Die Helden dieses Buches
Attila - der Karriere-Mann
002
Anfang 40, verheiratet, Führungsposition in einer Strategieberatung. Leistung ist alles, ob im Job oder zu Hause. Er hat die Kontrolle, steht aber auch unter dauerndemDruck: Muss trotz schwankender sexueller Performance einen Thronfolger zeugen und den Marathon schneller laufen als die Rivalin im Job. Motto: Alles ist gut, was dem eigenen Mythos dient. Hobby: Einmal in der Woche Malen, genau eine Stunde lang. Frau: Eine langbeinige Ukrainerin.
 
Jochen - der WG-Mann
003
Ende 30, ledig. Glaubt immer noch an eine kreative Karriere, hangelt sich bis dahin mit McJobs durchs Leben. Letzter Bewohner einer WG, die seine Familie war und Pink-Floyd-Experte. Motto: Ich ignoriere die Frauen so lange, bis sie es merken, aber würde auch jederzeit bei einem Dreier mitmachen, wenn mich nur endlich jemand einlüde. Hobby: Onanieren. Frau: Ganz früher war da mal eine, für ein paar Wochen.
 
Lars - der Macho-Mann
004
40, ledig. Vertriebler für Buchhaltungssoftware. Jede Nacht unterwegs, um sich zu beweisen, dass er noch jung und frisch ist und bei der Damenwelt ankommt. Gerät dabei schon mal durcheinander. Die Arbeit leidet und das Altwerden nervt. Motto: Bei der Full-Moon-Party in Thailand wird alles besser. Hobby: Dates smsen. Frau: Heute Doro und Mandy, morgen Tina und Cindy, übermorgen die süße Praktikantin und diese, ääh, Dings…-ist ja auch egal. Irgendwas geht immer.
 
Martin - der Frauen-Mann
005
Anfang 40, fest liiert, zwei Kinder. Chef-Intellektueller einer PR-Agentur, parkt aber in Elternzeit. Trägt Trend-Taschen quer über der weichen Brust, fährt Kinderwagen mit Cord-Verdeck. Seine Partnerin hat Geld und das Sagen, er Hausarbeit und Kinder. Leidet still. Motto: Mann oder Frau ist auch egal. Hobby: Darwin widerlegen, den Rückwärtslauf der Evolution nachweisen. Frau: Ehrgeizige TV-Moderatorin, emotional limitiert.
 
Maik - der Familien-Mann
006
Mitte 40, strammes Ost-Kerlchen, verheiratet in zweiter Ehe, zwei Kinder, Reihenhaus im Vorort. Oberster Gestalter im größten Gartencenter der Stadt. Frau nervt, Schwiegereltern nerven und Spieleabende mit befreundeten Paaren noch mehr.Motto: Eines Tages bin ich weg. Hobbys: Indianer-Träume, geheimer Sex, im Auto sitzen. Frau: Berufsmutti mit physischer Expansionstendenz.
»Was auch immer ich getan habe,
was auch immer ich tun werde,
wo auch immer ich gewesen bin,
wo auch immer ich sein werde -
es ist Sünde.«
 
