abends leere Pullen im Wert von
vierhundertfünfzig Euro auf dem Tisch standen. Etwas snobby, oder?
Egal. Besser als Discounter-Plörre. Das Problem war, dass Dorothea
kein Verhältnis zu Geld hatte. Es war ja immer genug da. Neues
Auto? Klar, kommt sofort. Welches hättest du denn gern? Größere
Wohnung? Finde ich auch. Am besten mit Dachterrasse. Die kaufen
wir. Aber erst noch umbauen lassen. Wein? Kostet hundert Euro die
Flasche. Na und. Hol gleich zwölf.
»Die Frage, ob Männer mit ausgefallenen Brillen
im Erotik-Ranking der Frauen ganz weit oben rangierten, hatte er
sich noch nicht gestellt.«
Es war Vorteil und Fluch zugleich, dass man
Dorothea mit den täglichen Sparerfolgen nicht beeindrucken konnte.
Geld war ihr egal, materielle Sicherheit keine Kategorie. Deswegen
hatte sie es mit dem Heiraten auch nicht eilig. Sie entstammte
einer alten hanseatischen Kaufmannsfamilie, die mit dem Handel von
Latexprodukten über die
Generationen größere Mengen Bargeld, Immobilien und anderweitiges
Vermögen zusammengerafft hatte: Millionen mit Autoreifen,
Taucheranzügen, Kondomen - ein Traum. Martin hatte sich in den acht
Jahren, da sie zusammen waren, nie getraut, nach ihren Finanzen zu
fragen, aber so viel war klar: Dorothea gehörte nicht nur zur
Erben-Generation, sondern, viel besser, zur
Goldener-Löffel-im-Arsch-Generation. Sie war noch nicht einmal
geboren, da stand schon fest: Sie würde nie arbeiten müssen; sie
würde nie hungern müssen; sie würde nicht einmal die Zinsen
verfrühstücken können, die das Familiengummi jeden Tag
abwarf.
Dummerweise hatte insbesondere ihre Mutter
Dorothea vom ersten Tag ihres Lebens eingehämmert, dass jedes
männliche Wesen nur hinter ihrem Geld her sein würde; jedes
weibliche übrigens auch. Ihre überwiegende Lebenszeit war Dorothea
also damit beschäftigt gewesen, misstrauisch zu sein und sich
mögliche niedere Motive auszudenken, weswegen dieser Junge nun
gerade nett zu ihr gewesen sein könnte.
Dorothea hatte sich nie schön gefühlt, klug oder
sonstwie erfolgreich, sondern immer nur vermögend. Deswegen war
dieser TV-Job ja so wichtig für sie: Sie wollte Anerkennung für
etwas anderes als ihre Kohle, und sei es nur für ihre geschmackvoll
arrangierten Klamotten, die sie beim Verlesen der Aktienkurse
trug.
Der Philosophie-Student Martin war ganz anders
gewesen. Schüchtern hatte er sie nach einem Kugelschreiber gefragt,
weil er eine Postkarte an seine Mutter schreiben wollte, damals im
Hafen von Piräus. Es stellte sich heraus, dass sie beide das
gleiche Ziel hatten: die Philosophen-Insel Samos.
Martin begann zu erzählen von Sokrates’ Mäeutik,
der von ihm entwickelten Methode eines philosophischen Dialogs,
von seinem Schüler Platon und wiederum dessen berühmtem Schüler
Aristoteles.
Martin hatte kaum Geld, aber Unmengen an
Begeisterung für die Geistesriesen der Antike. Er rollte seinen
Schlafsack immer in der Nähe historischer Stätten aus, an der
Akropolis, wo Sokrates als junger Bildhauer eine Figurengruppe
gestaltet haben soll, am Hafen von Pythagorio, am Palast der Minoer
in Knossos. Er wollte seinen Idolen nah sein. »Ich bin ein
Philosophen-Groupie«, sagte er lachend über sich. Ein Stück Käse,
ein Kanten Brot, eine Flasche stilles Wasser von Zagori und einen
seiner vielen Reclam-Bände - mehr brauchte Martin nicht, um
glücklich zu sein. Er träumte davon, eines Tages das Werk der
Klassiker fortzuschreiben. Dorothea verliebte sich in diesen
hageren Jungen, dem das Denken alles und Besitz praktisch nichts
bedeutete. Dieser anspruchslose Mann sollte jene zweite Hälfte
Gen-Material beisteuern, die ihre Kinder zu einem größeren Ganzen
machen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben entdeckte sie eine
Lebensleichtigkeit, die ihr der Vermögensverwalter ihrer Familie
immer nur versprochen hatte.
Ihre Mutter hätte gern einen Adeligen als
Schwiegersohn gehabt, ihr Vater gern einen eiskalten Juristen, der
sich hauptberuflich um die Verteidigung des Reichtums kümmerte.
Aber Martin und Dorothea beschlossen, das coolste Paar der
Hauptstadt zu werden.
Das Projekt war seither ein wenig ins Stocken
geraten. Dorothea hatte zwar einen Job beim Fernsehen, aber über
den täglichen Börsenbericht war sie seit Jahren nicht
hinausgekommen. Sie hätte eine Verbraucher-Sendung im lokalen
Fernsehen moderieren können, aber da hätte sie am Ende auch wieder
Wochenmarktpreise aufgesagt. Eine halbwegs sexy Frau zu sein,
reichte eben doch nicht, und die Männer waren auch nicht immer
schuld.
Dorotheas Selbstbild war in Gefahr, das sie aus
Versatzstücken von Desperate Housewives, Amy Winehouse und Barbara
Schöneberger zusammengesampelt hatte und dessen Kern in dem Glauben
bestand, dass man als moderne Frau alles bekäme, wenn man nur
wollte. Und damit wankte auch Martins Rolle.
Solange Dorothea das Gefühl hatte, die Starke in
ihrer Beziehung zu sein, war alles klar. Wenn er sie aber nun
überholte, trotz Elternzeit, würde ihr ganzes Beziehungskonstrukt
wanken, das auf dem Mythos der Karrierefrau aufgebaut war. Martin
hatte keine Probleme, so zu tun, als habe er die Hundeschule mit
Prädikat absolviert und gehorche ihr einfach gern. Er war
Darsteller ihrer Nummern-Revue. Dafür war sie eine Erbin. Sie war
Putin, er Medwedjew. Oder Chodorkowskij.
Aber die Gefängnismauern weichten auf. Denn
parallel zu Dorotheas beruflichem Stillstand schritt seine Karriere
unaufhaltsam voran. Martin war in einer der größten PR-Agenturen
der Hauptstadt gelandet, die die wichtigsten Ministerien,
Unternehmen, Organisationen des Landes beriet. »Martin, Sie sind
unersetzlich«, hatte ihm einer der drei Chefs erst auf der letzten
Weihnachtsfeier gestanden, wenn auch erst nach dem fünften
Hektoliter Glühwein. »Warum?«, hatte Martin schweinisch devot
gefragt.
»Weil alle unseren Laden für schlauer halten, als
er ist, vor allem aber für moralisch hochstehender als die
Konkurrenz«, hatte er erklärt: »Sobald ich bei einer Präsentation
erwähne, dass ein promovierter Philosoph in unserem Team ist,
gewinnen wir jeden Job. Die üblichen Zahlendreher und
Kreativ-Pinsel hat ja jeder - aber wir haben einen Denker mit
Ethik-Turbo.«
Martin wusste genau, was der Chef meinte. Die
klassische Berliner Agentur arbeitete nach dem Randgruppen-Prinzip:
Ost-Leben alleine reichte allerdings nicht mehr. Mandys und Kevins
gab es genug. Wenn aber jemand Frau war, mindestens Türkin, besser
Kurdin, am besten aber Israelin, Palästinenserin oder Iranerin, wer
Gewalt- oder Drogengeschichten in der entferntesten Verwandtschaft
vorzuweisen hatte, bevorzugt Ehrenmord, zur Not auch
Diskriminierung allgemein, wer diese Umstände zu einem aufwühlenden
Buch verarbeitet hatte und dann noch einen Hauch von Sex
mitlieferte, der brauchte nur noch maximal zehn Prozent Talent für
einen Job im halbwegs sicheren Mittelbau. Wissen konnte man sich
besorgen, durch Lektüre von Neon und Werben &
Verkaufen. Als Philosoph mit Prädikat konnte man noch halbwegs
dagegen halten.
Martin war sich bis heute nicht im Klaren darüber,
ob er sich freuen sollte über seine Rolle. Was würde Platon dazu
sagen? Spätestens seit seiner Elternzeit wusste Martin allerdings,
was ihm die Agentur bedeutete. Mochten ihn seine Kollegen auch für
einen Sonderling halten, so brachten sie ihm doch
überdurchschnittlich viel Respekt entgegen. Die Brille hatte ihre
Berechtigung, durch und durch.
Es hatte Martin unendlich wehgetan, dass sich an
der Universität damals kein Job gefunden hatte, der ihn ernährt
hätte. Als Knecht an der Uni hätte er jedenfalls nicht annähernd so
viel Anerkennung bekommen wie jetzt im Reklame-Business. Und die
Pläne für sein Opus Magnum hatte er noch lange nicht aufgegeben,
das Buch der Bücher, über das die ganze Republik sprechen
sollte.
Was fehlte, war die Hochzeit mit Dorothea. Martin
hätte gern geheiratet, weil er sich nicht ganz sicher war, ob diese
Frau ihn wirklich bis ans Ende ihrer Tage lieben würde. Sind
Frauen, die sich alles kaufen können, zu dauerhaften Gefühlen
überhaupt in der Lage? Oder war er nicht eher so was wie
Lebensphasen-Dekor? Hielt Dorothea ihn nur
als Samenspender, der der steinreichen Sippe ein bisschen Grips in
die Ahnengalerie pusten sollte und spätestens entsorgt werden
würde, wenn die Kinder aus dem Gröbsten heraus waren?
Fakt war: Ob in ihrem Elite-Internat, auf der Uni
oder bei den Rotariern - überall hätte Dorothea bessere, reichere,
prominentere Männer aufgabeln können. Warum hatte sie ausgerechnet
ihn erwählt? Hunderte Male hatte er sie danach gefragt, aber sie
hatte immer ausweichend geantwortet, je nach Tagesform: Weil du so
süß bist. Weil du so schlau bist. Weil du so ein guter Vater bist.
Weil du mich so wundervoll vögelst.
Er hätte das gern geglaubt, wenn sie ihn endlich
geheiratet hätte. Tat sie aber nicht. Und warum nicht? War er
womöglich der nützliche Trottel, der Dorothea Renommee brachte,
ihrer Karriere nicht im Weg stand und gut genug war, um ein wenig
anzugeben? Konnte eine Frau so denken? Dorothea allemal. Denn wann
immer sie Geschichten aus der Bunten kommentierte, dann
ausschließlich nach Kriterien der Nützlichkeit. Von Gefühlen hatte
Martin sie nur selten reden gehört. Warum sollte sie nur bei
anderen in diesen Mustern denken, nicht aber in ihrem eigenen
Leben?
So war es auch mit Holtkötter.Dorothea wollte
endlich weg von diesem Neunzig-Sekunden-Fenster in den Nachrichten,
wenn sie einfach nur den Tag an der Börse herunterratterte. Sie
wollte eine eigene Sendung, sie wollte zeigen, was sie wirklich
draufhatte. Holtkötter entschied über solche Jobs. Und deswegen
musste er heute Abend begeistert sein, von Dorothea, von der
Wohnung, den Kindern, der Dachterrasse, aber vor allem vom
Wein.
Harry hatte ein gutes Gespür für solche Momente,
in denen sich Lebensläufe entscheiden. Leider war nur sein Knecht
da, ein fürchterlicher Klugscheißer - hochnäsiger
Weinberatungs-Praktikant mit französischem Genäsel. Außerdem
konnte er kein »h«, so ähnlich wie der Neger bei Asterix, der im
Ausguck des Piratenschiffs sitzt mit seiner R-Schwäche. Egal.
Martin hatte nicht viel Zeit. »Bordeaux zum Chef-Beeindrucken«,
sagte er knapp, um das Tannin-Gefasel aufs Minimum zu
reduzieren.
Der Aushilfs-Franzose hob die Braue. »Wir’abön
gerade’eute ein sensationelles Stöffschen’öreinbekommön. Mais:
nischt goonz billisch.« Er verschwand und kam mit einer Flasche
zurück. Martin verstand von Wein nicht viel, wusste aber,dass er
beim Gespräch mit Holtkötter ein paar kluge Bemerkungen würde
machen müssen, über das Terroir. Der Franzmann wollte zu einem
längeren Monolog anheben, aber Martin fragte nur: »Wie viele Läden
in Berlin bieten diesen Wein an?« Harrys Knecht schwieg beleidigt.
»Nur wir …«, sagte er dann. Gut, dachte Martin und gab die Begriffe
»Longueville«, »Lalande 2003« und »Parker« in sein
iPhone-Google ein. Franzmann guckte genervt. Aber das
Internet war nun mal sehr viel schneller und vor allem
zuverlässiger als Verkäufer-Gesabbel. Die nötigen Texte für das
Gespräch mit Holtkötter würde er sich später zusammengooglen.
Die Ergebnisse klangen sensationell:
fünfundneunzig Parker-Punkte, das würde ja wohl reichen für
Dorotheas Chef. Allerdings kostete eine Pulle selbst beim
billigsten Internet-Höker noch knapp hundert Euro.
»Was wollt ihr dafür haben?«, fragte Martin.
»Wie viele Flaschön wünschen der’err?«
Martin überlegte. Holtkötter war ein ausdauernder
Zecher, plus Dorothea plus er selbst - sechs Flaschen waren nicht
zu wenig. Er hätte nie im Leben so viel Geld für Wein ausgegeben.
Aber Dorothea wollte einen repräsentativen Bordeaux. Jetzt bekam
sie eben Pauillac- und Parker-Punkte.
»Ein Sixpack«, sagte Martin und fand sich
cool.
Der Franzmann rechnete kurz und sagte:
»Ein’ündertzehn die Flaschö«.
Martin schwieg vorwurfsvoll und zog sein
iPhone aus der Tasche.
Der Franzmann fürchtete sich offenbar vor einem
Online-Preisvergleich und antwortete schnell: »Isch legö noch eine
Flaschö drauf - siebön zum Preis von sechs.«
Martin rechnete und kam auf einen Flaschenpreis
von klar unter hundert Euro. Ob er jetzt einen guten Deal gemacht
hatte oder nicht - er fühlte sich gut.
»Okay«, sagte er und warf seine Kreditkarte auf
den Tresen, die gute schwarze, die sich die meisten Ladenschwengel
erst einmal ganz genau und mit wachsender Andacht anguckten, weil
sie so was Feines nur höchst selten in den Händen hielten. Als
Partner einer reichen Frau hatte man einige unbestreitbare
gesellschaftliche Vorteile.

Jochen hatte kurz überlegt, ob in seinem neuen
Leben noch Platz wäre für Onanie. Er war zu einer klaren
Entscheidung gekommen: Ja.
Er hatte die braune Anzughose über den schweren
Ohrensessel gelegt, der ihm seit Jahren als eine Art ausgelagerter
Kleiderschrank diente und saß in Unterhose vor dem Rechner. Helle
Flecken im Schritt machten sich nun wirklich nicht gut auf seinem
einzigen Anzug.
Über seinem Schreibtisch hing das Schild
»Frauenparkplatz«. Das hatte er in seiner Zeit als Parkwächter
gestohlen, als eine aufgebockte Russin ihren fetten Geländewagen so
dämlich abgestellt hatte, dass die Kamera ihn und das Schild nicht
sehen konnte. Als die Feministinnen den Frauenparkplatz erfanden,
hatten sie bestimmt nicht an
Schwestern auf vierzehn Zentimeter hohen nadelspitzen
Metallabsätzen gedacht.
Man konnte über Russinnen viel Gehässiges sagen,
aber eines war unstrittig: Sie waren eindeutig als Frauen zu
erkennen. Die Reflexe funktionierten. Sie sahen nach Vermehrung
aus, die auch Spaß bereiten durfte. Darwin hätte seine Freude
gehabt.
Jochen hatte seine Lieblingsseite aufgerufen:
youporn.com. Hier gab es
verdammt viele Russinnen. Die meisten kannte er schon, alte
Bekannte. Und die waren weit unkomplizierter als die ganzen fremden
Wesen da draußen. Jochen hatte vergessen, ein Taschentuch
bereitzulegen. Egal. Die Unterhose war noch fast frisch. Und
frischer Männerduft würde die lesbische Radio-Polizistin gleich
gnädiger stimmen.

Maik hatte gehofft, dass der weiße Mercedes
verschwunden wäre, wenn er mit Henry vom Fußball zurückkam. Der
Junge hatte beim Trainingsspiel einen Tritt vor den Knöchel
abbekommen und sich nicht gegen eine Auswechslung gesträubt. Das
war’s dann wohl mit dem Stammplatz in der Startelf. Und zu Hause
lauerten Leni und Heinz.
Maik schöpfte Verdacht, als er die Pappplatten
sah. Da hatte jemand einen Karton säuberlich zerteilt. Heinz konnte
sich tagelang mit Mülltrennung beschäftigen. Leni grinste
merkwürdig, als er sein Haus betrat. »Geh doch mal in den Garten -
Überraschuuung.« Ulrike kam aus der Küche und wischte sich die
Hände an der Jeans trocken. Sie hatte bestimmt schnell was zu Essen
warm gemacht, so wie seit sieben Jahren jeden Tag.
Maik hasste Überraschungen, erst recht, wenn sie
von seinen Schwiegereltern kamen.
Heinz stand auf der Terrasse, hielt einen
Schraubenzieher in der Hand und starrte stolz auf ein Monstrum in
weißem Plastik.
»Was ist das?«, fragte Maik ungläubig.
»Ein Strandkorb«, sagte Heinz, »den hast du dir
doch so gewünscht. Gab’s ganz günstig in der Metro.«
Ulrike und Leni standen Schulter an Schulter und
guckten erwartungsvoll wie Mütter an Weihnachten. Sie wollten
glückliches Kinderlachen hören, der einzige Sinn des mütterlichen
Daseins.
Maik war fassungslos. Ein Gartenexperte mit einem
missratenen Strandkorb auf der eigenen Terrasse - das ging nicht
mal mehr als ironisches Zitat durch, wenn Jeff Koons den Korb
geflochten hätte.
»Macht sich doch toll«, sagte Leni. Maik
überlegte, Heinz eine nackte Pam Anderson auf den Daimler zu
sprühen und am nächsten Morgen zu sagen: »Sieht doch toll aus.« Wie
konnte man diese missratene China-Kopie eines Strandkorbes hübsch
finden, die nicht mal einen Schauer überstehen würde? Ein klarer
Fall von emotionaler Erpressung; er hatte überhaupt keine Chance,
dieses Geschenk abzulehnen - er würde nur als undankbar
gelten.
Was hätte Häuptling Cooler Panther in diesem
Moment getan? Was würde passieren, wenn er seinen Gedanken jetzt
einfach freien Lauf ließe? Der ganze Abend wäre im Eimer, Ulrike
würde heulen, die Kinder wären irritiert und Leni würde sagen: »Was
hat er denn schon wieder …?« Aber dem Häuptling wäre es egal.
Maik musste sich entscheiden: Krieg? Oder ein
trügerischer Frieden mit dem Ergebnis, dass er den Plastikhaufen
jahrelang im Garten ertragen musste. Die erwartungsvollen Blicke
seiner Familie pikten von allen Seiten: Zwei Kinder, zwei
Schwiegereltern und die eigene Frau wollten Zeuge
sein, wie Vati sich freut. Natürlich ging es auch um Macht: Wenn
er diesen Strandkorb zulassen würde, dann wäre er auf ewig
enteiert. Wöchentlich würde er unter neuen Metro -Kartons
begraben und stünde unter fortgesetzter Freupflicht.
Metro - so hieß die Sekte von Leni und
Heinz. Sie waren blindgläubiger als jeder Scientologe.
Metro, das war so gut, so billig, so viel, so praktisch, ein
Traum für Menschen, die das Einkaufen zu ihrem Lebensinhalt gemacht
hatten. Zweimal in der Woche fuhren Heinz und Leni in die
Metro, und sie erzählten davon wie Großvater vom Krieg: die
Schlacht auf dem Parkplatz, das Rennen zu den Restposten, die
Verteidigung des Einkaufswagens, aus dem neulich doch tatsächlich
ein gegnerischer Konsument ein Paar Sonderangebote entwenden
wollte, weil er es selber nicht mehr geschafft hatte, schließlich
die Flucht aus dem Konsumkessel, entbehrungsreich und voller
Härte.
Deutsche brauchten offenbar immer
Heldengeschichten, die mit Kampf und Durchhalten zu tun hatten. Opa
hatte Stalingrad, Heinz und Leni hatten die Metro, und Maik
und Ulrike wurden mit immer mehr nutzlosem Gerümpel zugeschüttet,
nur weil zwei Rentner zu viel Geld, zu viel Zeit und zu wenig Sinn
im Leben hatten. Maik hatte nichts gegen Strandkörbe, im Gegenteil:
Aus Holz und Segeltuch ließen sich Kunstwerke bauen; aber aus
Plastikmüll eben nicht. Und es war auch keine Leistung, einen
billigen Fake aus der Metro nach Reihenhausen zu
schleifen.
Maik schwieg. Ihm fiel keine Antwort ein, die
niemanden verletzen würde. Nur so viel war klar: Dieses Ungetüm
musste aus seinem Garten verschwinden. Maik fixierte seinen
Schwiegervater. Wenn er einen Verbündeten hatte, dann war es Heinz,
der Freizeit-Kapitän. Komisch, dass fast alle ältere Herren einen
maritimen Kick bekommen.
Maik hatte sich entschieden. Er hätte große Lust
gehabt, einen Tobsuchtsanfall hinzulegen, was seinen verdammten
Schwiegereltern eigentlich einfiele, ihm eine Ladung Sondermüll in
den Garten zu kippen, ob sie nicht vielleicht auch noch das
Wohnzimmer umdekorieren oder gleich im Ehebett Platz nehmen
wollten.
Aber er würde es diesmal perfider anstellen und
auf die pädagogische Tour kommen. Er würde Ulrike, ihre Eltern und
seine eigenen Kinder dazu bringen, zuerst das Trümmerteil und dann
sich selbst zu verachten. Er wollte den moralischen Sieg, über
Heinz, über Leni, über Ulrike und vor allem über die
Metro.
»Heinz, du bist doch ein Kenner der Küste«, sagte
Maik, vielleicht eine Spur zu süßlich.
Heinz witterte Ungemach. Er nickte vorsichtig.
»Nun stell dir doch mal vor, du wärst Strandkorbverleiher auf
Sylt.«
Heinz nickte wieder. Die Vorstellung gefiel ihm.
»Würdest du einer Urlauberin wie, sagen wir Leni oder Ulrike, einen
solchen Strandkorb vermieten?«
Noch bevor Heinz sich winden konnte, nahm Maik
seine Schwiegermutter ins Visier.
»Und würdest du, liebe Leni, zwei Wochen Urlaub in
diesem Strandkorb verbringen wollen? Oder du, liebe Frau?« Ulrike
schüttelte ganz leicht den Kopf, entgegnete aber: »Das kann man
doch nicht vergleichen. Der hier ist doch nur zur Zierde.«
Maik machte eine kleine Pause. »Nein, meine liebe
Frau, das stimmt nicht. Wenn wir ein so dominantes Möbelstück auf
der Terrasse stehen haben, dann möchte ich es nicht nur angucken,
sondern nutzen; ich möchte mit dir, den Kindern oder einfach nur
mit einer Tasse Kaffee und der Zeitung darin sitzen. Ich möchte ein
Stück Nordsee-Feeling.
Das bekomme ich in Segeltuch und Holz, aber garantiert nicht auf
rutschigem Plastik.«
Maik gönnte sich eine Pause, dann endete er mit
dem Schlusshammer: »Als Premium-Kunden bei der Metro könnt
ihr das Ding doch bestimmt umtauschen. Oder ihr stellt es bei euch
auf. Ich fasse gern mit an. Bei uns bleibt es jedenfalls
nicht.«
Leni sah Ulrike fragend an, als überlegte sie, ob
»Was hat er denn jetzt schon wieder …« die angemessene
Kommentierung sei. Heinz drehte betreten den Schraubenzieher in der
Hand, die Kinder hatten den Strandkorb leise verlassen. Maik hatte
das Prunkstück innerhalb von drei Minuten in einen Schandfleck
verwandelt, ohne sich dabei die Arschkarte eingehandelt zu haben.
Er glaubte erstmals zu kapieren, was Reife bedeuten könnte:
elegantes Siegen.
Leni und Heinz gehörten nicht zur Generation des
offenen Wortes, weil sie nie gelernt hatten, mit Kritik umzugehen.
Kritik bedeutete für sie nie einen Verbesserungsvorschlag, sondern
immer einen persönlichen Angriff. Deswegen war Lenis Kuchen auch
gleichbleibend schlecht. Niemand wagte, ihr die Wahrheit zu sagen
und ihr die Chance zu geben, beim nächsten Mal zufriedenere Gäste
zu bewirten. So täuschten und tricksten und flunkerten sich Maiks
Schwiegereltern durchs Leben, bösartige Senioren, geizig, gierig,
neidisch, tückisch, die mit permanentem Blick auf den eigenen
Vorteil dieses Land durch und durch vergiftet hatten. In Hotels,
Restaurants,Arztpraxen, Taxis und Supermärkten war ihre Meckerlust
gefürchtet. Sie lasen immer das Kleingedruckte und begannen jeden
zweiten Satz mit den Worten: »Das ist aber unser gutes Recht …« Mit
diesem Schlachtruf plünderten sie erst die Renten-, dann die
Gesundheitskasse, schließlich die Sonderangebotsständer und
verbreiteten zum Dank auch noch schlechte Laune.
Heinz und Leni hatten sich in fünf Jahrzehnten
permanenten Aufschwungs vier kleine Eigentumswohnungen
zusammengerafft, ohne jemals auch nur einen Hauch von echtem
Lebensrisiko erlebt zu haben. Je weniger sie hatten durchmachen
müssen, desto panischer waren sie, dass ihnen alles genommen werden
könnte, vom Finanzamt, von Ausländern, von Ossis oder sonst welchen
Kriminellen. Sie kassierten Rente, Betriebsrente, Zinsen,
Dividenden und Mieten, führten sich aber pausenlos auf, als müssten
sie morgen ins Armenhaus. Sie waren Profi-Opfer, die so taten, als
hätten sie Deutschland aufgebaut, dabei hatten sie immer nur am
Aufschwung teilgenommen, einfach nur, weil sie Glück hatten.
Sie hielten Maik für eine Mischung aus
Erbschleicher und Versager. Viel lieber hätten sie einen Anwalt als
Schwiegersohn gehabt, der ihre ewigen Streitereien mit Mietern
umsonst erledigt hätte, besser noch einen Chefarzt, der sie ernst
nahm mit ihren ewigen Zipperlein.
Doch dann war ihre Tochter mit einem geschiedenen
Gärtner aus dem Osten gekommen. Maik verspürte einen unbändigen
Stolz. Den Stolz des Häuptlings.
18 UHR