Pet Shop Boys

EINE TANKSTELLE IN BERLIN, MORGENS UM FÜNF UHR

007
Als Jochen sah, wie der Heini mit dem Cabrio fast den Schluffi mit dem Kinderwagen ummähte, da durchfuhr ihn dieser wunderbare Satz: »Die Tankstelle ist das Frauenhaus des Mannes« - brillanter Gedanke. Klar, Tankstellen waren die letzten Schutzräume einer aussterbenden Art, seitdem das Internet die Peepshows praktisch vernichtet hatte.
Jochen kritzelte die Worte in sein Notizbuch zu all den anderen Sätzen, die er dort bereits aufbewahrte. »Frauen sind gar nicht so schlimm« war bislang sein Liebling gewesen. Viele seiner Sätze drehten sich um Frauen, aber elegant provokant, nicht mit dem Holzhammer wie Mario Barth. Das Sätzesammeln war Teil seiner neuen Strategie. Das ewige Umschwänzeln von Frauen mit SMS oder Sushi hatte in der letzten Zeit kaum Erfolg gebracht. Seit ein paar Wochen versuchte er daher, Frauen einfach lässig zu ignorieren. Das machte ihn viel interessanter, jedenfalls ab dem Moment, da die Frauen es merken würden. Der Tag würde kommen. Ganz sicher. Denn aus all den brillanten Sätzen würde er eines Tages etwas Großes entwerfen, einen Roman oder erst mal einen Liedtext. Und alle Männer würden anerkennend raunen: Mann, der Jochen, der sagt, wie’s ist. Er würde nicht nur Teil einer neuen Männerbewegung sein, er würde sie anführen.
»Seit ein paar Wochen versuchte er daher, Frauen einfach lässig zu ignorieren. Das machte ihn viel interessanter, jedenfalls ab dem Moment, da die Frauen es merken würden.«
Mit seiner Musiksendung war Jochen auf dem besten Weg. Denn er hatte ein einzigartiges Konzept entwickelt: gute Jungs-Musik von früher und zwischendrin immer wieder so ein provozierender Frauen-Satz. Das war politisch unkorrekt. Deswegen würden die Hörer dranbleiben wie Süchtige. Sie brauchten den nächsten tückischen Satz, sie wollten schmunzeln, wiehern, auf jeden Fall zustimmend nicken. Frauenbeauftragte weltweit würden ausrasten. Aber die Männer wären auf seiner Seite.
Auf Twitter hatte die Sendung schon dreiundzwanzig Follower. Das war gut für den Anfang. Wenn jeder Follower nur einen weiteren Follower pro Woche animierte, war er in vierzehn Tagen schon fast bei hundert. Alle großen Geschäftsmodelle verbreiten sich heute schneeballartig, am Anfang langsam, aber dann rasend schnell.
Trotz des Ruhms würde Jochen weiter in seiner Techi-Bude wohnen, mit Bretti zusammen. Gemeinsam waren sie schon mehrfach ganz kurz vor dem Durchbruch gewesen, geschäftlich, bei Frauen, eigentlich überall. Jetzt endlich würde es so weit sein. Die Prominenz und die Werbeverträge würden ihm nichts anhaben, charakterlich. Er bereitete sich seit Jahren innerlich vor auf diesen Moment. Er würde weiter die Stehplatzkarte für Hertha kaufen, sich allerdings einen schnelleren Rechner zulegen. Er war es so satt, auch auf den pixeligsten Porno ewig warten zu müssen.
Und er würde sich einen Personal Coach leisten, der ihn fit machte. Brad Pitt sah nur so aus, weil er seinen eigenen Trainer hatte. Jochen nahm sich seit Jahren vor, Sport zu machen, erst mal was Leichtes wie Laufen. Er hatte sogar schon ein Buch mit Anweisungen gekauft. Aber er kam einfach nicht dazu. Immerhin hatte er schon von Spezi auf Cola Zero umgestellt, wenn auch ohne sichtbaren Erfolg. Selbst seine weitesten T-Shirts konnten die Fleischwurst nicht verbergen, die sich in Hüfthöhe um seinen Körper gelegt hatte. Dafür fühlte sich sein Speiseröhrenende von dem vielen Cola-Süßstoff jetzt an wie der Feudel in einer usbekischen Autobahntoilette, schlaff und schmutzig.
»Wir Männer sind in Gefahr. Das war die Kernbotschaft, sein Markenzeichen, das immer wieder penetriert werden musste.«
Den Job an der Tanke würde er jedenfalls behalten, auch wenn er die Kohle dann nicht mehr brauchte. »Das ist Volksnähe: Star-Moderator schuftet für Hungerlohn«, würde Bild auf Seite eins melden und ein unscharfes Handy-Foto zeigen. Jochen würde Bild dafür verklagen. Sein Job sei Privatsphäre, würden seine Anwälte argumentieren. Das war natürlich Marketing. Nach dem Streit mit Bild würden die Leute zur Tanke pilgern, um ihrem bescheidenen Lieblingsmoderator bei der Arbeit zuzuschauen. Jochen würde Außenlautsprecher anbringen. Und wer für über dreißig Euro tankte, bekam eine Autogrammkarte.
Eigentlich war Jochen fertig mit Bild. Das Mistblatt hatte seine Sendung nie angekündigt im Berlin-Teil, obwohl er eine geniale Pressemitteilung an die Redaktion geschickt hatte. »Beyond Cool - für Männer, die noch leben«, lautete die Überschrift. Das war ja wohl ein Knaller, gerade für eine Bauarbeiter-Zeitung. »Die noch leben« - das hieß ja: Einige waren schon tot. Und wer die Männer getötet hatte, war auch klar. Wir Männer sind in Gefahr. Das war die Kernbotschaft, sein Markenzeichen, das immer wieder penetriert werden musste.
»Man kann auch Kluges penetrieren« - noch so ein tückisch eleganter Spruch, der in seinem Buch stand. Seine Rache an den Frauen zeichnete sich durch gehobene Perfidie aus. In der nächsten Sendung würde er aber erst mal den Tankstellen-Satz fallen lassen, ganz nebenbei, als sprudelten solche Gedanken einfach aus ihm heraus. Die Hörer würden jubeln oder jaulen oder voller Andacht schweigen.
Beyond Cool war bereits mit der dritten Folge auf dem Weg zum Kult. »Du musst Männer zum Weinen bringen, erst recht morgens um drei«, hatte der Programmchef gesagt, einer, den sie beim richtigen Rundfunk frühpensioniert hatten und der jetzt ehrenamtlich beim Offenen Kanal arbeitete. Bretti kannte ihn noch von früher und hatte ein Gespräch eingefädelt.
Der Offene Kanal war nicht gerade das Quoten-Paradies, schon gar nicht morgens um drei mit einem Laienprediger als Vorlauf, der sich auf der Multikulti-Schiene ins Programm schlawienert hatte. Religiöse Minderheit geht immer. »Viele Minderheiten sind auch die Mehrheit«, hatte ihm der Programmchef die Philosophie erklärt. »Männer sind ja eine Minderheit«, hatte Jochen geantwortet. Sie hatten herzlich gelacht.
Jochens Sendeplatz war eigentlich der schwulen Community vorbehalten gewesen, aber es hatte sich gerade niemand gefunden, der schwules Radio machen wollte. Jochens Radio für Männer war ja thematisch auch nicht so weit weg. Und schon war Beyond Cool im Berliner Radio, wenn auch auf einer Frequenz, die sich noch nicht überall herumgesprochen hatte. Dennoch konnte Jochen sein Glück kaum fassen. So nah war er einem Traumjob noch nie gewesen: DJ mit Tiefgang. Er würde in der Liste der wichtigsten Berliner zum Aufsteiger des Jahres werden, weit vor Wowereit und nur knapp hinter Preetz.
Der Cabrio-Heini war ausgestiegen und debattierte mit dem Kinderwagen-Typen. Die Schuldfrage war eindeutig. Aber das würde ein Cabrio-Heini nie zugeben, schon gar nicht einer, der Cowboy-Stiefel trug. Der Kerl sah aus wie ein typischer Temposünder: weißes Hemd, einen Knopf zu weit offen, dunkelblaues Jackett, Jeans. Er war einfach zu schnell in die Einfahrt gebrettert. Morgens um fünf kommt schon keiner, hatte er gedacht, also mal eine Runde Roulette versuchen. Kam aber doch einer.
Der Kinderwagen-Typ schlurfte fast jeden Morgen um die Zeit hier entlang. Jochen erkannte ihn am Gang. Er trug diese merkwürdigen Gesundheitsschuhe, deren halbrunde Sohle aus einem Stück Autoreifen zu bestehen schien. Jochen hatte die Treter neulich in einem Schaufenster gesehen: Massai-Technologie, oder so ähnlich. Entwickelte ein afrikanischer Nomadenstamm seit Neuestem orthopädische Technologie? Natürlich nicht.
Vielmehr hatte sich ein Marketing-Lurch die Massai-Story ausgedacht. Perfektes Märchen für Kinderwagenschieber, die auf der ewigen Suche sind nach dem guten einfachen Leben und sich deswegen nicht gerolltes, sondern gefaltetes Klopapier bei Manufaktum bestellen, aus einem kleinen Klopapierfaltbetrieb im Thüringer Wald, dem letzten, der diese fast vergessene Handwerks-Tradition des Klopapierfaltens noch pflegte, natürlich in achter Generation in Familienhand.
Eine Tanke ist das Manufaktum des kernigen Kerls, der Inbegriff des guten, einfachen Lebens. Tank auf, Rüssel rein, Tank zu, Kasse, noch was Süßes, eine Zeitung - gut, klar, einfach, sogar für Massai-Schuhträger mit Biofimmel.
Der Kinderwagentyp winkte immer. Manchmal, wenn das Baby schlief, bog er ein, und sie redeten ein paar Worte. Er trug eine Honk-Brille, arbeitete für eine Agentur, war aber auf Elternzeit. Das Baby schlief nur, wenn es im Kinderwagen durch die Gegend gefahren wurde. Der Massai-Typ hatte alle Tricks versucht, den Kinderwagen in der Wohnung zu bewegen. Aber zu Hause brüllte das Kleine offenbar wie ein Stier. Und seine Frau sollte pennen, die schaffte jetzt das Geld ran. Also fuhr er das Kind im Morgengrauen quer durch die Stadt. Was würde er wohl geben, um auch mal wieder morgens um fünf mit einem Cabrio auf eine Tanke zu brettern? Jetzt stand er vor dem Cabrio-Heini, sah allerdings nicht sehr Furcht einflößend aus. Männer mit Kinderwagen besitzen vielleicht eine moralische Hoheit, aber sie verbreiten keine Angst, erst recht nicht in Massai-Schuhen. Die beiden brüllten sich nicht mal an. Vielmehr schien sich der Cabrio-Heini zu entschuldigen. Na klar. Jochen entdeckte zwei nackte Füße auf dem Armaturenbrett und ziemlich viel Bein. Schade, dass das Verdeck geschlossen war. Der Typ hatte sich offenbar noch Arbeit mit nach Hause genommen. Wenn er sich jetzt mit dem Kinderwagen-Typen anlegte, würde er alle Chancen verspielen. Baby-Väter standen unter Artenschutz.
Während die beiden debattierten, kam der Jogger herangetrabt. Er lief hier seit ein paar Wochen lang, manchmal kaufte er sich was zu trinken. Komischer Vogel. Guckte immer grimmig. Kein Wunder, wenn man um die Zeit durch die Gegend rennt. Schien aber jede Menge Kohle zu haben: edle Klamotten, sauteure Pulsuhr, Blackberry wie eine Dienstwaffe im Oberarmhalfter,die teuersten Clip-Kopfhörer. Der Jogger blickte kurz auf die Streithähne, kam dann auf die Kasse zu, blieb aber drei Meter vorher stehen und hackte plötzlich auf seinen Blackberry ein.
Der Cabrio-Heini reichte dem Kinderwagen-Typ die Hand. Gute Geste.
»Zwischen Kasse und Zapfsäulen verdichtete sich soeben eines der großen Dramen des dritten Jahrtausends: die Krise des Mannes.«
Zusammen mit dem besoffenen Bausparer, der in seinem grünen Geländewagen seit über einer Stunde vor der Waschanlage schlief, waren sie in diesem Moment fünf. Fünf Männer um fünf Uhr morgens auf einer Tankstelle. Fünf Schicksale. Fünf Einsamkeiten. Fünf Sorten Fürze. Die Braut und das Baby zählten nicht. Beide nur Dekor. Hier dominierte der Geruch von Bier, Schweiß und Frostschutz. »Die Tankstelle ist das Frauenhaus des Mannes« - der Satz wurde immer besser.
Zwischen Kasse und Zapfsäulen verdichtete sich soeben eines der großen Dramen des dritten Jahrtausends: die Krise des Mannes. Einer rannte vor seiner Frau weg, einer schob den Kinderwagen, weil seine Frau es ihm befahl, einer war so besoffen, dass er es nicht mal zu seiner Frau nach Hause schaffte, und einer würde jetzt noch den Affen machen, nur um eine Frau zum Sex zu bewegen. Nur er, Jochen, hatte bereits die nächste Stufe der Erkenntnis erreicht. Er hatte sich von Frauen so gut wie losgesagt. Frauen brauchten ihn nicht, dann brauchte er sie eben auch nicht.
Die moderne Frau ernährte sich ohnehin selbst, wusste den Akkuschrauber zu führen, ließ in Reagenzgläsern befruchten und delegierte die Kinder hinterher einfach weg. Der Mann war nur mehr da, um herumkommandiert zu werden, falls er nicht den Vorschriften gehorchte, die Frauen ihm machten. Zu Recht hatten die Emanzen beklagt, dass vorwiegend Männer in den letzten Jahrtausenden die Regeln bestimmt hatten. Jetzt bestimmten Frauen. Und sehnten sich gleichzeitig nach echten Kerlen. Aber die durften weder riechen, schreien und erst recht keine Widerworte geben. Bei Bedarf mussten sie ein Stück schwellkörperhaltiges Fleisch hinhalten. Und manchmal nicht mal das. Was blieb, war die männliche Identitätskrise: Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Was soll das alles?
»Die moderne Frau ernährte sich ohnehin selbst, wusste den Akkuschrauber zu führen, ließ in Reagenzgläsern befruchten und delegierte die Kinder hinterher einfach weg.«
Jochen hatte sich für den Guerillakampf im Piratensender entschieden, der Cabrio-Heini für das klassische Auslaufmodell, der Kinderwagen-Typ für den Rollentausch. Der Jogger hatte wahrscheinlich eine zickige blonde Zuckerpuppe zu Hause, der besoffene Bausparer einen Hausdrachen mit Kontrollmanie. Sie alle wollten ihr eigenes Leben zurückerobern, und wenn es nur für ein paar Minuten am Grill war, wenn mal keine matschigen Zucchini-Scheiben auf beölter Folie lagen. Fünf Männer, eine Mission: Sie starteten gemeinsam in einen neuen Tag, in dem sie sich vielleicht mal nicht verlieren würden.
Jochen spürte der Erhabenheit dieses Moments nach, den die anderen vier wahrscheinlich gar nicht empfanden, der besoffene Bausparer schon gar nicht. Wie es der Zufall wollte, der in erhabenen Momenten immer gnädig ist, lief der perfekte Soundtrack. Jochen starrte auf seinen iPod, der in der kleinen Abspielanlage steckte. Er war überzeugt, dass dieses Gerät über einen geheimen Stimmungssensor verfügte. Der iPod wusste fast immer, welcher Titel gerade gefragt war. Musik war eigentlich verboten im Kassenbereich.Aber Pink Floyd war ja keine Musik, sondern Gottesdienst. »Wish You were here« konnte man durchlaufen lassen, immer wieder. Welche Platte kann man denn heute hören, ohne das ewige Gedrehe und Gespringe. Außerdem war Pink Floyd der perfekte Kundentest. Kerle, die anerkennend nickten oder den Titel sogar kannten, die waren fast immer okay. Denen könnte er eigentlich gleich einen Flyer in die Hand drücken, besser noch eine Visitenkarte, auf teurem Karton:
BEYOND COOL.
DIENSTAG AUF 97,5 FM.
UM DREI UHR MORGENS.
FÜR MÄNNER, DIE NOCH LEBEN.
MIT JOCHEN HEINE.
Mehr nicht. Wie geil war das denn. Würde er gleich nach der Schicht zu Hause am Rechner fertig machen.
Der Cabrio-Heini kam zur Kasse, dahinter fummelte der Jogger immer noch an seinem Blackberry herum. Der Vater beugte sich über den Kinderwagen. Offenbar war das Baby wach geworden. Er winkte kurz und schuckelte los. Auf dem Rückweg würde er bestimmt noch mal reinschauen.
»Fünf Männer, eine Mission: Sie starteten gemeinsam in einen neuen Tag, in dem sie sich vielleicht mal nicht verlieren würden.«
Der Cabrio-Heini stand jetzt vor der Scheibe. Seine Haare sahen eine Spur zu ölig aus, so als ob er eine dringend nötige Wäsche mit viel Gel noch einmal notdürftig hinausgezögert hätte. Typischer Disco-Trottel. Wahrscheinlich schon lange auf der Pirsch. Er hatte gar nicht getankt. Jede Wette: Er würde keine Reaktion zeigen bei Pink Floyd. Mal abgesehen davon, dass das Geklirre am Anfang von »Welcome to the machine« sowieso nur für Experten zu identifizieren war.
Jochen drückte die Lippen fest auf das kalte Metall. Das Drahtgeflecht schmeckte nach Nikotin und alter Spucke, die nicht seine war. Egal. Jeder gute Radiomoderator wusste: Das Mikrofon muss wie eine große Kugel Eis zwischen den Lippen sitzen. Keine Hemmung, voller Kontakt. Jochen holte tief Luft und konzentrierte sich auf seinen Rachen. Eine perfekte Stimme entstand immer im Rachen.
Jochen blickte kurz auf und taxierte den Cabrio-Heini. Die Sonnenbrille im Haar sah auch ziemlich affig aus, erst recht morgens um fünf. Er trug verdrogte Pupillen, dafür aber ziemlich dichtes Haar. Jochen achtete auf die Haare anderer, schon seit der Schulzeit, als seine Geheimratsecken begannen, immer weiter zusammenzuwachsen. An Koffein-Shampoo glaubte er nicht so recht, hatte sich aber trotzdem eine Flasche gekauft. Vielleicht half Doping für die Haare ja doch. Der Cabrio-Heini nahm überhaupt kein Shampoo, sondern seit Jahren nur Gel. Vielleicht waren die Haare deswegen noch so dicht. Er klebte sie einfach fest.
Jochen holte Luft und zwang sich zu einer Pause, die sehr viel Mut erforderte, aber unglaublich wirkungsvoll war, weil sie das Gegenüber zur Konzentration zwang. Jochen hatte viel Übung auf diese Kunstpause verwendet, die seine Stimme richtig zur Geltung brachte. Er sehnte den Moment herbei, wenn ein Kunde stutzte, ihn lange taxierte und dann fragte: »Ihre Stimme kenne ich doch irgendwoher? Ja, klar, aus dem Radio: Beyond Cool. Starke Sendung, absoluter Kult. Habe ich gestern erst weitergetwittert.«
Jochen hatte seine Reaktion bereits geplant: Er würde Richtung Horizont gucken, als plane er bereits die nächste Ausgabe von Beyond Cool. Dann würde er leise »Danke« sagen und total bescheiden fragen: »Darf’s noch was sein?«
Der Cabrio-Heini guckte unwirsch. »Moin«, sagte Jochen schließlich, was er cooler fand als Hi oder Guten Morgen. »Was darf’s denn sein?« Los, Du Idiot, flehte Jochen innerlich. Sag es! Sag’s schon! Der Cabrio-Heini stutzte. »Welcome to the machine«, stellte er dann fest: »Super. Die ganze Platte ist super. Kannste so durchlaufen lassen. Immer wieder.« Jochen wusste nicht recht, ob er sich freuen sollte. Erstens hatte er mit seiner Prognose falsch gelegen, dass der Cabrio-Heini die Musik nicht beachten würde. Zweitens hatte der Kerl seine Stimme nicht erkannt. Und drittens hatte er ziemlich genau das gesagt, was er vor wenigen Minuten gedacht hatte: Kann man so durchlaufen lassen.
Jochen wollte nicht so sein wie der Cabrio-Heini. - Aber: Wahrscheinlich dachten alle Männer weitgehendsynchron.
»Wahrscheinlich dachten alle Männer weitgehend synchron. Es war nur noch keinem aufgefallen, weil sich alle für wahnsinnig individuell hielten.«
Es war nur noch keinem aufgefallen, weil sich alle für wahnsinnig individuell hielten. Das musste man gleich testen, dachte Jochen: Der Cabrio-Heini kaufte bestimmt Schampus, um die Braut geschmeidig zu machen.
»Was habt Ihr an Schampus da?«
Volltreffer.
»Rotkäppchen, Henkel, Freixenet und Moët«, antwortete Jochen. Früher hatte er immer »Mööt« gesagt, weil er das witzig fand. Aber in Wirklichkeit zeugte es von Blödheit. Also:
»Mo-ee«.
»Was kostet der Moët
»Achtundvierzigneunundneunzig.«
008
Ach Du Schreck, dachte Lars. Viel zu teuer für komatösen Sex im Morgengrauen mit schlechtem Geschmack im Mund. Er rechnete nach. Hatte er überhaupt noch den Fuffi im Portemonnaie? Im Zweifelsfall nicht. Die Nacht war mal wieder unendlich teuer gewesen, und er hatte den Überblick über die Finanzen verloren. Tanja hatte im Wechsel Goldkrone auf Eis und Wodka/Redbull getrunken. Jede Runde kam auf knapp zwanzig Euro, obgleich er sich mit Bier begnügt hatte. Wenn überhaupt, dann steckte noch etwas Wechselgeld in seiner Hosentasche.
Warum zum Teufel hatte er überhaupt solange an Tanja herumgequatscht? Er hatte um elf einen wichtigen Kundentermin, also gleich. Anstatt ein paar Stunden zu schlafen, hatte er sich Tanja aufgehalst. Sie waren vor zwei, drei Jahren schon mal miteinander im Bett gelandet. Lars konnte sich an nichts mehr erinnern. Konnte wohl nicht so doll gewesen sein. Tanja machte ohnehin keinen sonderlich erregten Eindruck, eher geschäftsmäßig.
Und für schlechten Sex und keinen Schlaf sollte er jetzt einen Fuffi investieren, den er vermutlich gar nicht mehr hatte. Er würde fast schlafen, sie ruckelte lustlos immer weiter, und der teure Schampus würde schal und warm. Das Geld könnte er besser im Strandkorb in den Spielautomaten werfen. Da würden vielleicht drei Sonnen kommen.
Ich schmeiß’ die Braut an der U-Bahn raus und leg’ mich hin, dachte Lars. Andererseits konnte er eine schnelle, schmutzige Entspannung gut gebrauchen, bevor er in einen Tag startete, von dem er wusste, dass er beschissen werden würde. Wie sollte er das halbe Jahr bis zur Full Moon Party jemals durchstehen?
»Gib mir drei Dosen Redbull und’ne kleine Goldkrone«, sagte er zu dem Tankstellen-Kassierer, der immerhin Pink Floyd laufen hatte.
009
Jochen ging erst zum Spirituosenregal, dann zum Kühlschrank. Sehr vernünftig, dachte er. Im schlimmsten Fall wird eine halbe Dose Redbull schal. Kann man dann ja immer noch zum Frühstück trinken.
»Einundzwanzigsiebzig.«
»Und’ne Packung Airwaves, die roten.« Nur nicht Stinke-Knutschen.
»Zweiundzwanzigneunzig. Tüte?«
Der Cabrio-Typ fischte zerknitterte Scheine und ein paar Münzen aus der Hosentasche.
»Nee, danke. Stimmt so. Coole Mucke, echt.«
Jochen zog die Schublade heran, der Cabrio-Typ kehrte zurück zu den Füßen, die immer noch auf dem Armaturenbrett ruhten.
Er hatte dreiundzwanzig Euro in die Blechkiste gelegt. »Danke«, sagte Jochen. Zehn Cent Trinkgeld. War das nun eine Beleidigung? Der Dank für Pink Floyd? Großkotzigkeit? Ein Statement gegen die Geizgesellschaft? Oder einfach nur der Unwille, Tonnen kleiner fast wertloser Metallstücke herumzuschleppen?
Jochen fischte ein blankes Zehn-Cent-Stück aus der Kasse. Diese Münze konnte verdammt kränkend sein, aber auch von historischer Bedeutung. Es hing davon ab, ob er sich dem Cabrio-Heini unterwarf und hündisch »Danke« sagte, ob er auf Konfrontationskurs ging, schwieg und »Arschgeige« dachte, oder ob er den Ball als Steilpass begreifen, aufs Tor rennen und einlochen sollte.
Das war der dritte Weg, der Weg der Männer-Solidarität. Männer begriffen sich zu wenig als Team. Der erste Reflex, wenn zwei sich trafen, lautete fast immer: Krieg oder Kapitulation. Zeige ich dem anderen sofort meine unheimlich großen harten Cojones? Oder lege ich mich ergeben auf den Rücken? Jochen entschied sich für den dritten Weg. Das Trinkgeld von dem Cabrio-Heini könnte der magische Zehner sein, mit dem alles beginnen würde, so wie der heilige Kreuzer von Dagobert Duck.
Eigentlich hasste Jochen alle Cabrio-Heinis, andererseits hatte dieser hier offenbar Ahnung von Musik. Sie beide gehörten zum gleichen Musikstamm. Brüder im Sound. Neben Fußballvereinen und Biermarken war die Musik das dritte große Differenzierungsmerkmal der Gattung Mann. Außerdem war der Cabrio-Heini Kernzielgruppe für »Beyond Cool«. Er war spät noch wach. Ein Mann, der noch lebte, was er der Dame mit den nackten Füßen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit gleich noch beweisen würde.
Jochen spürte Neid aufsteigen. Er war schon lange nicht mehr morgens um fünf mit einer Frau nach Hause gekommen. Eigentlich noch nie. Deswegen hatte er ja auf die Provokations-Strategie umgestellt.
»Das war der dritte Weg, der Weg der Männer-Solidarität. Männer begriffen sich zu wenig als Team. Der erste Reflex, wenn zwei sich trafen, lautete fast immer: Krieg oder Kapitulation.«
Nur mal angenommen, er würde sich jetzt einen eisgekühlten Moët aus dem Lager holen, die Tanke abschließen, Flasche schwenkend zum Cabrio schlendern und die beiden ganz freundlich fragen, ob er mitkommen und mitmachen dürfe. Oder einfach nur zugucken. Was würden die beiden wohl sagen? Was könnte er verlieren außer den blöden Job an der Tanke? Was aber würde er im Gegenzug gewinnen, wenn sie ihn tatsächlich auf den Notsitz bitten würden?
Jochen überlegte, welche Unterhose er heute trug. Oh! Boxer-Shorts mit Fred Feuerstein. Ein Versehen. Nur, weil alle anderen absolut nicht mehr tragbar und daher in der Wäsche waren. Eines Tages würde er garantiert fragen. Wenn er eine bessere Unterhose trug. Das Cabrio brauste davon.
Der Jogger hatte aufgehört, auf seinen Blackberry einzuhämmern. Was zum Teufel war so wichtig, dass man es morgens um fünf mitteilen musste? Der Jogger schwitzte nicht. Er trug Verachtungsgesicht. Klare Sache, er hielt Tankstellen-Nachtschichtler für Versager.
Jochen nahm sich vor, auf Cojones-Modus umzustellen. Nix Bruder. Er drückte die Lippen fest auf das kalte Metall. Das Drahtgeflecht schmeckte nach Nikotin und alter Spucke. Egal. Jochen konzentrierte sich auf seinen Rachen und zwang sich zu einer besonders langen Pause. Der Jogger guckte unwirsch. »Naa«, sagte Jochen mit Radiostimme, »schon die ersten Aktien gekauft?«
010
Attila verabscheute Tankstellen zutiefst. Tankstellen waren die Vorstufe zum Männerwohnheim. Der Anteil verkrachter Existenzen lag hier weit über dem Berliner Durchschnitt, und der war schon hoch.
Attila wäre gern wieder in München, weit weg von dieser Hartz-IV-Hauptstadt. Aber wenn er Chef bei Wesley werden wollte, musste er beweisen, was er draufhatte. Seine Vorgänger waren in Berlin gescheitert. Nun war es an ihm aufzuräumen in diesem Saustall, mindestens zwei, drei Jahre lang. Er würde seinen Job als Partner perfekt erledigen, so wie alle Jobs.
Fast alle Jobs. Mit seinem Marathon-Training war er deutlich im Verzug. Er hatte keine Lust, zwei Stunden durch den Übeldunst der erwachenden Großstadt zu traben. Disziplin, Attila, ermahnte er sich. Er musste sein inneres Team wieder auf Kurs bringen. Jetzt sofort.
Berlin war ein unglaublicher Motivationskiller. Disziplin, Ausdauer, Erfolg waren nicht gefragt in dieser Stadt, wo überall Luschen herumhingen, Kreaturen wie dieser fette Tankstellen-Trottel, der in sein albernes Mikrofon sabberte. Attila wurde schon beim Gedanken an all die Keime schlecht, die in dem Mikro-Gitter wohnten. Aber diese Penner, die hier Nachtschichten schoben, waren wohl unverwüstlich wie Kakerlaken, auch wenn sie nicht mal den Edelweiß-Express auf einem Volksfest in Sachsen-Anhalt ansagen könnten.
Immerhin: Der Kerl arbeitete wenigstens, noch jedenfalls. In zehn Jahren würde diese Tanke vollautomatisiert sein und das dämliche Gequatsche auch aufhören. Was ging den Kerl denn an, was Attila gerade in seinen Blackberry getippt hatte? Aktien kaufen? Wo war denn da der Hebel? Anfänger.
Attila versuchte sich zu erinnern, wo er die Musik gehört hatte, die der Tankstellen-Wicht da laufen hatte. War was Älteres auf jeden Fall. Klang nicht schlecht. Sollte er fragen? Niemals. Es gab nichts Uncooleres, als nach Musik zu fragen. Andererseits: Ein guter Chef blamiert sich jeden Tag, aber nur ein Mal. Sollte er seine heutige Blamier-Option jetzt schon ziehen? Das würde seine Spielräume für diesen Tag ziemlich einengen, was aber nicht weiter schlimm war, da er heute ohnehin nicht ins Büro ging. Er hatte seinen D-Day, den Durchcheck-Tag - Pflicht für alle Führungskräfte, einmal im Jahr.
Attila fühlte sich topfit, auch wenn das Marathon-Training ihn eher schlauchte als erfrischte. Morgens um kurz vor fünf raus, zwei Stunden Pace machen und dann ab ins Office, das war ein harter Start in den Tag. Kurz vor zehn bekam er immer Heißhunger und gleich darauf eine Tiefschlafattacke. Ausgerechnet um zehn Uhr, wenn die Videokonferenz mit München startete.
Neulich hatte ihn die Bindinger beim Gähnen erwischt. »Na, hat Berlin jetzt nicht mal mehr Sauerstoff?«, hatte die alte Hexe gegurrt. Die ganze Runde von Schleimern und Hosenscheißern hatte gewiehert. Aber er hatte sofort gekontert und gefragt: »Was macht eigentlich Leipzig?« Schlagartig erstarb das Gelächter. Volltreffer. Leipzig war Bindingers Schwachstelle. Dort ging gar nichts. Und allein sie war dafür verantwortlich.
Karen Bindinger gehörte zu jener Sorte Frauen, die unangreifbar waren: exzellente Bildung, zwei Kinder, schnurgerade Karrierelinie, top Figur, na ja, nicht ganz top, die kleinen Beulen unterhalb des Hüftknochens würden sich über die Jahre zu zwei imposanten Satteltaschen auswachsen. Und die Oberarme lappten auch schon ganz schön. Die Bindinger wusste das.
Deswegen lief sie, ziemlich viel und ziemlich schnell, den Halbmarathon knapp unter hundert Minuten. Sie sah verdammt gut aus in den engen Laufklamotten, durchgehend schwarz natürlich, vor allem wenn sie schwitzte, nicht in stinkigen Pfützen, sondern eher feintropfig, als perle Champagner von ihr ab. Aber an einen ganzen Marathon hatte sich diese tolle Frau bislang noch nicht gewagt. Marathon, das war ihr zweites Leipzig. Und seine Chance. Wenn er weniger als zweihundert Minuten brauchte, würde Bindingers Halbmarathon-Mythos zerplatzen.
Mythen waren das Großartigste, aber auch das Schlimmste in einer Firma, dieses ewige halbwahre Geraune, das sich mit der Zeit in Realität verwandelte. Erst neulich hatte Attila »Die Macht der Mythen« gelesen, ein wirklich kluges Buch. These: Jede Hierarchie wurde durch die Mythen bestimmt, die einen Menschen umgaben. Mythos, das war mehr als Image, tiefer, stabiler. Es gab den Caligula-Mythos, den Herkules-Mythos, den Atlas-Mythos, den Cäsar-Mythos. Er würde den Attila-Mythos hinzufügen.
Jeder war in der Lage, seinen eigenen Mythos zu gestalten, behauptete das Buch, und zwar schneller als Julius Cäsar. Der hatte sich ganz schön Zeit gelassen, erst mal musste er die halbe Welt erobern, jede Menge Paläste, Tempel und Statuen in Auftrag geben, seine Mitstreiter beschenken und sich vor allem von seinem eigenen Sohn meucheln lassen - ein relativ aufwendiger Weg zum Dasein als Halbgott.
Als Mann zum Mythos zu werden war auch in unserer Zeit noch ziemlich anspruchsvoll. Früher gab es heroische Taten, heute nur Karikaturen wie Boxer oder Luca Toni. Aber wo war ein echtes Vorbild, einer, der was in der Birne hatte, nicht schwul war, weder Proll noch Poser noch Weichei? Peter Kloeppel vielleicht.
Es gab allerdings eine Abkürzung, eine Art Mythen-Turbo. Man musste Symbole schaffen, mythologische Akte, gleichsam Rituale vollziehen, über die auf jedem Flur getuschelt wurde. »Das ist doch der Typ, der den Marathon schneller läuft als die Bindinger den halben …« - das war der Text, den er im ewigen Flurfunk von Wesley zu platzieren gedachte.
Diese Mythos-Korrektur war dringend nötig. Attila hatte lange über seinen eigenen Ruf nachgedacht und war zu dem Ergebnis gekommen, dass er etwas zu eindimensional wahrgenommen wurde. Er war als Chef gefürchtet, weil er das Maximum aus seinen Leuten herausprügelte. Wer ihm nicht bedingungslos folgte, der flog. Wer am Wochenende nicht ans Handy ging, flog. Wer zweimal unter seinen Vorgaben blieb, flog.
Erst der Kunde, aber vorher noch der Chef, so lautete seine Parole. Wer ihm folgte, so wie Jaspers und Röttger, wurde großzügig belohnt. Alle anderen wurden bestraft, immer hart, manchmal ungerecht. Ihn umgab der Mythos der Gnadenlosigkeit.
Leider war nicht nur bei Kunden, sondern auch bei Wesley selbst seit Neuestem der Wert »Empathie« groß im Kommen, menschliche Wärme und derlei Tralala. Attila musste seinem Profil also schleunigst eine soziale Komponente hinzufügen, die aber nicht weicheiig aussehen durfte, Kultur und Kunst waren gut. Oder eben Sport, aber mit anderen gemeinsam. Er hatte sich entschieden, seinen Schwerpunkt aufs Laufen zu legen. Eine Image-Analyse aus Großbritannien hatte ergeben, dass Läufer durch alle gesellschaftlichen Schichten und Altersklassen akzeptiert waren, Marathon-Läufer sogar respektiert. Und vierzigtausend Starter beim Berlin-Marathon, das war ja wohl genug gemeinsam mit anderen.
Natürlich würde diese Empathie-Phase vorübergehen. Angst war seit Menschengedenken der beste Motor und würde es immer bleiben. Kuschelpädagogik mochte im Dritte-Welt-Laden funktionieren, aber nicht in einer Strategieberatung, die ein klares Ziel hatte: die Nummer eins zu werden in Deutschland. Dafür brauchte er Winner. Und keine sanftäugigen Schwachköpfe.
»Wir bei Wesley haben die höchsten Ansprüche, die es in unserer Branche gibt«, das war sein stets gleicher Auftaktsatz im Kündigungsgespräch, und meistens nickten die Delinquenten, weil sie glaubten, sie könnten diese Ansprüche erfüllen. Von wegen. Noch während sie nickten, schlug er ihnen das Henkersbeil ins Genick. »Leider genügen Sie diesen Ansprüchen in keinster Weise.«
Attila liebte diesen Moment, wenn ihn der Gordon-Gekko-Flash durchfuhr.Allmacht. »When You’renot inside, You’re outside« - ein großartiger Satz. O-Ton Gekko.
Der Delinquent brauchte einen Moment, um überhaupt zu kapieren, was los war. Manche schluckten, andere erstarrten, einige verloren den Kampf gegen die Tränen. Gut so. Jede Träne nahm er als Einzahlung auf sein Mythen-Konto. Attila griff sich dann meist ein Stück Papier von seinem Schreibtisch und versenkte sich darin. Der Delinquent verstand, erhob sich wortlos und ging.
»Jede Träne nahm er als Einzahlung auf sein Mythen-Konto.«
Nur die Bindinger war vor vier Jahren einfach sitzen geblieben. Sie hatte kühl um Erläuterung der Gründe gebeten. Dann hatte sie erklärt, dass sie demnächst eine Stelle in der Zentrale in München antreten werde. Das hatte sie hinter Attilas Rücken eingefädelt. Bitch. In nur vier Jahren war sie zum Senior Partner aufgestiegen. Erst hatte sie ihn ausgebremst, dann überholt, und jetzt demonstrierte sie kalt ihre Macht, zum Beispiel in den Videokonferenzen jeden Morgen. Sie war die einzige Frau. Die Männer in der Runde lachten über jeden ihrer Scherze, aus Angst vor ihr. Der Bindinger-Mythos war Furcht erregend: Kleopatra. Katharina die Große. Angela Merkel. Und die Kerle so verunsichert, dass sie albern kicherten. Nur mit Leipzig und beim Marathon war die Bindinger zu kriegen. Ihrem Mythos vom schnellen gnadenlosen Aufstieg würde er Ausdauer entgegensetzen, Beharrlichkeit, Disziplin. Sie würde eines Tages einen Fehler machen oder einfach gehen.
Wenn eine Frau so schnell so gerade Karriere macht, dann war da was faul. Hochgebumst hatte sie sich allerdings nicht, das hätte er erfahren. Aber sie gab allen Männern das Gefühl, dass es theoretisch möglich wäre. Manche ihrer Röcke hatten exakt diese edelnuttige Länge, die man eigentlich nicht mehr durchgehen lassen konnte, waren aber gerade noch zu lang, um ihr Billigkeit vorwerfen zu können. Die Bindinger war wie Carla Bruni: außen Bambi, innen Stalin-Orgel. Aber Attila wusste: Sie war die Pappel, zu schnell gewachsen, um großen Stürmen zu trotzen. Eines Tages würde sie einfach umfallen.
Seit er den Visualisierungskurs gemacht hatte, versuchte er, in Bildern zu denken und zu sprechen. Verständlichkeit war einer der wesentlichen Schlüssel zum Erfolg. Das hatten mehrere amerikanische Studien ergeben, die sein Executive Newsletter ausdauernd zitierte. Back to basic. Weibliches Schwanken gegen männliche Stabilität, das war gut. Attila, die nachhaltige Marathon-Eiche, die im Sturm noch wächst statt knickt.
Aus Mythosgründen hatte er eben schon eine Mail an Jaspers geschrieben: »Bitte call vor 10h-mtg«. Jaspers würde, wenn er um halb sieben seinen Blackberry anmachte, auf die Sendezeit starren und staunen: »Mann, der Attila, schon um fünf die ersten Mails. Wahrscheinlich läuft er schon.« Jaspers vertrat ihn heute morgen im Meeting; und er musste ihn noch briefen, wie er mit der Bindinger umzugehen hätte, auch wenn die Führungskräfte an ihrem D-Day dazu angehalten waren, sich nicht um die Arbeit zu kümmern: keine Anwesenheit, keine Projektarbeit, keine Anrufe, keine Mails. Aber Attila wusste, dass Jaspers seiner Sekretärin von der frühen Mail erzählen würde. Damit wäre die Info rum im Haus, und er hätte einen Felsbrocken mehr in seiner Nachhaltigkeitsmauer ruhen. Die Mauer war ein gutes Bild, fast so gut wie die Eiche. Nachhaltigkeit, das musste der Kern seines Mythos’ werden. Alles, was er tat, musste nachhaltig sein, selbst das Feuern. »Nachhaltigkeit« hatte »Innovation« abgelöst, als Leitbegriff, der die nächsten Jahre jede Debatte dominieren würde, das hatten mehrere Umfragen unter Führungskräften ergeben.
Wer vorne bleiben wollte, musste einen empathischen Nachhaltigkeits-Mythos um sich herum aufbauen. Dazu gehörte leider auch eine Familie. Lange hatte Attila sich dagegen gesträubt, weil er Kinder ziemlich lästig fand. Doch inzwischen war klar, dass Kinder Bedingung waren für einen Posten an der Spitze des Landes: Frauen, Türken, Schwule, Alleinstehende, die durften überall mitspielen. Nur ganz oben nicht. Im Olymp regiert der deutsche Familienvater. Für diese Erkenntnis brauchte man keine Umfragen. Nun musste Camille nur noch schwanger werden. Auch deswegen ging er heute zum Arzt. Vielleicht lag es ja doch an ihm. Obwohl: Das konnte gar nicht sein. Er brauchte nur zwei, drei Gläser Rotwein, vielleicht noch ein paar Porno-Splitter aus dem Internet, dann gingen seine Phantasien mit ihm durch und er kam, meistens. Garantiert war Camille das Problem.
»Einmal Arizona Green Tea und die FTD«, sagte Attila.
Der Tankstellen-Tumb guckte verständnislos. »Was war das zweite?«
»Financial Times Deutschland«, erklärte Attila im Tonfall eines Sonderschullehrers.
»Zeitungen sind noch nicht da; kommen erst um sechs«, sagte der Tankstellen-Trottel, »nur die von gestern.« Attila dachte nach, getreu jenem Options-Modell, das er seit ein paar Jahren mit großem Erfolg anwandte. Die Strategie: Jede Entscheidung immer auf zwei klare Wege reduzieren und möglichst noch visualisieren. Dann spontan den Bauch entscheiden lassen.
Option eins: Mit der Zeitung von gestern auf eine Bank im Park setzen, ausgiebig lesen, etwas dösen, dann eine halbe Stunde richtig schnell laufen und einigermaßen fertig nach Hause kommen, wo Camille ihm hoffentlich schon sein Eiweiß-Omelett bereitet hatte.
Option zwei: Stöpsel ins Ohr und laufen, zwei Stunden lang. Das Hörbuch »Berlin Alexanderplatz« lief bestimmt noch zwei Stunden. Und Attila brauchte Berlin-Nachhilfe. Wenn er bei Kunden eingeladen war, musste er halbwegs kluge Bemerkungen zur Stadt machen. Sicherheit in historischen Fragen war absolute Pflicht für einen Partner bei Wesley. Die paar Hörbücher von Alfred Kerr waren leider vergriffen. Also »Berlin Alexanderplatz«. Kannte er noch aus dem Fernsehen von früher. Franz Biebermann, oder so ähnlich. Biebermann und die Brandstifter. War das witzig? Attila hatte keinerlei Gespür für Kulturwitze. Auch so ein Problem.
In Berlin war Kultur extrem wichtig. Klar, wo keine Wirtschaft war, die echtes Geld verdiente, floh man in Nebentätigkeiten, die moralisch unangreifbar waren: Kultur eben, oder Soziales. Dagegen konnte man nichts sagen. Attila würde diesen ganzen Kulturfuzzis und Charity Ladies in dieser Stadt gern mal Beine machen: privatisieren, skalieren, sanieren. Einfach mal durchkärchern, wie Sarkozy.
Aber in diesem schwarzen Subventionsloch Berlin war jede Modernisierung unerwünscht. Hier regierte der rote Mob. Deswegen sah die Stadt auch immer noch aus wie bei »Berlin Alexanderplatz«. Attila verachtete diese Kleine-Leute-Romantik. Am Ende blieb immer nur richtig, dass er mit seinen Steuern die ganzen Hänger mitbezahlte.
Zu allem Elend las auch noch Ben Becker das Hörbuch. Attila mochte Ben Becker nicht: diese alberne Halbstarken-Attitüde, das Verdrogte, die Bibel-Brüllerei, die ganze Selbstherrlichkeit, die dieser Fremdtextaufsager um sich herumwolken ließ. Andererseits: Ben Becker las gut. Irgendwas blieb immer hängen, vor allem, wenn er die neue Gedächtnis-Technik anwendete, von der er am Wochenende gelesen hatte. Wie war das noch? Man musste Worte in Bilder übersetzen und aus den Bildern einen Film zusammensetzen, der aber bestimmten Regeln folgen musste. Welchen, das hatte Attila vergessen.
Jedenfalls würde er nach zwei Stunden Dauerlauf ausgesprochen stolz nach Hause kommen und mit großer Genugtuung die Trainingsdaten in den Rechner laden. Erstens Berlin-Nachhilfe, zweitens nach Plan trainiert und drittens gute Laune - mehr war in zwei Stunden nicht möglich. Ökonomisch gesehen musste er also laufen. Professor Schneider heute Abend würde auch beeindruckt sein. Abgemacht, sagte Attila zu seinem inneren Team: Wir laufen. »Dann nur den grünen Tee«, sagte Attila.
»Zweineunzig bitte.«
Attila hatte drei Euro-Münzen und einen Fünf-Euro-Schein in der kleinen Tasche in seiner Laufhose. Glück gehabt. Er konnte die Münzen loswerden, die beim Laufen ohnehin nur klirrten, und den Schein behalten. Nur die zehn Cent störten. Er würde die Münze vergessen und wieder mit in die Waschmaschine befördern. Eine kaputte Waschmaschine nur wegen zehn Cent?
»Rapper oder Kicker, das waren einträgliche Berufe.«
Attila legte die drei Euro in den Blechkasten: »Stimmt so.« »Danke«, sagte der Tankstellen-Trottel. Wahrscheinlich bekam er höchstens alle zehn Wochen mal ein paar Cent Trinkgeld. So sah er auch aus, in seinem albernen Kapuzen-Shirt mit der Graffiti-Aufschrift, die man nicht lesen konnte. Anarcho-Folklore. Selber schuld. In diesem Land konnte nun wirklich jeder Stoffel reich und berühmt werden. Vielleicht nicht gerade bei Wesley. Aber es gab ja noch tausend andere Möglichkeiten, selbst fürs Prekariat: Rapper oder Kicker, das waren einträgliche Berufe. Man musste nur dranbleiben, mutig, ausdauernd, nachhaltig eben. Attila startete seine Pulsuhr und trabte los. In einer Stunde und zwei Minuten durfte er wenden. Negative Split, das war eine schlaue Trainingstechnik: hin in zweiundsechzig Minuten, zurück in achtundfünfzig, obwohl die Beine schon schwer waren. Das schulte die Leidensfähigkeit.
Trabend suchte Attila im Display das Hörbuch und klickte die Kopfhörer auf die Ohren. Je mehr man zu tun hatte während des Laufens, desto weniger nervte es. Attila bog auf die lange Gerade Richtung Park. In der Ferne erspähte er diesen Kinderwagen-Heini, den er schon an der Tankstelle gesehen hatte. Es gab nichts Entwürdigenderes, als mit so einem albernen Wagen morgens um fünf durch die Stadt zu schieben, erst recht mit einem kotbraunen Cord-Verdeck. Wahrscheinlich bevorzugte die dazugehörige Frau den Neo-Trümmerfrauen-Look mit Kittelschürze von Gucci. Camille war zum Glück ganz anders. Sie wusste, was es bedeutete, den angehenden Chef von Wesley zu repräsentieren. Jetzt musste sie nur noch schwanger werden. Es war alles vorbereitet: Er hatte sie geheiratet, und die Wohnung bot locker Platz für ein Kinderzimmer. Sobald tatsächlich so ein Schreihals bei ihnen einzöge, würde er allerdings auf einem eigenen Schlafzimmer bestehen, am besten schallgeschützt. Camille würde verstehen, dass er seinen Schlaf brauchte, gerade jetzt, wo es im Berliner Büro um alles ging. Am Wochenende würde er das Kind natürlich nehmen, so richtig lange auf den Arm, vor allem, wenn sie eingeladen waren. Väter mit Babys punkten einfach sagenhaft. Da würde sich die Bindinger aber umgucken mit ihren wohlstandsverwahrlosten Pubertätspickeln. Attila hob die Hand zu einem solidarischen Gruß, als er den Kinderwagenfahrer überholte.
011
Martin erschrak, als der Jogger überholte. Warum hatte dieser Mann die Hand gehoben? Ach ja, der Typ von der Tankstelle. Er versuchte, diese harten Kerle nicht zu bewundern, die ihr Sportprogramm sklavisch durchzogen. Eigentlich sollte er auch Sport machen. Fand Dorothea jedenfalls. Martin glaubte an die Macht des Gedankens und an seine Brille. Die war Markenzeichen genug. Ein übertriebener Körperkult konnte das Privileg der Unterschicht bleiben.
Dorothea ging dreimal die Woche ins Fitnessstudio. Wollte sie plötzlich einen Muskelmann zum Gatten? Das konnte ja wohl nicht sein. Dorothea war nicht so. Sie war stolz auf ihren exklusiven Kerl mit der geschmackvoll-gewagten Retro-Brille, der ganz anders war als die anderen Männer, viel nachdenklicher und auch nachhaltiger irgendwie, ein moderner Mann, der sich um die Kinder kümmerte, dem seine Karriere nicht so wichtig war, der zu leben verstand, der heute Abend gemeinsam mit dem Miet-Koch ein formidables Vier-Gänge-Menü zaubern würde, wenn Dorotheas Chef aus dem Sender zum Essen kam.
Martin hatte schon im Studium beschlossen, jede Art von zielloser Bewegung prollig zu finden. Intellektuelle schwitzen nicht. Sport war die billigste Art, sich Anerkennung zu verschaffen. Martin las lieber. Er sprach leise und bedächtig. So zwang man seine Zuhörer zur Konzentration.
Martin hatte sich über Jahre einen Ruf als wandelnder Zitatenschatz mit angeschlossener Nachdenklichkeitsabteilung erworben. Damit war er konkurrenzlos in der Agentur und in ihrem Freundeskreis. Er hatte seinen USP gefunden. Laufen, golfen, segeln konnte jeder. Aber wer konnte Sloterdijk zitieren? Martin. Dass ausgerechnet Sloterdijk jetzt auch dem Sport huldigte, machte ihn allerdings etwas ratlos. Das war philosophischer Verrat.
So weit wäre es nie gekommen, hätte Sloterdijk diesen Jogger gesehen in seinen engen Hosen. Martin fand Männer in Strumpfhosen peinlich. Nicht mal Robin Hood konnte die Dinger mit Anstand tragen. Vorne sah man genau, wie der Träger bestückt war, ob er sein Teil wie ein neurotischer Köter zwischen die Beine klemmte oder angeberisch wie ein Kreuzberger Kiez-Lümmel Richtung Nabel legte. Platt nach oben an den Bauch gepresst sahen Schwänze aus, als habe der Läufer eine schlecht gerupfte Wachtel in der Hose stecken. Martin wurde schlecht bei zu vielen physischen Details. Mit seinem Penis hatte er sich nie richtig angefreundet. Außerdem sah man unter Läufer-Leggings genau, welche Sorte Unterhose im Einsatz war. Der Jogger, der vor ihm immer kleiner wurde, hatte entweder einen String getragen oder gar nichts. Martin schüttelte sich.
»Zu viel Körper-Information war eine Spielart des Proll-Terrors.«
Noch schlimmer als die Unterhose war der Übergang von Hose zu Bein. Bei Frauen mit leicht gebräunter, sorgfältig rasierter und vor allem straffer Beinhaut sahen diese Laufstrumpfhosen ja ganz scharf aus. Männer dagegen mit weißen Beinen, schwarzen Haaren und ins Quarkige spielendem Bindegewebe sollten unbedingt die gute, alte Jogginghose aus Baumwolle tragen, gern auch in Grau, mit Schweißrändern. Wie Rocky - ehrlich und diskret. Zu viel Körper-Information war eine Spielart des Proll-Terrors.
Martin blickte auf die Uhr und drehte. Um sechs Uhr wollte er wieder zu Hause sein. Vielleicht würde er ein Honigbrötchen schaffen und einen Blick ins Feuilleton, bevor Dorothea aufwachte. Martin liebte Rocky. Wenn er Sloterdijk zitierte und gleich darauf Rocky, dann staunten immer alle. Rocky hätte niemals Strumpfhosen getragen oder über Epilation nachgedacht. Sloterdijk schon eher. Rocky boxte mit freiem Oberkörper und offenem Brusthaar. Solange Sportler edle Wilde waren, hatten sie ein zuverlässiges archaisches Ästhetikempfinden.
Heute machten sich alle so nackt wie möglich. Radfahrer, Schwimmer, Boxer, alle rasierten sich von Kopf bis Fuß. Martin hatte sich noch keine abschließende Meinung zum Rasierwahn gebildet, der angeblich schon Teenager erfasste. Sollte er sich empören und Kulturwissenschaftler zum Exhibitionismustrieb zitieren? »Wir epilieren uns zu Tode« - war das ein gesellschaftlich relevanter Ansatz? Andererseits: Was war die ästhetische Alternative? Fell?
In der Uni hatte er eine Freundin gehabt, Silke, die einen braunen Riesenbusch getragen hatte; Afrokugel im Schritt. Pausenlos hatte er Drahthaare im Mund gehabt. Manchmal hatte er geglaubt, Tierchen im Dickicht zu erkennen. Das mochte allerdings auch an diesem Teufelsgras gelegen haben, das Silke regelmäßig aus Holland mitgebracht hatte. Egal. Das Thema Epilation würde beim monatlichen Brainstorming in der Agentur jedenfalls bestimmt bald dran sein. Es stand ja schon im Spiegel.
Martin war in Elternzeit. Aber das Brainstorming durfte er nicht verpassen. Heute Vormittag würde er ganz unauffällig mal in der Agentur anrufen, um herauszufinden, ob am Nachmittag wie gewohnt gebrainstormed würde. Die Chefs waren immer dabei. Dort wurden die Plätze auf dem Pavianfelsen verteilt. Wer saß oben in der Agentur-Hierarchie, wer fegte unten die Erdnussschalen zusammen? Martin konnte jedes Mal punkten, mit seinen bedächtigen Sätzen. Diesmal würde er vielleicht Vlusser zitieren. Er hatte da schon mal was angestrichen. Oder Jarvis. Aber den kannten schon zu viele. Hatte Jarvis jemals was zum Zusammenhang von Social Media und Körperrasur gesagt?
Martin blickte in den Kinderwagen. Norbert schlief. Martin war immer noch nicht sicher, ob »Norbert« wirklich eine gute Namenswahl gewesen war. Aber Dorothea hatte darauf bestanden. Unter ihren Freunden herrschte ein unerbittlicher Style Battle. Alle bekamen Kinder. Und alle wollten exklusive Vornamen. Ziel war es nicht, dem Kind ein schönes Leben mit seinem Namen zu bereiten, sondern die Originalität der Eltern nachzuweisen. Altdeutsche Namen (Otto, Karl, Hans) waren ebenso verbraucht wie alttestamentarische (Leon, Jakob, Hezekiel), niedliche (Max, Tim, Michel) und geschlechtslose (Luca, Noah oder Josh). Blieben nur die völlig indiskutablen von früher: Jürgen, Heinz, Uwe und eben Norbert. »Damit sind wir die Ersten«, hatte Dorothea gesagt, »so hat noch keiner sein Kind genannt.« Vielleicht bleiben wir auch die Einzigen, hatte Martin gedacht. Aber er widersprach Dorothea nicht. Sie musste zwei von drei Debatten gewinnen, vor allem die wichtigen. Das befahl ihr weibliches Selbstverständnis. Dorothea sah sich als Powerfrau. Und sie fand, dass eine Powerperson pro Beziehung reichte. Martin hatte sich daran gewöhnt nachzugeben. Dorothea war der Chef; sie war die Reichere, Prominentere, Schönere und Ehrgeizigere. Aber er war der Klügere. Ihre oberflächlichen und seine inneren Qualitäten ergaben ein Gleichgewicht der Abschreckung.
In letzter Zeit funktionierte das Prinzip allerdings nicht mehr so gut. Je seltener sie miteinander schliefen, desto mehr genoss Dorothea es offenbar, ihn persönlich anzugreifen. Sie meckerte über seine Klamotten, seine Lebensmitteleinkäufe, seinen Umgang mit Norbert und zunehmend auch über seinen Körper. »Du siehst aber ganz schön schlaff aus«, hatte sie neulich gesagt, als er den Bauch eingezogen und sich nach dem Ausziehen vor dem Spiegel im Halbdunkel des Schlafzimmers gedreht hatte. Er war davon ausgegangen, dass sie schon schlief, so wie fast jeden Abend. Beleidigt hatte er geschwiegen. Und Dorothea hatte sich einfach umgedreht. Gut möglich, dass Männer in Elternzeit ein wenig von ihrer sexuellen Strahlkraft verloren. Arbeitende Frauen allerdings auch. Seit Dorothea sich die Haare abgeschnitten hatte und im Fitnessstudio verstärkt an ihren Oberarmen arbeitete, waren sie von hinten wahrscheinlich kaum mehr eindeutig als Mann und Frau zu identifizieren. Dorothea trug ihre Kombat-Hose, er die Einkaufstüten - da kam es bestimmt zu Verwechslungen.
»Verloren Männer in Elternzeit ein wenig von ihrer sexuellen Strahlkraft?«
Er freute sich auf die Tankstelle, die bereits in Sichtweite war. Jeder Besuch dort war ein stiller Akt der Rebellion. Dorothea würde ausrasten, wenn sie wüsste, dass er das Baby den Benzindämpfen aussetzte (Krebs!), dass er sich einen Schokoriegel kaufte (Diabetes!!) und mit dem Mann an der Kasse redete (sozialer Abstieg!!!). Martin schätzte das kurze, meist sinnfreie Gespräch mit dem Vertreter einer anderen Kaste. Es ging nicht um Inhalte, sondern um das gemeinsame Gefühl, nicht allein zu sein. Sie beide hatten eine harte Nacht hinter sich, der eine an der Tanke, der andere mit Norbert. Und sie hatten es wieder geschafft. Helden des Alltags.
Als Martin an der Waschanlage vorbeischob, fiel ihm der verstrubbelte Typ im Geländewagen auf. Er saß einfach nur auf dem Fahrersitz und starrte reglos durch die Frontscheibe. Er sah fertig aus. Auch ein Held des Alltags.
012
Maik spürte seinen Puls rasen. Der Herzschlag hämmerte Salven in seine Ohren. Panik. Ulrike hatte bestimmt schon ein Dutzend SMS auf sein Handy gefeuert. Aber wo war das Handy? Er hatte seine Taschen dreimal durchsucht. Er hatte unter dem Sitz gewühlt, in der Tür, in allen Ablagen.
Was war überhaupt geschehen? In seinen Adern lieferten sich Adrenalin und Alkohol ein dramatisches Gefecht. Erinnerungsfetzen trieben durch sein Hirn. War er wirklich in dieser Thai-Bar gewesen? Oder hatte er einen feuchten, trunkenen Traum gehabt?
Erstmal die Fakten: Es war halb sechs und er nicht zu Hause. Ulrike würde ihn ermorden. Er würde nicht mal eine Chance bekommen, sich zu erklären. Wo war das verfluchte Handy? Immerhin trug er sein Portemonnaie noch bei sich. Kreditkarte, Ausweis, EC-Karte, alles da. Hatte Lehmann bezahlt? Oder hatte Maik seine Hertha-BSC-Kreditkarte gezückt, auf die er so stolz war? Er erinnerte sich nicht.
Vielleicht sollte er einfach nach Hause fahren und behaupten, er sei überfallen und ausgeraubt worden. Dazu müsste er allerdings sein Portemonnaie wegwerfen. Um dann die ganzen Ausweise und Karten wieder zu besorgen.
Maik schloss die Augen. Er hatte Angst vor Ulrike. Was sollten die Kinder sagen, wenn ihr Vater wie ein Heckenpenner zur Tür hineinstolperte und stank? Nur Mitleid konnte ihn retten.
Maik rang nach Luft. Er mühte sich um logische Gedanken. Er würde jetzt erstens zur Tanke gehen und den Kassenmann um ein Telefonat bitten. Er würde zweitens Ulrike anrufen und ihr die Überfallgeschichte auftischen. Er würde drittens den Kassenmann fragen, ob er sein Portemonnaie im Tankstellenmüll finden könnte, gegen ein großzügiges Trinkgeld natürlich. Und er würde viertens einen Doppelzentner Pfefferminz lutschen, um den obszönen Dunst zu überlagern, der ihn umgab.
Was fehlte, war eine möglichst glaubhafte Schilderung des Überfalls. Ulrike würde nach Wunden fahnden. Er brauchte eine Beule, am besten mit Blut. Unsinn, die Diebe hatten ihn betäubt. Warum aber war er nicht zur Polizei gegangen? Klar, der Schock. Aber um eine Anzeige kam er trotzdem nicht herum. Wo war der Überfall überhaupt geschehen? In dem kleinen Park, als er gerade zum Auto gehen und nach Hause fahren wollte.
War die Story glaubhaft? Wo waren die Schwächen? Lehmann war die Schwäche. Er hatte Maik in der Hand. Er konnte alles auffliegen lassen.
Maik starrte durch die Frontscheibe. Es war alles zu viel. Und nur, weil dieser Idiot Lehmann ihn in den Betriebsrat quatschen wollte. »Maik, wir brauchen Männer wie dich«, hatte er gesagt. Quatsch. Niemand brauchte Männer wie Maik, schon gar nicht in diesem Zustand. Höchstens Ulrike, zum Rumkommandieren.
Wie entwürdigend. Sie hatten die Vertretung von Arbeitnehmerrechten in einem Etablissement verhandelt, das Illegale ohne Arbeitsverträge beschäftigte. Ehrlicherweise musste man allerdings feststellen, dass sie in dem Thai-Laden schon lange nicht mehr über den Betriebsrat geredet hatten, sondern über Frauen, und zwar ziemlich eindimensional.
Lehmann schien öfter in dieser Bar zu verkehren. Irgendwann war er jedenfalls verschwunden. Und Maik allein mit drei lächelnden Schönheiten, die immer neue Schirmchengetränke bestellten. Was wohl auf seiner Kreditkarte ausgewiesen sein würde? Mit der Diebstahlgeschichte könnte er womöglich auch eine verräterische Abrechnung erklären. Klar, der Dieb war einfach mit seiner Karte losgezogen.
Maik atmete tief ein und aus, zwanzig Mal. Fast wäreer dabei wieder eingeschlafen. Er wagte es nicht, in den Spiegel zu schauen. Er würde jetzt aussteigen, den Mann an der Kasse ins Vertrauen ziehen, bei Ulrike anrufen und sich irgendwo ganz heftig den Kopf stoßen. Aber erst, wenn der Typ mit dem Kinderwagen verschwunden war. Maik hatte Angst.