Mit einer gewissen innerlichen Feierlichkeit hatte
Attila seinen Blackberry ausgeschaltet, als er das
ehrwürdige Backsteingebäude betrat. Er wusste immerhin noch, wie
das ging. Das letzte Mal hatte er das Gerät länger an Weihnachten
stillgelegt, fürs Essen; beim Kirchgang hatte er immerhin die
Stummschaltung betätigt. Er musste doch wissen, ob und was die
Bindinger ihren Mitarbeitern in solch emotional aufgeladenen
Momenten mitteilte.
Attila saß in einem schweren Ledersessel und
wartete. Der Professor würde ihn gut behandeln, da war er sicher.
Er hatte auch diesen Termin außerhalb der Geschäftszeiten möglich
gemacht. Attila wollte von niemandem gesehen werden. Professor
Schneider behandelte ihn schon deswegen bevorzugt, weil seine
Klinik derzeit von einer Wesley-Schwadron durchkämmt
wurde.
Schneider war ein schlauer Mensch: Er wusste
genau, dass seine Zukunft vom Ergebnis des Wesley-Gutachtens
abhängen würde. Attestierte ihm die Strategieberatung medizinische
Exzellenz und ordentliches Wirtschaften, dann würde er fortan für
jeden Leitungsposten in Deutschland gehandelt werden. Kam
Wesley zu niederschmetternden Resultaten, dann konnte der
Herr Professor sich schon mal vorsorglich als Landarzt in der
Prignitz bewerben.
Worüber man nicht sprach: Der Chef von
Wesley bestimmte natürlich über die endgültige Form des
Gutachtens und damit über die Zukunft des Weißkittels. Auf Deutsch:
Professor Schneider war ihm ausgeliefert, bis vor wenigen Stunden
jedenfalls. Was aber wäre, wenn er Schneider nun die
Fruchtbarkeitsprobleme seiner Frau beichtete? Wenn der Professor
eine Drecksau war, und nichts sprach bei leitenden Medizinern
dagegen, dann würde er diese Information geringfügig modifizieren
und ein Leben lang gegen Attila verwenden.
Als Spitzenkraft durfte man seine Frau schlagen,
besoffen Menschen totfahren und sich im Nazi-Kostüm in der
Kühlkammer anketten lassen - aber man durfte keine Potenzprobleme
haben. Diese Information würde seine Autorität nicht nur bei
Wesley, sondern in der ganzen Branche untergraben. »Der Chef
kann nicht«, würde über alle Flure der Republik gewispert,
womöglich sogar getwittert - wie grausam. Ein Kind musste her, aber
zackig.
Die Tür öffnete sich, und die stattliche Statur
von Professor Schneider verdunkelte die Sonne. »Freut mich
außerordentlich, dass wir uns endlich mal wiedersehen«, log er zur
Begrüßung. Attila betrat das Büro. Der Professor erläuterte das
Programm: Leistungsdiagnostik, Sonographie aller wichtigen Organe,
großes Blutbild und schließlich die Magen- und Darmspiegelung.
»Einmal oben, einmal unten«, sagte der Professor lachend, »aber
nicht mit dem gleichen Schlauch.« Haha, sehr witzig, fand Attila.
Wie oft der Medicus diesen mittelguten Scherz wohl schon gemacht
hatte? »Dann wollen wir mal«, sagte Schneider.
Aber Attila hob die Hand: »Einen Moment noch, Herr
Professor. Ein guter Freund von mir hat mich gebeten, Sie zu einem
etwas heiklen Thema zu befragen, das ihm ziemlich unangenehm
ist.«
Schneider horchte auf. Hatte er gemerkt, dass
Attila die Projektionsstrategie anwendete und in Wirklichkeit von
sich selbst sprach? Egal. So war ihm jedenfalls nichts
nachzuweisen.
Attila schilderte das Empfängnisdrama und schloss
die Frage an, ob es auch Ursachen gebe, die sich schnell und
problemlos abstellen ließen. Er dachte an seine Jeans, die obenrum
etwas eng saßen. Seine Mutter hatte früher immer gesagt, dass
stramme Beinkleider negativ auf die Potenz wirken könnten.
Der Professor machte eine dieser professoralen
Kunstpausen. Dann hob er an zu einem kleinen kulturgeschichtlichen
und medizinwissenschaftlichen Streifzug durch die
Zeugungsgeschichte des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Fazit:
Ursachen konnte es viele geben. Für einen solchen ebenso
zeitraubenden wie ergebnislosen Exkurs hätte Attila einen
Mitarbeiter schon gefeuert.
Immerhin kam der Professor ganz am Ende doch noch
zum
nützlichen Teil. Er zitierte eine brandneue australische Studie,
derzufolge die Samenqualität beim modernen Mann stark abgenommen
habe. Die Ursache war ganz einfach: zu wenig Umsatz. Im Beutel
eines sexuell mäßig aktiven Zeitgenossen schwappte demnach nicht
das Gen-Material für Helden, sondern eher Spermienmüll. Nur hohe
sexuelle Aktivität gewährleistete auch viele gute Samen. »Richten
Sie Ihrem Freund einfach aus: Mit ein paar Mal onanieren lässt sich
schon viel bewegen«, meinte der Professor, »das ist zwar nicht
hochwissenschaftlich, aber durchaus plausibel.« Attila schöpfte
Hoffnung.

In der Agentur war alles wie immer. Dennoch hatte
Martin das Gefühl, dass er störte. Seine Kollegen behandelten ihn
so leise und vorsichtig wie einen Kranken, der noch in der Reha
weilt. Manche nickten ihm zu, grinsten oder hoben den Daumen, als
er ins Konferenzzimmer trat.
Vielleicht hätte er auch einige Minuten vor sechs
kommen sollen. Aber er hatte Dorothea noch umständlich auf die
Mailbox gesprochen, dass die Agentur darauf bestanden hätte, dass
er am Brainstorming teilnähme. Das stimmte zwar nicht, war aber die
einzige Chance zu erklären, warum er nicht zu Hause war und
Frederic half, das perfekte Chef-Dinner vorzubereiten. Er wusste,
dass sie toben würde. Die vierzehn besten Leute der Agentur waren
zum Brainstorming eingeladen worden. Martin hatte sich selbst
eingeladen. Das war unüblich, aber unumgänglich. Hier wurde die
Weltbestenliste erstellt, einmal im Quartal. Wer nicht dabei war,
fiel im Ranking. Und Martin hatte keine Lust, bei seiner Rückkehr
vom Praktikanten-Level zu starten. Sein Chef begrüßte ihn
ausdrücklich und, wie Martin fand,
durchaus herzlich, aber nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es
»unüblich« sei, die Elternzeit zu unterbrechen. Hörte Martin Kritik
heraus?
Er nestelte geschäftig an seinem Vorwort herum,
das er ausgedruckt und auf seinem Klemmbrett gut sichtbar fixiert
hatte. Am Ende dieser Veranstaltung würde sein Chef sagen: »Gut,
dass Sie da waren, Martin. Dieser Witz, diese Tiefe, das brauchen
wir so dringend. Wir kommen einfach nicht ohne Sie aus.« Oder so
ähnlich.
Das Brainstorming verlief immer nach dem gleichen
Ritual. Es gab einen Talking Stick, einen halben Meter Besenstiel,
der mit Bändern und Schellen verziert war. Wer den Stock hielt,
hatte das Rederecht, alle anderen mussten zuhören. Es war Pflicht
für jeden, einen etwa fünfminütigen Monolog zu halten über eine
Beobachtung, ein Phänomen, vielleicht eine Belanglosigkeit, aber
mit dem Potenzial, ein Trend zu werden. Der neue Praktikant musste
anfangen. Für Praktikanten war das Brainstorming der Höhepunkt in
ihrem bisher eher nutzlosen Leben. Viele schwitzten, manche
stammelten, neulich hatte ein Mädchen sogar vor Aufregung
geheult.
Gerade referierte der neue Praktikant etwas
uninspiriert über seine Beobachtung, dass in Cafés immer mehr
Raucher dazu übergingen, ihre Zigaretten wieder selbst zu drehen.
Hatten wir es hier nur mit einem ökonomischen Phänomen zu tun? Oder
zeichnete sich da ein Trend ab? Demi Moore sollte irgendwo im
Interview bekannt haben, dass sie so unheimlich gern strickte. »Wir
erleben den Beginn einer neuen Selfmade- und Heimwerker-Ära«,
fasste der Praktikant eine Spur zu selbstgewiss zusammen. Der Chef
nickte anerkennend.
Martin überlegte. Sollte er sich den Talking Stick
schnappen und fünf brillante Minuten zu seiner NIWRAD-Theorie
hinlegen? Oder sollte er sich in seiner Gastrolle einrichten,
zurückhaltend, weltmännisch und nachdenklich und nur reden, wenn
ihn der Chef um seine Meinung fragen würde? Martin wollte nicht
auffallen, aber auch nicht untergehen.

Wieso schickte Eva, die Nervensäge, ihm schon
wieder eine SMS? »Danke für deine kryptische Nachricht! Warte auf
dich … Kuss! E.« Hä? Kryptische Nachricht? An Eva? Um Gottes
willen! Check SMS-Ausgang. Verdammt, die Hollywood-Nachricht, er
hatte sie aus Versehen an Eva geschickt. Sehen wir es mal positiv,
dachte Lars. Ich verhalte mich einfach ruhig, und sie wird nach
ihrem heutigen Abend in vergeblicher Warteposition so sauer sein,
dass ich endlich Ruhe vor ihr habe.
»In Wirklichkeit waren sie alle
Gefängnisinsassen, die einen in ihrer Pseudo-Familienidylle, die
anderen in ihrer vermeintlichen Single-Freiheit.«
Die Stimmung in der Küche war sehr ausgelassen, es
wurde geraucht und getrunken, der Lärmpegel war unglaublich. Jasmin
leckte sich gerade über die Lippen. Er hatte den Eindruck, sie
guckte zu ihm herüber. Ob er sie vielleicht doch mal, also sofort,
ansprechen sollte? Sie spielte mit ihm, das war offensichtlich.
Diese Büro-Party-Ausgelassenheit, das war alles nur Tarnung; in
Wirklichkeit waren sie alle Gefängnisinsassen, die einen in ihrer
Pseudo-Familienidylle, die anderen in ihrer vermeintlichen
Single-Freiheit.
Vor drei Monaten war er auf Angelikas Hochzeit
gewesen, das war ähnlich bescheuert. Ach was, das war tausendmal
härter, erinnerte er sich jetzt. Er hatte das Glück seiner
einstigen Gefährtin kaum ertragen können. Er hatte sie lachen
sehen, so befreit, so sicher, er hatte seine verpasste Chance
gesehen und es kaum ausgehalten. Man entscheidet sich auch, wenn
man sich nicht entscheidet, war eines der geflügelten Worte seines
alten Herrn.
Von Angelikas Hochzeit aus war er zum ersten Mal
in seinem Leben direkt in ein Bordell gefahren. Die Leuchtreklame
war von der Autobahn gut zu sehen. Mit zwei Mädchen aufs Zimmer. Er
war an dem Tag auch richtig gut gewesen, die mochten ihn wirklich,
die waren echt abgegangen, das hatte er gleich gemerkt. Danach war
es ihm gleich besser gegangen, so für einen Tag.
Jasmin stand jetzt neben ihm. »Na, haben wir
wieder unsere kleine Zukunftsdepression?« Sie redet nicht mit mir,
wie eine Assistentin mit mir reden sollte, dachte Lars, und starrte
auf ihre wohlgeformten Brüste. »Du willst mir doch gar nicht
helfen. Sonst würdest du dich auch nach Feierabend mal um deinen
bedürftigen Chef kümmern.« Lars starrte Jasmin an. Wie kann ich nur
so einen Blödsinn erzählen, ich fasse es nicht, dachte er. Aber
Jasmin grinste. »Du hast mich ja noch nie richtig gefragt.« Er
lächelte. Läuft doch, dachte Lars, läuft doch immer besser.

Als Jochen das Sendergebäude verließ, war ihm
immer noch schwindelig. Was war da gerade passiert? Er wusste es
nicht. Er war kaum zehn Minuten zu spät gekommen, weil die
Gangschaltung an seinem Rad nicht ganz rund lief. Sechs Personen
warteten auf ihn, vier Frauen und zwei Männer, und alle sahen
aus wie die Besucher eines Straßenfestes von Amnesty
International. Das Tribunal. Frau Kackdie-Wandan guckte
besonders grimmig. Der Programmchef begann das Verhör, und Jochen
hatte nicht den Eindruck, dass da ein Freund sprach. Der
Programmchef verlas mehrere Ausschnitte aus Beyond Cool,
völlig harmlose, heitere Sätze wie: »Die Frau ist der beste Freund
des Menschen« und andere ziemlich lustige Einwürfe, mit denen
Jochen seine Moderationen gewürzt hatte.
Ob er denn die Richtlinien des Senders gelesen
hätte, fragte Frau Kackdie-Wandan mit der tückischen
Liebenswürdigkeit einer Sonderschulpädagogin. Jochen bejahte in der
Hoffnung, nicht abgefragt zu werden, und versuchte einen
Gegenangriff. Wenn in der wöchentlichen Lesben-Sendung eine
weibliche Komödiantin in einem ähnlichen Ton über Männer gelästert
hätte, dann wären alle begeistert gewesen über so viel
emanzipatorisches Selbstbewusstsein, behauptete er. Frau
Kackdie-Wandan schüttelte den Kopf. Nein, man toleriere keine Form
von Diskriminierung. Der Rest des Tribunals nickte ernst.
Genau in diesem Moment meldete sich das Handy von
Frau Kackdie-Wandan. Die Marseillaise erklang, obwohl nur eine SMS
eingegangen war. Das Gebimmel war ihr peinlich. Immerhin. Jochen
stellte sich vor, dass die SMS von Kackdie-Wandans Lebensgefährtin
gekommen war, Text: »Du Drecksluder, wenn du nach Hause kommst,
werde ich’s dir richtig schmutzig besorgen.« Jochen grinste. Wenn
Männer es Frauen schon nicht richtig schmutzig besorgen konnten,
dann konnten es Frauen bei Frauen erst recht nicht. Immerhin
Gerechtigkeit im Elend.
Die SMS war genau im richtigen Moment gekommen;
sie hatte das Tribunal praktisch beendet. Der Programmchef fasste
zusammen: Jochen sei neu, etwas über das Ziel hinausgeschossen,
seine Sendung liefere gleichwohl eine interessante Farbe, die dem
Gesamtprogramm guttue. Insofern wolle man es in diesem Fall bei
einer Ermahnung belassen, verbunden mit dem Appell, künftig etwas
rücksichtsvoller mit den Gefühlen der Hörer und vor allem
Hörerinnen umzugehen.
Frau Kackdie-Wandan nickte. Jochen nickte auch.
Dann war das Tribunal beendet. Hatte Jochen nun gewonnen oder
verloren? Helden werden im Kopf gemacht, dachte Jochen und
versuchte, sich wie ein Sieger zu fühlen.