6 UHR

013
Kurz bevor der Geländewagen-Fahrer mit der Bierfahne in sein reihenzerhaustes Ghetto am Stadtrand verschwunden war, hatte er Jochen die entscheidende Nummer aufgeschrieben, unter der die große Show starten sollte. Jochen war aufgeregt. Er fühlte sich als Verschwörer in einem geheimen Jungs-gegen-die-Mädchen-Komplott. Erkonnte einen Bruder vor seinem grausamen Schicksal bewahren, wenn er jetzt keinen Fehler machte. Ehrensache.
Die Lage war komplex. Der Typ war letzte Nacht in einem zwielichtigen Thai-Schuppen versackt und hatte das ganze Programm absolviert: einmal Pattaya mit alles. Jochen stand nicht unbedingt auf asiatische Frauen, die zur Hälfte ja ohnehin Transen waren. Aber einen Blick hätte er ja gern mal in diesen Laden geworfen, eher aus gesellschaftspolitischem Interesse natürlich.
Wie ein Puffgänger hatte der Typ gar nicht ausgesehen. Obwohl: Tag für Tag bezahlte eine Million deutscher Männer für Sex, hatte Jochen gelesen, nur am Wochenende waren es weniger. Da war Mutti an der Reihe.
Jochen rechnete: Vierzig Millionen männliche Wesen gab es in Deutschland. Alles bis zur Volljährigkeit schied aus, alles über sechzig auch, blieb vielleicht noch gut die Hälfte, sagen wir fünfundzwanzig Millionen. Wenn täglich eine Million Männer Sex für Geld hat, aber nicht jeden Tag die gleichen, sondern, schon aus Kostengründen, jeder nur einmal werktäglich, dann gönnten sich pro Woche fünf Millionen eine professionelle Entspannung - also jeder fünfte deutsche Mann zwischen achtzehn und sechzig, jedenfalls statistisch gesehen. Hoppala.
Jochen las zwar seit Jahren die kleinen, versauten Anzeigen in der B. Z., bewunderte die Kreativität der Texter und malte sich aus, wie er eine »Dreilochstute« wohl ohne Bänderdehnung befriedigen könnte. Flatrate-Bumsen war offenbar der neue Hit. Jochen hätte schon ein einziges Mal gereicht. Er war noch nie bei einer Hure gewesen, auch wenn er schon mehrmals ernsthaft darüber nachgedacht hatte. Wahrscheinlich sah er trotzdem wie ein Flatrate-Popper aus. Das Leben ist scheiße ungerecht, dachte Jochen.
Andererseits war er auch ganz froh, dass er nicht in der Klemme steckte wie dieser Thai-Puff-Typ, der sich vorgestellt hatte mit: »Ich bin der Maik, mit ›a‹ und ›i‹.« Jochen unterdrückte ein Grinsen. »Maik mit ›a‹ und ›i‹« war außer Trabi und auberginefarbenen Haaren das sicherste Indiz für eine Ost-Biografie. Immerhin eine ehrliche Haut. Maik wollte seiner Frau keine halbgare Geschichte auftischen, wo er denn die ganze Nacht wohl zugebracht habe. Er zitterte ziemlich glaubwürdig. Also bastelten sie ein Alibi. Und Jochens Anruf würde der Schlüssel sein. Jochen fühlte sich geehrt, dass man ihm in einer derart heiklen Mission vertraute. In seiner Not hatte sich Maik eine Räuberpistole ausgedacht, die er soeben seiner Frau an Jochens Handy erzählt hatte: überwältigt, betäubt, ausgeraubt, liegen gelassen, aufgewacht, bei einem Passanten das Handy geliehen, für eben diesen Anruf jetzt bei seiner Frau. Jochen hörte gebannt zu, wie überzeugend Maik die Story vortrug. Es klang so, als ob die Gattin seine Geschichte tatsächlich fraß. Yes, Bruder, dachte Jochen und reckte innerlich den Daumen.
Nun folgte sein Part: Jochen sollte bei Maiks Frau anrufen und behaupten, er habe das Portemonnaie von Maik gefunden, bei seiner Kontrollrunde kurz vor Schichtende. Angeblich hatten es die Diebe ausgeräumt und ins Gebüsch bei Luft/Wasser geworfen.
Maik hatte das Bargeld aus seinem Portemonnaie genommen, Jochen einen Fuffi in die Hand gedrückt und den Rest in seine Hosentasche gestopft. »Würden Diebe nicht auch die Kreditkarte mitnehmen?«, wandte Jochen ein. Maik überlegte. Stimmte ja, die Abrechnung. Er zog die Kreditkarte heraus und zerschnipselte sie mit der Schere, die ihm Jochen reichte. Es tat weh, die Hertha-Karte eigenhändig zu zerstören. »Das muss genügen«, sagte er, »will mir den ganzen Kram ja nicht neu besorgen müssen.«
Maik gab Jochen die Hand, coole Version, mit Daumengriff. Jochen fühlte sich großartig. Er hatte einen Freund gewonnen. Vertrauen herrschte, ohne viele Worte. So machen Männer Geschichte.
014
Lars stand unter der Dusche und seifte bereits zum dritten Mal lustlos an sich herum. Eine Klubnacht hinterließ einen Schmierfilm auf der Haut, aus Schweiß, Nikotin, Rasierwasser und Dreck. Einmal Einseifen reichte da nicht.
Kaum hatte er die Wohnung aufgeschlossen, hatte sich Tanja auf sein Ledersofa fallen lassen. Ihr Rock war so weit hochgerutscht, dass er gar nicht mehr viel hätte herumfummeln müssen. Ihre Beine waren eigentlich ganz hübsch, die Haut allerdings deutlich zu transparent. Zwanzig Jahre Klubnächte gingen auch am stählernsten Körper nicht spurlos vorbei.
Bei Tanja waren es die Beine. Wie durch eine fahle Folie schimmerten ihre Adern als blaues Geflecht, so als ob sie kurz vor dem Erfrieren wäre. Es sah aus, als ob sie Netzstrümpfe trug, mit sehr unregelmäßigem Muster allerdings. Lars überlegte, ob es Google Maps eines Tages auch für Frauenkörper geben würde. Wenn er zum Beispiel unauffällig Tanjas Schenkel schon im Klub mit dem Handy fotografiert hätte, würde ihm Google für neunundneunzig Cent umgehend melden: »Tanja Schuster, neununddreißig Jahre, ledig, zweihundertsechsunddreißig verschiedene Sexualpartner, manche bis zu einer Dauer von vier Monaten, dennoch keine ernsteren ansteckenden Krankheiten, bevorzugt Madonna, Goldkrone/Prosecco auf Eis und Doggy Style hart. Bleibt nicht zum Frühstück, ruft nicht wieder an, unkompliziertes Handling.« Das wäre mal eine geldwerte Information, die ihm das Leben wirklich leichter machen würde.
Lars hatte höllische Angst vor diesen Drama-Queens, die nur wegen ein bisschen Sex auf einmal mit Liebe kamen und noch auf der Treppe, dreißig Sekunden, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, schon die erste SMS absetzten: »Es war einzigartig mit Dir. Würde Dich total gern wiedersehen, auch länger.« So begannen Dramen. Früher hatte Lars auf solche SMS zurückhaltend geantwortet, um die Braut erstmal wieder herunterzukühlen. Inzwischen antwortete er gar nicht mehr.
Das Problem war ja nicht, dass es zu wenige Frauen gab auf der Welt, sondern eindeutig zu viele, die sehr oft und sehr dringend und sehr unkompliziert einfach nur eine Nummer brauchten, gern auch eine schnelle. Kam es dann allerdings wirklich dazu, vollführten nahezu alle einen radikalen Bewusstseinswandel:
Am Ende wollten sie doch Liebe, oder ein Nest, zwei kräftige Arme, die sie hielten, eine starke Schulter zum Anlehnen - der übliche Kleinanzeigentext eben. Am schlimmsten waren die Enddreißigerinnen, die festgestellt hatten, dass man im Nachtleben nicht in Würde altern konnte. Plötzlich wollten selbst die härtesten Disco-Mäuse Kinder und Endreihenhaus mit Salzteigtürschild. Nichts war eben peinlicher als Frührentnerinnen, die ihr welkes Fleisch auf der Tanzfläche flattern ließen.
»Am Ende wollten sie doch Liebe, oder ein Nest, zwei kräftige Arme, die sie hielten, eine starke Schulter zum Anlehnen - der übliche Kleinanzeigentext eben.«
Lars dagegen wollte Triumphe. Wenn Sofas sprechen könnten, dann hätte seins eine Menge zu erzählen. Wie viele Frauenhintern hatten ihre Abdrücke wohl schon in dem Leder hinterlassen? Wie oft hatte er am Morgen danach mit dem Küchenlappen und zwei Tropfen Spüli den getrockneten Schlorz vom Leder gewischt. Er betrachtete es seit jeher als gutes Karma, den Küchenlappen noch eine Weile weiterzubenutzen.
Lars rechnete: Er besaß das Sofa seit ungefähr fünf Jahren, das machte selbst zurückhaltend gerechnet mindestens hundertfünfzig Übungseinheiten. Jahrelang hatte sich Lars eingebildet, es ginge ihm bei der Turnerei um Sex. Stimmte aber gar nicht. Die ewige goldene Regel lautete: Von zehn Frauen konnte man vier vergessen, drei zur Not noch mal wiedertreffen, zwei waren halbwegs okay, aber nur eine war die geile, wunderbar lockere, fröhliche Supersau. Diese Regel galt für jede willkürlich zusammengestellte Zehnerreihe, ob auf dem Kirchentag, der Love Parade, beim Lauftreff oder im Einwohnermeldeamt.
Es wäre nun allerdings hochgradig dämlich, zehn Abende, Nächte und vor allem Morgen zu investieren für einen einzigen guten Fick. Die anderen neun waren aber dennoch wichtig, zur Überprüfung, dass alles noch stimmte, dass der Erfolg zuverlässig kam.
Es ging nicht um Sex, sondern um Kerben im Colt, wie bei einem Desperado. Was zählte, war allein die Zahl der Umgelegten. Während der Desperado allerdings das Hirn aus dem Schädel des Gegners spritzen sehen musste, reichte Lars der Moment, da die Dame sich aufs Sofa goss. Da wusste er bereits, dass er gewonnen hatte. Alles war möglich, prima, er musste gar nicht mehr abdrücken.
Meistens wollte er auch gar nicht. Wie oft war er schon drauf und dran gewesen zu sagen: »So, meine Liebe, das war’s für heute. War wirklich ein schöner Abend mit dir. Aber ich leg’ mich jetzt pennen. Kannst gern hierbleiben, auf dem Sofa. Hier ist das Bettzeug. Schlaf schön.«
Aber körperlicher Einsatz war nun mal der Preis. Die Frau wollte keinen Killer, der sich damit zufrieden gab, wenn sich sein Gegner in den Staub warf und winselte. Sie wollte zur Strecke gebracht werden. Und hinterher Liebe.
Lars hoffte insgeheim, dass Tanja eingeschlafen war, wenn er aus der Dusche zurückkommen würde. Er hatte ihr viel Wodka und wenig Redbull ins Glas gefüllt und außerdem noch einen Joint gerollt. Eine solche Dröhnung wirkte fast immer. Er würde ihr eine Decke überwerfen und sich leise in sein Bett verziehen. Zumal Tanja es abgelehnt hatte, sich auch unter die Dusche zu begeben.
Lars wurde übel bei dem Gedanken, dass ihm gleich noch zehn Stunden Piste ins Gesicht gedrückt werden würden. Wenn Frauenklos auch nur annähernd so eklig waren wie Männerklos, und daran gab es keinen Zweifel, dann würde er einen giftigen Cocktail probieren müssen, entweder als Geruchsbombe oder als Geschmackssprengsatz über den Gaumen. Sowieso ein Wunder, dass ihm nicht alle vier Wochen blumenkohlgroße Ekzeme auf den Lippen oder sonstwo sprossen. Er sollte sich mal in der Uni-Klinik melden, als medizinisches Wunder. Vielleicht war er immun gegen Infektionen aller Art, so wie bestimmte Affenarten.
Lars dreht die Dusche ab und lauschte. Er hörte die Musik, aber nichts von Tanja. Der Tankstellenfuzzi hatte ihn auf die Idee gebracht, »Wish You were here« aufzulegen - Spitzen-Mucke, konnte man so durchlaufen lassen. Eigentlich viel zu gut für Tanja. Sie hatte das Gesicht verzogen, als sie die ersten Takte hörte. Konsequenterweise hätte man sie genau in diesem Moment bereits an die Luft setzen müssen. Hundeschule für Frauen, das wär’s mal. Tanja hatte keine Ahnung von Musik, wie die meisten Frauen. Sie glaubte an die Charts und die Brabbelexperten aus dem Radio, die wiederum nur nacherzählten, was sie in britischen Fachzeitschriften-Blogs gelesen hatten.
Lars fuhr sich eilig mit der Zahnbürste durch den Mund und schlang sich ein Badetuch um die Hüften, nachdem er sorgfältig geprüft hatte, ob es auch wirklich durchgängig weiß war. Nichts war peinlicher als ein Handtuch mit roten, braunen oder gelben Flecken. Von Ei bis Haarcoloration war alles denkbar, auch Schlimmeres.
Tanja lag zusammengerollt auf dem Sofa und schnarchte leise. Ein dünner Sabberfaden rann aus ihrem Mundwinkel auf sein Sofa. Leder war doch eine feine Sache. Einmal mit dem Küchenlappen drüber, und fertig. Bei Cord dagegen hätte er sich jetzt echte Sorgen machen müssen, ob die toxische Spucke nicht vielleicht helle Flecken im dunklen Stoff hinterlassen würde.
Lars schickte ein stilles Dankesgebet zum Himmel, warf Tanja seine geliebte Fernsehdecke aus echtem Kamelhaar über, ein Erbstück von seiner Mutter, und schlich sich ins Schlafzimmer. Er stellte den Wecker auf halb neun, warf einen sehnsüchtigen Bick auf das Panoramabild von Ko Phanghan und verfluchte sich ein weiteres Mal, weil er immer noch keine Vorhänge hatte. Tageslicht nervte ihn, eigentlich schon sein Leben lang.
015
Attila hatte das verdammte Hörbuch nach we-nigen Minuten abgedreht. Das manierierte Geschwätz von diesem Ben Becker machte ihn aggressiv. Der Typ tat so, als habe er mindestens fünf Jahre russischer Gefangenschaft durchgemacht. Attila hatte nun wirklich nichts gegen Attitüden. Aber sie mussten einigermaßen glaubhaft sein.
Jetzt lief das Electric Light Orchestra. ELO - Musik von früher. Attila war textsicher. Er sang jede einzelne Zeile mit, um sich zu beweisen, dass seine Fehlerquote bei null Komma null lag. »It’s a little thing, it’s a terrible thing to lose.« Herrje, der Refrain machte gar keinen Sinn. »Livin’ Thing« hieß das Stück natürlich. »Oh, moving in line when you look back in time to your first day, I’m shakin’, I’m shakin’«, verdammt, nein: »I’m taken, I’m taken«.
Zwei textliche Unsicherheiten in einem textarmen Stück, von dem er dachte, dass er es noch auf dem Sterbebett fehlerfrei würde singen können. Wie peinlich. Man darf sich nie sicher sein, in gar nichts. Höchste Wachsamkeit, erst recht bei sich selbst. Der kleinste Patzer konnte der letzte sein, vor allem, wenn man sich zu sicher fühlte. Die Gefahr lauerte immer und überall und dort am unerbittlichsten, wo man nicht damit rechnete.
Die Bindinger würde jede Schwäche unerbittlich ausnutzen. Es herrschte Krieg. Und Kriege gewann nicht der, der tolle Siege errang, sondern der, der weniger Fehler machte. Fehler ließen sich reduzieren, mit Disziplin und Akribie und mathematischer Kühle. Erst dann, ganz am Ende, kam Genialität hinzu, bei den letzten fünf oder sieben Prozent vielleicht. Wenn alles andere stimmte, dann kam man gut auch ohne Genialität zurecht, vor allem in Deutschland: Angela Merkel, Wolfgang Joop, Thomas Gottschalk, Heidi Klum, Jan Hofer - sie alle waren akribische Pflichterfüller, die vor allem Fehler reduziert hatten.
Wer in Deutschland Star sein wollte, musste nur eines begriffen haben: Am Ende war das Leben nicht mehr als eine Excel-Tabelle, die sich aus einem festen Repertoire von Variablen zusammensetzte. Es gab einerseits Pflicht-Variablen wie die Bereitschaft, sich zu jedem Scheiß zu äußern, der konsequente Verzicht auf alle historischen Bezüge und das Lob der deutschen Mutter. Andererseits waren da die Kür-Variablen, zum Beispiel die Garderobe, das Maß an Schlüpfrigkeit oder die Reklame-Hurerei. Diese Variablen ließen sich wie in einer Excel-Tabelle mit mathematischer Präzision gegeneinander verschieben, bis eine nahezu perfekte Performance entstanden war.
Ob im Show-Geschäft, in der Wirtschaft oder im öffentlichen Nahverkehr - Erfolg war immer skalierbar.Was nicht skalierbar war, war wiederum nichts wert. Selbst Gefühle waren messbar in ihrer Auswirkung auf das Geschäftsergebnis. Wenn zum Beispiel gute Laune einen nachweislichen Einfluss auf den Umsatz hatte, dann war gute Laune eben ein Erfolgsfaktor.
Attila hatte festgestellt, dass er in den letzten Jahren zu wenig Wert auf gute Laune gelegt hatte. Auch deswegen hatte er mit der Lauferei angefangen: Waden stählen, Glückshormone her, ein bisschen Ruhe und Natur, Anerkennung allenthalben und Ausdauer obendrein. Zähigkeit war ein weiterer, ganz entscheidender Erfolgsfaktor, fest verankert im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Wer Marathon oder Triathlon als Hobby angab, bekam deutlich bessere Noten bei deutschen Personalchefs, hatte eine Studie festgestellt, aber nur, sofern die Zeiten stimmten. Marathon unter drei Stunden, das war das Signal, dass einer nichts anderes mehr im Kopf hatte als Laufen. Autisten aber waren für ein Unternehmen eher Gefahr als Bereicherung, außerhalb des Controllings jedenfalls.
Marathon über vier Stunden wiederum bewies, dass derjenige sich nicht wirklich quälen konnte, einfach nur zum Spaß gelaufen war und die halbe Strecke wahrscheinlich gewalkt. Peinlich für ein Unternehmen, erst recht, wenn es sich um eine Führungskraft handelte, und noch viel mehr, wenn sich Filmchen vom walkenden CEO eines Tages auf Youtube wiederfanden.
Ideal war ein Marathon in dreieinhalb Stunden - ambitioniert, aber nicht verbissen, durchaus Sport, aber nicht bis zum Crash der letzten Muskelfaser. Die ideale Führungskraftzeit.
Attila hatte sich exakt drei Stunden, neunzehn Minuten und siebenundzwanzig Sekunden vorgenommen. Diese Zeit würde der Bindinger lebenslang im Nacken sitzen, wie die Krallen eines Greifvogels; die würde sie nie mehr loswerden. Sie würde davon träumen, jede Nacht, in blutigem Schweiß gebadet. Sie würde ihn verfluchen. Aber das würde ihn nur stärker machen.
Das Problem dabei: Er musste vier Minuten und fünfundvierzig Sekunden auf den Kilometer laufen, zweiundvierzigmal hintereinander. Trotz eines knappen halben Jahres Training, angeleitet von einem Personal Coach, war Attila noch ein grausam weites Stück entfernt von seiner Traumzeit. Er hatte inzwischen eingesehen, dass man Laufleistung nicht erzwingen, sondern nur kontinuierlich aufbauen konnte.
Die Regeln des Laufens standen im fundamentalen Gegensatz zu den Gesetzen in seinem Job. Als Berater musste er den Unternehmen immer die Story vom langfristig geplanten nachhaltigen Aufbau erzählen, in Wirklichkeit aber sehr schnell Resultate bringen. Das ging am Ende immer nur mit hektischem Personalabbau, den man mehr oder weniger kunstvoll rechtfertigen musste, am besten mit ein paar zusammengenagelten Studien zur Effektivität von Abläufen. Ab einer bestimmten Fremdwortdichte kam ohnehin kein Praktiker mehr mit.
Beim Laufen war es genau umgekehrt: Da wurde immer die gleiche Story vom schnellen Glück erzählt, aber in Wirklichkeit handelte es sich um einen langwierigen Prozess, der sich weder mit Zaubertricks noch mit Studien wesentlich abkürzen ließ. Das Rezept lautete: Training, Training, Training, am besten außerhalb des Wohlfühlkorridors. Attila war fasziniert von der Anmut schonungsloser Ehrlichkeit, die dem Laufen innewohnte. Marathon-Training, das war eine sehr lange Zen-Meditation, die Hunderte von Coaching-Stunden ersetzte.
Attila schaute auf seine GPS-Uhr. Er war noch nicht mal eine Dreiviertelstunde unterwegs, hatte alle verfügbaren Gedanken bereits durchdacht, aber doch erst knapp über acht Kilometer absolviert. Machte ungefähr fünf Minuten auf den Kilometer. Und er hatte jetzt schon keine Lust mehr.Acht Läufer waren ihm bislang entgegengekommen. Faszinierend, wie viele Menschen mitten in der Nacht aufstanden, um ihr Trainingsprogramm zu absolvieren. Attila war fest überzeugt gewesen, der einzige disziplinierte Mensch in dieser Hauptstadt der Nutzlosigkeit zu sein, der so früh so schnell rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Selbstkritisch stellte Attila fest, dass selbst ein Teufel mit Arthrose, doppeltem Kreuzbandriss und Walking-Stöcken ihn locker einholen würde.
Obwohl Attila noch nichts Messbares geleistet hatte, stellte er dennoch eine untypische Albernheit bei sich fest, völlig unverdient. Ob das die Glückshormone waren? Von der Musik aus dem Kopfhörer ließ er sich immer wieder zum Mitsingen animieren, ganz leise natürlich. Der Typ, der ihm gerade entgegengekommen war, hatte ihn ziemlich schräg angesehen. Was glotzte der so blöd? Attila erschrak. Hatte er im frühmorgendlichen Überschwang womöglich etwas lauter bei ELO mitgesungen, und zwar ausgerechnet die Textzeile »You took me ooooh higher and higher baby«? Und dabei ebenso debil geklungen wie ausgesehen? Hatte er also die zukünftig führende deutsche Strategieberatung soeben der Lächerlichkeit preisgegeben?
Erst schämte Attila sich, dann verfluchte er sich für seine Kontrolllosigkeit. Er hatte sich dämlicher angestellt als der letzte Praktikantenschwengel. Was wäre passiert, wenn der Entgegenkommende ein Rivale gewesen wäre, der geistesgegenwärtig ein Handyfilmchen mit Tonspur aufgenommen hätte? Attila wäre erledigt gewesen. Vielleicht hätte er für seine ehemaligen Kunden noch einen letzten Lehrfilm drehen können: Wie Youtube eine Karriere in dreißig Sekunden erledigt. Gleich danach hätte Wesley ihn gefeuert, und zwar völlig zu Recht.
Seine Frau Camille behauptete ja, derlei unkontrollierte Singerei sei ein Zeichen tiefer Entspannung. Aber wenn Entspannung bedeutete, dass man die Kontrolle über sich verlor, dann wollte Attila lieber nicht entspannt sein.
Krieg, dachte Attila, es herrscht Krieg, jede Minute, jede Sekunde. Wer einen einzigen Fehler macht, der verliert. Und ich werde nicht verlieren.
016
Maik mochte diesen Geruch von Haferbrei, der ihm entgegenwehte, als er die Tür öffnete. So roch Zuhause. Man konnte viel über Ulrike sagen. Aber ihr Haferbrei war großartig.
Seine Frau eilte ihm entgegen, in diesem marokkanischen Familienzelt, das sie Morgenmantel nannte und das ihre üppige Silhouette noch betonte. Sie fiel ihm um den Hals. »Ich bin so froh, dass es dich gibt«, schluchzte sie. Maik hätte gern etwas Gleichwertiges erwidert. Aber er log ohnehin schon genug. Ulrikes plötzlicher Gefühlsausbruch rührte ihn dennoch. Die letzten Jahre hatte sie im Wesentlichen damit zugebracht, ihm nachzuweisen, dass er ein schlechter Mensch sei.
Ob jede Ehe so verlief? Erst eine kurze Weile großer schöner Emotionen, dann Heirat, Kinder und schließlich eine sehr lange Weile voll gruseliger Gefühle. Ulrike und er lieferten sich seit Jahren einen permanenten Wettbewerb, wer der Gründlichere, Klügere, Verantwortungsvollere sei, wen die Kinder mehr liebten, wer besser erzog, wer fleißiger war, wer also der bessere Mensch war. Jeder Dialog war gespickt mit Nadelstichen, kleinen Hieben oder triumphalen Beweisführungen. Am Ende ging es um nichts anderes als einen Machtkampf, der keinen Anfang hatte, kein Ende außer dem Tod und außer einer Zementierung des Stillstands nichts brachte.
»Ob jede Ehe so verlief? Erst eine kurze Weile großer schöner Emotionen, dann Heirat, Kinder und schließlich eine sehr lange Weile voll gruseliger Gefühle.«
Genauso musste es in Verdun gewesen sein, als sich viele Tausend Männer jahrelang eingebuddelt und beschossen hatten, ohne auch nur einen Millimeter voranzukommen. Hätten sich deutsche und französische Soldaten gleich am ersten Tag darauf verständigt, gemeinsam in die Bretagne zu fahren, auszuspannen, Fisch zu essen und eiskalten Entre-deux-mer zu trinken, wahlweise Muscadet, um schließlich nach zwei, drei Jahren wieder in die alten Stellungen zurückzukrabbeln, wäre die Weltgeschichte nicht wesentlich anders verlaufen. Aber ein paar Männer hätten garantiert mehr vom Leben gehabt. Deserteure sind keine Feiglinge, sondern die wahren Helden, dachte Maik, und der Stellungskrieg ist ein Fluch.
Es war noch viel zu früh zum Aufstehen, aber alle waren wach. Henry und Anna lugten hinter Ulrikes Folklorezelt hervor. »Wo hat es denn wehgetan, Papa?«, fragte Anna. Sie war fünf, wollte Tierärztin werden und übte sich seit Längerem in der Kunst der Diagnose.
»Willst du’s ganz ehrlich wissen?«, fragte Maik, wobei er die Worte lang zog, um Zeit zu gewinnen. Denn er musste nachdenken. Den genauen Tathergang hatte er sich nur in Grundzügen zurechtgelegt, vor allem, um bei der Polizei größtmögliche Plausibilität abzuliefern. Nun musste sich seine Story zum ersten Mal bewähren, vor drei skeptischen Ermittlern gleichzeitig, die alle ein verdammt gutes Gedächtnis hatten. Selbst Henry mit seinen sieben Jahren war darauf getrimmt, sich jedes gottverdammte Detail zu merken. Das kam von den Detektiv-Geschichten, die Ulrike ständig mit ihm las. Misstrauen und Mülltrennen, das waren die beiden Zentralwerte, die Kinder heute vermittelt bekamen.
Maik holte tief Luft. »Ich war mit Lehmann aus dem Garten-Center ein Bier trinken.«
Seine Tochter nickte.
»Natürlich haben wir uns wieder verquatscht. So gegen Mitternacht wollte ich dann durch den kleinen Park zum Auto gehen und nach Hause fahren.«
Bis hierhin stimmte die Geschichte sogar. Nur, dass er nicht ins Auto stieg, sondern in ein schummeriges Parallel-Universum, das aus einer Theke bestand und einer Bühne mit Silberstange, nicht größer als eine Telefonzelle. Wie aber erklärte man Kindern, dass ein Bier zehn Euro wert war, wenn man es beim Anblick von Frauen trinken durfte, die mehr oder weniger anmutig an dieser Stange herumturnten? Maik begab sich auf das schwankende Terrain der Phantasie. »Als ich im Dunkeln durch diesen kleinen Park an den Bänken entlangging, da spürte ich plötzlich etwas im Nacken. Ich drehte mich um, und schon hatte ich einen stinkenden Lappen im Gesicht. Irgendwer zog meine Arme auf den Rücken. Ich wollte schreien - aber da war ich auch schon weg.«
Anna und Henry guckten angstvoll. Ulrike hatte die Arme schützend um die beiden gelegt.
»Und dann?«, fragte sein Sohn.
»Es gab kein ›Und dann‹. Ich war sofort bewusstlos. Wie in tiefem Schlaf. Ich habe niemanden gesehen, nicht mal was gehört. Als ich aufwachte, lag ich im Gebüsch. Mein Schädel brummte, und das Portemonnaie war weg, samt Handy. Zum Glück haben sie den Autoschlüssel nicht gefunden; den hatte ich in der Hosentasche. Ein netter Zeitungsausträger hat mir dann sein Handy geliehen. Damit habe ich Mama angerufen.«
Maik blickt in die Gesichter seiner Familie. Sie schauten ihn an, starr vor Furcht und Mitgefühl. »Tut dir noch was weh?«, fragte Ulrike. »Du solltest zum Arzt. Und vor allem zur Polizei. Und die Karten sperren lassen.«
Maik nickte grimmig. »Mache ich alles. Aber erst mal muss ich wieder klar aus den Augen gucken können. Kann ich eine Schüssel Haferbrei haben?«
»Ein echter Kerl tut, was er tun muss, basta. Und die Frau hat ihn zu lieben oder nicht. Auch basta.«
Die Kinder stürzten in die Küche, Ulrike hinterher. »Finger weg vom Topf«, rief sie, »der ist heiß. Es ist genug für alle da.«
Maik atmete auf. Ulrikes Fürsorge galt wieder ausschließlich den Kindern. Keine peinlichen Nachfragen, also offenbar auch keine Widersprüche. Sein Schädel brummte. Aber er schien das Gröbste hinter sich zu haben.
Warum tat er sich das eigentlich an, jeden Mist mit den absurdesten Geschichten zu rechtfertigen? Ein echter Kerl tut, was er tun muss, basta. Und die Frau hat ihn zu lieben oder nicht. Auch basta. Und vor allem hatte ihm die Familie mit Ehrfurcht zu begegnen. Seit eine völlig normale männliche Regung wie Aggression zur schlimmsten Krankheit seit Herpes erklärt worden war, schwankte das seit Jahrtausenden bewährte Sippen-Konzept. Familie, das war bestenfalls Aufgabe, aber bestimmt nicht jenes Lebensabenteuer, das ihm drei Dutzend gefühlsklebriger Vater-Bücher versprochen hatten. Vor allem von den fundamentalen Veränderungen der Frauen war absolut nichts zu lesen gewesen.
Das war auch wieder so eine West-Spezialität: Erst diegroße Schnauze. Aber kaum wurde es spannend oder ehrlich oder radikal, dann zogen sie zurück. Wessis waren Maulhelden, nicht unbedingt bösartig, aber hasenfüßig und verlogen. In Wirklichkeit war selbst Ulrike so, auch wenn sie Solidaritätsadressen für die Leipziger Buchmesse abgab, unermüdlich die Mecklenburgische Seenplatte pries und ein Trikot vom 1. FC Union als Nachthemd trug.
Maik sehnte sich nach Freiheit, spannend, ehrlich und radikal. Es war Zeit für Konsequenzen. Nur jetzt noch nicht. Aber eines Tages würde es so weit sein.
017
Martin genoss diese Momente, wenn alles stimmte. Er hatte mit dem Tankstellenverkäufer über das durchwachsene Wetter gesprochen, die leeren Versprechen der Politik und über Pink Floyd. Jetzt schob er nach Hause.
Norbert schlummerte besonders gut, wenn sie an der sechsspurigen Bundesallee entlangliefen und der Windzug eines Lasters den Kinderwagen schaukeln ließ. Parks oder die gediegene Stille von Altbaustraßen machten das Baby dagegen unruhig. Von Vogelgezwitscher erwachte Norbert bisweilen. Guter Junge, dachte Martin, wird wenigstens kein Esoteriker.
Ihre Freunde, die Eltern, die Konkurrenz-Brüter in der Kita, eigentlich alle sahen diesen seltsamen Wurm, der Straßenlärm brauchte, um zur Ruhe zu kommen, mit mehr oder weniger offener, nicht selten vorwurfsvoller Sorge. Dorothea auch. Sie litt unter den unausgesprochenen Befürchtungen. Die Botschaft war klar: Wenn bereits der Säugling derlei offenkundige Deformationen in sich trägt, dann sind erstens die Gene der Eltern schuld, zweitens deren Erziehung, und drittens weiß man jetzt schon, dass Kindheit und Jugend von schweren Problemen überschattet sein werden: Therapien, Ritalin, Schulversagen, Kriminalität, Drogenabhängigkeit. Dorothea hoffte immer noch auf Anzeichen von Hochbegabung. Doch auch bei großzügigster Auslegung waren nicht die geringsten Indizien zu entdecken. Selbst die Zähne waren ziemlich spät gekommen. Und laufen konnte er auch noch nicht. Dafür brauchte der Kleine wahrscheinlich jetzt schon eine Brille. Martin würde ein tolles Gestell aussuchen, aus schwarzem Horn.
»Der moderne Mann und die moderne Frau hatten sich bis zur Unkenntlichkeit angeglichen.«
Martin fand Norberts Eigenart in Wirklichkeit großartig. Ein echter Kerl, mit einem amtlichen Hau, so wie sich das gehört, dachte er, auch wenn er sich das niemals zu sagen trauen würde. Jede Bemerkung, die auch nur entfernt die Rollenbilder ihrer Eltern hochleben ließ, war riskant, weil sie ihn als rückständig auswies, als stumpfen Macho. Dabei ließ sich Norberts Spleen sehr gut damit erklären, dass seine Mutter sechs Wochen nach der Entbindung wieder im Fernseh-Studio stand, was ihr in der Bunten das Etikett »Powerfrau« eingebracht hatte und den Status einer »Gewinnerin der Woche«. Dafür kann man eine Macke beim Kind schon mal riskieren.
Dorotheas Weltbild war so schlicht wie falsch. Der moderne Mann und die moderne Frau hatten sich bis zur Unkenntlichkeit angeglichen. Jeder konnte den anderen ersetzen. Unterschiede waren gesellschaftlich bedingt und konnten wegerzogen werden.
Wo sich die Geschlechter aber nicht mehr unterschieden, da waren leider Erotik, Lust, Spannung, eigentlich alle großen Gefühle gleich mit auf der Strecke geblieben. Auf seinen morgendlichen Ausfahrten mit Norbert hatte sich Martin eingehend mit diesem Thema befasst. Und er hatte eine großartige Theorie entwickelt, die seinen Ruf als Anführer einer neuen deutschen Denker-Generation begründen würde. NIWRAD, so hieß das Konzept: DARWIN, nur rückwärts.
Er hatte den Beweis erbracht, dass die Evolution sich mit der Emanzipation umgekehrt hatte und eben nicht mehr fortlaufende Optimierung mit sich brachte, sondern im Gegenteil einen permanenten Sinkflug der menschlichen Entwicklung eingeleitet hatte.
Die Theorie hatte noch einige Schwächen, aber die könnte man auf dem semantischen Wege glätten. Wichtig war eine steile These. Und die hatte er.
Martin schnupperte. Der Geruch frischer Croissants zog ihn magisch an. Dorothea hatte seit einem halben Jahr jedes Kohlenhydrat aus ihrer Küche verbannt und auf Kräuter- und Pulverernährung unter streng basischem Diktat umgestellt. Dorothea machte jeden Ernährungs-Schnickschnack mit, wenn sich dahinter auch nur der geringste Ansatz einer glaubwürdigen Story verbarg, warum ausgerechnet diese Scharfgarbe-Alanin-Mischung nun zu ewiger Schönheit führte. Als TV-Moderatorin vermietete man ja weniger seine rhetorische Brillanz als vielmehr eine geringfügige optische Überdurchschnittlichkeit. Dicke Titten plus dummes Zeug reden war eine wesentlich quotenträchtigere Kombination als Flachbrust mit hochschlauwitzigen Bemerkungen.
»Er hatte den Beweis erbracht, dass die Evolution sich mit der Emanzipation umgekehrt hatte und eben nicht mehr fortlaufende Optimierung mit sich brachte.«
Der unmenschliche Zwang zu ewiger Schönheit, der auf einer zweifachen Mutter weit schwerer lastete als auf just der Pubertät entwachsenen Wetterfeen hatte das Zeitalter von Spaghetti alla puttanesca und Honigbrötchen schlagartig beendet.
»Im Sender machen jetzt alle Jentschura«, sagte Dorothea. Toll, dachte Martin, welch ein machtvolles Argument.
Was ist, wenn sich im Sender alle einen Liter Botox-Collagen-Cocktail in die Arschfalten jagen? Und die Partner gleich mit. Obwohl: Wenn der Sender zahlte, würde Martin seinen Hintern vermutlich auch hinhalten, vor allem aus soziokulturellem Interesse: Wie würde sich das wohl anfühlen, wenn man sich in der Gruppe aufspritzte? War man plötzlich Mitglied einer Sekte? Und, wie fühlte sich Hinsetzen dann an?
Martin betrat die kleine Croissanterie und kaufte sich ein Brioche mit Schokofüllung. Marzipan hatte er erst gestern. Es war nicht nur der unglaubliche satte Geschmack dieses kleinen Backwerks, sondern vor allem das Bewusstsein, gegen Dorotheas Basen-Terror aufzubegehren.
Mit dem kleinen Finger schob er Norbert etwas Schokofüllung zwischen die Lippen. Der Kleine schmatzte interessiert. »Aber nichts Mama erzählen«, sagte Martin verschwörerisch. Dieser Satz würde einer der wichtigsten in Norberts Leben werden. Das neue Verhältnis zwischen Mann und Frau förderte weniger das Miteinander als vielmehr die Heimlichtuereien.
Die Idee von gleichberechtigter Partnerschaft, vom fairen Miteinander, von erfüllter Elternzeit gab es nur in den Barbie-Phantasien neokonservativer höherer Töchter. Seit Jahrhunderten hatten die Frauen ihre Machtposition durch ausdauernde Intrigen rund um ihre Männer gefestigt, nun gingen sie in die Offensive. Nach dreißig Jahren Infiltration hatte sich auch die letzte Burberry-Topfpflanze endlich Alice Schwarzers Theorien von Unterdrückung und Geschlechterkampf zu eigen gemacht und zeigte nun viel Freude daran, den Mann klein zu hacken, um sich hinterher über all die klein gehackten Männer zu beschweren.
Männer, die sich in die Elternzeit begaben, bedeuteten vor allem für Frauen einen großen Triumph. So wurde öffentlich, dass sie ihre Kerle im Griff hatten. Der Mann hatte die Hundeschule erfolgreich absolviert.
»Nach dreißig Jahren Infiltration hatte sich auch die letzte Burberry-Topfpflanze endlich Alice Schwarzers Theorien von Unterdrückung und Geschlechterkampf zu eigen gemacht.«
Männer wie Martin hatten nun genau zwei Chancen: Entweder er lächelte generös, wenn die Damen bei Buchweizentörtchen mal wieder vergnügt über die Unzulänglichkeiten ihrer Kerle herzogen und gleichzeitig schmatzend Brad Pitt hochleben ließen. Oder man stieg aus. Martin hatte sich fürs Durchhalten entschieden, nicht ohne allerdings jede Chance auf Usurpation wahrzunehmen. Mit der Zungenspitze stopfte Martin sich ein großes Stück Croissant in seine linke hintere Weisheitszahnlücke. Eiserne Ration für schlechte Zeiten.