Laufen hatte für Maik eine magische Bedeutung. Er
war nie ein großer Sportler gewesen. Aber inzwischen genoss er es,
seinen Körper zu spüren, die Luft, die Ruhe, den Zwang, sich mit
sich selbst zu befassen ohne jede Ablenkung. Vor allem aber war das
Laufen untrennbar mit Fee verbunden, vielleicht der Frau seines
Lebens. Sie war Reporterin fürs Lokalradio und hatte ihn einst über
die Gartentrends des Frühjahrs befragt. Sie hatten danach ein paar
SMS ausgetauscht, sehr distanziert und dennoch voller
Sehnsucht.
Maik spürte, dass er für Fee mehr empfand als für
alle anderen Frauen zusammen. Er wusste aber auch, dass keine
Chance bestand für sie. Fee hatte Mann und Kind, und Ulrike stand
damals kurz vor der Entbindung von Anna. Sie trafen sich im Wald,
zu langen Spaziergängen, die immer vertrauter wurden. Eines Tages
zog sie ihn am Ufer des Sees in eine Kuhle. Sie liebten sich still,
schnell und seither immer öfter. Wie nur wenige Frauen hatte sich
Fee die wundervolle Eigenschaft des Errötens erhalten.
Um kein Aufsehen zu erregen, begannen sie
gleichzeitig
das Laufen. So konnten sie sich zwei, drei Mal die Woche
unauffällig sehen. Auf so ziemlich jedem Quadratzentimeter
Grunewald hatten sie sich seither geliebt, immer schnell, immer
still, immer voller Hitze. Das Verbotene behielt auch mit den
Jahren seinen immensen Reiz.
Doch die Leichtigkeit ließ sich nicht festhalten.
Immer öfter sprach Fee davon, dass sie ihre Partner verlassen und
gemeinsam etwas ganz Neues beginnen sollten. Maik dachte an den
Hauskredit, die Kinder und Ulrike. Er hatte Angst vor zu vielen
Baustellen. Er zweifelte, ob die neue Liebe, die ja auch schon
älter war, all dem Druck standhalten würde, der da aus zwei
zertrümmerten Familien entstehen würde. Er hatte Angst davor, sein
Leben radikal zu ändern, jedenfalls jetzt. Es sollte alles so
bleiben wie es war. Aber Fee wollte mehr. Sie setzte ihm zu mit
ihrer bedingungslosen Liebe. Never touch a running system, dachte
Maik. Fee dachte anders.
Vor drei Monaten hatte er ihr beim Laufen ebenso
knapp wie kalt erklärt, dass er nicht mehr weiterwisse, nicht mehr
könne, nicht mehr wolle. »Das war’s dann wohl«, hatte sie gesagt.
Er nickte und hoffte, dass sie ein Gespräch beginnen würde, über
das Warum. Aber sie bog bei der nächstbesten Gelegenheit ab.
Sein Lauf allein durch den Wald gehörte zu den
tragischsten Momenten seines Lebens. Er weinte, wie er noch nie
geweint hatte. Er wusste, dass er womöglich den größten Fehler
seines Lebens gemacht hatte. Er hatte Sicherheit gewählt, obwohl er
Glück gewollt hatte. Ausgerechnet er, Häuptling Cooler Panther, war
feige gewesen.
Maik überlegte, ob er umdrehen und ihr
hinterherlaufen sollte. Es war vielleicht eine Chance. Er drehte
sich um und schaute, ob sie vielleicht den Weg entlangkam. Doch sie
kam nicht. Scheiß Liebe, dachte Maik. Konnte ein Mann
über Liebe überhaupt nachdenken und dennoch ein Mann bleiben? Eher
nicht.
Bis heute hatte er Fee nicht wiedergesehen und
dennoch nicht eine Sekunde vergessen. Wann immer er ein Lachen
hörte, das ihres sein konnte, wann immer er einen Hauch Parfüm
roch, der von ihr stammen konnte, wann immer er eine Farbe sah, ein
Wort hörte, ein kleines unpraktisches Auto sah, dachte er an sie.
Wie es ihr wohl ging? Hatte sie die Affäre einfach so zu den Akten
gelegt?
Hundertmal hatte Maik überlegt, bei ihr zu Hause
vorbeizufahren, nur um zu sehen, ob ihr Wagen vor der Tür stand.
Jedes Mal, wenn er lief, hoffte er, ihr zu begegnen, neben ihr ein
paar vorsichtige Schritte zu machen, bis sie ihren Rhythmus
wiedergefunden hätten. Er wollte gar nicht mit ihr reden, er wollte
einfach nur bei ihr sein.
»Konnte ein Mann über Liebe überhaupt
nachdenken und dennoch ein Mann bleiben? Eher nicht.«
War die Entscheidung richtig? Wie viel Stress
hätte ihr Glück ausgehalten? Einfach zwei Familien zertrennen? Was
würden die Kinder sagen? Freunde? Schwiegereltern? Ach, scheiß doch
auf Leni und Heinz.
Aber würde der Sex noch so gut sein, wenn er
plötzlich nicht nur legal war, sondern Pflicht, wenn Zeit genug da
war und ein richtiges Bett? Wie viel Adrenalin brachte das
Verbotene mit sich? Jeden Tag, jede Minute die gleichen
Gedanken.
Maik litt wie ein Schwein und lief wie ein
Verrückter in jeder freien Minute, aber eigentlich nur für Fee. Er
hatte zehn
Kilogramm abgenommen in den letzten drei Monaten; jede Faser,
jeder Nerv, jede Pore gierte nach Fee.
Er zog das Tempo noch mal an. Sein Herz pochte bis
in den Schädel, die Beine brannten. Sich selbst konnte Maik ganz
gut quälen. Aber andere nicht.
19 UHR

Als er sich von Angelikas Party wegstahl, grinste
ihn die kleine Praktikantin an und wünschte ihm mit
verschwörerischem Zwinkern einen schönen Abend. Ein Hauch von
Erinnerung umwehte Lars. Irgendwas hatte die Praktikantin mit
dieser Sandy zu schaffen. Bloß was? Waren die beiden verwandt? Kurz
huschte eine schummrige Szene durch seinen Kopf, ein Date mit zwei
jungen Dingern, Knutscherei.
Auf dem Weg nach Hause hielt er an seinem Gym. An
Sport war nicht zu denken, aber er wollte frisch wirken, wenn er
diese Sandy traf. Eine Runde Sauna, das half immer. Im Eingang kam
ihm Cindy von der Bar neben den Freihanteln entgegen, die sich
letztens über sein Alter lustig gemacht hatte. Sie musterte ihn,
sehr freundlich, könnte man sagen. »Schicker Anzug«, sagte sie.
Lars fühlte sich gut. Er lachte sie an.
Sie fragte: »Sag mal, interessierst du dich
eigentlich auch für Fußball?« Lars stutzte. Komische Frage,
dachte er und überlegte fieberhaft, was die beste Antwort wäre, um
aus der Bar-Cindy eine Beischlafgelegenheit zu machen. Das fies
betonte auch schien ihm der Schlüssel. »Kann ich nichts mit
anfangen, Beschäftigungstherapie für Prolls, warum?« Ihre
schneeweißen Zähne strahlten ihn an. »Nur so, ich dachte alle
Männer verschwenden ihre Samstage mit Fußball.« Lars witterte eine
Chance, da brauchte doch jemand
ein Ventil für aufgestauten Ärger. »Samstage? Die kann man doch
viel besser nutzen«, sagte er so anzüglich wie möglich. Cindy
lachte. »Womit denn?« Er setzte sein bestes Verführergrinsen auf.
»Kann ich dir nur an einem Samstag zeigen.« Sie gab ihm einen
sanften Klaps. »Na, na, na.«
Kurz vor der Tür drehte sie sich um. »Komme ich
mal drauf zurück.« Lars machte die Becker-Faust. Er hatte es
einfach drauf. Lars legte sich in die Bio-Bude, die machte einen
nicht so fertig. Er mochte es, wie das Licht langsam die Farbe
wechselte, er fühlte sich gleich gesünder. Er verglich seine Figur
mit denen der anderen. Ein paar erschlaffte Businesstypen,
Bauchansatz, Männertitten, spindeldürre Ärmchen, dazu ein paar
ausgezehrte Marathon-Knochen. Nur die zwei Schwulen in der Ecke
hatten perfekte Bodys. Eigentlich war er ganz zufrieden mit sich.
Aber der Hintern, da musste er aufpassen. Wenn der Hintern einmal
hängt, dann ist es zu Ende.
Unauffällig ließ er seinen Blick über die Frauen
streifen. Er war nur Mitglied geworden, weil hier alle
Assistentinnen und Sekretärinnen der umliegenden hippen Firmen
hingingen. Diese Figuren der Mittzwanziger, er konnte sich gar
nicht satt sehen an den weichen Rundungen, die Haut so straff, so
gesund, und alle rasiert, ab und zu ein kleiner Adolf oder eine
kleine Landebahn, aber kein Busch, wie er in seinen Anfangsjahren
noch üblich war. Und wie hemmungslos die mittlerweile alle im Bett
geworden waren. Sagenhaft.
Er konnte sich gar nicht vorstellen, jemals mit
einer Frau über vierzig zu schlafen, das wäre ja wie Sex mit der
eigenen Mutter zu haben. Ich werde mich immer nach genau diesen
Körpern sehnen, dachte Lars, und nicht plötzlich anfangen,
Gewebeschwäche und Falten sexy zu finden. Vielleicht war das ganze
Hochzeits-Ding doch nichts für ihn,
denn egal, wen er heiraten würde, irgendwann wurde auch diese Frau
alt - und dann? Selbstkasteiung oder was? Lars lächelte zufrieden.
Eigentlich führte er ein cooles Leben. Er freute sich auf Sandy.
Und Doro. Und Nicky.

Als Maik nach Hause kam, verschwitzt und
unglücklich, erwartete ihn bereits der gewohnte Horror. Ulrike und
ihre Mutter, die sie immer noch »Mama« nannte, hatten
Kartoffelsalat und Melonenschiffchen angerichtet; Heinz grillte
draußen. Der Strandkorb war verschwunden. Wahrscheinlich in der
gelben Tonne. Leni war eine militante Mülltrennerin.
Maik winkte Ulrike einen stummen Gruß zu. Zum
Glück hatte niemand Lust, sich in der Nähe eines schwitzenden
Griesgrams aufzuhalten, dem der Schweiß aus allen Poren
troff.
Maik verbrachte eine Ewigkeit unter der Dusche,
hoffend, dass das Abendbrot an ihm vorbeigehen würde. Er drehte die
Dusche wechselweise auf kalt und sehr, sehr heiß. Nach dem
Wochenende in der Eifel hatte Maik überlegt, sich womöglich auch
zum Schamanen ausbilden zu lassen. Er spürte ganz tief in sich
besondere Fähigkeiten, die allerdings nicht an die Oberfläche
kamen. Er musste dieses Potenzial eines Tages heben. Beim Seminar
hatte er zwei Tage fast ununterbrochen in der Schwitzhütte
zugebracht, mit sechs anderen Männern. Alles kochte, das Hirn, die
Gefühle, sogar das Wasser im Arsch. Statt Essen gab es seltsamen
Brei aus Pflanzen, angeblich bewusstseinserweiternde Wurzeln der
Indianer, um zurückzugelangen, an die Anfänge, die eigenen Wurzeln.
Wurzeln essen, Wurzeln finden, so platt klang die Gleichung, die
Maiks Kopf verlachte, seine Seele aber glauben wollte.
Sie sollten den Weg durch den Geburtskanal
nachvollziehen, hatte der Schamane gesagt, aber Maik hatte keine
Lust. Er wollte Frauen lieber nicht als umgekehrte Babyklappe
betrachten.
Der Seminarleiter hieß Tom und war ein seltsamer
Vogel mit Lederweste und einer Feder im Haar, der ziemlich viel
kiffte, was den Schamanen-Beruf aber nicht unattraktiver machte,
fand Maik. Der Kiffer hatte zehn Jahre bei Hopi-Indianern
verbracht, oder vielleicht hießen sie auch Dopi. Tom roch
jedenfalls nach Tipi. »Männer müssen Männer sein«, hatte Tom
gesagt. Nee, klar. Aber wie, du Schamane?
»Männer wollen wissen, wer sie sind. Vielleicht
auch nicht. Denn nachher stellen wir fest, dass da gar nichts ist
außer Angst oder der Lust auf eine Flasche Bier.«
Die sechs Männer hatten eines gemeinsam: Sie
wussten nicht, wer sie waren, woher sie kamen, wohin sie wollten.
Sie waren erfolgreich oder erfolglos, aber alle am Ende. Sie
teilten das Gefühl, mit Karacho in einen sehr langen Tunnel gerannt
und plötzlich gegen eine schwarze Mauer gekracht zu sein. Dagegen
wollten sie jetzt gemeinsam anschwitzen.
Sie hatten ein Lagerfeuer und die Schwitzhütte.
War es zu warm, gingen sie nach draußen, wurde es zu kalt, kehrten
sie zurück zu den heißen Steinen. Tom hielt einen Talking stick,
einen Holzstab mit Lederriemen. Wer ihn hielt, durfte reden.
»Männer wollen wissen, wer sie sind«, hatte Tom
gesagt. Vielleicht auch nicht, dachte Maik. Denn nachher stellen
wir fest, dass da gar nichts ist außer Angst oder der Lust auf eine
Flasche Bier.
In der Nacht zwischen der Kälte und der Hitze
sollte die Trance kommen, der Kontakt zu den Ahnen, zu den Wurzeln,
zum eigenen Ich. Maik war mehrfach der Ohnmacht nah, bei der
Tanzzeremonie fiel er hin. »Du suchst Stabilität«, hatte Hopi-Dopi
gesagt. Für diese Erkenntnis hätte Maik sich nicht die Nächte um
die Ohren schlagen müssen.
So gut wie Hopi-Dopi hätte er den
Zeremonien-Heckmeck auch hinbekommen. Immerhin hatte er gemerkt,
dass es Tiefen in der Seele gab, aus denen man Fundstücke bergen
konnte. Er hatte Häuptling Cooler Panther in sich entdeckt. Was
hätte der zu Fee gesagt? Er hatte doch im Sinne des Häuptlings
gehandelt. Er hörte ihn flüstern: »Es geht um deine Freiheit,
Bruder!« Aber kreuzunglücklich war er trotzdem.
Maik drehte die Dusche eine Spur kühler. Seine
Haut war rot und heiß. Er stand nackt vor dem beschlagenen Spiegel,
atmete ruhig und kühlte einfach nur ab. Von unten rief
Ulrike.

Stoisch hatte Attila alle Tests über sich ergehen
lassen, das Ergometer zum Glühen gebracht und sich jetzt, nur mit
einer seidenen Boxershorts bekleidet, auf den Behandlungstisch
gelegt. An den Wänden hingen Schläuche, Kabel und andere
Gerätschaften, mit denen man locker auch ein SM-Studio, einen
Schlachthof oder beides betreiben könnte. Atilla atmete tief und
versuchte, das Denken einfach abzustellen.
Die Assistentin des Professors näherte sich ihm
von hinten. Attilas Atem stockte. Doch sie bat ihn nur, das
Hinterteil kurz anzuheben. Sie schob ihm eine saugfähige Unterlage
unter die Körpermitte.
Attila gab sich alle Mühe, sich nicht
vorzustellen, was gleich passieren würde. Am allerwenigsten mochte
er sich die Kommentare ausmalen.
Vor ihm erschien der Professor. Er hielt eine
Spritze in der Hand und suchte in Attilas Unterarm nach der Vene.
Ohne Vorwarnung stach er zu.
»So, und jetzt wird ein bisschen geschlafen.
Zählen Sie doch mal bitte bis zehn.«
Bei »zwei« gab Attila auf.

Dem fortdauernden Vibrieren in seiner Hosentasche
nach zu urteilen, drehte Dorothea gerade komplett durch. Leider
hatte das Brainstorming zwei goldene Regeln. Erstens: striktes
Handy-Verbot. Zweitens: Wer mitmacht, muss auch bis zum Schluss
bleiben. In einer guten Stunde würde Dorothea mit Holtkötter
anrücken. Und zwei Mietkräfte, ein Tscheche und eine Chinesin,
waren mit Kindern und Dinner allein zu Hause. Die Dachterrasse war
auch noch nicht fertig. Immerhin hatte er schon mal drei Flaschen
Rotwein aufgemacht, die jetzt im Auto atmeten.
Martin hätte vielleicht doch auf das Brainstorming
verzichten sollen. Denn ein Ende der Vorträge und der nachfolgenden
Debatten war nicht in Sicht. Martin hatte seinen Plan längst
aufgegeben, zu NIWRAD vorzutragen. Viel wichtiger war es, dass er
unter Berücksichtigung der beiden goldenen Regeln einen eleganten
Abschied würde hinlegen können. Wie peinlich wäre es, wenn
ausgerechnet
er als Erster gehen würde. Das Dumme war, dass er jetzt auch nicht
mit den üblichen Eltern-Stories von kotzenden Kindern kommen
könnte. Wer aus der Elternzeit eigens ins Büro kommt, kann nicht
andererseits seine Elternschaft im Bedarfsfall vorschieben.
In der kurzen Pause verzog er sich aufs Klo, um
sein iPhone zu checken. Der Empfang war eine Katastrophe,
genügte aber immer noch, um ein eindrucksvolles Bild von Dorotheas
Stimmung wiederzugeben. Sie hatte zweimal angerufen und vier SMS
geschickt, außer sich vor Wut. Wahrscheinlich versemmelte sie ihre
Sendung heute auch noch, worüber sich Holtkötter den ganzen Abend
amüsieren würde. Ihre Chancen auf ein neues Format wären jedenfalls
dahin. Und er war schuld. Martin hatte noch mehr Angst vor Dorothea
als ohnehin schon. Zum Glück hatte er wenigstens sündteuren Wein
gekauft.
»Warum sabotierst du meine Karriere?«, war ihre
letzte Nachricht gewesen.
Wie alle Frauen hatte auch Dorothea das Talent,
jeden Allerweltsvorgang zu einer weiteren Schlacht im ewigen
Geschlechterkrieg umzudeuten.

Je länger Jochen über das merkwürdige Treffen im
Sender nachdachte, desto stolzer wurde er. Er war ein echter
Rebell, er hatte nicht klein beigegeben, nicht widerrufen, sich
nicht mal entschuldigt. Wofür auch? Hätte Robin Hood sich
entschuldigt, Klaus Störtebeker, Paul Breitner? Niemals.
Alles war perfekt. Seine Radio-Karriere begann mit
einer Widerstandsgeschichte. Jochen spürte, dass dieser Tag etwas
Besonderes war, tatsächlich ein Neuanfang nach all den Jahren, die
er einfach nur so vor sich hingelebt hatte.
Vielleicht war ja doch was dran an diesen
Karma-Geschichten. Jochen hatte ein weitgehend sündenfreies Leben
geführt, er hatte diesen Poncho-Heinis mit der Panflöte immer ein
paar Cent in ihre Strickmützen gelegt, er warf Dosen und
Pfandflaschen grundsätzlich in öffentliche Mülleimer, die gut
zugänglich waren, damit sich die armen Menschen freuten, die ihren
Tag damit verbrachten, Leergut zu angeln. In Wirklichkeit war
Jochen nur vorauseilend sozial. Im tiefsten Inneren hatte er
fürchterliche Angst, eines Tages ebenfalls mit großen Plastiktüten
durch die U-Bahnhöfe zu ziehen und Pfandflaschen zu angeln, um sein
karges Hartz-Geld aufzubessern. Weit war er davon nicht mehr
entfernt. Und er würde jeden Menschen lieben, der Pfandflaschen in
öffentliche Kübel warf.
Zu Hause holte er sich erst noch mal einen runter.
Die Vorstellung, dass Frau Kackdie-Wandan und ihre Freundin aus der
lesbischen Liga schmutzige Sachen miteinander machten, erregte
ihn.
20 UHR

Als Maik auf die Terrasse trat, reichte Heinz ihm
eine Flasche Bier. Manchmal war sein Schwiegervater ganz okay, vor
allem, wenn seine Frau nicht in der Nähe war: »Alles klar, mein
Junge?«, fragte der Alte. Maik nickte.
»Papa, darf ich Ketchup?«, fragte überraschend
artig von drinnen Anna.
»Aber klar, mein Engel«, sagt Maik.
»Danke«, sagte Ulrike von drinnen, »vielen Dank,
lieber Mann.«
Maik blickte fragend ins Wohnzimmer, wo Mütter und
Kinder aßen.
Anna grinste.
»Ich habe den Kindern gerade verboten, noch mehr
Ketchup zu essen - das ist Zucker pur«, grollte Ulrike.
Maik zuckte die Schultern und sagte zu Anna: »Du
hast gehört, was Mami gesagt hat: kein Ketchup.«
»Aber du hast es mir erlaubt!«
»Aber nur, weil du mich gelinkt hast.«
Anna schwieg beleidigt. Dann fragte sie: »Papi,
darf ich noch in die Badewanne?«
»Klar«, sagte Maik.
»Nein«, entgegnete Ulrike, »das habe ich ihr eben
verboten.«
»Vielleicht verbietest du zu viel«, sagte Maik und
hasste sich im gleichen Moment für sein vorlautes Mundwerk. Solche
Sätze durfte er gerade mal denken, aber niemals aussprechen, schon
gar nicht, wenn Leni dabei war.
Sie trug schon wieder ihren
Was-hat-er-denn-schon-wieder-Blick, hielt aber immerhin die
Klappe.
»Mami will nicht, dass du badest, Engel«, sagte
Maik aus Lust an der Provokation. Er dachte an Fee.
Ulrike war rot angelaufen.
Sätze, die mit »Aber Mami will nicht …« begannen,
endeten fast immer mit einem ordentlichen Zoff.
Dem Partner via Kind mitzuteilen, dass man ihn für
einen ziemlichen Nervbolzen hielt, war eine der perfidesten Waffen
- Ehe-Napalm. Man zog die Kinder auf die eigene Seite, stellte den
anderen bloß, mühte sich aber immer um einen bis ins Schleimige
reichenden Ton scheinbaren Kooperationswillens.
Ulrike stand auf. »Ich mache mich fertig für die
Seilers«, sagte sie wütend.
Sie ließ Maik einfach mit müden Kindern,
Schwiegereltern und einem abgefressenen Tisch allein - keine
schlechte Rache.

Vorwurfsvoll sagte der Schwanz: »Du hast dich nie
um mich gekümmert!«
Attila schwieg beschämt. »Stimmt«, gab er zu, »ich
dachte immer, du kommst allein zurecht.« Der Schwanz schüttelte den
Kopf: »Immer im Dunkeln, immer im Mief, das hält doch kein Schwanz
aus. Ich brauche auch mal frische Luft oder besser noch einen
Ausflug in einen schummrigen feuchten Klub, wo ich mal so richtig
tanzen kann. Ich tanze sehr gerne.«
Attila stellte sich seinen Schwanz in einem weißen
John-Travolta-Anzug vor.
»Ich verspreche dir, dass ich dich in Zukunft
besser behandeln werde, wenn möglich kommst du fortan jeden Tag an
die frische Luft.«
»Okay«, sagte der Schwanz, »das freut mich
wirklich.«
»Aber dafür musst du mir einen Gefallen tun!«,
erklärte Attila.
Der Schwanz guckte fragend.
»Du musst heute Nacht alles geben, wirklich alles.
Nicht nur dumm rumstehen, sondern die beste Sahne pusten, die je
bei dir im Beutel geschlagen wurde.«
Der Schwanz guckte skeptisch. »Das wird nicht so
leicht«, sagte er zögerlich.
»Wo ist das Problem?«, fragte Attila.
»Ich bin aus der Übung«, erklärte der
Schwanz.
»Du hast mein vollstes Vertrauen«, sagte Attila
feierlich, »außerdem machen wir gleich noch ein bisschen
Aufwärmgymnastik.«
Der Schwanz konnte von Glück sagen, dass er nicht
zu Attilas Untergebenen zu rechnen war. Dann hätte er ihm einfach
eine erstklassige Performance befohlen und ihn rausgeschmissen,
wenn er nicht gespurt hätte.
Aber Schwänze entzogen sich den üblichen
Hierarchien. Sie hatten ihren eigenen Kopf, brauchten extrem viel
Zuspruch und funktionierten dennoch nicht immer zuverlässig. Aber
wie sollte man sie wirkungsvoll sanktionieren? Am Ende saßen sie
doch am längeren Hebel und konnten mit ihren Launen alles kaputt
machen.
Von ihrer ins Zickige spielenden Psyche her waren
Schwänze fast wie Frauen.

Martin schöpfte bereits Verdacht, als er die
breite Spur von Blumenerde sah, die sich durchs Treppenhaus zog.
Die Geranienschwuchteln waren immer noch da. Als er die Wohnung
betrat, wurden seine schlimmsten Vorahnungen zur Gewissheit. Otto
lümmelte vor dem Fernseher und beobachtete gebannt, wie ein
Gerichtsmediziner den Mageninhalt einer halbverwesten Leiche
inspizierte, Norbert schrie so erbärmlich, als werde er mit
linksdrehenden Pastinaken beworfen, und Frederic, dieser
Möchtegern-Chopin, hatte den Tisch natürlich noch nicht gedeckt.
Dafür marodierten die Gartenarchitekten im einsetzenden Nieselregen
auf der Terrasse herum, die aussah wie Berlin im Mai 1945.
»Von ihrer ins Zickige spielenden Psyche her
waren Schwänze fast wie Frauen.«
Martin hatte verzweifelt gegrübelt, wie er sich am
elegantesten aus dem Brainstorming zurückziehen könnte. Ihm war
nichts eingefallen, außer der alten Zeitgewinn-Technik.
Mitten im Vortrag eines ziemlich beschränkten Junior-Beraters war
er plötzlich aufgesprungen, hatte seinem Chef ein Zeichen gegeben,
das alles hätte bedeuten können von »Ich muss mal« bis »Ich sterbe
jetzt« und hatte den Sitzungsraum verlassen. Vorteil: Er hatte Zeit
gewonnen, um sich eine überzeugende Ausrede einfallen zu lassen.
Martin versuchte, die Blicke nicht wahrzunehmen, die ihm folgten;
es war sicher alles dabei, von belustigt über verachtend bis
tückisches Mitleid. Egal. Nur raus hier. Dorotheas Zorn war noch
fürchterlicher als das Getratsche in der Agentur.
Im Auto nahm er einen kräftigen Schluck Rotwein
aus einer der offenen Flaschen. Das Zeug schmeckte gruselig. Erst
vor seiner Haustür stellte er fest, dass die halbe Flasche unter
dem Beifahrersitz ausgelaufen war. Hundert Euro im langen Flor
unter der Fußmatte. Martin grinste: Hundert Euro im langen Flor
unter der Fußmatte - das war der ultimative Bandname, dachte er im
ersten Rotwein-Schwung. Im Chaos der Wohnung ernüchterte Martin
schlagartig. Jetzt war Führung gefragt. Aber wie ging das? Na klar:
First things first. Zuerst mussten die Kinder weg. Mings Job. Dann
musste die Tafel eingedeckt werden. Frederic. Und die Garten-Gabis
mussten verschwinden, aber hurtig. Und in zwanzig Minuten begann
Dorotheas Sendung, die durfte er auf keinen Fall verpassen.
Otto brüllte gegen Norbert an, die Gärtner
kratzten maulig Gartendreck und Erdhaufen zusammen, Ming heulte,
wahrscheinlich aus nackter Angst, und Frederic wollte schon seine
Schürze an den Haken hängen, weil Martin ihn wegen des ungedeckten
Tischs angeraunzt hatte. Aber eine halbe Stunde später war
tatsächlich so etwas wie Ordnung zu erkennen. Martin hatte durch
das Wohnzimmer gesaugt, mit einer Gießkanne die letzten
Gärtnerspuren beseitigt,
Ming einen Putzlappen in die Hand gedrückt und die Scheinwerfer
auf der Terrasse dramatisch justiert. Im Halbdunkel des Abends
würde es kaum auffallen, dass es sich hier um eine Baustelle
handelte. Sie mussten nur verhindern, dass Holtkötter auf die
Terrasse ging. Zum Glück war es noch zu kühl, um draußen zu
essen.
Martin nahm einen weiteren Schluck Rotwein. So
langsam konnte man sich das Zeug schöntrinken. Er genoss das Gefühl
von Macht. Er hatte den Laden hier im Griff. Aber irgendwas fehlte
noch. Nur was? Martin durchzuckte es: Er hatte vergessen, den
Rotwein zu googlen. Und Dorotheas Sendung hatte er auch verpasst.
Er holte den Laptop: Vielleicht hatte irgendein bekloppter Fan die
Sendung bei Youtube eingestellt. Und Rotwein-Weisheit
brauchte er auch, irgendwas mit Terroir.

Im Auto vor der Wohnung checkte Lars noch einmal
alle Termine. Drei Anrufe in Abwesenheit von Eva, egal. SMS von
Katharina, wo er bleiben würde. Das Treffen hatte er völlig
vergessen. Absage wegen Überstunden und Personalgespräch. »Meld’
mich.« Das klang immer gut. Er war der Entscheider, der das Sagen
hatte.
Der Nachtclubbesitzer hatte ihm eine
Bestätigungsmail geschickt, die Gästelisten gingen klar, sogar mit
Vip-Bändchen inklusive Begleitung. Morgen Katrin, übermorgen
Männerabend plus Nina oder als Ersatz möglicherweise Tina, heute
Abend Sandy und, falls das nichts werden würde, Doro und Nicky. Ein
heißes Doppeldate, obwohl er Nicky noch nicht kannte. Aber da
vertraute er Doros Frauengeschmack.
Im Sinn hatte er noch Jasmin, das musste er
weiterverfolgen,
sowie, ganz neu, natürlich diese Cindy aus dem Gym. Letztens trug
sie eine unverschämt enge Gymnastikhose, die ihr viel zu tief auf
den Hüften saß. Er konnte das Schwanzende eines tätowierten
Skorpions erkennen, der irgendwo sehr viel weiter unten enden
musste. Das hat ihn doch ein bisschen erregt, auch wenn er
normalerweise diese Verzierungen ziemlich grenzwertig fand. Wie sie
klang, steckte sie in einer stinklangweiligen Beziehung mit so
einem muskelbeladenen Vollhonk, der jeden Samstag Sportschau guckte
oder ins Stadion ging und sie alleine ließ.
Frauen in solchen Verhältnissen waren ihm am
liebsten. Die machten keinen Druck, waren ausgehungert, hatten
seine Sprüche noch nicht gehört und waren mit den einfachsten
Komplimenten in die Horizontale zu bewegen. Sie fanden es sogar
wild und exotisch, wenn er ihnen in einer Bar unauffällig auf die
Toilette folgte, plötzlich an ihrer Kabine klopfte und sie dort
oral befriedigte oder ihnen wortlos seine Erektion in die Hand
drückte. Die meisten waren so verblüfft, dass sie sich automatisch
an die Arbeit machten. Na ja, kein Wunder bei seiner Mannespracht,
er konnte sich da durchaus sehen lassen.
Eine schnelle Nummer auf dem Klo fanden fast alle
toll, sie glaubten an große Leidenschaft. Lars machte solche
Kunststücke aber immer nur bei den ersten Dates, ihm taten danach
die Knie weh oder er hatte Muskelkater in den Oberschenkeln von den
unbequemen Stellungen auf engstem Raum. Mit nach Hause nahm er nur
Frauen aus festen Beziehungen. Die gingen meistens noch in der
Nacht, damit ihr Freund oder Mann nichts mitbekam.
Lars wollte nicht neben Frauen aufwachen,
womöglich verkatert, mit einer riesigen Depression oder
Schuldgefühlen. Frauen, an deren Namen er sich nicht erinnern
konnte,
Frauen, die komisch aus dem Mund rochen und - ohne den Zauber der
Nacht und den gütigen Schleier des Alkohols - doch ein bisschen
verfallen und verquollen aussahen. Einige wollten morgens auch noch
kuscheln. Lars machte dann ganz schnell Kaffee und war froh, dass
nichts im Kühlschrank stand. So viel Ungastlichkeit hielt keine
lange aus.

Jochen wusste nicht, ob er sich auf den Abend mit
Bretti freuen sollte. Es war ein Abschied, keine Frage. Sein Geld
hatte gerade noch für zwei Sixpacks gereicht. Das war nicht viel
für einen Abend mit Bretti. Aber er ging davon aus, dass der alte
Kumpel nicht mit leeren Händen kommen würde.
Jochen saß am Küchentisch, vor sich das zweite
Bier. Seine zwei besten Freunde saßen mit am Tisch, Nostalgie und
Zweifel. Die beiden waren seine ständigen Begleiter. Jochen war ein
begeisterter Nostalgiker: Die Kreidler Flori, der legendäre
Rockpalast mit The Undertones und Black Uhuru,
das schlammige Open Air in Schüttorf, als er in ein wildfremdes
Zelt krabbelte, stoned wie er war.
Stets mischte sich allerdings Freund Zweifel ein,
wenn die Nostalgie schwelgte, und selten war die Stimmung hinterher
besser. Da war zum Beispiel dieser Donnerstagabend damals im
Odeon. Alles, was Nostalgie so schätzte, zerstörte der blöde
Zweifel mit einer einzigen Erinnerung. Die Tanzfläche war
menschenleer, und plötzlich lief: »I am what I am« von Gloria
Gaynor. Als habe sein Gehirn einen Totalausfall, stürzte Jochen
auf die Tanzfläche und begann einen ziemlich spastischen
Ausdruckstanz.
Er wusste, dass die Frau seines Herzens diese
Hymne der Verklemmten liebte. Und er liebte diese Frau. Wenn er
dazu tanzte, ganz allein vor tausend Augen, dann würde
sie dieses Zeichen verstehen und zu ihm auf die Tanzfläche
kommen.
Aber Jochen blieb allein. Nach dreißig Sekunden
wurde ihm sein Auftritt peinlich. Nach einer Minute wollte er
sterben. Und nach neunzig Sekunden war er so aus der Puste, dass
ihm schwindelig wurde. Doch der DJ hatte kein Erbarmen, er spielte
das Stück bis zum allerletzten Takt. Ungefähr zehntausend Leute
standen um die Tanzfläche und guckten wortlos. So unauffällig wie
möglich hatte Jochen den Laden danach verlassen und war nie
wiedergekommen. Die Frau hatte er nie wiedergesehen.
Bis heute fragte er sich, wie weit er gehen würde,
um die Sympathie einer Frau zu erreichen: Er würde die
Porno-Werbung im TV wegzappen, klar; er würde sogar mit ihr auf
peinliche Städtetrips gehen, nach Vilnius, weil Easyjet für
neunundzwanzig Euro dorthin flog. Womöglich würde er sogar
Wellness-Urlaub mit ihr durchstehen, obgleich ihm nichts
unangenehmer war, als nackt neben wildfremden Leuten auf Liegen zu
liegen, auf denen vor ihm vielleicht ein Schuppenflechte-Patient
breitbeinig und ohne Handtuch gelümmelt hatte, und so zu tun, als
sei er ganz fürchterlich entspannt.
Der Wohlfühlterror hielt dieses Land fest im
Griff. Jochen kriegte Ausschlag, wenn er irgendwo Ginseng roch -
Blödel-Buddhismus für Reklame-Praktikanten. Höchste Zeit für
Badness. Zehn Pullen Bier in die Birne drücken und hinterher im
Schlamm suhlen, das war entspannend. Mit den Bademantel-Gespenstern
aus den Wellness-Bunkern hätte es Woodstock nie gegeben. Bei
Drogen, Schlamm und Gequietsche aus Stromgitarren hätte die
Generation Ginseng sofort ihren Anwalt geholt.
Aber gut, wenn es einen Geschlechtsverkehr
einleiten würde, dann würde Jochen sogar Wellness machen, wenn auch
unter stillschweigendem Protest. Er würde sogar im Park Federball
mit ihr spielen und jeden ihrer verschlagenen Bälle apportieren.
Allein zu »I am what I am« tanzen, das würde er nicht wieder
machen. Oder nur im absoluten Notfall. Wenn Extras in Aussicht
standen.
Jochen wartete bis heute praktisch täglich darauf,
dass ihn ein wildfremder Mensch irgendwo ansprechen würde mit den
Worten: »Hey, bist du nicht dieser komische Vogel, der 1984 in
Münster im Odeon allein und total scheiße auf der Tanzfläche
rumgehampelt ist?«
In der Liste seiner größten Lebenspeinlichkeiten
gab es nur zwei schlimmere Momente: Als ihn die Hotelchefin morgens
um drei beim Wixen erwischte - er, der Aushilfs-Nachtportier, hatte
strikte Order, die Rezeption nicht zu verlassen. Wo also sollte er
sonst wixen? Und als ihm auf der Klassenfahrt im Bus so schlecht
geworden war, dass er der scharfen Nora, die vor ihm saß, einen
Schwall aus halbverdauten Chips, Gummibären und MezzoMix in den
Nacken gereihert hatte. Jochen hatte bis heute Angst, dass Nora
diese Story allen Frauen erzählt hatte, die sie kannte: Spätestens
mit dem Internet war die Geschichte weltweit verbreitet
worden.
Jochen war sich sicher, dass sich alle Frauen auf
der Welt gegen ihn verschworen hatten. Er wusste nicht, wie sie das
angestellt hatten. Aber er wusste es ganz genau.
21 UHR

Lars trug seine neue, dunkle und sehr eng sitzende
Jeans, dazu ein enges schwarzes Hemd von Versace und ein
besonders lässiges Jackett. Er kontrollierte ein letztes Mal sein
Kinn. Die Konturen waren straff, das Bild im Spiegel gefiel ihm.
Auch wenn er manchmal den Verdacht hatte, dass seine Augen
nachließen und sich schon ein schmeichelnder Weichzeichner-Effekt
einstellte.
Er fühlte sich bereit für den Jagdbeginn, wieder
mal bei Enrico. Lars würde extra ein bisschen zu spät kommen, damit
diese Sandy sehen konnte, wie der berühmte Patron des Hauses ihn
freundschaftlich begrüßte.
Enrico wusste sofort, zu welchem Tisch er wollte.
Zum Glück, denn er selbst war sich nicht sicher, ob er Sandy noch
erkannt hätte. Am Tisch saß eine unfassbare Blondine: Erdbeermund,
Engelsmähne, Fickgesicht. Sie sah ihn, stand auf - ein viel zu
nuttiger Rock in Pink, nicht viel mehr als ein breiter Gürtel, zwei
endlos lange nackte Beine, die in High Heels mit mindestens zwölf
Zentimeter Absatz endeten, unter der durchsichtigen schwarzen Bluse
hatte sie die Brüste mit einem schwarzen Spitzen-BH hochgebockt,
die Nuppsies zeichneten sich deutlich ab.
Bevor er etwas sagen konnte, legte sie ihre Arme
wie ein Oktopus um seinen Hals, küsste ihn links und rechts mit
vollem Einsatz und wollte gar nicht mehr loslassen. Lars fühlt sich
augenblicklich benommen und schloss kurz die Augen. Er spürte die
Hitze der Blicke der anderen Stammgäste in seinem Rücken. Er schob
sie mit zartem Nachdruck von sich. Sandy setzte sich laut glucksend
und starrte ihn mit viel zu weit aufgerissenen Augen an.
Lars konnte es nicht fassen. Sandy sah aus wie die
Parodie einer minderjährigen russischen Prostituierten. Er schätzte
sie auf höchstens siebzehn. Was war er nur für ein alter geiler
Bock. Lars fühlte sich elend. Wie konnte er nur mit so einem Kind
knutschen? Wie konnte er sich mit ihr auch noch verabreden?
Obendrein war die Kleine auch noch mit der Praktikantin verwandt,
wahrscheinlich Schwester oder Cousine, also würde es morgen die
ganze Firma wissen. Enrico brachte die Aperitifs, diese harten
Dinger, die er
sonst so liebte, aber jetzt fürchtete. Ob die überhaupt schon
Alkohol trinken durfte? Er wollte auf gar keinen Fall Ärger mit
ihren Eltern oder der Polizei. Er entschuldigte sich und ging auf
die Toilette.
Lars musste dringend nachdenken. Der Plan war
klar: Sandy so schnell wie möglich loswerden. Dann könnte er
spätestens um dreiundzwanzig Uhr Doro und Nicky treffen. Er schickt
eine SMS und atmete tief durch.

»Sind in 3min da«. Dorotheas SMS klang
bedrohlich.
Neulich hatte Martin eine Studie gelesen, der
zufolge SMS und Mail-Botschaften ob ihrer Kürze vom Empfänger als
sehr viel aggressiver aufgenommen würden, als sie eigentlich
gemeint waren. »Sind in 3min da« hieß übersetzt: Wehe, es ist nicht
alles perfekt! Wehe, du vermasselst mit deinem Gequatsche den
Abend! Wehe, der Wein taugt nicht!
Martin hatte die verbliebenen Flaschen geöffnet,
zum Atmen. Eine klebte im Auto, eine hatte er im Stress geleert,
ohne es zu merken. Frederic, die Küchenschwuchtel, hatte allerdings
auch ein Glas bekommen. Blieben noch fünf Flaschen. Er würde sich
den Rest des Abends an Wasser halten. Holtkötter war keiner, den
man sich freiwillig zum Essen einladen würde. Seine Frau sah aus
wie Susan Boyle, die brachte er nie mit. Allein war er noch eine
Spur unerträglicher. Holtkötter gehörte zur Generation
Cohiba, Männer um die sechzig, die Golf, Zigarren und
Rotwein für die wichtigsten Themen der Menschheit hielten und
stundenlang über nichts anderes redeten, allerdings immer nur in
Statements, denen nicht widersprochen werden durfte. So ungefähr
mussten Kabinettsitzungen mit Helmut Kohl abgelaufen
sein: Vadder dozierte - und alle anderen hatten andächtig das Maul
zu halten.
Während er den Champagner aus dem Eisfach angelte,
wiederholte Martin sein angelesenes Weinwissen:
1. Der 2003er ist ja ganz nah dran am großen
Jahrgang 1982 - enorm facettenreich, mit einem Hauch Pfeifentabak,
aber auch kubanische Vanille und vollreife Sauerkirsche von leicht
kalkigem Boden.
2. Extra für Dorothea: Der Comtesse de
Lalande gilt als der femininste unter den Pauillacs.
3. Darf nicht zu lange liegen. Der
Neunundfünfziger etwa wird nur noch durch ein spitzes Tanningerüst
gehalten, was wohl am hohen Anteil Cabernet-Sauvignon liegt.
Dagegen ist ein höherer Merlot-Anteil zu bevorzugen, der sich auch
aufs Farbspiel auswirkt, vor allem an den mahagonifarbenen
Rändern.
Besonders die kubanische Vanille hatte es ihm
angetan. Was wohl der Unterschied zur rumänischen Vanille war?
Frederic dachte endlich mal mit und reihte vier Kelche auf. Wieso
vier? »Koch muss Getränke kennen«, erklärte das Polen-Schlitzohr.
Waren doch alle gleich, die Brüder.
Als er den Schlüssel im Schloss hörte, verspürte
Martin ein Schwanken und wusste nicht, ob es Angst war, der
feminine Pauillac oder beides. »Showtime!«, flüsterte er
verschwörerisch, griff nach der Champagnerflasche und drückte den
Korken heraus, der knallend einen Halogen-Scheinwerfer in der Küche
zerschoss. Schon Dorotheas erster Blick traf ihn tödlich.
»Hellich willzkommen«, rief Martin und überlegte,
warum seine warmen Worte so komisch klangen. Holtkötter blickte ihn
belustigt an und reichte den Champagner, den Martin ihm in die Hand
gedrückt hatte, an Dorothea weiter. »Ich würde gern erst
ablegen.«
Mit seinem Glas in der Hand stand Martin wie ein
Idiot da. Dorotheas zweiter Blick tötete ihn noch schneller. Sie
half Holtkötter aus dem Mantel und lächelte ihn eine Spur zu devot
an, wie Martin fand. Dorothea guckte sich unauffällig um. Offenbar
keine größeren Beanstandungen.
»Jetzt dürfen Sie mir ein Glas anbieten«, sagte
Holtkötter. Demütigen beim Eintreten, demonstratives Korrigieren,
unvermitteltes Ansprechen - der Kerl hatte all diese Chef-Macken
drauf. Martin stieß an, versuchte noch einmal ein »Herzlich
willkommen«, diesmal richtig, und stürzte das Glas hinab.
»Geht doch schon mal rein«, sagte er, »ich
verschwinde nur rasch in der Küche.«
Frederic hatte die Kaviar-Pfirsiche im Kühlschrank
gelagert, er musste nur noch die Salbeiblätter frittieren. Das Lamm
war fertig, Gratin und Bohnen fast, statt Nachspeise gab es Petits
Fours und Käse aus dem KaDeWe. Frederic war soeben verschwunden.
Alles sah gut aus, professionell dahingetupft. Es konnte nichts
schiefgehen.
Martin ging ins Wohnzimmer, die Champagnerflasche
im Anschlag. Dorothea tat so, als habe sie die Terrasse selbst
bepflanzt. Sie sah einigermaßen zufrieden aus, nachdem sie das
Ergebnis kurz betrachtet hatte. »Achten Sie bitte auf die
Gartenhandschuhe meiner Frau, die farblich zu den Griffen der
Rosenschere passen, und das ist kein Zufall«, sagte Martin. Er fand
den Spruch wahnsinnig komisch, stammte aus irgendeinem Film, aber
Holtkötter guckte nur verständnislos. Dorothea tat so, als habe sie
nichts gehört. Früher war sie stolz gewesen auf seine geistreichen
Einwürfe. Martin schaltete die Scheinwerfer an. Den großen hätte er
vielleicht nicht ganz so dicht an die Schilfbündel rücken sollen.
Aber das Schattenspiel der Halme sah einfach zu toll aus.
»Noch ein Schlückchen?«, fragte Martin.
Holtkötter antwortete nicht gleich, sondern machte
eine dieser völlig überflüssigen Chefpausen. »Im Prinzip sehr
gern«, sagt er dann - wieder Pause -, »aber vielleicht gönnen Sie
der Flasche ein paar Minuten im Eisfach, statt sie unterm Arm
auszubrüten.«
Dorothea lachte wieder schallend ihr Anmachlachen.
Wie billig. So hatte sie früher über seine Scherze gelacht, als er
noch Mann war und nicht Haushaltshilfe und
Mutterschaftspraktikant.
Martin zweifelte einmal mehr an ihrer unbedingten
Loyalität, versuchte einen souveränen Blick und sagte: »Aber gern,
Herr Holtkötter«.
Auf dem Weg zur Küche nahm er einen Schluck aus
der Flasche. Das Zeug war nicht gerade polarkalt. Aber auch nicht
wirklich warm. »Leck mich«, dachte Martin, steckte einen
Cromarganlöffel in die halbleere Flache und öffnete die
zweite.
Im Eisfach hatte er alberne rote Eismanschetten
gefunden. Er kramte im Gewühl der Speisekammer nach einem Kühler.
»Dir sollen die Eier abfrieren«, brummte Martin. Als er mit der
vermummten Flasche zurückkam ins Wohnzimmer, zog Dorothea just ihre
Hand von Holtkötters Unterarm, ganz so, als sei sie erwischt
worden.
Martin überlegte für einen Moment: Was wäre
eigentlich, wenn die beiden tatsächlich ein Verhältnis hätten,
womöglich schon seit Monaten, und sie machten sich jetzt einfach
einen Spaß daraus, ihn einträchtig zu veräppeln? Holtkötter würde
eine solche Nummer jederzeit fertigbringen. Und Dorothea, seine
Frau, die Mutter ihrer Kinder, die ihn nicht heiraten wollte? Sie
wahrscheinlich auch.