7 UHR

018
Jochen wählte die Nummer.
Eine Frauenstimme meldete sich mit einem kühlen »Ja, bitte …«. Frauen, die sich mit »Ja, bitte« meldeten, hatten ein Paranoia-Problem: Sie witterten bei jedem Telefonklingeln einen stöhnenden Sittenstrolch. Jochen versuchte, sich eine Frau zu dem »Ja, bitte …« vorzustellen: Er kam nur auf Frau Malzahn von Jim Knopf, allerdings deutlich dicker.
»Ja, hier ist Jochen Heine von der Tankstelle an der Bundesallee. Spreche ich mit Sobotzky?« Die Frau antwortete nicht viel freundlicher: »Am Apparat.«
Jochen bemühte sich um einen halb dramatischen, halb seriösen Tonfall: »Ja, ich habe hier ein Portemonnaie gefunden, mit Papieren von Maik Sobotzky.«
»Das ist mein Mann«, sagte die Frau, »er ist heute Nacht überfallen worden. Er hat sich gerade mal ganz kurz hingelegt. Er hat heute so viel zu tun.« Jochen atmete auf: Maik war zu Hause angekommen. Die Geschichte schien tatsächlich zu funktionieren.
»Dann haben die Diebe das Portemonnaie wohl hier ins Gebüsch geworfen, direkt bei Luft/Wasser. Ich habe jetzt gleich Schichtende. Dann nehme ich die Sachen wohl am besten an mich; dann kann Ihr Mann alles bei mir abholen. Ist ohnehin kein Bargeld mehr drin, wie Sie sich denken können.«
»Oh, ja, das ist sehr nett von Ihnen. Vielen Dank«, sagte die Frau, plötzlich sehr viel freundlicher, »mein Mann wird sich sofort bei Ihnen melden. Und er wird sich sicher erkenntlich zeigen.«
»Ach, das ist nicht so wichtig«, sagte Jochen und grinste, »Ihr Mann hat ja jetzt erst mal genug Scherereien. Er soll mich einfach anrufen.«
Jochen gab seine Adresse und die Handy-Nummer durch. Erleichtert fiel ihm ein, dass er seine Rufnummerunterdrückung eingeschaltet hatte, schon im Hinblick auf die Fans, die ihn alsbald nerven würden. Die Frau hätte wahrscheinlich einige bohrende Fragen gestellt, wenn MaiksAnruf und seiner von ein und derselben Nummer gekommen wären.
019
Attilas Beine fühlten sich an wie Blei. Nur die Knie waren wie Butter. Bei jedem Schritt schienen die Schenkel einfach rechtwinklig wegzuknicken. Auf den letzten Kilometern hatte er noch einmal alles gegeben. Er war gelaufen, gelaufen, gelaufen, aber seine Uhr zeigte durchweg schlechte Zeiten. Bei Kilometer fünfzehn lag er bei einem Durchschnittstempo von fünf Minuten und zehn Sekunden auf den Kilometer. Das war nicht nur schlecht, das war völlig indiskutabel. Wäre Attila sein eigener Mitarbeiter gewesen, er hätte sich gefeuert.
Wenn er zu Hause nicht mindestens auf eine durchschnittliche Kilometerzeit käme, die mit einer Vier beginnt, dann wäre der ganze Tag im Eimer.
»Reiß dich zusammen«, schrie Attila sich an.
»Willst du alles geben?«, brüllte er im Park, wo er sich allein wähnte und versuchte, den unerbittlichen Tonfall eines Marine-Ausbilders zu imitieren. »Ja«, antwortete er im lauten, aber unterwürfigen Rekrutenton.
»Gibst du wirklich alles?«, fragte der Ausbilder.
»Nein«, gestand der Rekrut kleinlaut.
»Wirst du sofort anfangen?«, fragte der Ausbilder, »jetzt, in dieser Sekunde?«
»Sir! Yes! Sir!«, antwortete der Rekrut.
Attila konzentrierte sich auf seine Schritte. Schneller, länger, kräftiger mussten sie sein. Er blickte immer wieder auf die Uhr. Alle drei Minuten sprang das Display um; sein Temposchnitt verbesserte sich, aber nur quälend langsam. Seine Beine wurden immer schwerer. Attila rannte an drei U-Bahn-Stationen vorbei. Er hätte nur die Treppen hinabsteigen müssen. »Das ist eine Prüfung«, fluchte er, »das ist eine Scheißprüfung.« Verbissen erhöhte er das Tempo.
»Das ist eine Prüfung, das ist eine Scheißprüfung.«
Als er in seine Straße einbog, zeigte die Uhr fünf Minuten und drei Sekunden auf den Kilometer. Verdammter Mist. Mit dieser elenden Versager-Fünf konnte er dieses Training nicht beenden. Attila rannte an der Fassade aus Glas und Sandstein vorbei, hinter der seine Wohnung verborgen lag. Er schätzte das diskrete Understatement dieses Neubaus, der nicht die geringsten Hinweise darauf gab, dass sich darin die Crème der Berliner Strategieberater und Banker verbarg. Wer nicht mindestens eine Million im Jahr machte, durfte sich hier nicht mal als Hausmeister-Praktikant bewerben. Ein Haus mit Stil und Klasse.
Im Moment war ihm allerdings völlig gleichgültig, ob ihn seine Nachbarn sehen würden, so struppig und verschwitzt. Alles was zählte, war sein Durchschnittstempo. Im gestreckten Galopp schoss Attila die lange gerade Straße entlang. Die Vorstellung, dass er beobachtet werden würde, gab ihm neue Kraft, jedenfalls bis zur nächsten Ecke. Die Uhr zeigte fünf Minuten und zwei Sekunden. Attila bog rechts ab und zwang seine Bleibeine zu einem letzten Aufbäumen. Einmal um den Block, das musste genügen. Doch als er wieder in seiner Straße angelangt war, stand die Uhr nur auf fünf Minuten und einer Sekunde. Diese Scheißdinger waren sündteuer, aber maßen trotzdem nicht, was sie sollten.
Attila passierte zum zweiten Mal sein Haus. Spätestens jetzt würden ihn die Mitbewohner für komplett behämmert halten. Egal. Man darf sich ein Mal am Tag blamieren. Pumpend warf er sich auf die letzte Runde. Wo mal seine Beine waren, donnerten jetzt T-Träger in die Gehwegplatten. Attila spürte einen Krampf aufsteigen, tückischerweise im Oberschenkel, wo man deutlich mehr davon hatte. Er verbot sich, noch einmal auf die Uhr zu schauen. Er wusste, dass er es schaffen würde. Er glaubte an sich. An wen denn sonst? Tatta-taaa, tatta-taaa… Die Titelmusik von »Rocky I« trompetete durch sein Hirn. Ich bin ein Sieger, schrie er sich an. Mit den letzten Schritten drückte Attila auf den großen roten Knopf seiner GPS-Uhr: 4:59.58 min/km. Yes! Geht doch. Alles geht. Du musst nur wollen.
Attila war zu schwach, um die Treppen in den dritten Stock zu nehmen, wie es sich für einen Sportler gehört hätte. Er drückte den Fahrstuhlknopf. Schweißtropfen klecksten auf den Marmor. An der Wohnungstür gab Attila die Zahlenkombination ein. Ein Leben ohne Schlüssel, das war echter Luxus.
Es war leise in der Wohnung, schlafleise. Offenbar lag Camille noch im Bett. Dabei wusste sie ganz genau, dass er sich auf nichts mehr freute als auf sein Eiweißomelette. Drei Eier ohne das Gelb, das zu viel Cholesterin und Fett enthielt.
Attila rührte drei Messlöffel Amino Competition in ein Glas Molke. Hatte ihm sein Coach empfohlen. Das Zeug war kurz vor Doping. Unmittelbar nach der Belastung eingenommen, konnte man den Muskeln beim Wachsen zuschauen. Gegen die Krämpfe, zu denen Attila leider neigte, warf er zwei Magnesium-Tabletten in ein Glas und einen halben Teelöffel Salz dazu.
Attila ließ Badewasser ein und gab einen kräftigen Schuss Muskelfluid in die Wanne. Das Zeug brannte wie Höllenfeuer, aber es entspannte, vor allem, wenn er die Sprudeldüsen anstellte. Vielleicht bekam er den verfluchten Krampf auf diese Weise aus dem Bein gejagt. Nichts war entwürdigender als ein Hottentottentanz vor der Badewanne, klatschnass und nullerigiert, ohne dass man seiner Frau sofort erklären konnte, was los war, weil man vor Schmerzen einfach nur brüllte.
Attila griff sich noch zwei Fläschchen Vitasprint aus dem Küchenschrank: B12-Komplex, das war genau, was er jetzt brauchte. Turbopowerboost. Folsäure war das geheime Elixier aller Erfolgreichen. Außerdem mochte er das kleine Ritual: Zuerst den Plastikdeckel wie bei einer Handgranate abreißen, dann den roten Knopf wie bei einem Notfall einschlagen und schließlich den Deckel mit den Zähnen losbeißen. Das Zeug schmeckte wie Seife, aber immerhin wie teure.
Als Attila in die Badewanne glitt, spürte er das Glück der Erschöpfung. Er hatte gewonnen, mal wieder. Und: wie immer.
020
Die Familie lag im Bett, Dorothea in der Mitte, Otto links neben ihr. Martin packte Norbert auf die andere Seite. Auf einmal schlief dieser Teufelsbraten. Dafür liebte Martin seinen Sohn. Alles, nur nicht normal, dachte er sich, immer wieder überraschend.
Martin genoss die wenigen Minuten der Morgenruhe, die er für sich allein hatte. Manchmal griff er sich die Zeitung, die er von unten mitgebracht hatte, manchmal stöberte er in einem Buch, manchmal grübelte er einfach nur vor sich hin. Heute könnte er mit seinen kühnen Gedanken beim Brainstorming punkten.
Leider nahm die Agentur seine Elternzeit deutlich ernster als er. Man brauchte ihn einfach nicht. Er war offenbar zu ersetzen. Womöglich lümmelte dieser klugscheißerische Praktikant auf seinem Designer-Hocker aus Nussbaum. Dieser kleine Hosenscheißer hatte Philosophie zu Ende studiert und trug ebenfalls eine Brille mit breitem schwarzen Hornrahmen. Elender Kopist. Martin konnte nichts machen. Es war grausam. Aber er würde einen Weg finden, sich ins Brainstorming zu schleichen. Er würde beiläufig ein paar Sätze zu NIWRAD verlieren, die Runde würde nur die Hälfte kapieren, aber andächtig schweigen. PR-Trottel halt. Und er konnte sich beruhigt in die nächsten vier Wochen verziehen. Gleich nach der Kinder-Abwurf-Tour würde er im Büro anrufen.
Martin wurde übel, als er ans Frühstück dachte. Seit zwei Monaten war Dorothea auf dem Jentschura-Trip. Sie hatte Schüßler-Salze ausprobiert, nach Farben gegessen und jede Diät durchlitten, die die Brigitte je verordnet hatte, sofern sie nicht auf dem Atkins-Trip war, der auch nicht viel anders funktionierte als Trennkost oder Montignac. Nur eines hatte sie nie versucht: einfach nur mal ganz normal zu essen.
Martin fand die Ernährungsexperimente seiner Gattin durchaus interessant. Relativ solidarisch absolvierte er die Programme mit, jedenfalls solange Dorothea in der Nähe war. Kaum war sie aus dem Haus, holte er sich erst einmal einen Negerkuss aus dem Versteck hinter den Büchern oder saure Pommes, deren Geruch allein seine Speichelproduktion verdreifachten.
Während sich seine Frau mit jedem neuen Trip einbildete, jünger, schöner, frischer zu sein, fühlte Martin sich durchgehend gleich: müde und aufgeregt, gestresst und gelangweilt, halbwegs erfüllt und völlig leer. Den einzigen Unterschied, den Dorotheas jeweilige Ess-Philosophie bei ihm machte, war der Geruch seiner Fürze. Alles Eiweißlastige roch besonders giftig.
Die Jentschura-Methode schwang, wie immer, im Einklang mit der Natur, ganzheitlich und glutenfrei. Der Apotheker Peter Jentschura, der sich gern als »letzten Druiden« bezeichnen ließ, präsentierte zum hundertsten Mal die alte Säure-Basen-Geschichte. Die zog immer beim modernen Menschen, der auch ohne saure Pommes unter permanentem Sodbrennen litt.
Dorothea verordnete der Familie nun also Wurzelkraft. Das Zeug sah aus wie die Krümel auf der Kehrschaufel, wenn man nach fünfzehn Jahren erstmals wieder hinter dem Kühlschrank gefegt hatte. Diesen »omni-molekularen« Streu konnte man überall einrühren, zum Beispiel in den Pflichtfrühstücksbrei MorgenStund, auf Hirse- und Kürbiskernbasis. Otto, durchs Heimlich-Essen bei Oma deutlich aufgeschwemmt, meuterte jeden Morgen, Martin würgte still, aber Dorothea schwärmte, dass sie sich seit Langem nicht mehr so gut gefühlt habe.
Nächste Stufe: die basischen Stulpen, die man sich feuchtwarm über die Waden zog, in den Farbtönen »Jade« und »Perle« - »Teewurst« und »Leberwurst« wäre treffender gewesen. Oder das Einlaufgerät, mit dem man einen Liter Kräutertee auf eher unübliche Art in den Körper beförderte, aber dafür zweimal im Monat. Martin überlegte, ab wann die Jungs wohl derlei Foltern unterzogen würden. Griffen die Kinderschützer von Wildwasser eigentlich auch ein, wenn wurzelgläubige Mütter ihre Söhne mit Kräutertee-Einläufen traktierten?
021
Lars blieb regungslos liegen, als er die Hand an seinem Schwanz spürte. Er war sich noch nicht ganz im Klaren, ob er träumte. Manchmal erlebte er im Schlaf die geilsten Sachen, weit besser als alles, was ihm die Realität bot. Der faulige Geruch, der ihm in die Nase stieg, brachte allerdings Gewissheit - dies hier war kein Traum.
Tanja hatte sich löffelartig hinter ihn gelegt. Er spürte ihre Brüste auf den Schulterblättern und ihre Finger im Schritt. Der kleine Lars schien Gefallen an ihrem beherzten Würgegriff zu finden. Sie beugte sich über ihn und hüllte den Morgen in eine Wolke Fischfabrik: »Komm schon, Darling.« Lars wollte aber weder kommen noch Darling sein, sondern schlafen. Wenn dieses Weibsstück wenigstens im Bad gewesen wäre; sie hätte auch seine Zahnbürste benutzen dürfen.
Lars stellte sich vor, wie die Fasern des Cheeseburgers, den sie auf dem Nachhauseweg verschlungen hatte, bei jedem ihrer Worte in den Backenzähnen flatterten. Vielleicht waren auch noch Partikel der eingelegten Gurke dabei.
Lars überlegte, wie er einen einfühlsamen Hygiene-Vortrag beginnen sollte. Vielleicht mit einem gut gelaunten »Komm, wir gehen noch mal rasch ins Bad.« Er tastete an seiner Bettkante entlang. Vielleicht stand hier irgendwo noch was zu trinken oder lag ein Kaugummi oder sonst etwas, was neutralisierend wirkte.
Tanjas Zunge fuhr über seine Lippen. Sie war eine Knutschfrau. Dagegen war nichts einzuwenden, sofern er nicht das Gefühl haben musste, eine Biotonne an einem Hochsommernachmittag auszulecken. Tanja drehte ihn kompromisslos auf den Rücken. Lars stellte sich schlaftrunken. Er hätte sich auch auf den Bauch drehen und abwehrend grunzen können.
Aber aktive Gegenwehr wagte er nicht. Am Ende war es ja doch immer schön, von einer Frau sexuell bedrängt zu werden. Das half dem Ego mehr als jede Beförderung. Aber eben nicht jetzt und nicht von dieser. Tanja merkte natürlich nichts. Sie hatte die Sensibilität von einem Sack Schrauben. Sie wollte einfach nur Schwanz. Na gut.
Geschickt turnte Tanja auf Lars. Setz dich schon drauf, dachte er.Soweit er sich erinnerte, war sie relativ schnell zufrieden zu stellen. Nichts war anstrengender, als komplexe Anlaufspielereien. Sie zog sich am stählernen Geländer seines Bettes nach oben. Lars spürte ihre Brüste im Gesicht, dann den Rippenbogen, schließlich den Bauchnabel mit dem silbernen Ring. »Bitte nicht«, flehte er innerlich. Doch es gab kein Entkommen. Tanja setzte sich aufrecht auf sein Gesicht. Lars hoffte, dass es nicht so schmecken würde, wie es roch. Er sehnte sich zurück nach seiner Biomülltonne. Tanja stöhnte schon mal, offenbar probehalber. Warum eigentlich? Er hatte doch noch gar nichts gemacht. Und er hatte auch gar nicht die Absicht. Lars beneidete Apnoe-Taucher, die minutenlang unter Wasser bleiben konnten, ohne Luft zu holen. Tanja schmeckte bitter. »Wie Gin Tonic«, dachte Lars, um sich das Aroma schön zu schmecken. Wenn da diese leicht ranzige Kopfnote nicht gewesen wäre. Und der Rest von irgendeinem Reinigungsmittel. Gab es eigentlich diese Intimdeos noch? Oder war sie vielleicht doch im Bad gewesen, während er geschlafen hatte, hatte aber, breit wie sie war, die WC-Ente erwischt?
»Am Ende war es ja doch immer schön, von einer Frau sexuell bedrängt zu werden. Das half dem Ego mehr als jede Beförderung.«
Lars nahm seinen ganzen Mut zusammen und atmete, soweit ihm das unter der Last von Tanjas Unterleib möglich war. Dann fuhr er seine Zunge aus. »Drei Ave Maria und dann bist durch, Madl.« Den Spruch hatte er von seiner älteren Schwester. So hatte ihre bayerische Oma sie aufgeklärt. Wenn Oma wüsste, dass der Spruch auch von Männern angewendet werden würde. Und dass drei Ave Maria eindeutig zu lang sind.
Faszinierend, wie unterschiedlich Frauen schmecken. Im Prinzip war es wie mit Wasser: Es gab jede Menge Geschmacksrichtungen: Bergsee, Nordsee, Kanalisation oder dezent aromatisiert. Ich könnte mich bei »Wetten, dass …« bewerben, dachte Lars. Ich wette, dass ich zwanzig Frauen nur an ihrem Geschmack erkenne. Da würden diese ganzen blasierten Rotweinschmatzer aber staunen. Könnte allerdings sein, dass nicht alle seiner Kunden diese Leistung auch adäquat zu schätzen wüssten.
»Wenn du Stil hast, dachte Lars, dann verzwitscherst du dich jetzt einfach.«
Tanja merkte offenbar,dass Lars nicht mit voller Konzentration bei der Sache war. Sie rutschte abwärts und flanschte ihre beiden Körper mit traumwandlerischer Sicherheit zusammen. Lars mochte diesen schlangenartigen Hüfteinsatz, der Routine, aber eben auch unstillbare Freude verriet.
Er hob das Becken rhythmisch und zählte in Gedanken mit. Bis zum achtzehnten Stoß stöhnte Tanja, bis zweiunddreißig quietschte sie, immer lauter, und knapp über vierzig endete sie mit einem spitzen kleinen Schrei. Wenn sie einen Orgasmus vorgetäuscht hatte, dann hatte sie sich wenigstens halbwegs Mühe gegeben.
Lars küsste sie auf die Stirn und sagte »Danke«. Wofür eigentlich? Egal. Wer »Danke« sagt, erspart sich alle weiteren Debatten. Tanja schmiegte sich noch einmal an ihn, dann stand sie auf. Wenn du Stil hast, dachte Lars, dann verzwitscherst du dich jetzt einfach. Zwei Minuten später hörte er die Tür ins Schloss fallen. Hurra.
022
Maik stand nackt im Bad. Er untersuchte seinen Körper nach frischen Gebrauchsspuren, insbesondere Schultern und Oberarme, in die sich Frauen so gern mit ihren Fingernägeln krallten. Seit er kaum noch selbst im Garten arbeitete, sondern vor allem Kunden gewann und die Pläne entwarf, hatte sein Oberkörper deutlich gelitten. Aber im Vergleich zu den anderen Mittvierzigern mit ihren Matschleibern war er immer noch relativ weit vorn. Es schadete nicht, dass er in letzter Zeit jede freie Minute für seine Waldläufe nutzte.
Maik stellte das Wasser der Dusche eine Spur kälter ein, als es angenehm war. »Du musst immer wieder raus aus dem Wohlfühlbereich«, hämmerte er sich ein, »keine Trägheit, keine Routine.« Fröstelnd stellte er sich unter den kühlen Wasserstrahl.
Wo war sein Duschgel? Ulrikes Flaschen standen wie eine Armee auf dem kleinen Kachelvorsprung. Auf den Plastikbuddeln standen Worte wie »Wellness«, »Relax« oder »Balance«. Duschgel- und Shampoo-Texte gaben nicht den Inhalt der Flaschen wieder, sondern das Bedürfnis ihrer Käufer. Demnach war Ulrike erstens unwohl, zweitens unentspannt und drittens aus dem Gleichgewicht. Stimmte genau.
Maik überlegte, ob er, nass wie er war, im Bad nach seinem extracoolen Polar-Duschgel suchen oder stattdessen eine von Ulrikes Psycho-Pullen nehmen sollte. »Relax« erschien ihm als am wenigsten verdächtig. Das Zeug roch nach Industrie-Ingwer. Maik seifte seinen Schwanz dreimal gründlich ein. »Relax« brannte leicht, aber nicht unangenehm.