Es gab nicht viele Argumente, die für eine
Schwiegermutter sprachen, eigentlich nur eines: ihr offenbar
genetisch bedingter Trieb, den Haushalt in Ordnung bringen zu
wollen. Maik musste einfach nur lange genug am Tisch sitzen bleiben
und so tun, als hörte er dem Monolog der alten Dame darüber zu,
dass schon ihre Tochter Ulrike so gerne Teewurst gemocht habe, aber
nur die feine, und dass die Kinder ja jetzt auch so gerne Teewurst
mochten, aber auch nur die feine, und dass man ja gerade bei
Teewurst doch gewaltige Unterschiede im Geschmack feststellen
könnte, aber die von der Metro sei eben doch die beste, wenn
auch nicht ganz billig.
Heinz raunte nur, dass man bei Teewurst nie wisse,
was wirklich darin verarbeitet sei, nicht mal bei der Metro.
»Vielleicht Schweineohren«, sagte Maik.
Die Kinder lachten.
Für ein paar Sekunden war das Familienleben leicht
und unbeschwert - ein Rama-Moment. Leni guckte glücklich.
Das war der ideale Augenblick, um sich zu verkrümeln. »Du, Leni,
ich muss ganz dringend noch zwei Angebote rausschicken, wirklich
fette Jobs«, sagte Maik im Wissen, dass er Leni mit der Aussicht
auf guten Verdienst immer beeindrucken konnte.
»Geh schon«, sagte die Schwiegermutter und schob
die Teller zusammen: »Ich kümmer’ mich um die Kinder.« Maik erklomm
die Treppe. Er wollte sich noch ein paar Minuten aufs Bett legen.
Im Schlafzimmer saß Ulrike und schminkte sich. Maik legte sich aufs
Bett und berührte ihren Hintern vorsichtig mit seinem Knie.
Immerhin: Sie zog ihn nicht weg. Dann war ihre Verstimmung nur
halbschwer. Ulrike klopfte an ihren Tränensäcken herum;
wahrscheinlich wieder ein sündteures Wundermittel gegen Falten, das
in die Haut eingehämmert werden musste.
»Was soll ich anziehen?«, fragte Ulrike
unvermittelt.
Maik schwieg. Jetzt keinen Fehler machen. Bei kaum
einer Frauenfrage klafften Denken und Reden weiter auseinander.
Maik dachte: Ganz einfach: Spring in deine High Heels, schnall
einen saukurzen Rock um und beschränke dich obenrum auf irgendwas
Hauchdünnes, das bis zum Nabel aufgerissen ist.
Das konnte er natürlich nicht sagen. Denn erstens
verfügte Ulrike nur entfernt über diese Art von Garderobe. Zweitens
fühlte sie sich in einem solchen Aufzug nie wohl, weil sie entweder
ihre Beine, ihren Bauch oder ihren Hintern zu dick fand. Und seit
Michelle Obama den Oberarm als weibliche Problemzone weltweit
etabliert hatte, fühlte Ulrike vor dem Spiegel jeden Morgen auch
noch die Spannkraft ihres Bizeps’. Immerhin: Das Gewebe lappte noch
längst nicht so schlaff vom Knochen wie bei Leni.
An Müttern konnte man ja ganz gut ablesen, was man
künftig von der Tochter zu erwarten hatte. Jeder Truthahn wäre
froh, wenn er Kehlenlappen wie Lenis Oberarmbeutel hätte. Mit ihrem
albernen Nordic Walking würde Ulrike der Schwerkraft kaum
entgegenwirken können. Maik hoffte auf den medizinischen
Fortschritt.
Ulrike sagte: »Und?«
Ach ja, die Textilfrage. Maik wusste, dass er in
diesen Sekunden die Weichen für den ganzen weiteren Abend stellte.
Wenn es ihm gelang, Klamotten zu benennen, die ihr gefielen, und
die womöglich auch noch von den Seilers gelobt würden, dann hatte
er gewonnen. Suchte er etwas heraus, mitdemsie gar nichts anfangen
konnte, war der Abend im Eimer.
Maik dachte angestrengt nach. Ulrike trug gern
Farben, Muster.Aber sie würde ihm Einfallslosigkeit vorwerfen. Er
entschied sich für einen Überraschungsangriff: »In Schwarz
siehst du immer sehr dezent aus, sehr weiblich und ziemlich
stark.«
Ulrike schwieg. Sie dachte nach, was er mit seinen
Worten wohl bezwecken wollte. Offenbar fiel ihr nichts ein. »Dann
hol doch mal aus dem Schrank, was dir gefällt«, befahl sie.
Sie wollte ihn offenbar weiter testen.
Maik stand auf und ging zum Kleiderschrank. Für
einen, der sich gerade erst hingelegt hatte, ein unglaublicher
Liebesbeweis. Aber diese kleinen konkreten Liebesbekundungen
merkten Frauen praktisch nie. Er schob Bügel um Bügel. Schließlich
entschied er sich für eine Bluse, die auch ein Cowgirl hätte tragen
können.
Ulrike hob die Braue. »Die hatte ich ewig nicht
mehr an.« »Na und«, sagte Maik, »schwarze Jeans dazu und Stiefel
und super.«
Ulrike widersprach nicht. Schon mal gut. Maiks
Stilberatung schien ihr zu gefallen.
Er legte sich wieder aufs Bett.
Sie drehte sich um zu ihm und sagte ganz ruhig:
»Du bist ein solches Granatenarschloch!«
Maik grinste: Er wusste nicht, ob Ulrikes
Feststellung eher generell gemeint war oder einen konkreten Anlass
hatte. In beiden Fällen war er gewillt, ein Kompliment hinter
dieser Beleidigung zu vermuten.
Maik schloss die Augen. Das Problem mit Ulrike
war, dass ihre Beziehung nicht blind funktionierte, so wie unter
Männern, sondern nur mit festgeschriebenen Regeln. Mann und Frau
können sich eben nie aufeinander verlassen, weil im Zweifelsfall
alles, was nicht schriftlich fixiert und notariell beglaubigt
wurde, am Ende immer gegen den anderen instrumentalisiert
wurde.
Heute Abend würde sich diese These wieder
bestätigen,
Maik dachte nur: Nizza. Die Nizza-Story würde Ulrike ihm in
hundert Jahren noch vorhalten, vor allem nach zwei Gläsern Wein und
vor Publikum. Beide Voraussetzungen waren heute Abend
gegeben.
Maik hatte überhaupt keine Lust, mit einer Frau,
die ihn absehbar beschimpfen würde, bei zwei Menschen einzulaufen,
die ihn absehbar langweilen würden.

Bretti war natürlich wieder mal zu spät.
Wahrscheinlich besorgte er es Julia noch mal, und zwar so richtig
schmutzig, dachte Jochen. Er dachte ziemlich oft an Sex, fiel ihm
auf. Er hatte seinen Laptop auf den Küchentisch gestellt und surfte
wahllos zwischen MySpace, Youporn,
Friendscout24 und Facebook hin und her. Er hatte es
auf genau drei Dates gebracht, die sich im Internet angebahnt
hatten. Bei zweien war die Dame gar nicht erst erschienen.
Angeblich dachte der normale Mann zweihundert Mal
am Tag an Sex. Insofern war er ziemlich durchschnittlich, dachte
Jochen. Durchschnittlichkeit war eine jener Disziplinen, in denen
er kaum zu übertreffen war.Außer in punkto Kleidung, da legte er
auf Individualität großen Wert.
Ansonsten landete er bei allen Zeitschriftentests
regelmäßig in der mittleren Gruppe. Er hatte an seinem Mittelmaß
seit Jahren gelitten, bis er neulich in der Zeitung eine
interessante Umfrage gelesen hatte: Wenn Frauen die Wahl hatten
zwischen einem attraktiven Arbeitslosen, einem hässlichen
Schlossherrn und einem netten Normalo, dann entschieden sich vier
Prozent für den Schönling, sechs Prozent für den Grafen, aber
neunzig Prozent für den Normalo. Insofern hatte er theoretisch
beste Chancen auf dem Beziehungsmarkt.
Vielleicht war er aber auch zu besonders.
Mittelwerte setzten sich ja aus sehr hohen und sehr niedrigen
Ergebnissen zusammen, die im arithmetischen Mittel nur Durchschnitt
vortäuschten. Wenn ein Mann beispielsweise achthundert Mal am Tag
an Sex dachte, gab es zugleich drei, die keinen einzigen Gedanken
daran verschwendeten. Alle vier waren extrem, ergaben aber
brutalstmöglichen Durchschnitt.
Gerade in Sexdingen wollte natürlich niemand
Mittelmaß sein. Beim Verdienst war Durchschnitt okay, bei der
Schuhgröße auch, aber nicht im Bett. Alle wollten ein wildes,
wildes Tier sein, das noch während des Aktes gute Noten bekam.
Männer bewerteten, wenn überhaupt, erst hinterher. Das Motto galt:
Lieber schlechten Sex als gar keinen. Und warum zurückblicken?
Wichtig war doch die nächste Nummer, nicht die letzte.
»Das Motto galt: Lieber schlechten Sex als gar
keinen.«
Jochen dachte gar nicht immer an konkreten Sex,
sondern oft an Sexoptionen. Letztlich stellte er sich, sobald er
eine Frau sah, umgehend die Frage, ob mit ihr wohl was ginge. Dabei
gab es vier große Gruppen:
Gruppe eins waren die Undenkbaren, also
Rentnerinnen oder Minderjährige.
Zur Gruppe zwei gehörten die Möglichen, aber
Uninteressanten. Die dicke Kuh mit dem schlechten Tattoo im
Strand-bad, die drei missratene Gören hinter sich herzog, war
sicher mit zwei Schirmchen-Getränken zu überzeugen. Leider löste
sie umgehend Erektionsprobleme bei Jochen aus.
Gruppe drei, das waren die wünschenswerten, aber
unrealistischen Damen. Cameron Diaz zum Beispiel. Jedweder
Anmachversuch barg maximales Peinlichkeitspotenzial. In Gruppe vier
wiederum versammelten sich die wirklich interessanten
Kandidatinnen, die weder unmöglich noch uninteressant erschienen,
die neue Nachbarin zum Beispiel. Bianca war auch eine Vier gewesen,
Bianca, die einzige Frau, mit der Jochen wiederholt richtigen Sex
gehabt hatte. Leider war Bianca zum Studieren nach Australien
gegangen und seither nicht zurückgekehrt. Die Vorstellung, dass sie
eines Tages vor seiner Tür stehen und ihm um den Hals fallen würde,
hatte Jochen nur sehr langsam und unter größten Schmerzen
begraben.
Weil Frauen der Kategorie vier ziemlich rar waren,
war in der letzten Zeit noch eine weitere Gruppe hinzugekommen, ein
Ableger von Nummer zwei. Frauen, bei denen es möglich wäre, die
eigentlich uninteressant waren, zur Not aber denkbar. Es gab viele
Damen über fünfzig, die noch sehr gepflegt waren und ausgesprochen
hungrig, aber nicht so anspruchsvoll.
Jochen hatte neulich erst im Fernsehen eine
Reportage über einen professionellen Gigolo auf einem
Kreuzfahrtschiff gesehen. Der Schlawiner war schon fast siebzig,
beherrschte alle Gesellschaftstänze, verfügte über einen Smoking in
Crème und geschliffene Manieren.
So ein Leben als Edelnutte könnte sich Jochen
durchaus vorstellen auf seine alte Tage. Nur Tanzen musste er noch
lernen. Dann hätte er die Minimalausrüstung beisammen, mit der er
alleinreisende Damen bespaßen könnte, die ihn dafür reich
beschenken würden. Das würde seiner Mutter auch mal guttun. Autsch,
verdammt: Er hatte vergessen, bei seiner Mutter anzurufen. Sie
würde ihn mal wieder für einen Rabensohn halten - leider völlig zu
Recht.
Jochen pflegte ein dauerhaft gespanntes Verhältnis
zu seiner alten Dame. Seit Jahren führten sie die gleichen Dialoge
am Telefon: Wetter, Nachbarn, Früher. Jedes Mal fragte seine
Mutter, was er denn eigentlich so arbeite da in Berlin. Er hatte
ihr neulich erst eine CD mit seinen Radiosendungen geschickt, damit
sie endlich konkretes Material zum Angeben hatte für die Nachbarn.
Aber seine Mutter hatte Angst, den CD-Spieler zu betätigen. Sie
hatte im Fernsehen vor Jahren mal was von Laserstrahlen gehört und
behauptete einfach, die CD würde nicht funktionieren. Dabei hatte
sie es gar nicht versucht, das konnte Jochen beschwören.
Aber Fakten waren der alten Dame völlig schnuppe.
Hauptsache, sie konnte ihren Lieblingssatz loswerden: »Du kümmerst
dich ja nicht um mich. Dein Bruder, der kümmert sich. Der war
letzte Woche erst hier.« Ja, der hatte auch nur zehn Kilometer zu
fahren und nicht vierhundert, der schleimige Erbschleicher mit
seinen beiden missratenen Bälgern, die völlig unverdient den Status
der einzigen Enkel genossen.
Wie lange würde das noch gut gehen mit Mutter? Sie
peilte immer weniger, wurde zugleich aber immer widerspenstiger.
Jochen quälte sein schlechtes Gewissen: Sie hatte ihr ganzes Leben
geopfert für ihre beiden Söhne, sie hatte früh ihren Mann verloren
und wartete seither geduldig auf den Sensenmann. Und er hatte nicht
mal Bock, ihre Storys anzuhören. Geschweige denn die Kohle, ihr ein
feines Heim zu spendieren, in dem sie womöglich noch jahrelang
zubringen könnte.
Seit dem Tod seines Vaters hatte Mutter ihr Leben
auf Sparbetrieb umgestellt. Jochens alter Herr hatte bei Hitlers
Reichsbahn Dreher gelernt und sich nach dem Krieg hochgerackert zum
Ausbildungsleiter. Eines Tages hatte er alle Bahn-Azubis
herumkommandieren dürfen.
Trotz des einen kargen Gehalts hatten sich seine
Eltern ein Reihenhaus zwischen anderen Eisenbahnern
zusammengespart, auf einem Eisenbahngrundstück mit einem
Eisenbahnkredit. Für den Traum von der eigenen Scholle hatten sie
auf alles verzichtet, auf Urlaub, Auto, jedweden Luxus. Jochen
hatte einen Heidenrespekt vor der Disziplin und der
Zielstrebigkeit, die die Kriegsgeneration trieb.
Das einzige Vergnügen, das Jochens Vater sich
gegönnt hatte, war die Angelei. Morgens um fünf war er
aufgebrochen, mit dem Moped, dem Köcher mit den Ruten und immer mit
einer Flasche Korn in der Angelkiste. Erst nach Vaters Tod war
Jochen klar geworden, dass der Alte geflohen war, an den Fluss und
in den Alkohol. Seine Mutter hatte den armen Kerl fertiggemacht,
ihn gemaßregelt, herumkommandiert, ihm jegliche Lebenslust
ausgetrieben. Sie hatte ihn in ein willenloses Meerschweinchen
verwandelt. Jochen ahnte, dass er die Meerschweinchen-Gene von
seinem Vater geerbt haben könnte. Deswegen ließ er sich lieber ein
bisschen mehr Zeit bei der Auswahl der richtigen Frau. Wenn er erst
mal im Käfig saß und für jedes gammelige Salatblatt einen
untertänigen Dank fiepen musste, dann war alles zu spät.

»Sind Sie wach?« In weiter Ferne hörte Attila die
Stimme einer Frau.
Nein. Er war nicht wach.
Attila genoss dieses Teufelszeug, das der
Professor ihm in die Vene gejagt hatte.
Er zog sich die Decke unters Kinn.
Vielleicht kam der Schwanz noch mal zurück, damit
sie ihr Gespräch fortsetzen konnten.
Er hatte noch so viele Fragen.
22 UHR

Attila erschrak, als er aufwachte. Er sah das
Gesicht des Professors ganz dicht vor seiner Nase.
»Na endlich«, sagte Schneider, »das war wohl mal
nötig«.
Attila schüttelte sich und blickte sich um. Er lag
in einem Krankenzimmer. Sie waren allein. Sein Hals war leicht
geschwollen, untenrum fühlte er lieber noch nicht genauer.
»Sehr aufmerksam, dass Sie auf mich gewartet
haben, Herr Professor.«
»Ich will’s mir mit Ihnen nicht verscherzen«,
sagte Schneider lachend, »auch wenn ich es riskiert habe, während
Sie schlummerten.«
Attila war noch benommen. Er verstand nicht, was
der Weißkittel damit sagen wollte.
»Auf die Gefahr hin, dass Sie mich für den Rest
meines Lebens hassen werden - ich habe mir erlaubt, ganz kurz und
schmerzlos ihr bestes Stück zu untersuchen, nur äußerlich
natürlich.«
Attila überlegte kurz, ob er sich womöglich noch
im Traum befand. Was hatte dieser Darmwurm gerade gesagt? Dass er
ihm während der Narkose an den Schwanz gepackt hatte? War das hier
eine Klinik oder ein gottverdammter Darkroom? Die
Projektionstechnik jedenfalls hatte sich offenbar schon bis zum
Professor herumgesprochen.
Attila wollte sich gerade lauthals empören, als
ihm einfiel, dass es doch schlauer war, erst mal die Diagnose
abzuwarten. »Und?«, fragte er schließlich ziemlich barsch.
»Um es kurz zu machen: Sie produzieren offenbar
ausreichend Samenflüssigkeit - das ist die gute Nachricht und die
schlechte zugleich. Denn in Ihrem Hodensack stapelt sich das Zeug,
um es mal sehr unmedizinisch auszudrücken.
Sie haben nicht zwei, sondern inzwischen vier Hoden; zwei davon
sind nichts anderes als Beutel voller alter
Samenflüssigkeit.«
Attila schluckte. Ihm wurde schlecht. Er trug
literweise gammeliges Sperma durch die Gegend, das wahrscheinlich
schon gestockt war wie Rührei in der Pfanne? Wie
entwürdigend.
»Haben Sie regelmäßig Sex?«, fragte der
Professor.
»Na ja«, sagte Attila, eigentlich schon. Wenn er
in der Zeitung Umfragen las zur Kopulationshäufigkeit der
Deutschen, dann fühlte er sich nicht grob unterdurchschnittlich.
Einmal in der Woche, das ergab immerhin auch schon fünfzig Nummern
im Jahr, so ungefähr.
»Wären Sie eine Kuh, würde ich sagen: Sie müssen
sehr viel häufiger gemolken werden,« sagte Schneider lachend.
Attila hatte nie viel Spaß an der Selbstbefriedigung gefunden. Er
spürte in seine Körpermitte. Sein Schwanz und das Gebimsel fühlten
sich an wie eine seit Jahren eingetrocknete Tube Moltofill.
Sex war eine Waffe, gerade im Job.Aber zu Hause
auch. Deswegen hatte er sich das Kopulieren weitgehend aberzogen.
Er hasste es, die Kontrolle zu verlieren.
Das war wohl ein Fehler gewesen. Schlimme
Vorstellung: Wenn der Körper ununterbrochen Samenflüssigkeit
produzierte, was passierte dann mit dem Zeug, wenn es nicht
abgerufen wurde? Klassischer Fall von Überproduktion. Preisverfall.
Spekulationsblase. Wenn das Wasser verdunstete, blieb bestenfalls
Zement zurück.
Vielleicht fühlten sich seine Hoden deswegen in
letzter Zeit so hart an. Womöglich war schon alles verklebt und
verstopft. Hatte er bereits Hodensteine, oder schlimmer noch, einen
einzigen großen Sackfelsen? Er musste die Rohrleitungen jedenfalls
dringend durchpusten. Und wenn es seiner
Mission diente, würde er sofort damit anfangen, sobald er hier
raus war. Zwischen elf und zwei Uhr morgens könnte er locker ein
halbes Dutzend Mal schubbern. Er würde 1a Samenware produzieren und
Camille praktisch fangfrisch injizieren.
Attila versuchte ein Grinsen. »Haben wir es mit
dem australischen Phänomen zu tun?«
Der Professor nickte. »Ihre anderen Testergebnisse
sind übrigens wunderbar, so weit ich das auf den ersten Blick
beurteilen kann. Und diesen kleinen Rest kriegen Sie auch noch
hin.«
Attila nickte. Er wusste nicht, was er noch sagen
sollte. Es war alles ebenso hilfreich wie peinlich, was hier gerade
geschah. Er könnte Schneider jetzt noch nach Viagra fragen oder
nach anderen Tricks, wie er Camille heute Nacht garantiert würde
schwängern können mit seinem erstklassigen, aber leider derzeit
etwas verkarsteten Genmaterial. Aber er traute sich nicht.
Eigentlich war ihm dieses Gespräch ohnehin schon viel zu weit
gegangen.
Dennoch war er dem Professor unendlich dankbar.
Guter Arzt: Er verstand was von Männern.

Die Seilers, die Maik nur »Pfosten« und »Pfostin«
nannte, wohnten zwei Siedlungen weiter. Maik fand beruhigend, dass
Reihenhausen noch geschmacklosere Ecken hatte als ihre.
Pfostens hatten tatsächlich ein Türschild aus Fimo
und vier Paare Crocs. Maik hasste Crocs. Sie waren
praktisch, und in der Metro gab es die Plastikschlappen
praktisch geschenkt. Crocs bei Kindern konnte man gerade
noch gelten lassen. Crocs bei Ehefrauen waren ein sicheres
Zeichen, dass Sex nicht mehr praktiziert wurde. Und Crocs
bei
Männern signalisierten, dass nicht mal mehr Interesse an Sex
bestand.
Die Pfosten hießen eigentlich Jörg und Sabine und
sahen aus wie aus dem Globetrotter-Katalog.
Interessanterweise war Outdoor-Kleidung Pflicht in Reihenhausen.
Die Männer pendelten zwischen Büro und Eigenheim, und ihr einziges
Abenteuer bestand darin, Abenteuerklamotten zu abenteuerlichen
Preisen in einem Geschäft zu kaufen, in dem die Mitarbeiter so
aussahen, wie Rüdiger Nehberg roch. Der Abdruck einer Wolfspfote
hatte die Kraft, Plastikjacken in gefühltes Abenteuer zu verwandeln
- eine brillante Gehirnwäsche.
Weil Gleichberechtigung herrschte, wollten die
Frauen auch Bergschuhe, vierlagige Goretex-Jacken, Cargo-Hosen und
eine praktische Kurzhaarfrisur. Damit war die Geschlechterfrage
nicht nur entschieden, sondern wurde gar nicht erst gestellt: Es
gab sie nicht mehr. Alles war vercroct, die totale
Unisex-Diktatur.
Insgeheim hatte Maik Angst, genauso zu werden.
Umso schärfer musste er sich abgrenzen. Die Pfosten hatten die
Eigenart, sich nur in Sprüchen zu unterhalten. Die Begrüßung ging
zum Beispiel so:
Klingeln. Tür öffnet sich. Pfostin sagt mit
ausgebreiteten Armen: »Je später der Abend …«
Von hinten tönt der Pfosten: »… desto durstiger
die Gäste.«
Maik sagte: »Guten Abend.«
Der Pfosten sagte: »Immer hereinspaziert in die
gute Stube.«
Maik fragte: »Na, wie geht’s?«
Der Pfosten antwortete: »Muss ja. Und
selbst?«
Der Pfosten und die Pfostin kommunizierten
offenbar nur mit dem Austausch von jahrzehntelang bewährten
Textbausteinen.
Diese Beziehung war extrem verlässlich. Sie taten, sagten, dachten
jeden Tag das Gleiche, ohne dass es wehtat. Hirntod und Ehe haben
viel gemeinsam, dachte Maik.
Er musste mit in den Keller kommen, wo der Pfosten
ihm eine Art Mini-Kraftwerk zeigte, mit Super-Ökobilanz, super
effektiv, total modern, optimal gefördert vom Staat. Wahrscheinlich
war die Maschine von der Metro, so praktisch und
preisgünstig, wie sie war.Und die Pfosten-Kinder gaben damit in der
Schule an: »Wir tun ja was fürs Klima mit unserem eigenen
Kraftwerk« - andächtiges Staunen bei Lehrer und Mitschülern. Maik
tat auch was fürs Klima, er pflanzte Grünzeug.