8 UHR

023
Jochen hörte schon auf der Treppe, dass Bretti wach war. Und wie. Würde er das Geräusch zum ersten Mal hören, hätte er umgehend die Polizei gerufen oder den Notarzt oder die Sitte oder alle drei gleichzeitig, was allerdings weniger an Bretti lag als an Julia. Sie klang, als würde sie erstickt, was auch stimmte. Julia war eine unscheinbare Person mit mittellangen Haaren, mittelgroßen Möpsen, mittellangen Beinen, einem mittelprallen Hintern und mittelscharfer Aura. Nur ihre Klamotten waren unterdurchschnittlich. Jede bulgarische Erntehelferin war schicker als Julia.
Aber in einer Disziplin war sie absolute Weltspitze: Radau beim Sex. Sie schrie nicht, sie brüllte wie am Spieß, sie quiekte, grunzte, röhrte und winselte. Jochen fand Julia zwar ansonsten überflüssig, aber dieses Getöse machte ihn rattenscharf. Zumal Julia nicht nur unkontrollierte Laute ausstieß wie »Jajaja« oder »Ohohoh«, sondern die Zuhörer keine Sekunde im Unklaren ließ, in welchem Stadium sie sich gerade befand und was der Herrgerade mit ihr anstellte. In Phase I zum Beispiel kommentierte sie die Anstrengungen des Mannes wie ein Sportreporter, etwa »Oh ja, das ist gut, mach weiter so. Ja, schneller, noch schneller, ja, bleib da, oh Mann. Das ist so gut. Ja, etwas fester, ja so, jetzt bleib so, mach weiter, jajaja.«
Spätestens in Phase II meldeten sich die ersten Nachbarn, brüllten durch den Hof, wenn Bretti mal wieder das Fenster offen gelassen hatte, was der alte Angeber garantiert absichtlich machte. Manche riefen auch an oder klingelten oder stießen mit Besen gegen Boden oder Decke. Denn Julia hatte inzwischen alle Zügel fallen lassen, so sie jemals welche gehabt hatte. »Ja, du Sau«, juchzte sie, »härter, mach’s härter, ja, mach’s mir, du geile Sau.« Jochen konnte machen, was er wollte, aber er bekam immer wieder einen Ständer, wenn der nicht schon in Phase I gewachsen war. Als er sich ins Bett legte, operierte Julia bereits in Phase III, die Jochen »Schlachthof-Symphonie« nannte. Julia heulte und schrie: »Nein, nein, nein, bitte nicht, hör’ nicht auf! Aua, aaah, nein, ooohuuh, tiefer, ooh neinneinnein, oh bitte, bitte, bitte nicht, oh Gott, oh mein Gott« - und dann ein markerschütternder Schrei, der die Weißbiergläser im Küchenschrank klappern ließ.
Bretti musste sich fühlen wie Rocco Sifredi. Was Jochen umso mehr wunderte, da Bretti weder schön noch schlank, noch untenrum irgendwie auffallend gut bestückt war. Bretti hatte sich letztes Jahr allerdings mal ein Buch gekauft mit dem Titel: »Hundert Wege, eine Frau in den Wahnsinn zu treiben.«
Jochen hatte sich das Buch natürlich geliehen, auch wenn er nicht an solche Ratgeber glaubte. Die vermeintlichen Geheimtipps waren ja doch immer die gleichen. Jochen würde Julia genauso in die Raserei treiben, auch ohne Buch. Leider ließ sie ihn nicht. Jochen fragte sich, ob die beiden immer noch oder schon wieder rammelten. Schwer vorzustellen, dass Julia schon die ganze Nacht lang fast abkratzte. Das hätte sie nicht überlebt.
Denn Bretti hatte eine ebenso rüde wie wirkungsvolle Methode entwickelt, die Krawallschachtel zu dämpfen. Er drückte Julia einfach sein Kopfkissen ins Gesicht. Und wenn sie sich wehrte, drückte er noch fester.Eigentlich werden unliebsame Familienmitglieder auf diese Weise umgebracht. Aber Julia fand es geil, halb zu ersticken.
Sauerstoffmangel bewirkt beim Sex offenbar Wunderdinge. Halb Hollywood ist inzwischen mit einem Gürtel um den Hals an Türklinken oder Hotelschranktüren gefunden worden, die wenigsten lebendig. Wahrscheinlich hatte sich Michael Jackson in Wirklichkeit mit einem Lakritz-Lasso an die Ankerwinde vom Barbie-Traumschiff geknotet - aber das war den Angehörigen doch zu peinlich zum Bekanntgeben. Es sei denn, irgendwer hätte gesponsert.
Jochen hatte mal versucht, sich beim Wixen die Luft abzudrücken, aber er war völlig durcheinandergekommen mit seinen beiden Händen und den unterschiedlichen Bewegungsabläufen. Irgendwann jedenfalls schubberte er an seinem Hals auf und ab, während er seinen Schwanz würgte. Auch nicht schlecht.
Jochen hatte sich allerdings nicht getraut, eine Lidl-Tüte über den Kopf zu stülpen. »Zieh dir immer frische Unterwäsche an, falls du mal einen Autounfall hast oder aus sonst irgendeinem Grund in die Verlegenheit kommst, in einem Notarztwagen zu landen«, hatte seine Mutter immer gesagt. Da Jochen schon nicht mit attraktiver Unterwäsche dienen konnte, weil er schlichtweg keine hatte, wollte er zumindest nicht auch noch mit einer Tüte über dem Kopf von der Kripo gefunden werden, schon gar nicht mit einer von Lidl.
Jochen überlegte, ob die edle Tüte noch in seiner Plastiktütenschublade steckte? Er hatte vor drei Jahren im Ausverkauf mal Boss-Socken im Doppelpack erworben. Jochens Kalkulation: Wenn der Schriftzug zwischen Billighose und abgeschabten Tretern hervorlugte, dachten alle Leute, er wäre ein Understatement-Typ, der sich aus teuren Klamotten nichts machte, auch wenn er sie sich leisten konnte, wie die Socken ja scheinbar bewiesen. Inzwischen hatte er leider nur noch einen Strumpf von jedem Paar, einen weinroten und einen dunkelgrünen, womit sich eine weitere Lebensregel seiner Mutter bewahrheitete, nämlich die, dass man sein Leben lang die gleichen Strümpfe kaufen sollte, um nie das Problem der Single-Socke zu haben. Fraglich, ob die Leute ihn mit zwei verschiedenen Boss-Socken immer noch für einen Understatement-Typen hielten oder einfach nur für einen Volltrottel, der seine Socken nicht zusammenhalten konnte.
Warum zum Teufel dachte er eigentlich über einzelne Socken nach, während Julia keine sechs Meter Luftlinie entfernt soeben getötet wurde? Ach ja, die Tüte. Hatte er für die Socken damals nicht nur so einen kleinen Beutel bekommen? Jochen war zu bequem, um aufzustehen und in seinem Spezialkarton für edle Verpackungen nachzuschauen, wo auch die wattierten Briefumschläge lagen, die fast aussahen wie neu und die Weinsafes aus Pappe.
Würde er mit seinem Kopf in einen kleinen Beutel überhaupt hineinpassen? Vielleicht konnte man die Tüte an der Naht vorsichtig auftrennen, über das Gesicht ziehen und hinten mit Tesa luftdicht umwickeln. Oder besser mit Lassoband. Dann würde er aber ziemlich viele Haare mit einkleben. Ausgerechnet davon hatte er nun wirklich kein einziges mehr abzugeben. Neulich erst hatte er mit Hilfe von drei Spiegeln versucht, die Größe jener kargen Hochebene zu ermitteln, die sich auf seinem Hinterkopf blitzartig gebildet hatte. Der Verfall war dramatisch, keine Frage, dennoch fühlte Jochen sich noch nicht bereit für diese Tüten-Nummer. So sterben nur Prominente, dachte er. Und da würde er noch ein paar Wochen, eventuell sogar Monate warten müssen. Klar, Beyond Cool würde richtig durchstarten. Aber niemand wusste, wie und wann. War es so weit, würde er sich das mit der Plastiktüte aber erst recht noch mal überlegen. Seine allerschlimmste Vorstellung bestand darin, dass er im Todeskampf nicht mal gekommen sein würde. Totgewixt, aber knochentrocken im Schritt. Die Cops würden sich kaputtlachen. Vielleicht stünde es sogar in der Zeitung: Deutschlands bester Radiomoderator impotent? Wie schrecklich. »Ableben ohne Grund«, würde der Gerichtsmediziner in den Totenschein schreiben.
Vieles sprach dafür, auf konventionelle Art weiter zu onanieren, so wie sich das seit dreißig Jahren bewährt hatte, auch wenn Jochen die Begeisterung von früher abhanden gekommen war. Er hätte das Pärchen im Cabrio doch fragen sollen.
Jochen versuchte, sich Bretti und Julia beim Poppen vorzustellen, aber erregend war das nicht. Er sah immer nur ein bebendes Kopfkissen oder Julias unrasierte Achseln oder Brettis behaarten Hintern, der angestrengt pumpte. Jochen war Haaren gegenüber eigentlich nicht abgeneigt. Sexuell gesehen war er auf dem totalen Retro-Trip.
Im Internet hatte er in den letzten zehn Jahren alle erdenklichen Kunststücke gesehen. Fehlte nur noch, dass Frauen sich eine Eichenschrankwand einführen ließen. Dieser Wettbewerb der Absonderlichkeiten, der in den seltensten Fällen gesund aussah, erregte ihn allerdings immer weniger. So war er zu den Pornos der Achtzigerjahre zurückgekommen, die ihn als Pubertierenden in den Wahnsinn getrieben hatten: Die Frauen trugen nicht quadratmeterweise Bauernmalereien auf ihrem Körper, hatten nicht jede Falte durchlöchert und Gardinenringe befestigt, staksten nicht auf zwanzig Zentimeter hohen Bänderriss-Plateaus umher - und waren trotzdem tausendmal schärfer.
Denn sie schritten barfuß über ein Bärenfell. Oder in hautfarbenen Strümpfen, die an komplexen Strapsgürteln befestigt waren. Irgendein Schlauberger hatte für den Farbton, der in Wirklichkeit »Popelgrütze« heißen musste, den wunderbaren Begriff »Champagner« erfunden. Farbtondichter, das wäre auch noch mal ein Job.
Lustlos schubberte Jochen an sich herum. Eigentlich war er ein großer Verfechter von autonomem Sex. Mit Frauen war es immer langwierig und teuer, ohne dass Vollzug garantiert gewesen wäre. Mit sich selbst war man in drei Minuten fertig - preisgünstig und garantiert, meistens jedenfalls. Der Dunst, der unter der Decke aufstieg, half nicht gerade, seine Lust ins Unendliche zu treiben. Man musste schon ziemlicher Feinschmecker sein, um sich an diesem Gemisch aus Aal, Altschweiß und Batteriesäure aufzugeilen. Jochen hatte kein Problem mit dem Geruch, nur mit dem Geschmack auf der Zunge, wenn er mit dem Finger noch einen Tropfen Spucke auf der Eichel platzierte, um die Reibungswärme zu minimieren. Er hatte mal Olivenöl probiert, von Bretti, aber das neigte zum Flocken. Weit in der Ferne vernahm Jochen noch Julias finalen Schrei: »Ohohjajaja, ich sterbe« - dann fiel er in einen traumlosen Schlaf.
024
Als Martin ins Schlafzimmer lugte, traf ihn Ottos verschlafener Blick. »Böser Papa«, sagte der Junge nur.Martin war zutiefst getroffen. Warum war der erste Gedanke eines vierjährigen Jungen am Morgen ausgerechnet dieser? Warum böser Papa? Er war nicht böse, ganz im Gegenteil, er war ein gutmütiger Trottel, der sich seiner Frau und ihrer Karriere bereitwillig unterwarf. Hatte er sein ganzes Leben, seine Position in der Agentur, vor allem aber sein Selbstwertgefühl geopfert, nur um sich von diesem Gör beleidigen zu lassen? Warum verletzte ihn sein eigener Sohn auf diese perfide Weise?
»Er war nicht böse, ganz im Gegenteil, er war ein gutmütiger Trottel, der sich seiner Frau und ihrer Karriere bereitwillig unterwarf.«
Er meint es doch nicht so, würde Dorothea jetzt sagen. Martin war sich da nicht so sicher. Kinder meinen vieles so, wie sie es sagen, und zwar ganz gerade und unkompliziert. Irgendwas musste vorliegen zwischen ihnen. Aber was? Was hatte er dem Kind getan, vielleicht unbewusst und unabsichtlich? Was war von gestern übrig geblieben an Erinnerungen? Welches Trauma begann sich in diesem Moment unauslöschlich in die Kinderseele einzufressen?
Martin war sich keiner Schuld bewusst. Aber Otto hatte dafür gesorgt, dass er diesen Tag nach einem guten Start mit einem schlechten Gewissen fortsetzte. Machen Kinder in dem Alter so was absichtlich? Oder hatten Dorothea und Otto bereits getuschelt, bevor er die Schlafzimmertür geöffnet hatte?
Er hatte schon länger den Verdacht, dass seine Frau die Jungs heimlich gegen ihn aufhetzte. Kinder sind eine unglaublich brutale Waffe im Geschlechterkrieg, wenn man sie zu bedienen weiß. Dorothea war eine Meisterin in dieser Disziplin. Aber er holte auf.
»Böser Papa«, wiederholte Otto. Martin überlegte, ob er diesem miesen kleinen Kerl einfach ansatzlos eine Backpfeife verpassen sollte.
Da schlug Dorothea die Augen auf. »Was ist los? Was hast du mit dem Jungen gemacht?«, fragte sie. Typischer Reflex. Er war schuld. Klar. Wer sonst?
»Nichts, gar nichts. Ich wollte nur gucken, wie es euch geht.«
»Böser Papa«, wiederholte Otto noch einmal.
»Ist ja gut«, sagte Dorothea und befahl zu Martin gewandt: »Mach doch schon mal eine Liste wegen heute Abend. Das Essen mit Holtkötter ist vielleicht der wichtigste Termin des Jahres für uns.«
Martin nickte ergeben. Vor allem für uns, dachte er.
Holtkötter war der Senderchef. Und Dorothea hatte ihn eingeladen. Normalerweise kam Holtkötter nie zu solchen Essen. Aber er mochte Dorothea. Sie wiederum wollte ihn überzeugen, dass sie die ideale Moderatorin für das neue Magazin sei, das Wissenschaft, Gesellschaft und Partnerschaft vereinen sollte. »Think society« oder so ähnlich lautete der Titel.
Entgegen der großmäuligen Ankündigungen würde das Format sich am Ende doch wieder nur darum drehen, warum die Deutschen immer weniger Sex hatten. Und seine Frau sollte diesen Krempel moderieren. Eines Tages würde die Bunte dann vermutlich fragen, wie es denn mit ihrem eigenen Sexleben bestellt sei. Martin fürchtete sich vor der Antwort.
025
Attila zuckte, erschrak und tauchte unter. Das kühle Wasser versetzte ihn schlagartig in Panik. Er schlug um sich. »Alles okay?«, hörte er eine vertraute Stimme fragen. Er riss die Augen auf. Über ihm stand Camille, in einer Sünde von Nachthemd. Attila fand, dass eine Erektion jetzt wohl die angemessene Reaktion wäre. Aber das kalte Wasser verhinderte jede Blutbewegung.
Faszinierend, dass ihn die Kühle des Badewassers nicht aufgeweckt hatte. Wahrscheinlich war es mit ihm wie mit dem Frosch, nur umgekehrt. Der Frosch im Topf merkte nicht, wenn er gekocht wurde, solange die Temperatur kontinuierlich stieg. Und der Mann in der Wanne merkte nicht, dass er erfror, solange das Wasser stetig abkühlte. Attila sortierte seine Gedanken. Er hatte offenbar schon eine ganze Weile in der Badewanne gelegen, weil er eingeschlafen war. Er war heute Morgen gelaufen, mit einem sensationellen Schnitt unter fünf Minuten. Gute Zahlen gaben ihm Kraft. Er musste heute nicht ins Büro, stattdessen zum Check, und seine bezaubernde Frau ließ soeben ihre Brüste über ihm baumeln, denen man gar nicht ansah, dass ihnen das Implantieren von körpereigenem Fett zu jeweils dreihundertfünfzig zusätzlichen Gramm verholfen hatte.
»Konnte man von Liebe sprechen? Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich hatten sie das klarste und fairste Verhältnis, das man sich vorstellen konnte.«
Camille lächelte ihn an, wobei er nie wusste, ob es sich um Sympathielächeln oder Heiratsschwindler-Grinsen handelte. Schließlich hatte er Camille aus ihrem ukrainischen Elend befreit. Daher auch ihr ursprünglicher Vorname Olga, der Attila allerdings entschieden zu stark an Kolchose und Kartoffelacker erinnert hatte. Konnte man von Liebe sprechen? Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich hatten sie das klarste und fairste Verhältnis, das man sich vorstellen konnte. Sie führten eine Win-Win-Beziehung, die edelste Form der Ökonomie. Es gab keine Geheimnisse, keine Hidden Agenda, beide Seiten hatten das Gefühl, ein gutes Geschäft zu machen: Er schenkte ihr ein menschenwürdiges Leben, sie half ihm bei der gesellschaftlichen Perfektionierung: Repräsentieren, Kinderkriegen, die Bude in Schuss halten, eben alles, was ein erfolgreicher Chef von Wesley braucht, um Lebenskompetenz jenseits des Büros nachzuweisen.
Camille ging es wirklich gut bei ihm. Sie hatte ein großzügiges Budget für ihre Klamotten, das sie auch jeden Monat gründlich ausschöpfte. Dafür sah sie immer gut aus und war bei sexuellem Bedarf jederzeit abrufbar.Nur bei der Fruchtbarkeit schien irgendwas unrund zu laufen. Aber hätte er vor der Ehe einen Test einfordern sollen? Wenn sich so was rumgesprochen hätte. Nein, keine Sorge, beruhigte sich Attila, Herren-Männersamen hatte sich noch immer durchgesetzt. Er liebte Nazi-Anspielungen jeder Art, so wie alle Machtmenschen. Mit jeder Flasche Cheval Blanc, die in diesem Land geköpft wurde, fiel mindestens einmal der Name Hitler, Goebbels, Göring, fast immer verbunden mit kollektivem Prusten. Da war sich das Geldgewerbe mal einig. »Du hast mein Omelett vergessen, heute Morgen«, sagte Attila mit leicht mahnendem Tonfall. Er wolle verhindern, dass diese Nachlässigkeiten einrissen. Aus kleinen wurden schnell große Schlampigkeiten. Die Broken-Window-Theorie galt auch für Partnerschaften. Und Camille musste jederzeit klar sein, um wen es in ihrer Beziehung wirklich ging. Ihr esoterischer Fimmel war ihm schon unangenehm genug. Mussten diese vormodernen Urvölker eigentlich immer auf Hokuspokus abfahren?
»Heute es gibt kein Omelett«, sagte Camille sanft, »du darfst nicht essen, wegen die Untersuchung.«
»Wegen der Untersuchung«, korrigierte Attila. Immer jede Chance nutzen, um besser zu werden.
»Wie war das Bauchgetränk«, fragte Camille, »sehr schlimm?«
Attila sprang aus der Wanne. Verdammt, er hatte gestern Abend den Darmreinigungstrunk vergessen. Er hatte die Karaffe mit der trüben Brühe extra auf seinem Schreibtisch platziert, wo er bis kurz nach zwei gesessen und gearbeitet hatte. Aber er hatte nicht einen Schluck getrunken. Er konnte den Check unmöglich platzen lassen, nur weil er seine Aufgabe nicht erfüllt hatte. Bei Wesley würden sich alle das Maul zerreißen.
Was tun? Vierundzwanzig Stunden vor der Untersuchung hätte er einen Liter von diesem Zeug trinken müssen. Nun waren es kaum mehr als zehn Stunden bis zum Termin, also musste er mindestens die doppelte Menge trinken: Zwei Liter in zehn Stunden waren ungefähr so gut wie ein Liter in vierundzwanzig Stunden.
Attila fuhr in seinen Bademantel, huschte Camille einen Kuss auf die Wange und hastete auf die Galerie, zu seinem Schreibtisch. In der Karaffe stand eine gelbliche Flüssigkeit mit einem wolkigen Bodensatz. »Attacke«, dachte Attila und hob den Krug an die Lippen. Er trank und trank ohne abzusetzen, fest entschlossen, den Geschmack überhaupt nicht wahrzunehmen, bevor die Karaffe leer war. Doch als der erste Schwung vom Bodensatz seine Kehle traf, konnte er das Würgen nicht länger unterdrücken. Tränen schossen ihm in die Augen.
Aber er setzte nicht ab. »Stell dir vor, es geht um dein Leben«, feuerte er sich an. Das dachte er immer in entscheidenden Momenten. In Augenblicken existenzieller Not mobilisierte die Psyche jene entscheidenden Prozente, die über Sieg und Niederlage entschieden. Noch zwei Schlucke, dachte Attila. Schweigend sah Camille von unten aus dem Kaminzimmer zu, wie ihr Mann auf der Galerie einen merkwürdigen Kampf ausfocht. Sie war froh, diesen Vormittag nicht zu Hause zu verbringen.
Attila warf ihr einen triumphierenden Blick hinab. Den zweiten Liter würde er sogleich ansetzen.
Sie lächelte hinauf zu ihm. Sie liebt mich wirklich, dachte er.
026
Es war alles so praktisch in Maiks Leben. Henry konnte allein zur Schule gehen, in weniger als zehn Minuten. Auf dem Weg dorthin las er zwei Klassenkameraden auf, die ebenfalls in ihrer Eigenheimsiedlung wohnten. Und gleich neben der Schule lag die Kita, in der Henry seine kleine Schwester Anna abzuliefern hatte, die meistens artig an der Hand ihres großen Bruders ging. Alles unendlich praktisch.
Maik war fast aus einem kurzen, tiefen, traumlosen Schlaf erwacht, als Ulrike die Tür öffnete. Sie hatte sich immer ein praktisches Schlafzimmer gewünscht, mit eigenem Badezimmerzugang und einem begehbaren Kleiderschrank. Er hatte all ihre Wünsche erfüllt, so wie immer, seit sie zusammen waren, fast zwanzig Jahre jetzt schon. Maik sah das marokkanische Hauszelt über dem Stuhl hängen. Ulrike war in ihrem Kleiderschrank verschwunden.
»Maik dachte nach, warum die Lust exakt in jenem Maße verschwunden war, in dem das Wort ›praktisch‹ in ihr Leben eingezogen war.«
Früher wäre er leise, aber mit anschwellender Latte aufgestanden, hätte sich angeschlichen und sie mit gierigen Griffen überzogen. Sie hätte es sich genussvoll grunzend gefallen lassen. Sie wären in einem großen Körperknäuel auf dem Bett gelandet und drei Minuten später entspannt auseinandergefallen. Kleiner Akt, große Wirkung.Gelassen wären sie beide in den Tag gestartet.
Maik dachte nach, warum die Lust exakt in jenem Maße verschwunden war, in dem das Wort »praktisch« in ihr Leben eingezogen war. War Ulrike eine glückliche Frau? War er ein glücklicher Mann? Oder war er es zumindest einmal gewesen? Waren ihre Kinder glücklich? Oder war alles einfach nur praktisch, ihr gesamtes Leben nur darauf ausgelegt, so schnell und so reibungslos wie möglich absolviert zu werden, ohne Kurven, Kanten, Chaos.
Sie hatten Erfolg, immerhin. Maik war vom DDR-Bürger mit Gärtnerlehrezum führenden Gestalter des größten Berliner Gartencenters aufgestiegen. »Kontrolliert-kreatives Durcheinander« machte seine Entwürfe aus, hatte eine design-fixierte Stadtzeitung geschrieben. In den Dandy-Kreisen der Hauptstadt galt es inzwischen als schick, sich einen Ost-Murkel zu mieten, und sei es nur zum Aufstellen der biologisch abbaubaren Blumenkästen, die sie bei Manufaktum bestellt hatten.
Ulrike dagegen hatte sich nach der Geburt von Henry entschlossen, ihren Job als Buchhändlerin aufzugeben. Es hatte ihr ohnehin keinen großen Spaß gemacht, die erzkonservativen Weltsichten halbgebildeter und völlig zu Recht alleinstehender Zeit-Leserinnen mit Literatur-Empfehlungen zu stützen.
Auch wenn sie viel lieber Krimis und Abenteuer-Romane las, musste sie am Ende doch wieder zu Büchern raten, in denen sich tapfere kleine Frauen durch eine böse Männerwelt kämpften. Oder sie verkaufte Lebenshilfe, mehr oder weniger intellektuell verpackt. »Männer sind Schweine, oder wie ich zwanzig Kilo abnahm und meine Traumfrisur fand« - das wäre der ideale Buchtitel, den sie jeder Kundin jede Woche aufs Neue verkaufen konnte, hatte Ulrike einmal gesagt. »Buchmarkt ist Frauenmarkt«, so lautete eine der ewigen Weisheiten der Branche. Maik hatte vollstes Verständnis dafür, dass seine Frau keine Lust hatte, unter diesen Umständen zu arbeiten.
Aber musste sie jetzt zweifelhafte Diät-Produkte im Bekanntenkreis vertreiben? Maik fand das Schneeball-Prinzip relativ unseriös, mit dem wertlose Fruchtfaser-Pillen, die nach Hundefutter schmeckten, flächendeckend verscheuert wurden. In ihrem Carport-Ghetto gab es noch zwei weitere Damen, die ebenfalls mit maßlos überteuerten Schlankheitsmittelchen von Tür zu Tür zogen.
Immerhin stand Ulrike jetzt unter dem Druck, tatsächlich abnehmen zu müssen. Maik wusste: Das war ihr Kick. Es ging nicht darum, ein paar hundert Euro nebenher zu verdienen oder was Eigenes zu haben. Sie wollte sich selbst unter Druck setzen. Ihre persönliche, für alle Bewohner der Siedlung sichtbare Story sollte das ideale Verkaufsargument werden. »Wie haben Sie denn das geschafft?«, wollte Ulrike in spätestens drei Monaten von Nachbarinnen, Spielplatzbekanntschaften und Mitschülereltern gefragt werden. Dann würde sie ganz lässig auf ihre Pillen hinweisen und serienweise Jahres-Abos verkaufen.
Das postmoderne weibliche Ideal von der totalen Unabhängigkeit faszinierte Ulrike nicht sonderlich; sie hatte keine Probleme damit, sich ökonomisch und emotional einem Mann anzuvertrauen. Ihr großer Traum war der von der ewigen heilen Familie. Dafür war sie bereit, jedes erdenkliche Opfer zu bringen: ihren Job aufzugeben, zu kochen, zu putzen, ihrer Brut vierundzwanzig Stunden am Tag den Hintern nachzutragen, ihr gesamtes Leben auf dem Altar der Heiligen Vielfaltigkeit von Vater, Mutti und Kindern preiszugeben, selbst ihren früher so prallen Po, der inzwischen leider eine gewisse Lappigkeit aufwies. Immerhin hatte sie gemerkt, dass auch das teuerste Walking-Equipment gegen den Verfall so wenig half wie Aspirin gegen Krebs.
Ulrike nutzte ihre demonstrative Selbstaufopferung zugleich knallhart zur emotionalen Geiselnahme. Der unausgesprochene Text lautete: Wenn ich mein Leben gebe, um unsere Familie zu hegen, lieber Maik, dann stehst du auch in der Verantwortung. Es wäre unfair, mich erst in die totale Abhängigkeit zu zwingen und dann sitzen zu lassen. Komme ja nicht auf die Idee, dich deinen Pflichten entziehen zu wollen. Das kannst du nicht bringen; damit ruinierst du unser aller Leben und dich, vor allem moralisch.
Maik lag im Bett, kratzte sich genussvoll im Schritt und hörte Ulrike im Kleiderschrank rumoren; sie würde in irgendetwas Zeltartigem zum Vorschein kommen, so wie immer, seit sie sich das Gewicht von zwei Kästen Bier auf die Hüften geladen hatte. Maik hatte kein Problem damit; er mochte Üppigkeit. Aber Ulrike fühlte sich nicht wohl. Neulich hatte er sie dabei erwischt, wie sie zwei Schlankmacherslips beim TV-Shopping bestellt hatte. Die Dinger pressten Fett und Fleisch zusammen, mit der unglaublichen Gewalt einer Gummimischung, wie sie sonst nur in Bremsseilen auf Flugzeugträgern verarbeitet wurden.
Die Hosen, die vom Nabel bis fast zum Knie reichten, sorgten für Durchblutungsstörungen, Atemnot, vor allem aber für unglaublich hartnäckige Pressfalten durch den stundenlangen Druck. Ulrike war vor allem auf die Außenwirkung bedacht, also auf ihre Silhouette. Was sie leider überhaupt nicht mehr bedachte, war die Binnenwirkung: Wie sollte ein Mann sich an seiner Frau aufgeilen, die selbst bei vollständiger Dunkelheit ein Völlegefühl erzeugte, weil sie nach alten Autoreifen roch?
Ulrike kam aus dem Kleiderschrank. Sie war nackt bis auf ein durchsichtiges Nichts von Bluse. Ihre immensen Brüste hüpften in grenzenlosem Optimismus. »Mach mal Platz«, befahl sie und schlüpfte zu ihm unter die Decke. Maik musste umdenken. Es gab Momente, da verspürte er tatsächlich noch so etwas wie Liebe zu dieser Frau, nicht nur wegen der Kinder.
027
Lars stemmte sich mit aller Kraft gegen die Blase, aber der Druck war stärker. Er blickte auf den Wecker. Kurz nach acht. Mit sehr viel Kreativität könnte er den Morgen so gestalten, dass er noch eine gute Stunde würde pennen können. Lars hielt seinen Schwanz über die Schüssel. Das Ding brannte. Wo früher ein strammer Strahl heraus schoss, tröpfelte es jetzt wie bei einem undichten Wasserhahn. Dafür nahm das Plätschern überhaupt kein Ende mehr. Und was waren das für komische rote Flecken? Klare Sache: Inkontinenz, Prostatakrebs und Schwanzpilz. War ja klar, dass er eines Tages würde bezahlen müssen für seinen Lebenswandel.
»Wenn er schon sterben musste, dann wollte er lieber in den Himmel, als einfach nur zu Staub zu zerfallen: Nur jetzt gerade bitte nicht. Er hatte noch so viel vor.«
Er hatte sich in letzter Zeit immer mal wieder mit dem Gedanken getragen, zu beten. Das Leben als Atheist war ihm zu unsicher geworden. Wenn er schon sterben musste, dann wollte er lieber in den Himmel, als einfach nur zu Staub zu zerfallen: Nur jetzt gerade bitte nicht. Er hatte noch so viel vor.

9 UHR

028
Es wummerte an der Tür. »Spacko, komm ma’ raus!« Jochen fuhr empor und blickte auf die Uhr. Kurz vor neun. Bretti, der Arsch. Der Kerl wusste genau, dass er von der Nachtschicht kam. Aber er wusste auch, dass Jochen gern noch wixte oder im Internet surfte, um in einigen Blogs zu posten. Was sollte der Radau?
»Was willst du, Vollpfosten?«, brüllte Jochen. Eine Beleidigung pro Satz war Minimum und der Beweis, dass alles stimmte zwischen ihnen. »Wir müssen mit dir reden«, erklärte Bretti.
Wir? Wieso wir? Litt Bretti inzwischen an multipler Persönlichkeit?
Jochen nahm einen tiefen Atemzug. Mal ganz subjektiv gerochen, lag ein zarter Hauch von maskuliner Erotik in der Luft. Sensiblere Nasen könnten es auch für das erste Stadium von Pumakäfig bezeichnen.
»Ich komm’ ja schon«, ächzte Jochen und wälzte sich von seiner Matratze. Er riss das Fenster auf und streifte sich das XXL-T-Shirt mit Tweety und Sylvester über, das auch schon mal weiter gesessen hatte. Seine Latte hatte sich zum Glück gelegt, maximal zwanzig Prozent morgendlicher Resterektion.
Jochen riss die Tür auf. Da stand Bretti, frisch geduscht, an der Hand Julia, frisch gefickt. Aha, deswegen also »Wir«. Was sollte der Auftritt? Organisierte Bretti jetzt Besichtigungen von Jochens Zimmer, als Musterbeispiel für merkwürdige Single-Behausungen? War er seltsam geworden, ohne es zu merken? In Jochen stieg das Gefühl auf, bisweilen nicht am richtigen Leben teilzunehmen.
»Wollt ihr mich zum Frühstück einladen?«, fragte Jochen. Ein originellerer Spruch war ihm so schnell nicht eingefallen. Plötzlich durchfuhr ihn ein heißer Gedanke. War Bretti mit seiner ohnehin nicht bemerkenswerten Kondition am Ende? Wollte Julia noch eine Runde, aber Bretti konnte einfach nicht mehr? Vielleicht durfte er als Notnagler mitmachen - so wie fast bei dem Cabrio-Paar.
»Alter«, sagte Bretti, »ich hab immer nur dich geliebt.«
Jochen guckte skeptisch. Das klang nur mit sehr viel Phantasie wie eine Einladung zum Sex.
Julia schnupperte in die halboffene Tür. Jochen spürte, dass sich zwanzig Prozent Latte auf knapp fünfzig Prozent steigerten. Der Gedanke, dass dieses Nichts von Frau ein solches Sex-Konzert veranstaltete, machte ihn nun mal rappelig.
»Vielleicht durfte er als Notnagler mitmachen - so wie fast bei dem Cabrio-Paar.«
»Pass auf, mein herzallerliebster Joe«, sagte Bretti, »Männer wie wir brauchen keine großen Worte, oder? Also machen wir’s kurz: Ich ziehe aus, jetzt sofort, zu Julia. Die Miete bezahle ich dir natürlich bis Monatsende. Aber ich will, dass du die Chance hast, so schnell wie möglich einen neuen Mieter zu finden. Da zählt ja jeder Tag. Wir hatten ja schon ewig vereinbart, dass wir uns völlig entspannt trennen, wenn eine Frau sich anschickt, eines unserer Leben zu verwüsten.« Julia fasste Brettis Hand.
Jochen war sprachlos. Brettis schwanzgesteuerte Dummheit erschütterte ihn noch mehr als der gestelzte Mist, den der Kerl verzapfte, nur weil er die Perle beeindrucken wollte, die neben ihm stand und triumphierend grinste.
Eine Frau, na gut, dafür konnte keiner was. Aber es war nur Julia, ein begnadeter Schreihals, aber ansonsten ein Nichts. Wollte Bretti mit diesem Glas Leitungswasser von Frau die nächsten fünfzig Jahre zubringen, ein Reihenhaus abbezahlen, aber deutlich vor der letzten Rate an Langeweile sterben?
War doch völlig klar, dass Julia den Radau im Moment der Eheschließung einstellen würde, wahrscheinlich würde sie schon in dem Moment leiser, da Bretti bei ihr eingezogen war. Klarer Fall von Show-Orgasmus.
»Aha. Kein Glas Milch mehr, sondern jetzt die ganze Kuh«, entfuhr es Jochen.
Bretti grinste verhalten. Er wusste, was Jochen dachte. Hoffentlich schämte er sich wenigstens für seine emotionale Schwäche. Eine Frau - lachhaft.
Julia guckte irritiert.
Jochen überlegte, wie er diese völlig beschissene Situation möglichst mannhaft durchstehen sollte. »Okay, kein Problem«, sagte er schließlich, »leg die Schlüssel auf den Küchentisch. Ich hau’ mich jetzt wieder hin.«
Jochen drehte sich um und zog die Tür hinter sich zu. Bretti hatte ihn verlassen. Einfach so. Wegen einer Frau. Jochen fühlte sich allein wie lange nicht mehr. Sie hätten ihm alles nehmen dürfen. Aber nicht seinen einzigen Freund.
029
Dorothea war schon seit Ewigkeiten im Bad zugange. Heute Abend nach der Arbeit würde sie gemeinsam mit Holtkötter aus dem Sender kommen. Da blieb keine Zeit mehr für Restaurierungsarbeiten. Martin überlegte, wann Dorothea das letzte Mal so viel Zeit investiert hatte, um sich für ihn aufzuhübschen. Eigentlich noch nie, stellte er fest. Vielleicht würde sie ihm ja anlässlich ihrer Hochzeit diese Ehre erweisen. Die Tür öffnete sich wie ein Windhauch, und Dorothea kam lautlos aus dem Bad geschwebt. Sie trug einen limettenfarbenen Bademantel, der ihr unverschämt gut stand. Martin fragte sich immer,ob es Absicht war, dass sie den Knoten des Gürtels so locker schloss, dass seine Augen nicht wussten, ob sie zuerst auf ihre bezaubernden Brüste starren sollten oder auf ihre Schenkel, die fast bis ganz oben zu sehen waren. Martin betrachtete sie und hörte sich sprechen: »Sag mal, läuft da was mit Holtkötter?« So lange, wie sie sich gerade aufgehübscht hatte. Dorothea warf ihm einen amüsierten Blick zu und sagte: »Du spinnst wohl. Mit dem habe ich höchstens Brainfuck. Er will immer, und ich mache ihm Hoffnung, er könnte irgendwann vielleicht mal.«
»Da waren nur noch Taschequer-Luschen, Dreiviertelcargohosen-Träger und Zauderer, die erstmal lange Bewältigungsgespräche führen wollten, während die Frauen einfach nur Sex im Kopf hatten.«
Sehr feministisch war das nicht. Aber dafür hatte sie ja auch ihn. Martin wehrte sich erfolglos gegen das Gefühl, unter einem Rollenkonflikt zu leiden. Wie sollte er denn jetzt sein, der Mann? Krieger, pfeifende Bauarbeiter, agile Staubsaugervertreter, Rüpel, Rocker - alle ausgestorben. Stattdessen waren da nur noch Taschequer-Luschen, Dreiviertelcargohosen-Träger und Zauderer, die erst mal lange Bewältigungsgespräche führen wollten, während die Frauen einfach nur Sex im Kopf hatten.
»Denk an den Wein«, sagte Dorothea in ihrem wundervollen Generalston. »Holtkötter trinkt nur Bordeaux, alles andere hält er für Katzenpisse.« Martin kannte Holtkötter gar nicht richtig, aber er war jetzt schon bereit, ihn abgrundtief zu hassen. »Bordeaux, Bordeaux, Bordeaux«, wiederholte Dorothea, als habe er nicht alle Latten im Zaun, »Harry wird wieder versuchen, dir irgendetwas anderes anzudrehen. Aber du wirst standhaft bleiben, dieses eine Mal jedenfalls, okay?«
Martin liebte ihr »Okay?« Erst behandelte sie einen wie den letzten Dreck, aber dann kam, ganz am Ende, dieses »Okay«: versöhnlich, kameradschaftlich, aufmunternd, geradezu verschwörerisch.
»Bordeaux, Bordeaux, Bordeaux«, wiederholte Martin. Dorothea nickte. Sie schnürte ihren Bademantel fester zu, was die Aussichten deutlich reduzierte. Das war eine klare Provokation. Und sie wusste es.
Martin hätte ihr jetzt gern ein paar rustikale Kommandos gegeben. Und sie hätte vielleicht sogar gehorcht. In sexuellen Angelegenheiten waren ihre Machtverhältnisse immer komplett umgekehrt gewesen. Dorothea hatte es früher genossen, grob behandelt zu werden. Und Martin hatte immer große Freude daran gehabt, mit jener Angst und jener Hoffnung zu spielen, die Dorothea praktisch unablässig durchbebt hatte. Einerseits hatte sie seine Befehle gefürchtet, andererseits durch kalkulierte Unartigkeiten immer wieder eine Bestrafung provoziert. Bisweilen hatte ihn das Spiel genervt, jetzt wäre er froh, wenn er es öfter spielen dürfte. Es hatte ihr Leben unter Spannung gehalten.
030
Im Rasierspiegel sahen die Poren aus wie Krater, in denen all seine Hoffnungen verschwanden. Lars dimmte das Badezimmerlicht und musterte sein Gesicht von allen Seiten. Eine gute Stunde Schlaf pro Nacht war nicht gerade das, was einen Menschen schöner machte.
Lars hatte die Spiegel so angeordnet, dass er jeden Millimeter seines Körpers kontrollieren konnte. Er verachtete Männer, die sich gehen ließen. Als Single konnte er sich keine Bindegewebsschwäche leisten. Da draußen herrschte Krieg zwischen den Geschlechtern, eine einzige Kampfzone, das hatte doch dieser verklemmte Franzose geschrieben. Nur die Attraktivsten spielten mit, und er wollte dazugehören.
Jeden Morgen kontrollierte er zuerst sein Kinn. Das Kinn war der wunde Punkt des Mannes. Man konnte trainieren, wie man wollte - wenn man am Kinn ein genetisches Gewebeproblem geerbt hatte, hatte man spätestens mit vierzig ein Doppelkinn und sah mit fünfzig aus wie ein Leguan. Auf die üblichen Liegestütze zur Straffung der Brustmuskulatur verzichtete er heute, mit Rücksicht auf seinen Kreislauf. Lars zitterte.
Im Gym musste er dringend wieder auf den Stepper, auch wenn das ein eher schwules Gerät war. Aber er hatte den Eindruck, sein Po baumelte ein wenig schlaff herum. Der Hintern ist das Kinn der Rückseite, dachte Lars. Geht gar nicht. Bei alten Frauen, also denen in seinem Alter, kam man auch als Leguan mit Hängearsch durch. Aber darauf wollte er sich erst gar nicht einlassen. Das wäre die größte Niederlage, wenn er sich plötzlich mit so einer Schabracke begnügen müsste. Der Maßstab war die Praktikantin, jetzt und für immer.
»Als Single konnte er sich keine Bindegewebsschwäche leisten.«
Lars inspizierte seinen Hinterkopf Millimeter für Millimeter unter einem speziell ausgerichteten Halogenstrahler. Kreisrunder Haarausfall wäre der Tod. Er nahm jeden Morgen Alpecin Liquid und Seborin Hair Tonic, manchmal beide Mittel zugleich und in doppelter Dosis. Man konnte sich nicht sorgfältig genug pflegen. Er hatte die komplette Produktpalette von Biotherm im Regal, für gereizte und empfindliche Haut, gegen vorzeitiges Altern und Pflege für den ganzen Tag.
Sein Kopf brannte immer noch. Lars fühlte sich immer noch nicht fit, aber mit Kosmetika für zwanzig Euro auf der Haut zumindest wertvoll.
031
Attila stöhnte. Das Grummeln hatte sich in seinem Magen ausgedehnt und zu mehreren verheerenden Eruptionen geführt. Zum ersten Mal seit Langem war er verdammt froh, nicht im Büro zu sein. Er hatte Jaspers zurückgerufen, der erst um halb acht auf seine Mailbox gesprochen hatte, und ihm eingeschärft, jedes Wort zu protokollieren, dass die Bindinger fallen ließ, insbesondere Gehässigkeiten über Attila.
Beim Sprint zum Klo hatte er den Blackberry abgeschaltet, was er sonst niemals tat. Aber wie schnell passierte es, dass man eine Handy-Verbindung versehentlich aufrechterhielt. Attila wollte sicher gehen, dass es keine Zeugen gab, wenn sich Magen und Darm ein weiteres Mal geräuschvoll umstülpten.
032
Keine Schwäche zeigen, schon gar nicht nach einer durchzechten Nacht. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps. Das war wahrscheinlich der Erste von unendlich vielen Sinnsprüchen, die Maik von seinem Vater gelernt hatte. Die Botschaft war klar: Wer bis in die Puppen saufen kann, der kann auch am nächsten Morgen als Erster im Büro sein. War nicht gerade ostig, diese Haltung, aber Maiks Vater war auch eher Preuße gewesen als DDR-Bürger.
Auf dem Weg zum Gartencenter überlegte Maik, was er in den letzten zwölf Stunden alles erlebt hatte: Lehmanns Attacke, um ihn in den Betriebsrat zu quatschen, ein paar Gläser Goldkrone als Digestif, dann der Thai-Schuppen, der Typ an der Tanke, die Waltons zu Hause, eine überraschend geile Ulrike und praktisch kein Schlaf.
Natürlich hätte Maik zu Hause bleiben können. Als Chef-Kreativer hatte er alle Freiheiten. Aber er hatte immer noch Probleme damit, diese Freiräume auch zu nutzen. Er fühlte sich faul, illoyal, arrogant, wenn er zu Hause arbeitete.
»Du spinnst«, sagte Ulrike immer, wenn er über seine Pflichtgefühle redete. Das war die falsche Antwort. Zuerst einmal waren seine Empfindungen nicht falsch oder schlecht, sondern tendenziell edel. Er wollte sich seinem Arbeitgeber gegenüber als fleißiger Angestellter erweisen und zugleich nicht aus der Schar der Mitarbeiter ragen. Maik hätte mehr Verständnis erwartet für seine Haltung. Aber Ulrike versuchte nie, die Welt durch seine Augen zu betrachten. Sie dachte nur an sich und die Kinder. Und ein Papa, der viel zu Hause war, der war gut für die Familie. Außerdem hob ein Mann, der zu Hause arbeitete, das Sozialprestige in Reihenhausen. Die ganzen Hektiker in der Nachbarschaft, die sich wahrscheinlich schon überlegten, wie sie sich den Blackberry in den Unterarm implantieren könnten, verkrümelten sich morgens vor acht und liefen abends erst nach zehn wieder zu Hause ein.
In Wirklichkeit war diese Siedlung keine Familiengegend, sondern ein Endlager für Hunderte praktisch alleinerziehender Frauen, die gelegentlich Besuch von einem Mann bekamen, der ihnen jeden Tag fremder wurde. Über die Jahre wurden sie fett und grau, während der Gatte sich fröhlich von Praktikantin zu Praktikantin bumste.
Maik hatte sich lange gesträubt, in eine dieser austauschbaren, unfassbar praktischen Neubauschachteln zu ziehen, die vor allem eines waren: eine Vorstufe des Sarges. Begriffe wie »Reihenendhaus« klangen in Maiks Ohren nicht nach Qualitätsmerkmal, sondern machten ihm einfach nur Angst.
Aber Ulrike hatte sich nach Jahren ausdauernder Quengelei durchgesetzt. Sie wollte Übersicht im Leben. Bullerbü wäre der ideale Wohnort für sie gewesen, allerdings nicht der Mittelhof, sondern einer der beiden Reihenendhöfe, am besten der im Süden, weil dort mehr Licht ins Kinderzimmer schien und der Garten größer war. Jahrelang hatte Maik gehofft, Ulrike würde eines Tages einsehen, dass nicht die äußeren Umstände ein Leben spannend machten, sondern die Haltung.
Aber Ulrike wollte gar keine andere Haltung, sondern einfach nur Beständigkeit. Sie ging am liebsten jeden Tag in die gleichen Geschäfte, absolvierte die gleichen Dialoge mit ihrer Mutter, die sie als »meine beste Freundin« bezeichnete, und legte jeden Morgen einen aufs Gramm genau gleich schweren Haufen in die Schüssel. Seit sie sich kennengelernt hatten, fuhren sie jeden Sommer in die gleiche Pension auf Wangerooge, eben dorthin, wo sie mit ihren Eltern bereits die Ferien verbracht hatte. Wenn der Hund des Vermieters starb, schickte Ulrike eine Trauerkarte.
Maik war nichts egaler als irgendeine schnappende Kackmaschine. Aber er hatte auch eingesehen, dass es völlig sinnlos war, Grundsatzdebatten über derlei Kinkerlitzchen anzuzetteln. Denn das Finale verlief immer identisch. »Du bist so herzlos«, schluchzte Ulrike früher oder später. Und Maik fühlte sich mies, ohne genau zu wissen warum. Eigentlich fühlte er sich ganz gern mies - schließlich war er Ossi. Tränen sind die hinterlistigste Masche überhaupt. Sie beenden jede halbwegs vernünftige Diskussion mit einem moralischen Sieg für die Frau. Denn wer weint, hat automatisch recht. Also heulten Frauen immer dann los, wenn sie merkten, dass sie unterliegen könnten.
»Tränen sind die hinterlistigste Masche überhaupt. Sie beenden jede halbwegs vernünftige Diskussion mit einem moralischen Sieg für die Frau.«
Ulrike weinte oft, um sich durchzusetzen. Und wenn Maik einmal wagte, ihr trotzdem nicht recht zu geben, so gab es ja noch Mutti und Vati: Und die lebten praktischerweise seit zwei Jahren ganz in der Nähe. Nach jahrelangen juristischen Scharmützeln hatten ihre Eltern eine Familienimmobilie vom bösen Osten zurückerobert und waren tatsächlich von Wuppertal in die Nähe der Hauptstadt gezogen. Er schätzte angeblich das preußische Potsdam, sie tat so als liebte sie die Berliner Kultur, und beide fühlten sich, umringt von Ossis, herrenmenschlich wie die Buren in Südafrika. Ihren Besitz würden sie notfalls mit Waffengewalt gegen die Wilden verteidigen. Seither musste er seine Frau nicht nur mit zwei Kindern, sondern, viel schlimmer, auch noch mit zwei chronisch übellaunigen Senioren teilen, die schon dadurch zur Last fielen, weil sie pausenlos betonten, dass sie nicht zur Last fallen wollten.
Auch deswegen fuhr Maik gern ins Büro. Denn spätestens um halb zehn begann Schwiegermutter Leni damit, zur Last zu fallen. Früher überlegte sie sich wenigstens noch einen Vorwand - Brötchen vorbeibringen, Gardinen abnehmen und waschen, Bob-der-Baumeister-Poster im Kinderzimmer aufhängen -, doch inzwischen stand sie einfach so vor der Tür, unangekündigt, jeden Tag.
Von Maik hielten Ulrikes Eltern gar nichts: Erstens war er Ossi. Zweitens hatte er in der DDR nicht studieren dürfen, weil seine Familie seit jeher Ärger mit dem System hatte. Für Ulrikes Eltern war das Studienverbot kein Beweis von menschlicher Integrität und Aufrichtigkeit, sondern eher Indiz dafür, dass mit diesem Burschen und seiner Familie irgendetwas nicht in Ordnung sein konnte. Klar, wenn die Stasi schon ihre Bedenken hatte; dann wirdja wohl was dran gewesen sein. Wo Rauch ist, fällt man nicht weit vom Stamm. Drittens hatte Maik nach dem Mauerfall keine neue Ausbildung mehr begonnen, geschweige denn ein Architektur-Studium, wie er es sich immer erträumt hatte, sondern er hatte sich durch verschiedene Gartenbaufirmen hochgerackert. Wer etwas von Grünzeug verstand, merkte sehr schnell, dass Maik ein geradezu magisches Verständnis für Pflanzen hatte, für jede einzelne und die Komposition von vielen, auch bei größeren Ensembles wie Gärten und Terrassen. Unlängst erst hatte er für einen Adeligen in Brandenburg einen ganzen Schlosspark gestaltet. »Lenné hätte vor Glück gejuchzt«, hatte der Freiherr hinterher gesagt. Maik war glücklich. Es tat ihm gut, Beständiges zu schaffen.
Dass er nach der Pleite mit seinem eigenen kleinen Betrieb ausgerechnet in einem Gartencenter gelandet war, hatte er anfangs als Katastrophe empfunden. Aber inzwischen hatte sich der Job als Glücksfall entpuppt. Denn mit dem Verkauf von Stiefmütterchen und Säcken voller Blumenerde war kein großes Geschäft mehr zu machen.
Allerdings wussten immer weniger Kunden, wie sie denn Pflanzen, Erde, Dünger und Pötte halbwegs sinnvoll zu kombinieren hatten. Hier half Maik. Für einen fürstlichen Stundenlohn beriet er vermögende Rentnerinnen, gestresste Anwälte, gelangweilte Zahnarztgattinnen und betont lässige Medien-Fuzzis, die zwar mit einem blütenprächtigen Garten protzen wollten oder mit ihrer zen-artigen Dachterrasse, aber nicht die geringste Ahnung hatten, wie solche floralen Kleinode anzulegen und am Sprießen zu halten waren.
Heute Vormittag erst war er wieder von einer Fernsehmoderatorin gebucht. Er hatte ihren Namen noch nie gehört, aber das durfte er natürlich nicht sagen, wenn er sie begrüßte. Vielmehr hatte es sich bewährt, jeden noch so Semi-Prominenten um eine Autogrammkarte anzugehen. Damit war der nächste Job schon so gut wie ausgemacht. Du denkst schon wie ein Wessi, ermahnte sich Maik. Und das war kein Kompliment. Die Krone der Schöpfung war ja wohl der Ost-Mann.