Bevor er zum Tisch zurückging, sprach Lars
unauffällig mit Enrico. Der alte Schlingel kapierte sofort, was
Sache war. Das Essen schnell servieren, dann Lars ans Telefon
rufen, ganz dringend, unerwarteter Notfall, sofortiger Aufbruch.
Gesicht gewahrt, Abend gerettet - so könnte es gehen. Warum er
nicht auf dem Handy angerufen wurde? Eine Detailfrage, die dieser
Maus bestimmt nicht rechtzeitig einfallen würde.
Sandy hatte den Aperitif schon geleert und kippte
sich gerade ein zweites oder drittes Glas Wein ein. Ihre Augen
waren ein wenig gerötet. Vielleicht hatte sie gekifft - oder sie
war schon betrunken.
Sie war noch schlimmer als er befürchtet hatte.
Sandy war achtzehn, kam aus Neuruppin und machte gerade eine Lehre
zur Außenhandelskauffrau, wäre aber lieber Model oder Sängerin. Sie
wohnte noch bei ihren Eltern, die so alt waren wie Lars. Das sagte
er ihr natürlich nicht. Ihm erschien
es klüger, sich als vierunddreißig auszugeben. Das machte bei den
so jungen Dingern sowieso keinen Unterschied. Für Jugendliche ist
alles jenseits der dreißig steinalt, ob vierunddreißig oder vierzig
oder hundert.
Die Situation war ihm unangenehm. Natürlich
genossen Männer es, mit einer deutlich jüngeren Frau gesehen zu
werden. Aber es gab Grenzen der Peinlichkeit. Der Grad zwischen
Love-Machine und Kinderschänder war irre schmal. Der Aperitif war
wirklich stark. Unglaublich, wie sie ihn anstarrte. Lars leerte das
erste Glas Wein in einem Zug. Der Erdbeermund öffnete und schloss
sich in einem fort. Sandy plapperte ohne Unterlass und ließ sich
dabei auch vom Essen nicht stören.
Vielleicht sollte er ihr doch eine Chance geben.
Er konnte seinen Blick nicht von ihren Brüsten nehmen. Die guckten
ihn an wie zwei junge bellende Hunde. Die wolltenspielen. Die
Kleine will mich echt fertigmachen, dachte Lars. Er spürte ihr Bein
an seinem. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Eigentlich war er der
Regisseur. Dieses Kind wusste doch gar nicht, was es da tat.
Lars war schwindelig. Er stürzte noch ein Glas
Wein herunter. Immerhin war sie volljährig, er brauchte sich nichts
vorzuwerfen, er saß hier völlig normal mit einer erwachsenen Frau,
kein Grund zur Beunruhigung, so musste man das doch auch mal sehen.
Lars sah sie nackt vor sich. Sein Puls pochte hart im Becken.
Plötzlich bat Enrico ihn zum Telefon, dringend.

Der erste Gang war ein voller Erfolg. Die
dämlichen Salbeiblätter waren Martin angebrannt. Eigentlich hätte
er sie im Gefrierfach aneisen müssen. Frederic, der Trottel. Egal.
Martin hatte sie
einfach weggelassen. Der Brandgeruch aus der Küche war minimal
gewesen, wurde seltsamerweise aber immer stärker, obwohl der Herd
längst ausgeschaltet war. Gerade noch rechtzeitig merkte Martin,
dass der Scheinwerfer das trockene Schilf auf der Terrasse
verkokelte.
Holtkötter hatte sich halb schlapp gelacht,
während er in der Tür stand, die Löscharbeiten begutachtete und an
seiner schwanzgroßen Zigarre nuckelte. »Ja ja, die
Geisteswissenschaftler«, hatte er gesagt, und Dorothea hatte wieder
schallend gelacht, wie üblich eine Spur zu laut und zu verletzend.
»Ach, mein Schatz …«, hatte sie schlangenhaft versöhnlich gesagt,
einen dieser Drei-Punkte-Sätze, die Martin so hasste. Was sollte
das heißen: »Ach, mein Schatz …«? Die Übersetzung lautete doch:
Eigentlich bist du ein Vollidiot.
Und Holtkötter dachte genauso. Er hielt Martin für
eine Frau ohne Titten, dafür mit Schwanz, aber ohne Eier,
jedenfalls in keinerlei Hinsicht satisfaktionsfähig. Elternzeit war
eine Form der Kastration. Das sagte zwar niemand, aber alle dachten
es.
Gerade hatte Ming die Kinder vorgeführt. Norbert
hatte ein wenig gequengelt; Otto war sofort neben Holtkötter aufs
Sofa gesprungen. Beide sahen sich nun ein Buch über Baumhäuser an,
das Martin zu Dekorationszwecken auf den Wohnzimmertisch gelegt
hatte. Baumhäuser waren allemal cooler als Architectural
Digest. Otto hatte noch nie Interesse an diesem Fotoband
gezeigt. Aber mit Holtkötter zusammen sah er sich die Bilder
hochkonzentriert an und machte ziemlich schlaue Bemerkungen über
die verschiedenen Konstruktionen.
»So, jetzt aber ab ins Bett«, sagte Martin
kumpelig, auch wenn er Widerworte erwartete. Er wollte das
Niedrigtemperaturlamm auftischen und damit den Abend endlich zu
seinem machen. Aber er musste warten.
»Soll ich dich ins Bett bringen?«, fragte
Holtkötter und klappte das Buch zu. Otto nickte artig.
Martin erschrak. Das würde nie gutgehen, Otto war
seit zwei Jahren an ein sechzig- bis neunzigminütiges
Einschlafritual gewöhnt, mit Vorlesen bei verschiedenen
Lichtstimmungen und wechselnder Musik zur Beruhigung. Holtkötter,
der Kinderlose, würde ein Desaster erleben. Aber das war vielleicht
auch ganz gut so. Dann würde der dämliche Angeber sein Macho-Gehabe
mal einstellen.

Während er mit einer zen-artigen Geduld auf Bretti
wartete, hatte Jochen im Netz einen lustigen Test entdeckt. Er
liebte diese Tests, weil sie ihm signalisierten, dass er mit seinem
Wissen, seinen Haltungen, seiner Meinung nicht allein war, auch
wenn er sich oft so fühlte.
Bei diesem Test ging es darum, Begriffe von Dingen
zu erraten, die nur Frauen kennen.
Was zum Beispiel war ein »Concealer«? Jochen hatte
nicht die geringste Ahnung. Er tippte auf eine Art Push-up-BH. Was
mochte »Happy Trail« bedeuten? Bestimmt Glückspillen für Frauen,
irgendein Hormonzeug, das durch die Wechseljahre führte.
Und was zum Teufel konnte ein »Honeymoon-Syndrom«
sein? Vielleicht der Wunsch, sich gleich in der ersten Woche nach
der Hochzeit wieder scheiden zu lassen?
Die Auflösung war ziemlich überraschend und
lieferte einmal mehr den Beweis, dass die Wissensgesellschaft auch
jede Menge unnützes Wissen produzierte.
»Concealer« zum Beispiel, das war ein Spezialstift
für Hautunreinheiten. Jochen kannte nur Clearasil. Und
»Abdeckfarbe« verstand auch jeder bei Drospa.
»Happy Trail« wiederum war der Fachbegriff für die
feinen Härchen, die sich bei einer Frau von der Scham bis zum
Bauchnabel zogen - hoffentlich nicht zu dicht und zu dunkel, dachte
Jochen. Jedenfalls eine Spielart der Körperbehaarung, die der
Kenner durchgehen ließ.
»Honeymoon-Syndrom« schließlich, das war eine
Harnwegs-Infektion nach zu viel Geschlechtsverkehr während der
Hochzeitsreise, eines der wenigen Krankheitsbilder, die Jochen
trotz seiner fortgeschrittenen Hypochondrie noch nie verspürt
hatte.
Dafür zeigte er derzeit alle Anzeichen von
Parkinson. Pausenlos verschüttete er irgendwas oder stieß mit dem
Kopf an. Außerdem konnte er machen, was er wollte: Nach dem Pinkeln
ließ sich der letzte Tropfen nie abschütteln, sondern ging immer in
die Unterhose. Es roch auch anders als früher. Das war ein
eindeutiges Zeichen für fortgeschrittenen Verfall.
Jochen hatte Angst. Vielleicht musste er bald in
ein Heim, eine schäbige Sozialanstalt, wo ukrainische Pfleger einem
nach spätestens zwei Wochen alle Knochen gebrochen hatten, was umso
schmerzhafter war, da man in seinen eigenen Fäkalien vor sich
hinfaulte. Selbst Cowboys mochten auf diese Art nicht
sterben.
23 UHR

Maik hatte zwei Gläser Prosecco zur Begrüßung
gestürzt und war jetzt beim dritten Bier. Die Pfostens hatten einen
Wintergarten, den man, natürlich sehr praktisch, mit großen
gläsernen Bauelementen vergrößern oder verkleinern konnte. Nun
hockten sie darin wie im Aquarium. Die Kinder der Pfostens hatten
artig »Guten Abend« gesagt und waren dann ganz von selbst ins Bett
gegangen. Bestimmt auf Ritalin.
Die Siedler von Catan standen auf einem
Beistelltischchen bereit, plus ein Dutzend Spielerweiterungen. Die
Pfostens waren manische Spieler und Beistelltischchenplatzierer.
Maik mochte die Siedler von Catan, weil kein anderes Spiel
den Kapitalismus so gut erklärte, nicht mal Monopoly. Zuerst
allerdings mussten sie die Kochexperimente der Pfostin über sich
ergehen lassen. Ihr Hinweis, dass sie schon gegessen hätten, zählte
nicht. Die Pfostin hielt sich für eine unglaublich kreative
Küchenhexerin. Maik hätte gern ein paar in Fett gebackene
Käsekrapfen und ein Trappistenbier dazu gehabt, aber die Pfostin
hatte nur Flammkuchen gebacken, aus Buchweizenmehl, dafür mit
Sojawurstscheiben und Zitronengrasschnipseln belegt. Hatte sie sich
selbst ausgedacht. »Total lecker«, sagte sie. Maik nahm
höflicherweise ein Stück, versuchte, flach zu atmen und spülte den
pulvrigen Fladen noch im Kauen mit einem immensen Schluck Bier
hinab. Ulrike kaute demonstrativ lange und sagte immer wieder:
»Hmmm, der ist aber gut.« Maik wusste, dass sie log.
Der Pfosten mümmelte und sagte: »Etwas
trocken.«
Sie sagte nur fragend-mahnend: »Hallo?«
Der Pfosten wiederholte: »Etwas sehr
trocken.«
Sie, noch viel fragender-mahnender: »Hallo?«
Fragend-mahnendes »Hallo« ohne jeden weiteren
Zusatz, das war perfektes Pfosten-Deutsch, fand Maik. Immerhin
redete Ulrike nicht so, jedenfalls nur selten, in ungefähr dreißig
Minuten aber auf jeden Fall, wenn sie die Weinschorlen weiter so
wegzog. Dann würde Nizza wieder mal aufs Programm rücken.
Maik legte seinen angebissenen Buchweizenfladen
auf den Teller und stellte den Teller auf eines der vielen
Beistelltischchen. Zum Entsorgen waren die Dinger gut. Die Pfostin
hatte die erste Runde Siedler gewonnen.
»Zufall«, hatte Maik gut gelaunt
festgestellt.
»Fünf Euro in die Chauvi-Kasse«, hatte die Pfostin
geantwortet.
»Chauvi-Kasse ist voll, passt nichts mehr rein«,
erwiderte der Pfosten.
Das war das Faszinierende an der Spruchbeutelei:
Die beiden zogen das Geschwätz gnadenlos durch, egal wie sinnfrei
es war. Ulrike stürzte die nächste Schorle. Sie war so gut wie
stramm. Maik nahm sich fest vor, jegliche Eskalation zu verhindern.
Aber was konnte er machen, wenn seine Frau ihrer notorischen
Streitsucht mal wieder freien Lauf lassen würde?

Martin war noch in der Küche und testete, ob der
Rotwein genug geatmet hatte, als Dorothea ihn stellte.
»Du bist betrunken!«, hatte sie gesagt. Doch er
hatte den Kopf geschüttelt und zum Gegenbeweis versucht, seine
Nasenspitze schwungvoll mit dem Zeigefinger zu treffen. Er hatte
sich fast das linke Auge ausgestochen.
»Gefällt dir die Terrasse?«, hatte er
gefragt.
»Du hättest die Preisschilder von den Töpfen
abmachen können«, sagte sie nur. »Tolle Sendung übrigens heute …«,
hatte Martin noch gesagt.
Aber Dorothea entgegnete nur: »…wenn man von den
drei Verhasplern absieht.«
Sie hörten Holtkötter ins Wohnzimmer zurückkehren.
Er hatte dem Jungen über eine halbe Stunde lang vorgelesen.
Zugegebermaßen konnte er die Tiere bei Urmel wirklich gut
imitieren. Davon hatte sich Martin überzeugt, als er auf dem Weg
zum Klo an der Kinderzimmertür lauschte.
»Otto schläft«, meldete Holtkötter und lächelte
Dorothea an: »Das ist ja ein wahnsinnig netter Junge.« Du solltest
den Teufelsbraten mal morgens erleben, dachte Martin. »Und jetzt
hätte ich gern einen guten Schluck Rotwein«, sagte
Holtkötter.
Das war Martins Moment. »Pauillac okay?«, fragte
Martin lässig aus der Küche. Holtkötter war einverstanden: »Da habe
ich letztes Jahr eine Woche Urlaub gemacht«, sagte er. Scheiße,
dachte Martin und fasste in die hintere Hosentasche, wo die
Weintexte aus dem Internet steckten. Er musste noch mal kurz aufs
Klo. Es war wie bei einer Klassenarbeit.

Am Tresen hatte Lars unauffällig sein Handy
kontrolliert. Doro hatte geantwortet: Um halb zwölf in der
Suicidal-Bar, sehr gerne. Ihre Freundin Nicky hätte doch
keine Zeit. Auch gut, könnte er sich voll auf Doro und ihre
akrobatischen Fertigkeiten konzentrieren. Er wartete ein paar
Sekunden, dann ging er zum Tisch zurück. Sandys Lider schienen
etwas zu tief zu hängen, sie guckte ihn so komisch an; keine Frage,
diesen Stich könnte er jederzeit mitnehmen, die liefe nicht weg. Er
brachte es hinter sich: Ein dringender Anruf von einem Freund, der
ganz überraschend heute Nacht in die Stadt gekommen war, ein
privates Problem, das sofort zu besprechen war, ein absoluter
Notfall, leider, er musste jetzt sofort gehen, es täte ihm so
leid.
Enrico kam wie verabredet sofort mit der Rechnung,
er zahlte und stand auf. Sie wirkte etwas verstört, er sah, dass
sie beim Aufstehen schon etwas wankte, gleich würde das Drama ein
Ende haben.
Draußen vor der Tür schmiss sie sich um seinen
Hals, ihr Körper drängte sich verzweifelt gegen ihn, er spürte ihre
weichen Erdbeerlippen an seinem Hals, er spürte, wie sich diese
Brüste gegen ihn pressten. Er wollte jetzt nicht unhöflich sein und
drückte einmal kurz seine Zunge zwischen ihre Lippen, eine Hand an
ihrer schmalen warmen Hüfte geparkt. Dann setzte er sie ins Taxi,
das der schlaue Enrico bestellt hatte, und atmete tief durch. Das
war knapp.
So viel Gier war ihm nicht geheuer. Er mochte es
lieber, wenn er die Frauen bei Enrico langsam becircte, wenn er
sich zum Zuhören zwang und sie einfach reden ließ. Hier eine kleine
Frage, da ein sensibles Nachhaken, es dauerte meist keine Stunde,
schon sahen sie in ihm einen ungewöhnlich einfühlsamen
Gesprächspartner.
Dann ein paar von seinen Standard-Anekdoten, in
denen er seine Freude über das Rauschen des Meeres und die Blätter
im herbstlichen Laubwald unterbrachte, zwei, drei nicht zu platte
Komplimente, noch einen Wein, und schon durfte es anzüglicher
werden.
Er konnte nicht anders, er schickte Sandy eine SMS
hinterher. »Auf bald, hoffe ich!« Er fluchte laut. Volltrottel,
verdammter. Was sollte diese Kinderkacke? Egal.
Doro wartete vor der Bar auf ihn. Sie sah
umwerfend aus. Enges schwarzes Schlauchkleid, dezente Absätze, die
langen schwarzen Haare glänzten im Licht der Laterne. Er führte sie
wortlos an der langen Schlange vorbei. Der Türsteher grüßte ihn mit
Handschlag. Er stand auf der Liste, na bitte. Doro lächelte. Sie
war einundreißig und hatte einen festen Freund, der aber im Moment
für zwei Monate in Boston arbeiten musste.
Lars fühlte sich gut. Läuft doch, dachte Lars,
läuft doch super.

Attila sog die frische Frühsommerluft tief in die
Lungen und noch tiefer, bis hinein in seine Körpermitte, die
wiederzubeleben er fest entschlossen war. Er hatte kurz überlegt,
auf dem Klinikklo ein erstes Mal zu onanieren. Über den
Blackberry hätte er eine Telefonsexnummer anrufen können.
Leider bestand auf der Herrentoilette kein Handy-Empfang. Und ohne
Stimulation erschien ihm der Erfolg eher fraglich. War auch besser
so: Eine 0190-Nummer auf der Rechnung vom Dienst-Handy, das würde
die Bindinger sofort gegen ihn einzusetzen wissen.
Er würde mit dem Auto umgehend auf einen
abgelegenen Parkplatz fahren und eventuell noch eine Peepshow
besuchen. Die Zeit drängte etwas. Aber nach Hause fahren wollte er
nicht. Camille war ohnehin noch beim Yoga. Sie sollte glauben, dass
er noch beim Check-up wäre, während er sich bereits um die
Reinigung der Rohrleitungen kümmerte. Sechs Mal schaffte er
bestimmt nicht. Aber zwei Mal waren auch schon ganz gut, um seinen
neuen alten Freund wieder in Schwung zu bringen. Zwei weitere
Runden durfte er außerdem Camille zumuten.
Attila war aufgeregt, als er die SMS für die
künftige Mutter seines Sohnes eintippte: »Prof sagt: alles prima
bei mir. Lass uns um 1h im Beaux treffen, für einen geilen
Après-Cocktail. Mach Dich schön!« Absenden um kurz nach
Mitternacht, gab er ein.
Der letzte Satz war eigentlich überflüssig
gewesen. Camille sah immer aus wie die Sünde. Wenn er allerdings
eigens darauf hinwies, dann wusste sie, was sie zu tun hatte, zumal
heute Abend: Ihr einziger Job war es, ihn scharf zu machen. Und
sein Job war es, im richtigen Moment die beste Qualität zu liefern.
Jeder gab und nahm: Das war Gleichberechtigung im besten
Sinne.

Jochen wachte von einer ziemlich starken Erektion
auf. Er hob den Kopf von der Küchentischplatte, konnte sich aber
beim besten Willen nicht erinnern, was er geträumt hatte;
hoffentlich nicht von Frau Kackdie-Wandan. Womöglich nicht mal von
Frauen.
Jochen erschrak über seine Gedanken. Andererseits
würde ein kleiner Präferenzenwechsel seinem Leben eine neue
Perspektive geben, eine frauenfreie.
Neulich, als er durchs Schwulenviertel geradelt
war, hatte Jochen tatsächlich kurz überlegt, wie es wäre, einfach
mal schwul zu werden. Wenn es stimmte, dass kein Mensch zu hundert
Prozent homo oder hetero war, sondern immer von beidem etwas, dann
wäre ein Wechsel der Orientierung erstens keine große Sache und
zweitens womöglich die Lösung vieler Probleme: Wenn er
beispielsweise um die dreißig Prozent schwul war und siebzig
Prozent unschwul, dann wäre es doch besser, dreißig Prozent
glücklich zu sein, als siebzig Prozent vorwiegend
unglücklich.
Schwule waren die Einzigen, die noch ein klares
Weltbild hatten: Sie lebten begeistert die Spießigkeit ihrer Eltern
fort, hielten Alessi für Design und Redbull für ein
Kultgetränk. Sie sprachen mit ihren Topfpflanzen und befahlen an
der Wohnungstür: »Schuhe aus!«. Schwule wollten es einfach nur nett
haben, anstatt sich über Rollen und Aufgaben und Elternzeit zu
zerstreiten. Wenn sie Kinder wünschten, wurden sie Patenonkel oder
-tanten und gingen zweimal im Jahr in den Zoo mit ihren Leihkindern
oder ins Kino. Und fertig war die Laube.
In den kleinen schicken Seitenstraßen in der Nähe
der Tankstelle flanierten Hunderte von Männern aller Altersund
Gewichtsklassen. Sicher, es waren einige sehr muskulöse und adrette
Jüngelchen darunter, aber auch viele Normalos.
Hier kriegte jeder einen ab, da war Jochen sicher. Vielleicht
sollte er einfach mal mitflanieren und gucken, was passiert.
0.00 UHR

Sie drängelten sich durch die wogenden Massen.
Alle tanzten und schwitzten. Lars starrte Doro auf den Hintern und
konnte sich kaum beherrschen. Sandys Brüste, der Alkohol, Doros
Arsch - sein Körper lief schon wieder Amok. Am Tresen bestellte er
zwei Gin Tonic und prostete Doro zu. Sie hatte gepiercte Brüste und
mochte es, wenn er sie in den Mund nahm. Oder besser: hatte es
gemocht.
Früher hatten sie alle paar Wochen Spaß
miteinander gehabt. Aber die Sache mit dem Freund schien ernster zu
sein. Doro hatte nur noch selten Zeit, um ihm ihre akrobatischen
Kunststückchen zu zeigen. Aber Boston war weit und Lars
optimistisch.
Er schaute sich um. Er war mit Abstand der Älteste
hier. Manchmal fühlte sich Lars in solchen Momenten gut, weil er es
draufhatte, weil er noch so ein wildes Leben führte, während alle
anderen zu Hause in ihren Pärchen-Knästen saßen und maximal
fernsehguckten oder wie einst ihre Eltern mit anderen Pärchen einen
dieser ätzenden Pärchenabende verbrachten. In letzter Zeit kriegte
er allerdings häufiger kleinere Depressionen, weil er auch lieber
mit einer tollen Frau gemütlich auf dem Sofa kuscheln würde,
anstatt wie eine scharf gemachte Cruise Missile durch die Clubs der
Stadt zu jagen. Die Drinks, die Sprüche, das ganze Gehabe, jede
Nacht derselbe Quatsch. Mit dem Gin Tonic spülte er die
aufkeimenden Zweifel herunter.
Doro bewegte ihre Hüften wie eine Göttin. Sie
lächelte ihn so seltsam an. Das war doch ein Signal, er verstand
genau,
was sie wollte. Lars trank heimlich noch einen doppelten
Jägermeister, das war der Turbo, den er jetzt brauchte. Von hinten
tanzte er Doro an, er fühlte sich gut, er presste sein Becken an
ihren Hintern und schlang seine Arme um sie, in Brusthöhe. Sie
entwand sich dem Griff. Aber da war so ein Flackern in ihrem
Blick.
Schnurstracks ging sie Richtung Toiletten. Lars
wusste es doch. Er folgte ihr auf die Frauentoilette und sah, in
welcher Kabine sie verschwand. Lars klopfte. Dass die anderen
Mädchen guckten, war ihm egal. Er war einfach cool. Doro öffnete
mit fragendem Blick die Tür, er drängte sich in die Kabine und
versuchte sie zu küssen. »Spinnst du jetzt komplett?« fauchte sie
und wich an ihm vorbei nach draußen. Er erwischte sie kurz vor dem
Ausgang. Sie beschimpfte ihn sehr laut und sehr derbe. Lars wollte
etwas entgegnen. Aber sie saß schon im Taxi.