10 UHR

033
Jochen versuchte wieder einzuschlafen. Klappte nicht.
Jochen versuchte noch mal zu onanieren. Klappte nicht. Jochen versuchte seine Gedanken zu ordnen. Klappte nicht. Wie ein Steilwandfahrer sauste ein einziges Wort pausenlos an der Innenwand seines Schädels entlang: Warum? Warum, Bretti? Warum dieses Weibsstück? Was sollte der Scheiß, du blöde, alte, dumme Sau?
Acht Jahre hatten sie zusammengewohnt, sie hatten alles geteilt, sogar die Frau, theoretisch jedenfalls, wenn es eine gegeben hätte - das hatten sie mal morgens um drei nach sehr viel Bier beschlossen. Sie waren füreinander gemacht, wie Tom und Jerry, Starsky and Hutch, Fischer und Abramczik. Bis auf die Geburt und das erste Mal Sex hatten sie praktisch alle wichtigen Momente ihrer Leben geteilt. In den Jahren des ersten Dotcom-Hypes hatten sie zusammen eine Firma gegründet, die so was Ähnliches wollte wie Google. Mit ein paar Tausendern mehr hätten sie es vielleicht geschafft, dann hieße Google jetzt nicht »Google«, sondern »JoBrett«. Bretti war ganz kurz davor gewesen, den entscheidenden Logarhythmus zu programmieren.
Leider waren ihre Rechner zu langsam gewesen. Der Typ, der sie an die Börse bringen wollte, erwies sich zudem als Gangster. Bis zum vergangenen Jahr hatten sie die Schulden aus der Insolvenz abgestottert, heldenhaft gemeinsam. War das jetzt alles nichts mehr wert, nur weil Bretti einen Weg sah, seinen Samenstau aufzulösen? Für einen gottverdammten System-Administrator hatte Bretti eindeutig zu viele Hormone.
Jochen überlegte: Er könnte versuchen, Bretti umzudrehen. Mit einem Kasten Veltins und einer Flasche Goldkrone hätte er ihn so weit. Bretti würde ihm morgens um drei schluchzend um den Hals fallen, laut greinen »wie konnte ich nur, Alter …« und Julia bei nächster Gelegenheit in ihren mittelguten Hintern treten.
Was aber, wenn Julia konterte? Wenn sie beim nächsten »Meat and Greet« noch hemmungsloser schreien würde, und zwar Dinge, die nicht mal Jochen seinem alten Kumpel Bretti bieten konnte, zum Beispiel in Phase III, nach Luft ringend, winselnd, kieksend, flehend, betend: »Ooooh, ja, du machst das so gut, so hart, du bist der geilste Liebhaber der Welt! Bitte, geh nie wieder raus!« Dagegen hätte selbst er mit einem Fass Goldkrone keine Chance. Julia, die alte Schlange, würde diesen Trumpf knallhart ausspielen.
Die Wahrheit krachte wie eine Keule zwischen Jochens Augen: Er hatte verloren. Er war raus aus dem Spiel. Bretti war Geschichte. Aus. Vorbei. Entscheidend war jetzt nur noch, wie er mit der Niederlage umgehen würde. Er könnte jetzt tage-, wochen-, monatelang jammern und sich zum Vollidioten machen. Aber mit welchem Ergebnis? Im schlimmsten Fall litt sein wichtigstes Projekt - Beyond Cool. Außerdem würde Bretti seinen Teil an der Kaution abdrücken müssen. Und damit konnte Jochen die zwei Monate Mietrückstand begleichen, fast jedenfalls. Jochen schluckte einen großen Kloß Trauer herunter, erhob sich so elegant wie möglich von seiner Matratze und aktivierte seinen Rechner.
Er überlegte, welcher Kleinanzeigentext einigermaßen entspannt klänge. Klar, die Schlüsselworte lauteten: Radio-Moderator, frauenfrei, unschwul, bezahlbar, gute Lage, keine behämmerten WG-Rituale, überhaupt keine erzkonservative altlinke Dogmen-Scheiße, eher ultra-liberal. Wenn er ehrlich war, hatte Jochen nichts dagegen, auch in Zukunft zumindest Ohrenzeuge eines sexuell überdurchschnittlich aktiven Mitbewohners zu werden.
Nach vielen Korrekturen, mit denen er vor allem jedes Anzeichen von Verbitterung bekämpft hatte, war Jochen so weit: »Radio-Moderator bietet ab sofort großes helles, renoviertes Zimmer im Bestwesten. Putzfrau statt WG-Irrsinn. Nur unkomplizierte Bewerber.«
Jochen fragte sich selbstkritisch, wie er als Zimmersuchender auf eine solche Anzeige reagieren würde. Er beschloss, dass der Ton eine Spur arrogant, aber in Ordnung war. Es war ein erwachsener Sound.
Blieben zwei Probleme: Er brauchte erstens eine Putzfrau. Und musste zweitens Brettis Zimmer so schnell wie möglich renovieren; Minimum waren Plane, Klebeband, Rolle, Pinsel und zwei Eimer Alpina. Baumärkte waren fast so sehr Frauenhaus für Männer wie Tankstellen. Wie sollte er all diese Aufgaben lösen? Und dann musste er auch noch drei Stunden in seinem neuen Job schrubben, mindestens. Endlich schlief Jochen ein.
034
Das schlechte Gewissen quälte Attila. Seit Jahren hatte er keinen Morgen mehr im Bett verbracht, schon gar nicht krank. »Der frühe Vogel fängt den Wurm« - wenn ein Sprichwort stimmte, dann dieses. Aufstehen können, das war der Nachweis von Disziplin, Verantwortung und Ernsthaftigkeit. Nur heute eben nicht.
Immerhin schien alles ruhig zu sein in der Firma, meldete der Blackberry. Attila hatte einige Mails geschickt, um gerade heute zu prüfen, wer ab wann am Platz war und wie lange der für eine Antwort brauchte. Die Bande sollte nicht glauben, dass die Mäuse heute auf dem Tisch tanzen durften, nur weil die Katze mal nicht da war.
Camille war bereits gegangen. Sie setzte sich morgens gern ins Café an dem kleinen Platz um die Ecke und rauchte. Er hasste den Zigarettenqualm in der Wohnung. Camille hatte sich herausgeputzt wie jeden Morgen: High Heels, um ihre langen strammen Beine noch ein wenig besser zu betonen, die weiße Bluse, die so artig aussah und doch verrucht dekolletiert war. Die vollen roten Lippen. Attila war stolz auf seine Frau - sie war seine, ganz allein seine; er hatte viel Geld und Zeit in diese Frau investiert.
Und es war eine gute Geldanlage gewesen. Eine Frau, die im Elend der Tundra aufgewachsen war, die hatte vor lauter Überlebenskampf überhaupt keine Zeit für Emanzipation. Camille war völlig unverdorben von jeglichen Geschlechterdebatten. Diese Gender-Idioten, die jetzt überall die Gesetze machten, wollten den Unterschied zwischen Mann und Frau einfach wegregeln. Andersherum wurde eine Lösung daraus: Man musste den Unterschied betonen und wertschätzen. Kinderkriegen war eine verdienstvolle volkswirtschaftliche Leistung; man musste einen Lehrberuf daraus machen. Jede Mutter brauchte Ausbildung, Bezahlung, Rentenanspruch für eine Art von öffentlichem Dienst. Schlagartig würde der Status der Gebärenden steigen, die Mutter wäre leitende Angestellte des Gemeinwesens. Attila dachte nach: Hatte es nicht schon einmal ähnliche Ideen gegeben? Egal, man konnte es ja anders formulieren. Gleichheit war jedenfalls nicht die Lösung, wenn sogar das Gebären schon wegorganisiert wurde. Die moderne Frau arbeitete bis zum achten Monat, hatte dann vier Wochen lang ein schlechtes Gewissen, weil sie unproduktiv herumlag, entband vor lauter Perfektionspanik zu früh, war aber nach vierzehn Tagen wieder im Büro. Kein Wunder, dass die Kinder allesamt einen Schaden davontrugen. Wenn man mal ökonomisch an die Sache heranging, stellte sich sofort heraus, dass es Irrsinn war, die Aufgabentrennung von Mann und Frau aufzuheben. Überall schritt die Spezialisierung fort, nur bei der Produktion von neuen Steuer- und Rentenzahlern sollten plötzlich alle alles können: Karriere machen, Geld verdienen, wickeln, vorsorgen, Früh-Mandarin, Autorität und Pekip.
»Diese Gender-Idioten, die jetzt überall die Gesetze machten, wollten den Unterschied zwischen Mann und Frau einfach wegregeln. Andersherum wurde eine Lösung daraus: Man musste den Unterschied betonen und wertschätzen.«
Wurde die Qualität der Aufzucht besser? Die Zufriedenheit aller Beteiligten höher? Weder noch. Was wuchs, war der Stress.
Camille war da ganz anders. Arbeit bedeutete ihr nichts. Karriere schon gar nicht. Sie hatte doch ihn. Sie würde eine gute Mutter sein, eine perfekte Gattin, eine Bereicherung. Sie würde einer modernen arbeitsteiligen Familien-Organisation nicht im Wege stehen.
Attila fühlte sich ausgedörrt wie eine Backpflaume. Die doppelte Dosis Abführmittel war wohl doch etwas reichlich gewesen. Seine Magenschleimhaut blutete offenbar an mehreren Stellen, der Darmausgang brannte wie nach einem Habanero-Dinner. Mit letzter Beherrschung hatte er vermeiden können, sich in die Badewanne zu übergeben. Klarer Nachteil eines großen Badezimmers, hatte Attila gedacht: Die Behältnisse sind nicht in Kotzweite angebracht, wenn man auf der Schüssel hockt.
Außerdem fehlte neben dem Klo eine Ablagefläche für den Blackberry. Ihn nervte schon, dass er Camilles Frauenzeitschriften, die er sich gern als Lektüre mitnahm, immer auf den Kachelboden legen musste.
Weil er natürlich im Stehen pinkelte, waren die Fliesen rund ums Klo mit einem Mikrofilm von Urintropfen gesprenkelt. Lustige Vorstellung: Das Papier einer Frauenzeitschrift saugte eine Menge Männerpisse auf. Roch eine Frau, die ja nachweislich über eine feinere Nase verfügte, einen Hauch ungezähmten Mann, wenn sie mit derselben Zeitschrift wenig später auf dem Wohnzimmersofa lag? Wurde sie womöglich unterbewusst erregt, auf eine archaische Art und Weise? Weil sie Reviermarkierung roch? War sie dadurch paarungs- oder besser noch kaufbereiter? Sollte man in Frauen-Boutiquen statt Parfüm-Düsen künftig Männerurin-Zerstäuber installieren, in verschiedenen Nuancen, um die weibliche Kundschaft zu mehr Leichtsinn beim Shopping zu bewegen? Attila würde die Idee weiterverfolgen; vielleicht hatte er soeben die Welt des Einkaufs revolutioniert.
Sein Magen rebellierte schon wieder.Attila stürzte aus dem Bett ins Bad. Er hatte das Gefühl, schon auf dem Weg auszulaufen. Mit Impotenz könnte er leben; aber Inkontinenz war wirklich keine schöne Sache. Zum ersten Mal freute er sich, der immensen Investition für ein Bidet zugestimmt zu haben, als sie seinerzeit diese Wohnung planten.
Attila fröstelte, versuchte aber mit einer neuartigen Gedankentechnik sich von seinem ausgezehrten Körper zu lösen: Nicht das Naheliegendste denken,sonderndas Vertrauteste. Attila stellte sich ein PowerPoint-Chart vor: Sechs Punkte, warum es besser war, nicht ins Büro zu gehen. Erstens würde er in diesem Zustand sein sorgsam aufgebautes Image ruinieren. Zweitens konnte er im Büro kaum alle paar Minuten aufs Klo stürmen. Drittens: Was war im Ernstfall, wenn er es tatsächlich nicht rechtzeitig schaffte? Selbst der dunkelste Anzug würde die Flecken kaum schlucken. Viertens bewies es Größe, seine Leute auch mal ohne ständige Kontrolle laufen zu lassen. Fünftens zeigte er Souveränität, weil er loslassen konnte. Sechstens war es schlauer, entspannt zum Check zu gehen und nicht gehetzt.
Ein Ruhetag würde die Ergebnisse allemal positiv beeinflussen und damit auch sein weiteres Leben. Es war also ökonomisch richtig, heute daheimzubleiben. Diese Zwangspause hatten die Gründungspartner schon aus guten Gründen eingerichtet.
Attila fühlte sich trotzdem so unwert wie lange nicht mehr. Dieser Check heute Abend war völlig überflüssig. Vielleicht sollte er kurzfristig absagen oder, besser noch, einen Unfall fingieren. Zumal er überhaupt keine Lust hatte, Camilles Wunsch nachzukommen. Seine Frau hatte ihn gebeten, bei Professor Schneider doch mal ganz allgemein und unauffällig nach möglichen Gründen für die ausbleibende Schwangerschaft zu fragen.
Was sollte dabei schon rauskommen? War doch klar: Camille trug einen körperlichen Defekt in sich, den er bei Eheschließung leider nicht hatte vorhersehen können. Bei seiner nächsten Heirat würde Attila sich eine Frau nehmen, die bereits ein Kind zur Welt gebracht hatte, das man sich schon mal sehr genau würde anschauen können. Ein Auto kaufte man ja auch nicht ohne Probefahrt.
War ja nicht seine Schuld, wenn ausgerechnet diese Frau nicht schwanger wurde. Attila hielt es für einen weiteren Mythos der Feministinnen, dass Fruchtbarkeitsprobleme vor allem bei Männern zu suchen seien. Das war wieder so ein Psycho-Terror, mit dem die Kampflesben den Mann an sich zu entwerten gedachten. Sie wollten ihn zwingen, in eine Plastikröhre zu onanieren. Wie demütigend.
Attila war kein großer Masturbierer. Er hatte die Selbstbefriedigung nahezu eingestellt, seit seine Phantasien ihm immer unkontrollierbarer erschienen. Früher hatte es ihm vollauf genügt, sich den getragenen Slip einer Frau übers Gesicht zu ziehen. Er brauchte keine zwei Minuten, dann war er vollends erleichtert. Camilles Slips verfehlten diese Wirkung zunehmend. Offenbar gab es gerade bei Ehefrauen einen Gewöhnungseffekt, außerdem roch Camille kaum, eigentlich fast gar nicht, was man bei einer Osteuropäerin ja auch nicht gleich erwarten würde. Aber da hatte er sich auf kein Risiko eingelassen.
Seit Attila vor ein paar Monaten, ausgerechnet auf Arte, eine Reportage über einen Klub in Manhattan gesehen hatte, ließ ihn eine neue Phantasie nicht mehr los. Die Damen dieses Etablissements hatten sich darauf spezialisiert, Banker, Analysten, Berater von der Wall Street gern auch gewalttätig zu betreuen, also seine Kollegen.
Attila war nicht klar gewesen, dass sexuelle Obsessionen in seiner Branche derart verbreitet waren. Voller Ekel und Faszination hatte er diesen grauhaarigen Herrn beobachtet, der eine Schweinsmaske über dem Kopf trug, einen sehr knappen Tanga und im Anus einen Staubwedel. In diesem Aufzug wollte der Mann an einer Hundeleine über die Wall Street geführt werden, an einem regnerischen Novembertag, auf allen vieren. Die Dame musste hohe Hacken tragen und einen schwarzen Mantel, darunter natürlich so gut wie nichts. Polizei, Gaffer, Medien sorgten dafür, dass die Nummer nie länger als ein paar Minuten dauerte. Aber diese Momente genügten, um den Herrn auf Wochen nachhaltig zu befriedigen.
Attila verfluchte sich für seine unkontrollierte Phantasie. Aber die Vorstellung, nackt und an einer Hundeleine durchs Brandenburger Tor geführt zu werden, machte ihn unendlich geil. Es war allerdings weniger das gefühlte Gefühl der Demütigung, als vielmehr das Absolvieren einer exklusiven Mutprobe. Wer sich im Tanga auf allen vieren durch die Hauptstadt zerren ließ, dem konnte man vieles vorwerfen, nur eines nicht: Feigheit.
Und das war ja genau das, was der organisierte Feminismus den Männern streitig machen wollte, von Alice Schwarzer bis Karen Bindinger. Von den hundert wichtigsten Frauen Deutschlands arbeitete die Hälfte als Journalistin, Publizistin oder Moderatorin - also in der Bewusstseinsindustrie. Vereint wollten sie dem Mann den Mut nehmen, sie wollten ihn demütigen und zu einem kleinen Würstchen machen, das mit hochrotem Kopf und brennender Eichel in ein Plastikröhrchen onanierte. Und dann würde er wie ein Angeklagter vor einer Zeugungsexpertin sitzen, die das Röhrchen schwenkte, über ihre randlose Brille starrte, genau auf ihn, und sagte: »Also, an Ihrer Frau liegt es nicht.«
»Der ganze Feminismus-Firlefanz hatte die Frauen verrückt gemacht, erst recht, wenn sie aus anderen Kulturen stammten wie Camille.«
Das Gegenteil war doch der Fall: Der ganze Feminismus-Firlefanz hatte die Frauen verrückt gemacht, erst recht, wenn sie aus anderen Kulturen stammten wie Camille. Sie waren entwurzelt, das seit Jahrtausenden gelernte Urvertrauen in den Mann war durch diese Emanzen-Weiber zerstört worden und mithin natürlich, wenn auch unbewusst, die Empfängnisbereitschaft. Alice Schwarzer verhinderte Camilles Schwangerschaft, nicht er. Die Frauen waren viel öfter an ihren Problemen schuld als sie dachten.
035
Es gehörte zu den Selbstverständlichkeiten einer modernen Familie, dass Martin sich morgens um die Kinder kümmerte: Anziehen, Frühstücken, Otto in die Kita fahren, Norbert in seiner Entwicklung fördern, die ersten Machtkämpfe des Tages gegen die kleinen Biester bestehen. Dorothea küsste die Jungs, wünschte ihnen einen guten Tag, zog sich dann aber mit einer Tasse Kaffee und den Zeitungen ins Bett zurück. Eine erfolgreiche Journalistin musste immer informiert sein, auch wenn sie im Fernsehen nur die Börsenkurse vorlas. Nur mal angenommen, sie wäre ein Mann und Martin die Frau, dann hätten sie wahrscheinlich sofort das Jugendamt auf dem Hals: Vater im Bademantel entzieht sich mit Zeitungen unterm Arm seinen familiären Pflichten. Klarer Fall von Verwahrlosung. Rabenvater. Pascha. Sorgerecht entziehen. Beugehaft.
Wenn Dorothea stolz von ihrer morgendlichen Abseilerei erzählte, klatschten ihre Freundinnen so euphorisch in die Hände, als hätte die deutsche Nationalelf gerade die öligen Italiener im WM-Finale zerschossen. Heißa, da hat wieder ein Mann die Hundeschule erfolgreich absolviert.
Martin war fasziniert von seinen Reflexen: Er hatte immer ein schlechtes Gewissen, weil er in keinerlei Hinsicht zu genügen glaubte. Automatisch dachte er das Statement der zuständigen Ministerin mit: Man sei zwar noch sehr weit von Geschlechtergerechtigkeit entfernt, aber viele kleine Schritte mancher Männer machten auch Mut für die Zukunft.
Martin hatte schon dreimal in der Agentur angerufen, um die Startzeit fürs Brainstorming in Erfahrung zu bringen. Aber es war nur eine Praktikantin am Desk, die keine Ahnung hatte.
Otto hatte sich noch nicht wieder beruhigt. Martin hörte seinen älteren Sohn im Kinderzimmer wimmern. Beim Frühstück hatte er die naturhoniggesüßten Dinkel-Pops mit dem Löffel über den Tisch geschossen. Beim ersten Mal hatte Martin an einen Unfall geglaubt und die Milchspur weggewischt. Beim zweiten Mal hatte er gemahnt: »Otto, bitte lass das!« Beim dritten Mal hatte er Otto Schüssel und Löffel weggenommen. Der Junge hatte zu brüllen begonnen, und Martin wartete auf den Moment, da Dorothea ihren Kopf in die Küche stecken und sich für unverzichtbar halten würde. Aber Dorothea kam nicht. Wahrscheinlich war sie schon wieder eingeschlafen.
Martin war verzweifelt. Sein Sohn war grundlos aggressiv gegen ihn. Dabei gab er sich alle Mühe, ein guter Vater zu sein: Drachen bauen, Seifenkisten konstruieren, Kanu fahren, Chemie-Baukasten, ein Vater-Sohn-Kurs für Sägen, Hämmern, Nageln - alles hatte er dem Jungen angeboten. Martin hatte alle Ratgeber zur Jungen-Bespaßung gekauft, die offenbar Väter in ähnlichen Notsituationen verfasst hatten. In Wirklichkeit holten die Väter nur ihre eigene ereignislose Kindheit nach unter dem Vorwand, es machte den Söhnen Spaß.
Es reichte nicht mehr, einfach nur Fußball spielen zu gehen. Wo denn auch? Die Stadt war viel zu gefährlich. Manchmal fuhren sie mit dem Auto in den Park, auch wenn Otto sich vor anderen Kindern oft fürchtete.
Dorothea sagte, dass Otto übermäßig intelligent sei, aber auch sehr sensibel. Das hatten Tests beim Kinderpsychologen ergeben. Dorothea war fest davon überzeugt, dass Otto hochbegabt war. Martin war da nicht so sicher.
Nach seinem dritten Dinkelpop-Attentat hatte er seinen Sohn ins Kinderzimmer strafversetzt, wo Norbert immer noch schlummerte. »Sei bitte leise. Wenn du dich entschuldigen möchtest, kannst du jederzeit in die Küche kommen.« Während Otto wimmerte, blätterte Martin unruhig durch den Sonderteil »Senioren-Residenzen«, den Dorothea aus der Zeitung auf den Küchentisch geschüttelt hatte.
Dieser Tisch solle das Zentrum der Familie sein, ein Ort von Frieden und Gemeinsamkeit, hatte Dorothea bestimmt, nachdem sie das tonnenschwere Monstrum in einem Kloster in der Provence entdeckt und nach Berlin geschafft hatte. Alles musste immer eine Geschichte und ganz viel Bedeutung haben. Esoterische Wichtigkeitszumessung war Pflicht in ihrer Generation, der in Wirklichkeit fast alles scheißegal war.
»Aggro war total abgesagt, außer bei Mädchen. Bei denen galt es als selbstbewusst, wenn sie einem Jungen mit der Blechschaufel den Scheitel nachzogen.«
Doch Otto wollte weder Frieden noch Gemeinsamkeit. Offenbar spürte er, hochbegabt und sensibel wie er war, die spirituelle Aufladung der antiken Bretter und rebellierte unterbewusst dagegen, indem er Dinkelpops über das hölzerne Heiligtum schoss.
Warum war es eigentlich plötzlich so still im Kinderzimmer? Martin wurde unruhig. Was wäre, wenn Otto sich an Norbert vergehen würde, so wie er es schon öfter getan hatte. Warum war dieses Kind nur so unglaublich aggressiv, wenn es sich nicht gerade ängstigte? Martin hatte kaum noch Lust, mit Otto auf den Spielplatz zu gehen, wo sich die modernen Großstadteltern gegenseitig ihre Kinder samt Ausstattung vorführten. Aggro war total abgesagt, außer bei Mädchen. Bei denen galt es als selbstbewusst, wenn sie einem Jungen mit der Blechschaufel den Scheitel nachzogen. Jungs verhielten sich korrekt, wenn sie ihre Bar-bie kämmten. Deswegen funktionierte auch das Mann-Frau-Spiel nicht mehr. Man spielte nicht mehr mit- oder gegeneinander, sondern jeder für sich. Es gab ganz viele Geschlechter- und Lebensentwürfe, nicht mehr Mann und Frau, sondern nur noch Hybride wie Tokio Hotel.
Martin ging ins Kinderzimmer. Norbert schlief immer noch. Aber Otto hatte begonnen, jedem Einzelnen seiner zahlreichen Playmobil-Männchen ein Bein zu amputieren. Er hatte eine ziemlich schlaue Bieg-und-Brech-Technik entwickelt, der auch das härteste Plastik nicht standhielt.
Martin war immer gegen Playmobil-Figuren gewesen, da sie die Phantasie des Kindes viel zu stark determinierten. Er hatte in der Kita sogar versucht, einen Playmobil-Bann durchzusetzen. Etwa ein Drittel der Mütter hatten sich ihm angeschlossen, leider nur Frauen mit Blumenröcken, Gesundheitsschuhen oder Zöpfen. In der Kita gab es entweder Trümmer- oder Karrierefrauen. Beide machten Martin Angst. Vor allem fürchtete er sich vor dem allmonatlichen Elterngespräch, das ihn an diesem Vormittag erwartete. Otto hatte in den letzten vier Wochen alles getan, ihn zu quälen, das stand mal fest.
Martin schwieg verzweifelt, als er das Playmobil-Massaker sah. Otto hatte soeben Spielzeug im Wert von geschätzten hundert Euro zerstört. Voller Trauer sah Martin, dass auch seine Lieblingsfigur unter den Opfern war, ein ägyptischer Wagenlenker. Otto hatte den Köcher für die Pfeile, den prächtigen Kopfschmuck und den Flitzebogen zerkaut. Sein Sohn war ein Monstrum.
Der Junge saß auf dem Boden und sah ihn erwartungsvoll an. Fürchtete er Strafe? Oder freute er sich, dass überhaupt eine elterliche Reaktion erfolgte?
Martin ging im Geiste alle Erziehungsberater durch: Was hätte der Tyrannen-Experte jetzt gemacht? Und wie hätte Axel Hacke reagiert? Martin hätte seinem Sohn am liebsten eine gescheuert. Diese schöne und bewährte Erziehungsmethode war trotz allem Retro-Wahn leider noch nicht wiederentdeckt worden. Zu schade.
»Warum hast du deinen Männern wehgetan?«, fragte Martin. Er sagte »Männer«, weil Otto sich gern als Piratenkapitän oder Ritteranführer sah und Martin an sein Verantwortungsbewusstsein appellieren wollte.
»Tut gar nicht weh«, entgegnete Otto.
»Jetzt können sie aber nicht mehr stehen«, sagte Martin.
»Doch, guck!«, antwortete Otto und schob zwei Legosteine als Stütze unter eine Playmobil-Figur.
»Mir gefällt das gar nicht, dass du die Figuren kaputt machst«, sagte Martin. Ein Perspektivwechsel, da es auf der sachlichen Ebene kein Vorankommen gab. Jetzt eher die Vater-Sohn-Hierarchie-Schiene.
»Ist doch egal«, sagte Otto. Der kleine Sauhund plapperte irgendeine entlastende Kita-Floskel nach, womit Martins moralischer Angriff ins Leere lief.
»Du bekommst keine neuen Playmobil-Figuren mehr«, sagte Martin. Attacke! Unverhohlene Drohung. Macht ausspielen. Jetzt du, mein Sohn.
»Dann klaue ich eben welche bei Matteo-Tyler oder Josef.« Martin gab auf. Schweigend verließ er das Zimmer. Beim Hinausgehen knurschte etwas unter seinem Schuh - er hatte ein Playmobil-Männchen zu Mus getreten. Unglaublich, wie viel zerstörerische Kraft ein handgewalkter Filzpantoffel entwickeln konnte. Otto sah den Schaden und begann zu heulen. Norbert erwachte und greinte gleich solidarisch mit. Martin konnte ein Gefühl tiefer Befriedigung nicht unterdrücken. Er drehte den Fuß langsam auf dem Männchen hin und her, so als ob er eine Kippe austreten würde. Dann kickte er den Plastikmüll wortlos unters Kinderbett. Otto war fassungslos.
036
»Nimm mal die Rufumleitung raus!«, hörte Maik den Kollegen aus dem Nachbarbüro rufen. Ulrike war am Apparat: »Ich wollte dir nur einen wunderschönen Tag wünschen! Was machst du gerade?« »Viel Arbeit«, antwortete Maik knapp. Er hatte soeben schon den Verlust seines Handys angezeigt und seine SIM-Karte sperren lassen. Er wollte auf gar keinen Fall noch mal diese Thai-Bar aufsuchen, um nach dem Gerät zu fahnden. Eigentlich war es auch ganz angenehm ohne Handy. Er hatte eine uralte Keule von Mobiltelefon reaktiviert, groß, klobig, aber funktionstüchtig.
Maik saß am Rechner und skizzierte einen japanisch anmutenden Steingarten. Seine geraden Linien waren wieder im Kommen. Die Entwürfe, die so wunderbar komplex aussahen, gingen ihm blitzschnell von der Hand. Die Kunst bestand darin, die eigene Arbeit zu inszenieren. Man durfte nie sagen, dass es schnell und einfach ging, sondern musste stets betonen, wie viele unglaubliche Hürden zu nehmen waren, wie anstrengend, ja fast unmöglich die Aufgabe war.
Lehmann war noch nicht aufgetaucht. Maik musste mit ihm reden, sofort. Denn Lehmann hatte ihn in der Hand. Er wusste als Einziger, was wirklich passiert war. Maik war die Thai-Nummer unendlich peinlich. Er hatte noch nie in seinem Leben für Sex bezahlt. Warum auch? War ja überall umsonst zu haben.
Es gab zwei Sorten von Männern: die Ratten und die Wölfe. Lehmann war eine Ratte. Klar: Wer sich das Selbstbewusstsein von einer Organisation leihen muss, ganz egal ob Betriebsrat, Fußballklub oder Schützenverein, der war völlig anders sozialisiert als ein Wolf. Ratten hatten gelernt, sich ihrer Organisation vollständig anzupassen. Dem Aufstieg in dieser Hierarchie ordneten sie alles andere unter.
Lehmann wollte Maik in den Betriebsrat quatschen, um seine eigene Position zu verbessern, und nicht, weil er Maik so nett fand. Durch die Thai-Aktion hatte Lehmann Maik nun in der Hand, und er wusste das. Maik könnte den einfachen Weg gehen und einfach mitmachen im Betriebsrat. Dort waren die üblichen Funktionärsmurkel zugange. Er wäre der Exot, dem sie womöglich mal zuhören würden. Aber es würde Zeit kosten und eine Menge Nerven. Maik glaubte nicht an Betriebsräte. Er glaubte an Wölfe, starke, autonome Wesen, die ihr eigenes Revier verteidigten und sich mit anderen starken Wölfen arrangierten. Miteinander war das Ergebnis von Gegeneinander plus Respekt, ganz gleich, ob zwischen Mann und Frau oder Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
»Er glaubte an Wölfe, starke, autonome Wesen, die ihr eigenes Revier verteidigten und sich mit anderen starken Wölfen arrangierten. Miteinander war das Ergebnis von Gegeneinander plus Respekt, ganz gleich, ob zwischen Mann und Frau oder Arbeitgeber und Arbeitnehmer.«
Lehmann hatte hinter seinem Schreibtisch einen vergilbten Zeitungsausriss gepinnt, Text: »Die Ehe fordert eine Gewährung in ehelicher Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen.« So begründete der Bundesgerichtshof im Jahre 1957 die eheliche Pflicht zum Sex. Ein Mann hatte gegen seine offenbar lustlose Frau geklagt.
Maik wusste bis heute nicht, was Lehmann mit dem Zettel sagen wollte: Dass Frauen frigide sind? Dass Männer Rechte haben? Aber wer will schon eingeklagten Sex? Dann lieber gar keinen. Oder überraschenden. So wie heute Morgen mit Ulrike. Da hatte sie mal keine Gleichgültigkeit zur Schau getragen, wie sonst fast durchgängig in den letzten Jahren. Vielleicht sollte er sich ab sofort jede Nacht überfallen lassen.
Ulrikes krankhafte Eifersucht stand in einem erbärmlichen Kontrast zu ihrem sexuellen Desinteresse. Kein Vorwand war ihr blöd genug gewesen. Vom Knöchelschmerz bis zum Tinnitus, von allgemeiner Traurigkeit bis zum Hüftknarzen reichte die Palette der schlechten Ausreden. Bisweilen hatte Maik das Gefühl, mit einem Eishockey-Profi im Bett zu liegen, der nach dreiundzwanzig Dienstjahren keinen heilen Knochen mehr im Leib trug. Aber es war seine Frau Ulrike.
Dass sie ausgerechnet heute Morgen weit überdurchschnittlichen Bedarf gezeigt hatte, musste mit dem Überfall zu tun haben, der keiner war. Die Angst um ihn war ausnahmsweise mal stärker gewesen als die Gewichtsprobleme, die sie bei allem lähmten, was mit Leben zu tun hatte. Vielleicht hatte sie sich heute Nacht vorgestellt, wie das Leben ohne ihn sein würde. Und war zu keinem besseren Ergebnis als dem Status quo gekommen.
Kaum anzunehmen, dass sie nun wieder regelmäßiger bereitläge. Maik gab sich keinen Illusionen hin. Er hatte sich mit der heimischen Sexlosigkeit arrangiert, die ja offenbar ziemlich verbreitet war, wie jede Woche eine neue Statistik belegte. Insofern war ihre Ehe nicht untypisch, sondern im Gegenteil schrecklich normal. Warum nur war der Sex so kompliziert geworden? Bei Tieren war es die einfachste Sache der Welt.
Maik verstand nicht ganz, warum so viele Menschen offenbar freiwillig auf Sex verzichteten. Welche Welt war denn die bessere? Die, in der viel gefickt wurde? Oder die andere? Maik brauchte Sex wie Essen, Trinken, Atmen.
»Warum nur war der Sex so kompliziert geworden? Bei Tieren war es die einfachste Sache der Welt.«
Er wollte auch keine Problemgespräche darüber führen; es galt die Regel: Sobald man theoretisierte, war der Zauber dahin. Maik brauchte keinen Kerzenschein, keinen Champagner, keine ausgefallenen Techniken, sondern einfach die gemeinsame Bereitschaft, zusammen Spaß zu haben, auch mal nur zwei Minuten, aber am besten drei Mal am Tag. Manchmal sehnte er sich nach der erotischen Schlichtheit des Ostens. Einfacher gerader Sex wie in der Legende von Paul und Paula - das war doch das Paradies.
037
Wie jeden Morgen setzte Lars im Treppenhaus die Sonnenbrille auf und hoffte, der knackärschigen Journalistin aus dem zweiten Stock zu begegnen, der er seit Ewigkeiten den Ausblick von seiner Dachgeschosswohnung präsentieren wollte. Lars widerstand der Versuchung, sein Handy einzuschalten. Jahrelang war der dreiminütliche Blick aufs Display ein Teil seines Lebens gewesen. Inzwischen nervte, stresste, langweilte ihn das verdammte kleine Ding. Handy-Aktivieren war wie Rauchen: Es gab keinen einzigen guten Grund dafür, dennoch musste man es einfach tun. Lars wusste genau: Wenn er jetzt einschalten würde, wären mindestens drei SMS im Postfach und zwei Anrufe. Viermal von irgendwelchen Weibern, vielleicht die von heute Nacht, deren Namen ihm gerade nicht einfiel. Und ein Anruf vom Büro, das nach ihm fahndete.
Lars kaufte einen schwarzen Kaffee und ein San Pellegrino in der italienischen Bäckerei und suchte nach seinem Cabrio. Ein Vogel hatte auf sein Verdeck gekackt. Unglaublich, welche Mengen Scheiße in einem so kleinen Tier untergebracht sind. Eigentlich wollte er das San Pellegrino trinken. Nun wusch er damit Taubenkacke vom Dach.
Lars ließ sich in den Ledersitz fallen und zog die Tür ins Schloss. Klickte auch nicht mehr so geschmeidig. Radio an. Ich und ich. Machte ihn depressiv. Suchlauf. Metallica. Furchtbar. Suchlauf. Revolverhelden. Was die alle an dem Quatsch fanden. Radio aus.
Stille. Aufstoßen. Brennen. Das Büro kotzte ihn an. Das Personalgespräch heute Mittag kotzte ihn an. Der Kunde, den er heute umschleimen musste, kotzte ihn an. Die Betriebsfeier heute Nachmittag kotzte ihn an. Das Fitnessstudio kotzte ihn an. Das nächtliche Gepose kotzte ihn an. Frauen kotzten ihn sowieso an. Seine dröhnende Birne kotzte ihn an. Und dass ihn alles ankotzte, kotzte ihn erst recht an. Lars schaltete das Handy an. Eine SMS von Tanja, bestimmt das übliche Dankesschreiben. Eine SMS von Sandy: »Würde Dich gern mal wiedersehen;).« Au weia. Wer Zwinkergesichter smste, der trug auch Leggings oder MCM-Handtaschen. Wer zum Teufel war Sandy überhaupt? Zwei vergebliche Anrufe aus dem Büro: Wahrscheinlich hatten sie ihn längst gefeuert. Auch egal. Der verdammte Bonus war sowieso zum Teufel. Wie er den Flug nach Thailand bezahlen sollte, war ihm schleierhaft. Der Dispo war schon lange am Anschlag.
Lars verspürte Appetit auf Spiegeleier mit Speck. Er fuhr die paar Meter zum kleinen Platz mit den Cafés und parkte unter dem Halteverbotsschild. Offensive Regelverstöße fand er cool. Draußen in der Sonne saß ein wirklich scharfer Ofen: High Heels, lange stramme Beine, eine weiße Bluse, die zwar züchtig aussah, aber den Blick geradezu zwischen ihre Brüste zwang, von denen er annahm, dass sie tatsächlich echt waren, die schwarzen Haare streng nach hinten, sehr volle, sehr rote Lippen - ideal. Lars wurde heiß.
Sie guckte heimlich zu ihm herüber, zwei, drei Mal, das war kein Zufall. Sie rauchte. Frauen, die rauchten und guckten und schon morgens schick zurechtgemacht waren, die wollten eigentlich so schnell wie möglich mal wieder richtig durchgenagelt werden, das wusste Lars aus Erfahrung. Er hatte zwar überhaupt keine Lust auf Sex. Aber er wollte wissen, ob er mit seiner Vermutung richtig lag.
Er lächelte sie an. Sie lächelte zurück, ziemlich verhalten allerdings. Gutes Zeichen: Sie will, aber nicht um jeden Preis. Dieser Mund machte ihn verrückt. Lars kritzelte seine Handynummer auf einen Zettel. Bei der nächstbesten Gelegenheit würde er ihr den Zettel zustecken, am besten auf dem Weg zum Klo. Mit dieser Frau könnte er sich vorstellen, alt zu werden.
»Frauen, die rauchten und guckten und schon morgens schick zurechtgemacht waren, die wollten eigentlich so schnell wie möglich mal wieder richtig durchgenagelt werden.«
Lars stand auf und überlegte, wie er ihr den Zettel am besten zukommen lassen sollte. Er lachte sie im Vorbeigehen noch mal an, volles Rohr. Doch sie blickte zur Seite. Keine Chance für unpeinliche Zettelübergabe. Die alte Bitch. Sie wusste genau, wie sie ihn noch heißer machte. Solche Frauen waren wie Zigaretten. Nach fünf Minuten waren sie runtergeraucht, am Ende blieb ein komischer Geschmack im Mund und Geruch an den Fingern. Aber man konnte nicht ohne, sondern brauchte immer mehr.
Lars schüttete sich Wasser ins Gesicht. Er sah verdammt gut aus, trotz allem. Er würde jetzt sofort diese Frau ansprechen.
Als er zurückkehrte, war ihr Tisch leer. Egal. Wahrscheinlich hatte sie einen Termin. Aber sie wollte auch; das wusste Lars. Das würde doch noch sein Tag werden. Er spürte es.