Attila hatte zwanzig Minuten lang gebraucht, um
einen Pornofilm auf seinen Blackberry zu zaubern, der ihn
erstens anmachte, auf dem zweitens überhaupt was zu erkennen war,
der drittens kostenfrei war und viertens nicht so elend lange
brauchte, um zu laden. Mitten hinein in das Geschmatze des
Kurzfilms kam die SMS von Camille: »Bin um 1h da. Freu mich.«
Der Parkplatz des Möbelhauses, den er sich
ausgesucht hatte, war nicht gerade ruhig. Attila hatte das Gefühl,
dass ringsherum in jedem zweiten Auto Geschlechtsverkehr ausgeübt
wurde. Hier würde das nichts mit der Entsaftung. Er ließ den Motor
an und rollte zurück auf die Straße.
Ein paar Blöcke weiter gab es eine große Peepshow,
in die er früher öfter mal geschlichen war, allerdings bevorzugt im
Winter, wenn man sich mit Mütze und hochgeschlagenem Mantelkragen
tarnen konnte. Die Vorstellung, ein Kunde würde ihn in einer dieser
Wixbuden erwischen, machte Attila schwindelig.
In seiner Position konnte man sich eigentlich
nichts mehr erlauben außer einem unglaublich biederen Leben, das es
nur im Fernsehen gab, oder eben in Chef-Etagen. Männer in
Führungspositionen waren die glatt geschliffensten von allen -
deswegen gingen sie auch alle zweimal im Jahr jagen. Einem
Wildschwein zwischen die Augen zu ballern, das war eine prima
Kompensation, nicht für alles, aber für ziemlich vieles.

Das Lamm war butterzart gewesen, das Gratin etwas
trocken und die Bohnen eher struppig im Abgang. Als es um den Wein
ging, hatte Martin nach dem Zufallsprinzip die Begriffe
»Pfeifentabak«, »Farbspiel« und »Merlot-Anteil« in die Debatte
geworfen. Die kubanische Vanille hatte er vergessen. Holtkötter war
ziemlich unbeeindruckt darüber hinweggegangen. Er kannte das
Weingut und berichtete umständlich von Ferien zwischen Rebstöcken.
Jetzt fehlten nur noch das Golf- und das Zigarren-Kapitel.
Immerhin: Die Story von dem Sozial-Bauernhof in
Afrika hatte Holtkötter beeindruckt. Die kannte er offenbar noch
nicht. »Solche Geschichten würde ich gern öfter im Fernsehen
sehen«, sagte Martin. »Und Dorothea wäre eine Top-Moderatorin
dafür«, schob er mit schwerer Zunge hinterher. Holtkötter lächelte,
während Dorothea ihm schon wieder Tötungsblicke schickte.
»Einem Wildschwein zwischen die Augen zu
ballern, das war eine prima Kompensation, nicht für alles, aber für
ziemlich vieles.«
Was sollte der Scheiß, dachte Martin: Alle knülle,
es ist nach Mitternacht - das ist doch wohl der Moment der
Wahrheit, oder nicht? Martin zog vom Esstisch auf die Couch. Er
fühlte sich missverstanden.

Bretti war immer noch nicht da. Immerhin hatte er
eine SMS geschrieben: »Bin gleich da.« Das war nachweislich eine
seiner vielen Lügen. Jochen hatte das erste Sixpack bereits
vernichtet und alle hochemotionalen Vorwürfe durchgespielt, mit
denen er Bretti niederstrecken würde. Er könnte ihm ewige Liebe
erklären, verratene Freundschaft vorwerfen, Unzuverlässigkeit
sowieso, eine widerliche Scheißegal-Mentalität und ihn an der Tür
bereits wieder rausschmeißen.
Aber vielleicht war Bretti ja auch ein bisschen
schwul. Sollte Jochen ihm seine Liebe gestehen? Wollte er
tatsächlich mit Bretti gemeinsam alt werden? Eher nicht.
Jochen zog um vor den Fernseher. Nach Mitternacht
kamen immer die versauten Werbespots. Jochen kannte zwar alle, aber
auch hier galt: Es war ein gutes Gefühl, alte Freundinnen
wiederzutreffen.

Maik konnte seinen Blick nicht vom Gesicht der
Pfostin nehmen. Trotz ihres Öko-Fimmels war sie auffallend dick
geschminkt, wahrscheinlich, um die geplatzten Adern zu übermalen.
Vielleicht war sie
pillenabhängig oder Alkoholikerin oder beides. Immer wenn sie
lachte, entglitt ihr Gesicht vollends. Dann sah sie aus, als nähme
sie gerade ein Zitronensaftsitzbad. Die Mundwinkel drückten sich
himmelwärts, die Augen presste sie zusammen, es sah nach starken
Schmerzen aus. Maik gab sich alle Mühe, sie immer wieder zum
Lächeln zu bringen, nur damit er diesen Gesichtsausdruck noch
einmal zu sehen bekam. Besser als Geisterbahn.
Sie waren bei einer weiteren Spielrunde. Ulrike
war sauer auf ihn, denn er hatte ihren Haupttransportweg blockiert.
Maik wollte Rohstoffe mit seiner Frau tauschen, eindeutig zu ihrem
Vorteil, aber sie vermutete weitere Schweinereien. Maik hatte ihr
schon zweimal erklärt, warum sie besser auf den Deal einsteigen
sollte, den er ihr anbot. Aber sie weigerte sich aus Prinzip. Warum
musste die moderne Frau bei jeder Gelegenheit einen Machtkampf vom
Zaun brechen? Maik nahm einen letzten Anlauf: »Offenbar habe ich
mich eben nicht klar genug ausgedrückt«, fing er an, »ich erkläre
es jetzt noch mal ganz langsam.« Der Pfosten schaute interessiert.
Er wusste genau: Solche Sätze leiteten garantiert schwerere Krisen
ein.
Ulrike sah Maik wütend an. Sie hasste es, wenn er
sie mit scheinheiliger Freundlichkeit wie eine Vollidiotin
behandelte. »Ich bin nicht betrunken, falls du das meinst«, sagte
sie und mühte sich, ihre Zunge nicht allzu oft anstoßen zu
lassen.
»Nein, nein, Schatz«, entgegnete Maik, »Du bist
doch nicht betrunken. Nur ein wenig angeschwipst.« Er wusste genau,
dass sie explodieren würde.
»Ach«, fauchte Ulrike, »und wessen Schuld war es,
dass wir in Nizza das Flugzeug verpasst haben? Wer war da
sturzbesoffen?« Na endlich, da war sie, die Nizza-Geschichte, ein
echter Evergreen ihrer Ehe.
Vor zwei Jahren waren sie mit Easyjet für
ein paar Euro nach Nizza geflogen. Der Hinflug am Freitagabend
hatte so viel Verspätung gehabt, dass die Autovermietung schon
geschlossen hatte. Das Taxi kostete ein Vermögen, dafür lag das
Hotel in einem Industriegebiet. Am nächsten Morgen waren sie mit
einem Stadtbus ewig unterwegs gewesen zum Flughafen, um endlich das
Auto zu holen. Am Mietwagenschalter hatten sie zwei Stunden
gewartet, was nicht schlimm gewesen war, denn in Nizza regnete es
durchgehend.
Ihr Vorhaben, am Samstagabend schick essen zu
gehen, hatten sie schnell begraben. Die feinen Restaurants aus dem
Reiseführer kosteten ein Vermögen. Da sie kein Französisch konnten,
wären sie umgehend als Touristen identifiziert und erst recht
ausgenommen worden.
Maik schlug vor,richtig guten Wein zu kaufen,
feinen Käse, Baguette und ein Picknick auf einem Parkplatz mit
Blick übers Meer zu machen. Es regnete natürlich. Und statt eines
romantischen Abends im Sonnenuntergang saßen sie im Auto, sahen
nichts außer Regen und tranken Wein, den Ulrike viel zu herb
fand.
Die anderen beiden Flaschen trank Maik praktisch
allein auf dem Hotelzimmer. Sie hatten eine französische Gameshow
im Fernsehen gesehen, aber nicht verstanden. Ulrike war
eingeschlafen. »Stell den Wecker«, hatte sie noch gemurmelt. Der
Rückflug war früh am Sonntagmorgen; es war der einzige. Maik rief
bei der Rezeption an. Der Nachtportier konnte kein Englisch, Maik
dafür kein Französisch. Er stellte den Handy-Wecker, jedenfalls
glaubte er das. Stimmte aber nicht.
Als sie am nächsten Morgen aufwachten, waren es
noch zwanzig Minuten bis zum Abflug. Allein die Fahrt zum Flughafen
dauerte eine halbe Stunde. Ulrike drehte fast
durch. Sie rief bei der Airline an und versuchte den Flug
aufzuhalten. Natürlich vergeblich. Sie rief heulend ihre Eltern an
und tat so, als würden sie sich nie wiedersehen.
Maik hatte einen Brummschädel und rechnete still
vor sich hin: Neue Flugtickets würden ein Vermögen verschlingen. Ob
sie mit dem Mietwagen fahren konnten? Unsinn. Nizza-Berlin, das war
Selbstmord. Maik schlug vor, in Nizza zu bleiben und einfach den
nächsten Billigflug zu nehmen; die Kinder würden sie ebenso wenig
vermissen wie die Schwiegereltern. Und das Wetter war gut.
»Die Grundidee der Ehe war im Prinzip gut, sie
hatte nur eine Schwachstelle, das Lebenslängliche.«
Aber Ulrike wollte einfach nur nach Hause. Sie
schwieg ihn den ganzen Tag lang an. Maik bekam einen ersten
Eindruck, wie ihre Ehe in zwanzig Jahren ablaufen würde. Er hatte
einen unglaublichen Horror davor, so zu werden wie manche Paare im
Hotel, die sich schon beim Frühstück nichts zu sagen hatten und
gelangweilt bis genervt überall hinschauten, nur nicht auf den
Menschen auf der anderen Seite des Tisches, mit dem sie
zusammenlebten. Beide hatten sich über die Zeit hineingesteigert in
ihre Agonie, so wie Ulrike in Nizza.
Nizza war ein Drama, das keines hätte sein müssen.
Aber sie wollte es so. Und er trug die Schuld, für den Rest seines
Lebens. »Nizza« - das war Ulrikes Codewort, wann immer sie Maik als
trunkenen Totalversager hinstellen wollte.
Die Pfosten hörten interessiert zu. Sie kannten
die Nizza-Story natürlich schon lange. Aber sie wollten wohl
wissen,
wann, wo und wie oft Ulrike diese Totschlag-Geschichte
einsetzte.
Der Pfosten goss seiner Frau einen Schluck
alkoholfreies Bier nach, um die Situation zu entspannen.
»Du bist so gut zu mir«, sagte sie.
»So bin ich«, sagte er.
»Ist mir noch gar nicht aufgefallen«, sagte sie
schnippisch. »So gut kennst du mich also«, sagte er.
»Kannste mal sehen«, sagte sie.
Kannste mal sehen - wie dämlich klang das, und
zwar schon seit dem Kartoffelkrieg. Maik kotzte innerlich. Diesen
Dialog hatte er schon häufiger gehört als die Nizza-Story. Wie
würden diese beiden Menschen erst miteinander umgehen, wenn sie alt
und krank waren?
Warum konnte die Pfostin nicht einfach damenhaft
die Klappe halten? Weil die moderne Frau sich als
Selbstbewusstseinsmaschine verstand, die immer »Macho« dachte und
glaubte, sich behaupten zu müssen. Sie waren keine Damen, sondern
Soldatinnen, jede Sekunde ihres Lebens im Krieg für eine
Emanzipation, die längst Tatsache war. Dabei waren leider einige
schöne Spielarten des Miteinanders verloren gegangen: der Flirt,
das Anmachspiel, Werben, Erröten, Erregen.
Die Grundidee der Ehe war im Prinzip gut, sie
hatte nur eine Schwachstelle, das Lebenslängliche. Dabei ging es
doch nur um Phasen, die Aufzucht der Kinder zum Beispiel. Danach
könnte jeder wieder seinen Weg gehen, Spaß haben, Neues probieren.
Wenn man sich leichter würde trennen können, bekäme das
Zusammenbleiben einen viel tieferen Sinn. Aber das war mit Frauen
natürlich nicht zu machen. Frauenliebe war immer ewig.
Aber Maik würde diese Erwartung nicht erfüllen:
Eines Tages wäre er weg.
1 UHR

Martin schlief tief und traumlos. Nur einmal wurde
er kurz wach, als ihm jemand die warme Wolldecke überlegte. Von
ferne hörte er die Stimmen von Dorothea und Holtkötter. Was wollte
der Kerl noch hier? Was wäre, wenn die beiden sich jetzt liebten,
in der Küche, Holtkötter, der mit seinem armdicken westfälischen
Bullenglied unter Dorotheas hochgeschobenen Rock drängte. Martin
gähnte und drehte sich um: Es war ihm egal.

Benommen ging Lars zum Tresen und bestellte noch
einen Gin-Tonic. Doro ging nicht ans Telefon und antwortete auf
keine SMS. Er fühlte sich plötzlich sehr einsam. Er rief einmal
kurz Sandy an, aber die hatte schon auf Mailbox geschaltet. Er
schickte Tanja eine SMS: »Noch wach?«.
Die Sache mit Doro ärgerte ihn sehr, weil er die
Lage völlig falsch eingeschätzt hatte. Wo war sein Instinkt
geblieben? Außerdem war er fest davon ausgegangen, heute Sex zu
haben, und zwar mit ihr. Und jetzt? Woher Sex kriegen - um diese
Zeit, mitten in der Woche? Zum anderen mochte er es nicht, wenn ihn
jemand nicht mochte. Die Zuneigung anderer war der Boden, auf dem
er sich sicher fühlte. Jeder Zweifel verunsicherte ihn. Er schaute
sich um. Alle hatten Spaß, nur er nicht. Alle waren jung, nur er
nicht.
Lars hätte jetzt gehen können. Aber er wollte noch
nicht aufgeben. Er kontrollierte seinen Blick im Spiegel hinter der
Bar und zog den Hemdkragen etwas höher. Er sah gut aus, das
beruhigte ihn. Der Laden war brechend voll. Überall standen kleine
Grüppchen. Er war allein. Er wäre jetzt auch gerne Teil eines
kleinen Grüppchens.
Manchmal fragte er sich, wie lange er dieses Leben
noch würde durchhalten können, wie er sich in fünf oder zehn Jahren
fühlte, und vor allem, wo. Schon jetzt war er fast immer mit
Jüngeren unterwegs. Das war natürlich extrem cool. Aber auch ein
Akt der Selbstverteidigung. Wer ging denn schon in seinem Alter
noch so oft aus wie er - allein, ohne Partner, bis zum bitteren
Ende?
In der Firma spürte er manchmal die neidischen
Blicke selbst der jüngeren Verheirateten, die ihm verständnisvoll
und bewundernd zublinzelten, wenn er übernächtigt im Büro erschien.
In solchen Momenten fühlte er sich gut und überlegen, so wie
jemand, der das Leben auskostete um jeden Preis, ein echter Kerl,
dem nichts entging.
Und dann gab es Momente, so wie jetzt, da dachte
er, dass ihm alles entginge, nicht nur der Sex mit Doro, sondern
grundsätzlich alles. Er leerte den nächsten Gin Tonic. Lars musste
sich auf das Wesentliche konzentrieren. Er ging auf die volle
Tanzfläche. Um ihn herum kreischten sie und schmissen die Arme in
die Luft. Die Euphorie riss ihn mit. Er mitten im Wahnsinn der
Nacht. Wie geil war das denn eigentlich? Das war doch das wahre
Leben. Er sah sich im Spiegel tanzen. Wie er die Hüften kreisen
ließ, so lässig und elegant, das musste ihm erst einmal jemand
nachmachen. Er fühlte sich gut.
Lars musterte unauffällig die Frauen auf dem
Dancefloor und schob sich unmerklich an solche heran, die
offensichtlich alleine oder mit ihrer Freundin tanzten. Es war sehr
eng. Manchmal streifte ihn zufällig ein herumfliegender Frauenarm,
oder ein Becken stieß unbeabsichtigt an seins. Das fand er jedes
Mal wieder aufregend.
Manchmal kam er ihnen extra nahe, damit genau
diese kleinen Unfälle passierten. Natürlich ganz unauffällig. Er
kriegte ein paar Augenflirts hin. Am Tresen merkte er allerdings,
wie schwer ihm das Reden fiel. Der Boden bewegte sich.
Als er von der Toilette zurückkam, stand die Frau,
die er sich ausgeguckt hatte, in einer anderen Ecke bei einem Typen
und zeigte lachend auf ihn. Er zahlte und ging. Das läuft nicht
gut, dachte Lars, das läuft gar nicht gut.

Jochen erwachte vom Lärm seines Handys. Er hatte
»Spiel mir das Lied vom Tod« als SMS-Ton. Natürlich eine Nachricht
von Bretti. »Komm runter in den Strandkorb«, schrieb er, »die Birne
wartet schon.« Das war Geheimsprache. Der Strandkorb war die
verranzteste Eckkneipe Berlins, in der sich im Morgengrauen
Taxifahrer, Zeitungsboten, Bettflüchtige, Trinker und Bretti zum
fröhlichen Gelage trafen. Die Wirtin schenkte schwarz gebrannten
Birnenschnaps aus. Zuviel von dem Zeug machte blind. Aber drei,
vier Gläschen bewirkten einen Bombenrausch.
»Wer die Eier hatte, allein zu ›I am what I am‹
zu tanzen, der durfte auch heulen.«
Jochen konnte sich eine ausgedehnte Sauftour
allerdings nicht leisten. Erst gestern hatte er um zwei Wochen
Aufschub gewinselt bei seinem Vermieter, einem geldgierigen Rentner
aus dem Westen, der bevorzugt knurrte, egal zu welchem Thema.
»Muss erst noch Geld ziehen«, smste Jochen
zurück.
»Komm einfach runter, ich hab’ Kohle«, antwortete
Bretti.
»Ich sauf dich arm«, smste Jochen.
»Schaffste nicht«, antwortete Bretti.
War eigentlich auch selbstverständlich. Wenn der
Sausack ihn schon vier Stunden warten ließ, konnte er wenigstens
die Zeche übernehmen. Bretti mochte viele Macken haben, aber er
hatte Stil; er wusste, wie Jungs sich untereinander verhielten. Er
war ein echter Freund, dachte Jochen: sein einziger. Und den würde
er verlieren, genau in dieser Nacht.
Jochen spürte Tränen aufsteigen. Er
schniefte.
»Scheißegal, Alter«, flüsterte er sich zu, »lass
laufen! Lass einfach laufen!«
Wer die Eier hatte, allein zu »I am what I am« zu
tanzen, der durfte auch heulen.

Nach Mitternacht, auf dem Höhepunkt von Nizza,
wollte Ulrike zum ersten Mal gehen. Doch inzwischen befand sie sich
in fortgeschrittener Weinschorlen-Laune und quatschte ohne
Unterlass. Die Pfostin hatte mit dem Konturstift ihre Lippen
nachgezogen. Ihr Grinsegesicht sah noch greller aus, wie bei einem
Clown. Sie versprühte ungefähr so viel Charme wie Charles’ Camilla.
Wie konnte der Pfosten sich überhaupt zum Sex motivieren?
Maik wollte längst gehen, aber der Pfosten sagte
alle fünf Minuten: »So jung kommen wir nicht mehr zusammen« und
füllte die Gläser. Maik war müde und betrunken. Aber einmal wollte
er noch gewinnen. Alle anderen hatten bereits einen Sieg errungen,
sogar Ulrike.

Attilas Augen brauchten eine Weile, bis sie sich
an das Schummerlicht im Beaux gewöhnt hatten. Er checkte
zügig Tische und Bar. Verdammt, da hinten in der Ecke saß Bülow,
ein minderbegabter Berater, der allerdings einen guten Namen hatte.
Attila wäre lieber nicht von Kollegen erwischt worden, schon gar
nicht an seinem D-Day.
Bars nach Mitternacht waren die sichersten Orte, um
Karrieren zu ruinieren. Sah man an den Investment-Bankern. Die
Finanzkrise begann, als die Bengel sich in Manhattan, London und
Frankfurt schon bei Tageslicht den Dom Pérignon literweise hinter
die Binde gossen. Ruhm machte leichtsinnig, und Alkohol machte noch
leichtsinniger.
Attila beschloss, sofort in die Offensive zu
gehen. Er winkte knapp zu Bülow hinüber; der verstand, erhob sich
und kam an die Bar. Das musste man den Blaublütern lassen: Sie
kapierten ziemlich schnell, wer Herr war und wer Hund. »Na, so spät
noch auf Akquise«, sagte Attila mit gespielter Strenge.
»Ausnahmsweise«, flunkerte Bülow, »ein alter
Freund ist zu Besuch.« Er klimperte mit seinem Drink, der aussah
wie Goldkrone auf Eis.
»Ich habe heute Hochzeitstag«, log Attila zurück,
»und habe meine Frau den ganzen Tag noch nicht gesehen.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Bülow, »dann will ich mal nicht
stören.«
»Schönen Abend noch«, entgegnete Attila, was
nichts anderes bedeutete als »Zieh Leine.«
Bülow verstand. Er ging zurück an den kleinen
Tisch, an dem noch ein anderer frotteegesichtiger Salem-Absolvent
kauerte, in Gesellschaft von zwei deutlich zu mageren Mädchen. Na,
viel Freude mit den Klappergestellen, dachte Attila. Solche Frauen
gaben sich bestenfalls so lange Mühe,
bis sie auch »von Bülow« hießen. So weit würde es aber nie kommen.
Da war bestimmt Mutti Bülow davor. Mit der Hoffnung allerdings ließ
sich jahrelang immer frische Begleitung organisieren.
Attila winkte dem Neger hinter der Bar. Natürlich
wusste Attila, dass er einen Neger niemals Neger nennen durfte. Er
wusste allerdings nicht genau, was man stattdessen aktuell sagen
musste. »Afro-American« hieß es in den USA, aber dieser Junge war
vielleicht im Wedding geboren und hieß Dieter. Sollte er »Farbiger«
sagen? Oder »Schwarzer«? Alles Humbug. Jeder Versuch, das
Ungewöhnliche zu benennen, machte es noch ungewöhnlicher. Warum
nicht einfach »Mann« und fertig? Wobei das Wort in gewissen
Frauenkreisen auch schon Diskriminierung genug bedeutete. Attila
sagte höflich: »Guten Abend, wie geht’s?« zu dem Barkeeper und
zwang sich dazu, in keinerlei rassistischer Kategorie zu denken.
Der schwarze Mann allerdings war nicht besonders gesprächig.
Wahrscheinlich ging ihm die permanente Anbiederei der politisch
überkorrekten Gäste seit Jahren tierisch auf den Senkel.
Jahrhunderte mussten seine Vorfahren in Ketten
eingeschweißt Baumwolle pflücken, nun folgte die nicht minder
brutale Bewältigung durch grundloses Schulterklopfen. Gern hätte
Attila mit dem Barmann darüber geredet. Aber das Risiko war zu
groß, dass da was in den falschen Hals geriet.
Es gab Themen, die man tunlichst überhaupt nicht
ansprach, schon gar nicht in guter Absicht. Der Vorwurf der
Fremdenfeindlichkeit gehörte zu den sichersten Karrierekillern. Nur
Nazi-Sprüche waren schlimmer, oder Frauen-Diskriminierung, besser
noch Mütter-Bashing. Wobei die Regel galt: Wenn es etwas
misszuverstehen gab, dann gaben sich Kollegen, Vorgesetzte und vor
allem die Öffentlichkeit
auch allergrößte Mühe, diese Missverständnisse auszuweiden.
Andere Randgruppen sahen natürlich, wie praktisch
es sich lebte hinter der Schutzwand der politischen Korrektheit,
und so versuchte eben jeder, auch ein Opfer zu sein. Neulich hatte
er einen Dackel gesehen, der einen Stern im Fell trug, weil diese
Gesellschaft angeblich »hundefeindlich« sei. So stand es auf dem
Pappschild, das Herrchen sich vor den Bauch gebunden hatte.
Es war zum Verzweifeln. Deutschland brauchte
Führung, aber selbst das Wort »führen« war kontaminiert. Wie also
sollte man führen, wenn man zu jedem Arsch nett zu sein hatte?
Attila wünschte sich mehr Asiaten, für Wesley und überhaupt.
Asiaten waren fleißig, hungrig, die fielen nicht durch
Diskriminierungs-Klimbim auf.
Attila hasste sich für die bekloppten Gedanken,
denen er schon wieder nachgehangen hatte. Ab einem bestimmten Punkt
denkst du nur noch in Thesen, hatte einer seiner Mentoren mal
gesagt. Wenn es so weit ist, sollte man dringend etwas maximal
Vulgäres denken, nur um sich wieder zurück auf den Boden zu
bewegen. Ausgerechnet heute Nacht sollte er nicht das Land retten
und die Weltwirtschaft, sondern vor allem sich selbst: Wenn er
versagte, dann würde er über Jahre darunter leiden, persönlich und
beruflich.
Attila nippte an seinem »Prince of Wales«, den der
stark pigmentierte Barmann überraschend gut hingekriegt hatte. Ein
Cocktail würde seine Leistungsfähigkeit nicht wesentlich
einschränken, aber seine Phantasien beflügeln.
Attila saß mit dem Rücken zur Tür, um den kleinen
Bildschirm besser sehen zu können, auf dem Jazz-Clips liefen.
Plötzlich wurde es still im Beaux. Bülow, der Barmann und
all die anderen starrten auf ihn, beziehungsweise hinter ihn.
Attila drehte sich vorsichtig um - da stand Camille. Sie trug
einen Trenchcoat, der bis zum Solarplexus geöffnet war, sehr hohe
Absätze und ein strahlendes Lächeln. Sie spielte ihre Rolle
perfekt: die Sünde persönlich.
Attila wusste genau, was all die Lustmolche hier
dachten: Sie trug bestimmt nichts unter dem Mantel. Und
wahrscheinlich hatten sie recht.
»Hallo Schatz«, sagte Attila, während er sich
lässig erhob und umdrehte. Er küsste sie auf die Wange. Sie lehnte
sich an einen Barhocker. »Champagner«, sagte Attila zum Barmann.
Der nickte wortlos. Es war eben doch richtig gewesen, sich diese
Frau zu angeln, Ukraine hin oder her. Während Camille ein paar
Belanglosigkeiten des Tages aufzählte, überlegte Attila
angestrengt, was Bülow wohl morgen im Büro erzählen würde. Ganz
einfach: Dass der Chef seinen Hochzeitstag im Beaux gefeiert
und seine Frau fantastisch ausgesehen habe. Fertig.
Camille rieb ihr Bein an seinem. Er spürte, dass
sie, wenn überhaupt, einen sehr kurzen Rock trug. Männer sind so
einfach, dachte Attila. Warum muss erst eine Ukrainerin kommen, um
das zu kapieren.
2 UHR

Der Abend hatte Lars bisher inklusive Abendessen
für Sandy und Drinks in der Bar neunzig Euro gekostet. Eine
gigantische Fehlinvestition. Normalerweise lief das für ihn besser,
er fragte sich, ob exakt dieser Abend die Wende bedeutete, den
Abstieg, ob sein Jagdglück ihn langsam verließ, vielleicht sank
sein Testosteron-Spiegel bereits, viel zu früh, früher zumindest
als man das in den Magazinen lesen konnte.
Er fühlte sich morgens neuerdings so seltsam
zerschlagen,
kaputt ohne jeden richtigen Grund. Er musste unbedingt einen
Termin beim Arzt machen, das konnte er nicht hinnehmen, so eine
Früherschlaffung, nur weil der Körper irgendwo so eine bescheuerte
Hormonproduktion stoppte. Dann ließ er sich das Zeug eben spritzen,
machten die in Kalifornien schon lange, die Nebenwirkungen waren
ihm egal, kriegte er halt irgendwann Krebs, na und, aber vorher
wollte er Gas geben können.
Er sollte auch mal wieder einen Aids-Test machen,
die Lymphknoten unterm Arm schienen ihm heute Morgen schon wieder
dicker als sonst, man weiß ja nie. Obwohl er eigentlich immer auf
ein Kondom bestand, na ja, zumindest meistens, also jetzt nicht bei
Tanja oder Katharina, die kannte er doch schon so lange, aber bei
den anderen.
Er rief noch einmal Doro an. Keine Antwort, die
machte ihn echt fertig. Sandy hat noch immer nur die Mailbox an,
wieso gingen die denn alle so früh ins Bett, die jungen
Dinger?
Lars hörte den Anrufbeantworter ab. Nichts
Wichtiges. Er schaltete den Fernseher und den Computer an. Er war
natürlich bei myspace, facebook und xing und
hatte eine eigene Website. Beruhigt registrierte er die Länge
seiner Freundeslisten; die waren schon richtig imposant, da staunte
jeder, der ihn im Netz besuchte.
Er hatte diverse Nachrichten, aber keine gute Frau
dabei. In Nächten wie dieser trieb er sich auch gerne mal in
Chat-Rooms herum, wo es wirklich hart zur Sache ging,
verbaltechnisch und so. Er machte sich eine Flasche Wein auf. Um
diese Zeit waren fast nur noch Perverse im Netz unterwegs, dachte
sich Lars, da will ich nicht dazugehören. Er wechselte zu
youporn.com. Aber nur für
ein paar Minuten. Immer derselbe Quatsch, die Filme machten ihn
manchmal scharf. Aber heute Nacht machten sie ihn nur traurig. Er
loggte sich bei der ESL ein, der Liga für Online-Spiele. Er
musste sich jetzt abreagieren, da war Counterstrike genau
das Richtige.
Wie konnte man so ein geiles Spiel nicht gut
finden, fragte sich Lars. Er juchzte vor Freude, wenn er mal wieder
einen Hinterhalt vorhergesehen hatte und den Schüssen der anderen
gekonnt ausgewichen war. Und auf diese Nerds war Verlass. Zu jeder
Tages- und Nachtzeit fand er online irgendwelche Gegner, die gegen
ihn spielen wollten.
Im Netz nannte er sich DarkRaider, das war
sein Kampfname. Wenn jemand Kontakt mit ihm aufnehmen wollte,
blockte er lieber ab, maximal verriet er noch den Wohnort und sein
Alter, also eher: das Alter seiner Counterstrike-Existenz,
da war er sechsundzwanzig Jahrealt. Er hatte mal gelesen, dass die
meisten der fünfhunderttausend Counterstriker noch viel
jünger waren. Da wollte er niemanden verschrecken.
Heute Nacht war er unkonzentriert. Laufend starb
sein Krieger. Er haute auf die Tasten, er goss Wein nach. Er machte
eine kurze Pause und rief noch einmal Doro an. Unfassbar, das Handy
war tatsächlich non-stop aus. Das gleiche Spiel bei Sandy, so ein
Mist, eigentlich war die doch ganz süß. Aber Lars ließ sich nicht
von so einem blöden Handy einschüchtern. Er rief Jasmin an. Er
musste das jetzt mit ihr klären, diese Blicke heute im Büro, was
das sollte, ob sie ihn provozieren wollte oder was. Mailbox. Lars
fluchte.
Er rief eine Sexhotline an und drückte sich durch
das Menü. Heiße Lesbenspiele, ja, das klang gut. Die Ansage war so
sexy wie die Flugauskunft der Lufthansa. So ein Betrug - der
Lesbenquatsch kam vom Band, mit sächsischem Dialekt. Wen das
erregte, der war wirklich pervers. Wütend legte er auf.
Dann eben doch youporn.com. Brasilianische Orgie.
Eine Riesenparty - alle trieben es mit allen. Er onanierte lustlos
vor dem Computer.
Immerhin war der Druck jetzt weg.

Maik hatte wieder nicht gewonnen, dafür Ulrike zum
zweiten Mal. Sie war glücklich und strich immer wieder über Maiks
Oberschenkel. Die Pfostin war zugleich näher an ihren Pfosten
gerückt. Sie spielten Verliebtheit. Die Pfostin erzählte vom
Tanzkurs, den die beiden seit Monaten machten.
Glückwunsch, dachte Maik, Körpern nach
Stundenplan. Einmal die Woche mussten sie sich anfassen und sogar
die Knie aneinanderschubbern. Erektion, das unbekannte Gefühl. Die
Pfosten waren aufgestanden und schoben gemeinsam durchs Wohnzimmer.
Ulrike guckte verträumt. Maik tapste mechanisch mit den Fingern im
Rhythmus der Musik; irgendein Rumba-Humtata mit Schweinegeigen, die
nach André Rieu klangen.
Ulrike träumte davon, dass er sie ebenfalls zum
Tanzkurs einlud, am besten als Geschenk am Hochzeitstag. Auch
dieser Traum würde unerfüllt bleiben. Denn Maik litt an einer
schweren Tango-Allergie.
Die Pfosten standen in ihrem Wohnzimmer und
knutschten. Maik wusste genau, dass diese Love-Show nur für sie,
die Besucher, aufgeführt wurde.
Seine betrunkene Gattin fiel trotzdem darauf rein.
Sie griff nach seiner Hand. Maik hasste diese kalkulierten
Romanzen. Das war alles so falsch, was sie sich hier vorspielten.
Aber vielleicht war es auch das richtige Leben, und er wusste es
einfach nur nicht. Er wollte es aber auch gar nicht wissen.

Martin erwachte, weil Dorothea an seiner Schulter
rüttelte. »Otto ist wach«, sagte sie streng, »gehst du mal bitte
gucken.« Martin musste sich orientieren. Am Tisch sah er
Holtkötter, der am Wein nippte und ihn anlachte. Wahrscheinlich
hatte er sich gerade erst den Hosenstall wieder zugemacht. Täuschte
Martin sich, lag es am Schummerlicht, oder sah Dorothea tatsächlich
eine Spur nuttig aus? Na gut, es ging um ihre Karriere.
Martin setzte sich auf und testete die
Standfestigkeit seiner Beine. Ging so. »Ich geh’ schon«, sagte er,
als er Ottos Gekrähe von Ferne hörte. Der Junge stand in seinem
Bett und rang die Arme nach ihm: »Papa, Pipi!« Martin war gerührt.
Es gab offenbar doch noch Momente, in denen er gebraucht wurde. Er
hob Otto aus dem Bett und stellte ihn auf den Boden. »Kann allein«,
sagte der Kleine, trippelte zum Klo, zog die Schlafanzughose
herunter und pinkelte treffsicher wie ein bulgarischer Truck-Fahrer
in die Schüssel.
»Hinsetzen, Otto«, befahl Martin, aber der Junge
hörte nicht. »Männer dürfen im Stehen Pipi machen«, erklärte sein
Sohn. Martin war erschüttert und gerührt zugleich. Drei
Generationen Frauen hatten allerlei minderkomische
Sitzpinkel-Kommandos in ihre Bäder gehängt; Legionen von
Kindergärtnern hatten kleinen Jungs das maskuline Wasserlassen
aberzogen. Und dennoch war es nicht auszurotten. Stehend zu pinkeln
war ganz offenbar eine genetische Disposition. Martin war stolz auf
seinen Sohn. Konter-Revolutionen können auch mit kleinen Schwänzen
beginnen.

Camille legte den Finger auf den Mund, als sie die
Wohnung betraten. »Zwei Minuten warten«, sagte sie und verschwand
im Schlafzimmer.
Prima. Attila wollte sowieso noch schnell die Mails checken.
Soeben hatte er sich in eine neue Studie von
Wesley vertieft, die die Bindinger mit großem Geklapper
herumgemailt hatte, als Camille aus dem Schlafzimmer rief.
Eigentlich wäre Attila gern noch mal aufs Klo verschwunden. Aber
jetzt war es zu spät. Er drückte das Kreuz durch. Er fühlte sich
wie Rocky, der durch eine Menge jubelnder Zuschauer auf den Ring zu
marschiert. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Als sich Jochens Augen an den Nikotinnebel des
Strandkorbs gewöhnt hatten, sah er, was seine Ohren bereits
geahnt hatten: Party-Alarm. Bretti hatte die Wirtin im Arm, beide
schwenkten ein Wasserglas mit Birnenschnaps und grölten: »Ich
will’ne Frau ohne Arschgeweih!« Prinzipiell hatte Jochen nichts
gegen Mickie Krauses Malle-Hits einzuwenden, jedenfalls
nicht jenseits von zwei Promille.
»Wir feiern Verlobung«, grölte die Wirtin, die wie
jeden Abend die Lampen an hatte. Bretti küsste sie auf die Stirn
und schrie: »Und du wirst meine Brautjungfer.« Der ganze Laden
grölte, mindestens zwei Dutzend Zechbrüder.
Jochen hatte sich ein gepflegtes Zweier-Besäufnis
mit seinem einzigen Freund gewünscht, wenn er schon die ganze Nacht
auf Bretti wartete, aber keine Polonaise mit all diesen Vollspaten
hier. Er war nicht nur beleidigt, er war aufrichtig traurig. Bretti
merkte sofort, was los war.
»Komm mal her, mein Alter«, sagte er und zog
Jochen ganz dicht an sich heran. Jochen musste kämpfen, um nicht
hemmungslos loszuheulen.
»Nimm erst mal’ne Birne«, sagte die Wirtin und
reichte Jochen ein halb volles Wasserglas.
Jochen stürzte den Schnaps in einem Zug hinab in
die Kehle. Immer wenn es brannte, wusste der Mann, dass er noch
lebte. Das war einer von Brettis Sprüchen, die ewige Wahrheit
bargen.
3 UHR

Martin und Holtkötter lagen sich zum Abschied in
den Armen. Martin durfte jetzt »Peer« zu ihm sagen. Wirklich dufter
Typ, der Peer, bisschen sperrig am Anfang, aber dann eine Seele von
Mensch.
Der entscheidende Moment war gewesen, als Martin
aus dem Kinderzimmer zurückkam und berichtete, dass Otto im Stehen
gepinkelt hatte, einfach so, freier Wille. Dorothea war außer sich.
»Das hast du doch hoffentlich unterbunden«, hatte sie gesagt. »Nö«,
hatte Martin entgegnet, »der Kleine kann gar nicht früh genug
lernen, sein Revier zu markieren. Könnten Mädchen im Stehen pinkeln
und würden es auch tun, dann jubilierte die ganze
Feministinnenbande«, sagte Martin in einem seltenen Anfall von
Keckheit.
»Immer wenn es brannte, wusste der Mann, dass
er noch lebte.«
Holtkötter hob wortlos sein Glas, nahm einen
tiefen Schluck vom femininsten der Pauillacs und sagte nur trocken:
»Ein Hoch auf die Männer.« Martin stand auf und prostete zurück.
Dorothea war sprachlos. Martin holte den Südtiroler Kirschbrand aus
dem Schrank. Goldkrone wäre trendiger gewesen, aber nicht
adäquat für Chefs. »Darauf trinken wir einen.«
Es stellte sich heraus, dass Holtkötter großes
Interesse an den Denkern der Antike hatte, aber davon etwa so viel
wusste wie Martin von Pauillac. Holtkötter konnte tatsächlich
zuhören. Und sogar kluge Fragen stellen.
Im Rausch des Kirschbrandes debattierten sie
darüber, warum sich ausgerechnet brasilianische Fußballer
»Socrates« oder »Cicero« als Künstlernamen aussuchten. »Gab es
eigentlich auch einen Plato?«, fragte Martin. »Nee, aber Platini«,
witzelte Holtkötter.
Sie lagen sich brüllend vor Lachen in den Armen.
Dorothea räumte wortlos das Geschirr in die Küche. Für einen kurzen
Moment erlaubte sich Martin den Gedanken, dass früher auch nicht
alles schlecht war.

Attila gab alles. Die Narkose, der Alkohol,
Camilles Netzstrümpfe und sein nackter Wille hatten seinen Körper
auf Hochtouren gepeitscht. Camille juchzte manchmal, wenn er sie
wie eine Dampframme bediente. Warum zum Teufel musste er dauernd an
die Bindinger denken?

Lars schloss die Augen, alles drehte sich. Er
machte das Licht wieder an und rauchte noch eine. Er hatte den
Eindruck, die Buchstaben auf der Packung flimmerten. Er musste
unbedingt zum Augenarzt, wahrscheinlich brauchte er eine Brille, so
eine richtig dicke, mit fetten Glasbausteinen, aber dann würde er
sich erschießen. Warum flimmerten die Buchstaben nur so?
In seinem Alter gab es schon Fälle von Grauem
Star, wie waren da noch gleich die Symptome? Er hielt die Packung
in unterschiedlichen Abständen vor die Augen, dann schloss er
abwechselnd ein Auge, erst links, dann rechts, aber es wackelte
immer doller.
Er hatte Grauen Star, er war sich ganz sicher.
Oder Augenkrebs. So eine ganz bittere Nummer. Er stand auf und
machte alle Lampen an. Er stellte die Zigarettenpackung auf den
Nachttisch, er kniete sich davor, die Packung direkt auf Augenhöhe.
Er rutschte immer weiter vom Nachttisch weg. Lars zitterte. Er
würde erblinden. Es gab keinen Zweifel. Er würde nie seine Kinder
sehen können, nie mehr die aufgehende Sonne, nichts. Es war
aus.
Sollte er überhaupt jemals wieder ins Büro gehen?
Noch knapp über vier Stunden hatte er, dann musste er wieder raus.
Das war nicht viel, aber da hatte er doch schon ganz andere Sachen
geschaukelt, er war hart im Nehmen und Vertuschen. Er musste nach
dem Aufstehen sofort kontrollieren, wen er angerufen hatte,
unbedingt. Und dann sofort noch einmal anrufen und alles
richtigstellen, vor allem bei Doro.
Wie er die Doro bis ins Klo verfolgt hatte, das
war doch Weltklasse. Er war aber auch ein verrückter Hund,
unfassbar, und wenn die ehrlich wäre, würde sie das auch zugeben,
die Doro. Die hatte doch nur Angst vor der eigenen Courage, die
wollte doch eigentlich genau das. Da musste ihm nix peinlich sein,
bisschen wild war es vielleicht gewesen, gut, aber besser wild als
tot, solange es ging, musste alles gehen, klare Sache.
Das war auf jeden Fall eine schöne Anekdote für
den Herrenabend. Da würden die wieder Augen machen, die lieben
Freunde, was er für ein Leben führte. Das tat Lars immer gut, wenn
die anderen ihn bewunderten. In solchen Momenten war er sicher,
genau das Richtige zu machen. Lars schlief ein.

Maik hatte Ulrike in den Arm genommen. Sie schlief
schon fast. Eigentlich war sie süß. Immerhin hatten sie sich nicht
mehr gestritten. Sie hatten nicht mal weiter über den Tanzkurs
geredet, sondern sich einfach zusammen in die Hollywoodschaukel im
Seilerschen Garten gesetzt. Eine wirklich gute Beziehung zu einer
Frau zeichnete sich durch gehobenes Schweigen aus; nicht das
Hotelfrühstücksnichtssagen, sondern zufriedenes, einträchtiges
Schweigen.
Derweil zogen die Pfostens nach ihrem Getanze noch
ein kleines weinseliges Solo ab, das sie offenbar für Comedy
hielten.
Er,nach einem Prüfkniffin ihreHüftgegend: »Gut in
Form.« Sie: »Etwas überzeugender bitte.«
Er: »Ein echter Kavalier sülzt nicht.«
Sie: »In der alten Schule hast du doch immer
geschwänzt.« Er: »Na gut, ich nehme alles zurück und behaupte das
Gegenteil.«
Maik gähnte demonstrativ und deutete auf Ulrike,
als der Pfosten rüberschaute, ob ihr Gag-Feuerwerk auch angekommen
sei.
»Wir gehen jetzt«, sagte Maik, »vielen Dank für
alles.«