11 UHR

038
Eigentlich wollte Jochen duschen, aber eine alte Spex hatte ihn davon abgehalten. Er liebte es, in historischen Musikzeitschriften zu blättern. Früher war nicht alles schlecht, nur weil es früher war.
039
Martin ließ sich ins Auto fallen. Er hasste diesen lieferwagengroßen Kombi. Aber ein guter Vater fuhr nun mal so ein Auto. Sonst war man gesellschaftlich erledigt in den neubürgerlichen Kreisen einer Stadt, die sich supercool und lässig gab und doch so neidisch, ängstlich und verbissen auf die Kinderwagenmarke des Nachbarn schaute wie ein Schwabe.
Hier dachte jeder jede Minute nur über die Wirkung all dessen nach, was er tat, sagte, trug oder glaubte. Was sollen denn die Nachbarn denken? Dieser alte eklige Elternspruch galt nirgendwo radikaler als in sogenannten Szene-Gegenden. Style-Faschismus.
Martin war erleichtert. Norbert brabbelte im Babysitz auf der Rückbank. Otto war bereits im Kindergarten abgeliefert. Das Babyschwimmen mit Norbert würde ein paar Momente der Entspannung bringen, falls das knappe Dutzend Stress-Mütter nicht wieder in grundloser, dafür aber permanenter Panik eine Stunde lang durchdrehte.
Die Team-Assistentin hatte ihm verraten, dass das Brainstorming wahrscheinlich um siebzehn Uhr starten würde, sie würde sich nochmal melden. Das passte gerade noch in seine Abendplanung.
Das allmonatliche Problemgespräch mit Ottos Kindergärtnerin war ebenfalls zufriedenstellend verlaufen, kurz vor Kuschelsex. Otto sei sehr kreativ, sehr rücksichtsvoll, sehr sozial, sehr konzentriert, kurz: ein wunderbarer Junge, die Zierde von »Marie-Albert«, benannt nach Marie Curie und Albert Einstein, der Kita für rollenübergreifend erzogene Frühleister. Sprachlos hatte Martin zugehört. Er war eher auf ein besorgtes Gewispere eingestellt gewesen als auf ein richtiges Gespräch. Zwei Gedanken waren Martin durch den Kopf geschossen: Was war, wenn die Kindergärtnerin alles erstunken und erlogen hatte? Schließlich schmückte mit Dorothea von Campen eine halbwegs bekannte TV-Moderatorin den Kindergarten.
Wahrscheinlich terrorisierte Otto die Kita wie der junge Mussolini, aber die Leitung hatte verfügt, dieses Thema einfach zu ignorieren. Um Promi-Kundschaft bei Laune zu halten, bog man die Wahrheit über die Brut schon mal zurecht, oder? Und, zweitens, schlimmer noch:Angenommen, die Kindergärtnerin sprach halbwegs die Wahrheit, und Otto war wirklich ein stinknormales Musterkind - warum war er dann so unglaublich gemein zu seinem Vater?
Martin wusste nicht, was ihm lieber war: ein verhaltensgestörtes Kind, das alle nervte, oder ein normales Kind, das seinen Vater hasste? Martin schaltete das Radio an. Eine CD lief an: »Jim Knopf und die wilde 13«. Prinzessin LiSi sang: »Mädchen können alles; Mädchen sind unheimlich stark.« Jungs auch, dachte Martin. Aber das durfte man nicht mal denken.
040
Maiks Handy vibrierte auf der Treppe. Eine SMS von Ulrike: »Bitte pünktlich zu Hause sein. Sind heute Abend mit Seilers verabredet. Kuss«. Maik antwortete »Ja«.
Oben im Dachgeschoss brauchte er genau zwei Minuten, um die Lage zu peilen. Die Frau, die ihm im limettengrünen Bademantel die Tür geöffnet hatte, roch nach Lust wie ein Teller frischer Bratheringe. Sie hatte ihm einen Kaffee gemacht, ihn dann auf die eindrucksvolle Terrasse geführt. Grandioser Blick über die Stadt. Die Frau mochte jede Menge Probleme haben, aber Geldmangel gehörte sicher nicht dazu. Sie hatte Maik von einer Freundin empfohlen bekommen.
»Sie sind meine Rettung«, sagte sie zur Begrüßung. Maik hatte nur gelächelt. Er wusste um die Wirkung von engen weißen T-Shirts unter Karohemden, von Stiefeln und strammen Männerhintern in Jeans.
Klassischer Fall: Viel Geld, wenig Geschmack, keine Zeit, aber in zwei Stunden sollte alles fertig sein. Die Frau hatte abends offenbar einen sehr wichtigen Gast zum Essen eingeladen. Bis dahin sollte die leicht verwilderte Dachterrasse in ein mediterranes Kunstwerk verwandelt sein.
Maik schwieg und tat, als ob er rechnete. Dabei hatte er eigentlich schon alles durchkalkuliert: Drei, vier Büsche in Töpfen, Schilf am Meter, ein paar versteckt installierte Scheinwerfer, die üblichen Stehimwegs Marke Schwedisches Landhaus oder Long Island, und schwupp, war ein Ensemble arrangiert, das für einen rotweinseligen Chef im Halbdunkel allemal genügen müsste. Zwei Leute, fünf Stunden für An- und Abtransport, drei Stunden Maik - das war schon mal der erste Tausender. Aber ein paar Euro für Schleppen und Arrangieren von Öko-Deko waren Maik nicht genug: Hier schlummerte eine große und langfristige Aufgabe, in mehrerlei Hinsicht.
»Was schlagen Sie vor?«, fragte die Frau. Sie saß auf dem Liegestuhl und versuchte nicht mal, züchtig auszusehen. Maik blickte sich um. Von den Häusern ringsum waren sie nicht zu sehen. Er starrte unverhohlen auf ihre Beine und schwieg noch ein wenig. Eigentlich war schon alles klar. Sie würde sich nicht wehren, wenn er sich jetzt einfach über sie hermachte. Spitz wie sie war, würde sie seinen Vorschlägen allerdings viel eher zustimmen, solange sie voller Ungeduld brannte. Also erst mal das Geschäftliche.
Maik mühte sich um einen sachlichen Ton, als er ihr erklärte, dass man es hier mit zwei Vorgängen zu tun habe: erstens der überaus kurzfristigen Deko für heute Abend und zweitens einem langfristig durchdachten Konzept zur ganzheitlichen und nachhaltigen Gestaltung des Ökosystems Dachterrasse, das einer intensiven und kontinuierlichen Betreuung bedürfe.
Bei dem Wort »Betreuung« warf Maik einen geraden Blick auf die Frau. Sie nickte nur und sagte: »Ich würde die Sache gern abkürzen: Sie bekommen den Auftrag für heute Abend, wenn Sie mir versprechen, dass es auf keinen Fall nach Toscana aussieht, nicht mal nach Provence. Und für die Neugestaltung machen Sie mir einen Kostenvorschlag, der auf ein Jahr ausgelegt ist.« Sie war aufgestanden, durch die Glastür ins Wohnzimmer gegangen und drehte sich nun um, als warte sie auf ihn.
»Wird erledigt«, sagte Maik und folgte ihr.
041
Lars hätte seinen Problemkunden eigentlich persönlich besuchen sollen. Aber er hatte nur angerufen. Mussten die Penner im Büro ja nicht wissen. Die Vertragsverlängerung war so gut wie beschlossen. Puuh. Damit war auch sein Hintern vorerst gerettet.
Auf der Fahrt ins Büro kriegte Lars diese Frau nicht aus dem Kopf. Eigentlich etwas zu alt und viel zu seriös für ihn. Er bevorzugte die unterkomplexe Party-Maus. Vielleicht hatte sie sogar Kinder. Er hatte eine Affäre mit so einer Mutter bis vor vier Wochen. Ausgehungert hatte sie sich auf ihn gestürzt, es war der helle Wahnsinn. Sie wollte offenbar mehrere Jahre in einer Woche aufholen und fuhr das volle Programm: Fesseln, Augenbinde, Dildos in allen Farben des Regenbogens.
Er kam sich vor wie ein Bonobo. Drei Tage länger, und er hätte eine Infusion gebraucht. Beim letzten Mal war er bei ihr zu Hause gewesen. Der Mann war auf Dienstreise, sie hatte keinen Babysitter gefunden; also verstieß er gegen die goldene Regel und besuchte eine verheiratete Frau daheim.
Es ging natürlich nicht gut aus. Nachts vor der Toilette war er im Dunkeln über ein Feuerwehrauto ihres Jüngsten gestolpert und lang hingeschlagen. Schwere Verstauchung. Lars wurde eine Woche krankgeschrieben, das war die gute Nachricht. Danach hatte er sich einfach nicht mehr bei ihr gemeldet. Mütter lösten bei ihm generell Depressionen aus. Er war fast einundvierzig. Keine Frau, kein Kind, und das war richtig. Diese ganzen Ehe-Schluffis waren doch so gut wie tot: Biertitten, Impotenz und den Kadaver dann auf den Golfplatz geschleppt.
Im Büro machten die meisten schon Mittag, einige hatten die belegte Pappe vom Sandwich-Mann gekauft und mampften vor den Bildschirmen. Alle grüßten ihn, die meisten halbwegs nett. Angelika aus der Zentrale winkte, Jasmin, seine Assistentin, lächelte süffisant, eine ganz junge Frau neben ihr musterte ihn ziemlich unverschämt. Ob Jasmin …? Egal.
Ihm fiel wieder auf, wie jung die alle waren. Selbst sein Chef war gerade mal fünfunddreißig. Die machten Druck, diese jungen Hunde, und gut waren die, richtig gut.
Jasmin kam auf ihn zu. »Na«, sagte sie spitz, »haben wir gestern mal wieder ein bisschen doll gefeiert?« Das »mal wieder« klang perfide. Er blieb stumm. Von Feiern konnte gar keine Rede sein. Es war ein ganz normaler Beuteabend. Jasmin guckte ihn an, deutlich zu spöttisch. »Unsere neue Praktikantin da vorne«, sagte sie, »hat mir eben von so einem peinlichen alten Typen erzählt, der letzte Nacht in ihrem Lieblingsclub völlig drüber war und immer versucht hat, ihre Freundin zu knutschen, obwohl die gar nicht wollte. Kannst dir ja vielleicht vorstellen, warum die jetzt so guckt.«
Lars erinnerte sich schemenhaft an die Stunden vor Tanja. Die meisten Abende waren einfach zu lang, als dass man sie sich komplett merken konnte. Und Berlin war ein gottverdammtes Kaff. Von wegen Anonymität der Großstadt. Jeder kannte jeden in der Klubszene. Der Tag würde kommen, an dem er alle halbwegs willigen Frauen gehabt hatte. Man müsste sie markieren, dachte sich Lars, wie Kühe, mit solchen gelben Ohrmarken, in denen ein Chip implantiert ist, mit allen wichtigen Informationen inklusive Krankheiten. Und dann scannen, ob sich nochmaliges Aufsatteln überhaupt lohnt.
Jasmin provozierte sein stilles Grinsen offenbar. Im Gehen fragte sie ihn: »Weißt du eigentlich, was die jungen Leute sagen, wenn sich peinliche Party-Rentner wie du hackebreit an der Bar entlangbaggern?« Lars wusste, dass sie ihm wehtun wollte und tat so, als habe er die Frage nicht verstanden. Doch Jasmin gab die Antwort ungebeten: »Die sagen: Jetzt kommen die Opas schon zum Sterben hierher.« Lars lachte, etwas zu laut.
042
Attila hatte sich an den Schreibtisch gesetzt. Er musste noch den Bericht fertig stellen über diese drittklassige Vertriebsbude für BuchhaltungsSoftware. Wesley legte großen Wert darauf, dass die Führungsleute mindestens zweimal im Jahr selbst berieten, und zwar nicht die großen, schönen, prächtigen Unternehmen, sondern den Mittelstand. Attila hatte sich vergangene Woche einen halben Tag neben so einen Vertriebs-Routinier gesetzt und versucht zu ermitteln, nach welchem System dieser Mann arbeitete. Er hatte keines gefunden. Der Knabe war seit acht Jahren dabei, roch stark nach Aftershave und fuhr ein viel zu protziges Cabrio angesichts seines kontinuierlich schrumpfenden Kundenstamms.
Pausenlos quäkte sein Handy, weil er wieder eine SMS bekommen hatte. Attila hätte wetten können, dass keine einzige davon dienstlich gewesen war. Nichts war doch wohl peinlicher als ein in die Jahre gekommener Single, der auf der verzweifelten Suche nach ein bisschen verdrogtem Gefummel immer noch um die Häuser zog wie vor zwanzig Jahren - wie entwürdigend.
Und dann kam ihm dieser Kerl auch noch auf die Kumpeltour. Attila war Respekt gewohnt, besser noch vorauseilende Unterwürfigkeit. Das »Du« hätte er am liebsten sogar Camille verwehrt. Attila hätte diesen Pflaumenaugust am liebsten sofort vor die Tür gesetzt. Aber der Knabe war hoch angesehen bei seinem Chef, sicher weil er jedes Problem einfach weggrinste. Und Attila musste den Job holen; also blieb das Thema Personalanpassung erst einmal unangetastet. Attila konnte sich auf die Arbeit nicht konzentrieren. Obwohl er sich immer wieder zur Ordnung rief, hatte ihn eine völlig ungewohnte Bleiernis befallen. Er hatte sogar die Lust am Blackberry verloren, den er seit Jahren praktisch im Minutentakt checkte.
Viel spannender erschien ihm seine eigene Wohnung. Attila stöberte auf Camilles Schreibtisch, ohne jedoch Interessantes zu finden. Dieser ganze Esoterik-Quatsch interessierte ihn kaum, aber störte auch nicht weiter: Hauptsache, Camille war beschäftigt.
Wie von einer unheimlichen Macht gezogen, fand sich Attila plötzlich vor ihrer Wäschekommode wieder. Vorsichtig, als sei eine Alarmanlage montiert, zog er die oberste Schublade auf. Mit beiden Händen grub er in den luftigen Slips, deren Preis in einem irrationalen Missverhältnis zur Textilmenge stand. Attila nahm ein besonders knappes schwarzes Exemplar und schnupperte wie ein Wolf daran. Er spürte, dass er sich dringend hinlegen musste.

12 UHR

043
Das Telefon klingelte. Mutter war dran. »Ach, Junge«, sagte sie zur Begrüßung, »ach, Junge«. Jochen ahnte, dass eine teils geklagte, teils geheulte Tirade kommen würde, er wusste allerdings nicht, warum. »Ach, Junge«, sagte sie noch einmal.
»Guten Morgen, liebe Mutter«, erwiderte Jochen betont gut gelaunt.
Ewige Pause.
»Dein Bruder hat gestern sogar Blumen geschickt«, presste sie hervor.
Gestern? Was war gestern?
»Ich, ääh«, sagte Jochen, um Zeit zu gewinnen.
»Gestern war Papas Todestag«, heulte sie.
»Ooh, ja, klar«, sagte Jochen.
Er hatte wieder einmal den Todestag seines Vaters verpennt, während sein Bruder, der alte Erbschleicher, mit Fleurop-Gestrüpp aufgetrumpft hatte.
»Aber ich habe viel an dich gedacht«, log Jochen.
Er wusste, dass er nicht sehr überzeugend klang.
»Papa sieht alles von da oben«, sagte seine Mutter, immer noch heulend und anklagend.
Außer Power-Trauern hatte sie in den letzten drei Jahrzehnten noch eine zweite Disziplin zur Perfektion getrieben: Sie konnte anderen Menschen in Rekordzeit ein schlechtes Gewissen bereiten.
Jochen versuchte verzweifelt, sich nicht schlecht zu fühlen. Einerseits sah er sich gezwungen, jene Gefühle seiner Mutter zu respektieren, mit denen sie ihr Leben seit den Achtzigerjahren gestaltete. Andererseits ging ihm das ewige Gegreine gehörig auf die Nerven. Weil sie keinen Neustart mehr wagte, hatte sich seine Mutter in der Witwenrolle eingerichtet, die insofern praktisch war, als alle Rücksicht zu nehmen hatten auf die arme Frau, die ihren lieben Mann verloren hatte. Die Verklärung seines alten Herrn zu einem Heiligen war durch sein gelebtes Leben allerdings nicht gedeckt. Sein Vater war bestenfalls okay gewesen, kein Zocker, kein Tyrann, kein Dogmatiker - immerhin ja schon mal was.
Jochen erinnerte sich daran, dass seine Eltern sich wegen jedem Mist gezofft hatten, dass er bei jedem kleinen Vergehen vorwurfsvoll angeschwiegen wurde, dass der Satz »Was sollen denn die Nachbarn denken« ihr Leben bestimmte. Am schlimmsten war, dass er diesen Satz so verinnerlicht hatte, dass er bei Julias Gebrüll zuallererst dachte: Was sollen denn die Nachbarn denken?
»Warst du auf dem Friedhof?«, fragte Jochen und hasste sich im gleichen Moment für diese kreuzdämliche Frage. Natürlich war seine Mutter auf dem Friedhof gewesen.
Immerhin bewegte sie das Thema: »Das Grab musste ja auch frisch bepflanzt werden«, sprudelte sie los, »ich habe ein paar Bodendecker gekauft, die waren im Angebot, dann sieht das Grab auch im Herbst noch grün aus. Und ein paar Stiefmütterchen, die mochte Papa doch immer so gern.« Jochen war erleichtert, ein Gesprächsthema gefunden zu haben, das für eine Weile ohne Vorwürfe und Tränen auskam.
Jochens Handy klingelte. Ach du Scheiße. Warum ausgerechnet jetzt?
»Äh, Mutter«, sagte Jochen, während die alte Dame über die Feinheiten der Grabgestaltung unter Berücksichtigung von Jahreszeiten referierte. Sie klang, als hätte sie noch Luft. Jochen sagte nur: »Ja, das stimmt«, und beschloss, sie einfach weiterreden zu lassen, während er ans Handy ging. Die Nummer kam ihm bekannt vor.
»Hallo«, meldete sich Jochen.
»Ach, schön, dass ich Sie gleich dranhabe …« - es war der Programmchef vom Offenen Kanal.
Jochen riss innerlich die Arme triumphierend in die Luft. Wahrscheinlich sollte Beyond Cool einen besseren Sendeplatz bekommen. Oder ein richtiger Sender hatte Interesse am Format bekundet.
»Ja?«, sagte Jochen erwartungsvoll und legte den Hörer mit seiner Mutter beiseite, aus dem er beruhigendes Friedhofsgärtnergemurmel hörte.
»Nun, Herr Heine, es hat im Programmbeirat ein paar Irritationen gegeben wegen Ihrer Sendung, deswegen haben wir eine außerplanmäßige Redaktionskonferenz anberaumt. Können Sie heute um achtzehn Uhr im Sender sein?«
Jochen schluckte. »Programmbeirat?«, fragte er. Von diesem Gremium hatte er noch nie gehört.
»Jeder Sender hat ein Kontrollgremium, das darauf achtet, dass die Inhalte unseren ethischen Normen genügen: Rassismus und so«, belehrte ihn der Programmchef, »und unsere Frauenbeauftragte Frau Dr. Bohnsack-Oppenheim hatte wohl ein paar Probleme mit Ihren Moderationen - das muss nichts Ernstes bedeuten. Aber es kann.«
Jochen schwitzte. Wer war Frau Bohnsack-Oppenheim? Was hatte sie mit seiner Sendung zu tun? Was verstand sie von Radio? Beyond Cool war gar nicht für Frauenbeauftragte gemacht, im Gegenteil: Es war eine Sendung, die ausdrücklich verboten war für die Bohnsack-Oppenheims dieser Welt.
»Sie sollten auf jeden Fall heute kommen, um Missverständnisse auszuräumen«, sagte der Programmchef. »Jochen!«, hörte Jochen von Ferne eine aufgebrachte Stimme, »Jooochen …!« Er sah den Hörer auf dem Tisch. »Ja, Mutter, einen Moment bitte«, sagte er und hörte noch, wie sie giftete: »Kannst du nicht wenigstens …«
Jochen sprach wieder ins Handy: »Klar, ich werde da sein. Sind Sie auch da?«
»Ja«, erwiderte der Programmchef, »aber ich weiß nicht, ob ich Sie gegen Frau Dr. Bohnsack-Oppenheim verteidigen kann.«
Jochen fröstelte.
»Ja, Mutter«, sagte er dann in den anderen Hörer. Aber seine Mutter hatte bereits aufgelegt.
Jochen startete »Atom Heart Mother«. Zeit für große Gefühle. Danach würde er seine Mutter noch mal in Ruhe anrufen. Oder morgen.
044
Als Attila aufwachte, wunderte er sich, dass er Camilles Slip über dem Kopf trug. Zuerst schämte er sich ein bisschen. Dann genoss er den transparenten Hauch vor Mund und Nase und sog die Luft tief ein. War da eine letzte kleine Spur von Aroma? Ich sollte öfter mal einen Tag zu Hause bleiben, dachte er, während er nach seinem Blackberry suchte.
045
Norbert nölte, als Martin ihn in die kotdichte Gummibadehose zwängte. Dorothea hatte diese Spezial-Shorts extra aus den USA kommen lassen, Marke Sweet Little Dolphin. Die Elastikbuxen waren in einem wasserpädagogischen Zentrum in Orlando entwickelt worden, hermetische Abdichtung für hochbegabte Babys, die zur Steigerung ihrer Sozialkompetenz mit Delfinen schwammen. Kinderkacke fand Flipper wohl nicht so dufte.
Jedenfalls war Martin sicher, dass Norbert als einziges Kind mit Sweet Little Dolphin antreten würde. Gerade bei den Super-Eltern, die mit ihren Babys zum integrativen Frühschwimmen gingen, konnte man gar nicht aufmerksam genug die richtigen Labels präsentieren, die maximalen Preis und mithin übermenschliche elterliche Fürsorge signalisierten.
Leider paddelten vier von neun Kindern in Sweet Little Dolphin. Es war also wie immer: Der immense Individualitätsdruck führte dazu, dass alle Babys nahezu gleich aussahen, so wie ihre Eltern auch: Die Mütter liefen rum wie Elfriede Tetzlaff oder Kampflesben, die Väter trugen Wim-Wenders-Brille, verteidigten ihre Rest-Männlichkeit auf dem Felde des Spezialwissens (Comics, iPhone-Apps, Pink Floyd) und trugen die Riemen ihrer Filz-Leder-Taschen quer über der Brust, weil das nach Fahrradkurier aussah. Wer noch mit Lastwagenplanentaschen erwischt wurde, mit Ohrstöpseln oder Klamotten von Stella McCartney, der konnte gleich an den Stadtrand ziehen. Martin hätte gern einen Essay über Markenterror und Individualitätswahn für seinen Blog geschrieben, den er für die Dauer seiner Elternzeit mit einem großen Baustellenschild stillgelegt hatte. Aber sein Chef hatte ihm davon abgeraten. Das sei das falsche Signal an die Kunden.
Die Schwimmwindel von Sweet Little Dolphin hatte er jedenfalls mehrfach mit aggressivem Oxy-Waschmittel und viel zu heiß gewaschen, Öko hin oder her. Wenn schon alle die gleiche Hose trugen, sollte Norberts wenigstens am ältesten aussehen. »Die haben wir vor zwei Jahren aus Florida mitgebracht«, war auch kein schlechter Satz, um sich gegen die ganzen übermotivierten Mütter zu behaupten, die ihm und Norbert die Schwimmstunde mal wieder zur Hölle machen würden.
Von Weitem konnte Martin den »Kinderschänder« erkennen, so nannte er den Typen, der meistens vormittags im Schwimmbad herumlungerte und irgendwie höchst verdächtig wirkte. Wabbelig und käsig war er, undefinierbaren Alters, trug eine unvorteilhafte Beutel-Badehose und plantschte alle paar Minuten im Nichtschwimmerbecken herum. Oder stand einfach am Rand, den Blick scheinbar in die Ferne gerichtet. Danach würde er dann in der Umkleide verschwinden und sich einen runterholen, da war Martin sich sicher. Martin ließ seinen Sohn keine Sekunde aus den Augen.
Martin checkte noch mal sein iPhone. Immer noch keine neue Rückmeldung aus der Agentur. Vielleicht hatten sich die lieben Kollegen verabredet, dass sie ihn nicht dabeihaben wollten. Ging ja schnell so was, diese Eigendynamiken innerhalb einer hierarchischen Funktionsgemeinschaft hielt man nicht auf. Kaum war er ein paar Wochen nicht da, stellte man fest, dass es ohne ihn ginge, womöglich nicht mal schlechter. Martin hatte Angst, dass er nicht einmal merkte, wie er wegrationalisiert, weggemobbt, entsorgt wurde. War den Kollegen so viel Bösartigkeit zuzutrauen? Aber klar doch. Vor allem den jungen Frauen. Das waren Killerinnen, allesamt. Eiskalt.
046
Maiks Handy vibrierte - eine SMS von Ulrike. »Habe bei Ebay einen tollen Sportanzug von Stella McCartney gefunden - soll ich den kaufen?« Maik wunderte sich, dass es Designer-Klamotten jetzt auch in Ulrikes Größe gab, und stellte sich schon mal darauf ein, den Karton mit dem aufgeklebten Rücksendeschein eines nahen Morgens mit zur Post zu nehmen. »Klar«, smste er zurück.
Er hatte seinen Dienstwagen, den grünen Nissan Patrol, in sein Lieblingsversteck manövriert, eine kleine unscheinbare Einfahrt am Waldparkplatz, nicht einzusehen von der Straße, kaum beachtet von Spaziergängern und Hundeführern. Hier hatte er viele Stunden seines Lebens verbracht, schlafend, lesend, denkend. Oft zog er die Laufklamotten an, die er immer hinten im Kofferraum liegen hatte, und trabte einfach eine Stunde durch den Wald. Inzwischen allein, nicht mehr mit Fee, aber an sie wollte er jetzt lieber nicht denken. Es tat zu weh.
Maik schloss die Augen. Er war auf einem guten Weg. Seit einem halben Jahr zweigte er jeden Monat unauffällig fünfhundert Euro in bar ab. Machte sechstausend Euro pro Jahr, wenn es so gut weiterlief wie bisher. In sechs, acht, zehn Jahren, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, könnte er den Plan seines Lebens umsetzen: einfach noch mal ganz neu anfangen, allein, in Südamerika oder Asien. Wenn er sein Ableben einigermaßen schlau inszenierte, würde die Lebensversicherung Ulrike eine hübsche Summe zahlen, außerdem hatten ihre Eltern Geld genug. Niemand würde ihm lange hinterhertrauern. Maik schloss die Augen.
047
Lars hockte an seinem Schreibtisch, rauchte, spielte Tetris und arbeitete seinen SMS-Speicher ab. Ein gutes Dutzend Frauen wollte bespielt werden. Tanja brauchte etwas Knappes, nicht zu Nettes. Eva ging ihm schon seit Wochen auf die Nerven - gar keine Antwort.
Doro war ein tiefes Wasser. Anfangs erschien sie ihm sterbenslangweilig, aber die Nächte mit ihr waren sensationell gewesen. Zeit für eine Neuauflage. Die Frau machte Yoga oder Tai-Chi oder weiß der Teufel welchen Verrenkungssport, und so ein Spagat eröffnete ja völlig neue Perspektiven.
Lars fühlte sich ja selten körperlich unterlegen, aber bei Doro kam ihm doch der Gedanke, wieder regelmäßiger Eisen zu stemmen. Heute Nachmittag würde er noch ins Gym gehen, nur für Doro. »Muskelkater weg. Fühle mich fit für die nächste Runde …«, würde er Doro smsen. Das war lustig und direkt.
Besonders lästig war Erika. Sie schmeckte wie ein Yak. Lars traf sich nur mal mit ihr, weil er Panik schob vor ihren Trennungsarien. Sie hatte Balkanblut in den Adern und wollte sich wegen jeder Kleinigkeit umbringen. Lars antwortete ihr trotzdem nicht.
Er wartete auf sein Gespräch beim Chef. Ganz wohl war ihm nicht. In den acht Jahren bei seiner Firma hatte Lars sehr genau kapiert, was wirklich wichtig war. Eigentlich gab es nur drei wesentliche Punkte: Erstens mussten seine Zahlen am Jahresende halbwegs stimmen; auch der netteste Kerl konnte schwindenden Umsatz nicht lange erklären. In den letzten beiden Jahren war er bei seinen Abschlüssen leider nicht mehr ganz so erfolgreich gewesen wie früher. Zweitens durfte er das Betriebsklima nicht wesentlich beeinträchtigen; kein Chef mochte Unruhe. Einer, der jede Praktikantin durchnudelte, noch bevor sie ihre erste Essensmarke für die Kantine in der Hand hielt, war für ein Team nur bedingt geeignet.
Manchmal hatte Lars das Gefühl, dass alle ihn hassten. Die Männer, weil er ihnen zeigte, wie’s ging. Und die Frauen, weil sie sich benutzt vorkamen - natürlich völliger Quatsch, schließlich waren alle volljährig. Und ein One-Night-Stand war immer ein Geschäft auf Gegenseitigkeit ohne nachfolgende Ansprüche. Dieser Amore-Kram ging ihm gehörig auf die Nerven. Liebe? Die empfand Lars zu seinem Auto, zu seinem Körper und zur Full-Moon-Party auf Ko Phanghan: Sommer, Drogen, Meer und Mädchen, dazu perfekte Musik.
Der dritte wichtige Punkt war das Gespräch mit dem Chef. Gut, dass Lars heute Morgen bei seinem Problemkunden die Zusage über eine Vertragsverlängerung reingeholt hatte, nicht schriftlich, aber immerhin so eindeutig, dass er damit vor den Chef treten konnte. Lars wusste: Der Chef hatte ein Problem - sein weiches Herz. Ganz schlecht für einen echten Kerl.

13 UHR

048
Tetris war ein wunderbares Spiel. Hatte genau den Grad an Stumpfheit, den Lars tagsüber brauchte, um sich mental auf das Personalgespräch vorzubereiten und auf die nächste Nacht. Katharina hatte gesmst und endlich Rita - beide langjährige Körperbeziehungen, die sich immer mal wieder meldeten, wenn ihnen nach einem unkomplizierten Abend war. Rita wollte immer noch ausgehen vorher, Kino, Essen, Drinks. Katharina strebte dagegen ohne Umwege zum Ziel: anhauen, umhauen, reinhauen, abhauen. Lars mochte ihre provozierend versauten SMS. »Kannst Du noch?«, hatte sie gefragt. »Für Dich reicht’s immer«, hatte er geantwortet. »Ich will eine Stunde rundum«, hatte sie bestellt. »Warum nur Vorspeise?«, hatte er geprahlt.
Zum ersten Mal seit Jahren fürchtete Lars sich vor dem Personalgespräch. Die angekündigte Umstrukturierung bedeutete nichts Gutes. Dieser eiskalte Heini von der Unternehmensberatung, der ihm letzte Woche ein paar Stunden auf die Finger geschaut und völlig merkwürdige Fragen gestellt hatte, bekam seinen unverschämten Tagessatz ja nicht dafür, dass er Jobs erhielt.
Lars hatte sich vielleicht doch ein wenig zu lange auf seinen Ruf als Vertriebsgott verlassen. Mit neunzehn hatte er schon seine eigene Drückerkolonne angeführt. »Eine jugendliche Legende« hatte ihn das Fachblatt »Der Vertrieb« genannt und ihm zwei Seiten gewidmet, mit Fotos.
Früher war er Weltklasse, dann eine ganze Weile supergut, aber jetzt war er nur noch da. Zum ersten Mal hatte er letztes Jahr seinen Bonus nicht erreicht. War auch ein beschissenes Jahr. Aber die anderen hatten den Bonus trotzdem eingefahren. Manchmal fühlte er sich wie Ernie bei »Stromberg«. Andererseits: Die würden ihn nicht feuern können; nicht mit seiner Erfahrung, seinen Kontakten, all seinen Verdiensten in acht Jahren.
Lars wurde die Angst nicht los. Eigentlich müsste er jetzt sofort zu Katharina. »Bist Du zu Hause?«, smste er. »Ab 19 h, dafür frisch gewachst«, schickte sie zurück. Er überflog seine Optionen und konterte: »Freu mich auf Hollywood … bis später!« Hollywood, das war das Codewort für das Komplett-Waxing, das sie bevorzugte und das ihn so anmachte.
Lars würde sich diesem Mittagessen mit dem Chef nicht entziehen können. Wie sollte er seine Formschwäche erklären? In Wirklichkeit hatte er einfach keinen Bock mehr. Jedes Gespräch geführt, jeden Kunden bespaßt, jede Kollegin besprungen. Und heute Nachmittag schon wieder so eine überflüssige Bürofeier.
Lars war zu müde, um zu schlafen. Er zog zu oft um die Häuser. Wie lange würde das noch gut gehen? Mit dem Grundgehalt allein sah es düster aus. Davon könnte er nie und nimmer eine Familie ernähren. Daran dachte er in letzter Zeit doch manchmal. Viel zu oft eigentlich. Wollte er das wirklich: schlecht sitzende Anzüge, Reihenhausinsasse, hyperaktive Kids, einer Frau beim Verfall zuschauen?
»Wollte er das wirklich: schlecht sitzende Anzüge, Reihenhausinsasse, hyperaktive Kids, einer Frau beim Verfall zuschauen?«
Der Chef rief an. Ob er so weit sei. »Klar«, sagte Lars. Ob italienisch okay sei? »Klar«, sagte Lars. Also dann in fünf Minuten unten. Lars nickte in den Hörer. War das das Leben, von dem er geträumt hatte?
049
Jochen hatte lange überlegt, ob er noch zum Baumarkt gehen sollte. Er hätte Bretti ja gern einen Eimer Wandfarbe vor die Zimmertür gestellt. Einfach so, als Zeichen, wie egal ihm der Auszug seines ehemaligen besten Kumpels war. Aber er musste vor dieser gespenstischen Redaktionskonferenz unbedingt noch drei Stunden Akquise schaffen. Sonst wäre er den neuen Job gleich wieder los, um den er so gekämpft hatte.
Auf Teilzeitbasis arbeitete Jochen in der ambulanten Finanzdienstleistungs-Branche. Er versuchte, Kunden für platinfarbene Kreditkarten zu gewinnen, allerdings nicht am Flughafen wie die meisten seiner Kollegen. Seine Firma hatte sich auf Straßencafés, Bars und Lounges spezialisiert. Jochen musste auch gar nicht aggressiv werben, sondern saß ganz still an einem mit Bedacht gewählten Platz, nicht allzu zentral, aber dennoch gut einsehbar, spielte an dem ihm zur Verfügung gestellten iPhone, das ein platinfarbenes »P« unter dem Apfel trug und las in einer Zeitschrift, die dasselbe »P« auf der Titelseite trug und die riesige Zeile »iPhone kostenlos«.
So funktionierte modernes Marketing. Denn nach spätestens zehn Minuten hatte ihn irgendjemand angesprochen. Diese label-versessene Caféhaus-Bande wollte natürlich wissen, was es mit dem »P« auf sich hatte und wie man an das kostenlose iPhone kam. Und schon konnte Jochen loslegen. Er referierte dann eher beiläufig über den P-Klub, eine Vorteilsgemeinschaft für High Potentials: Handys, Reisen, Computer, Zeitschriftenabos, Telefonverträge, alles gab es billiger. Es dürfe leider nicht jeder mitmachen, log Jochen, aber er könne ein gutes Wort einlegen, wenn derjenige jetzt sofort den Kreditkartenantrag in der Zeitschrift unterschriebe. Ungefähr die Hälfte verzog sich umgehend, von den Restlichen unterschrieb etwa jeder Dritte.
»Jeder Mann brauchte ein Markenzeichen.«
Wenn Jochen zehn Verträge in den nächsten vierzehn Tagen schaffte, würde er dreihundertzwanzig Euro bekommen und den Status eines Senior Sellers. Die Aufstiegsmöglichkeiten bei »P« waren enorm. Endlich könnte er den Job an der Tanke drangeben.
Jochen hatte sich im Ausverkauf extra einen neuen Anzug gekauft. Das kräftige Braun sah unwiderstehlich nach Erfolg aus. Kakao und Schokolade seien ja die Trend-Themen schlechthin, hatte die Verkäuferin gesagt; und die Hose würde sich bestimmt noch ein wenig weiten nach zwei, drei Mal Tragen. War halt reduzierte Ware, ein echtes Schnäppchen. Jochen kaufte. Den Anzug würde er auch bei den Preisverleihungen für Beyond Cool tragen können, wenn er noch etwas abnahm.
Früher war Jochen mal Punk gewesen, hatte sich in seiner richtig harten Phase dann an den Hools orientiert, um seiner damaligen Flamme Bianca zuliebe dann auf Gothic-Wave zu schwenken. Jochen war stolz, sich bis heute weder Piercings noch Tattoos angetan zu haben. Die wirklich coolen Typen waren ihrem unversehrten Körper immer treu geblieben, und er obendrein seinem Kapuzen-Pullover, der unter dem braunen Anzug zwar ein wenig auftrug, ihm aber zugleich eine unverwechselbare Note verlieh: edel und lässig. Jeder Mann brauchte ein Markenzeichen.
050
Maik hatte noch mal im Büro angerufen und sich abgemeldet. Er würde noch zwei Kunden besuchen und den Fortschritt der Arbeiten dort kontrollieren. Lehmann war immer noch nicht aufgetaucht. Wenn er den Dachterrassen-Job für ein Jahr bekäme, hätte er seinen eigenen Monatslohn reingeholt, und zwar in einer guten halben Stunde. Faszinierend, wie scheißegal dieser Frau ihre Pflanzen in Wirklichkeit waren, wie scheißegal ihr Geld war, wie scheißegal ihr ihr Leben war. Alles was sie wollte, war was zum Angeben. Und ein schnörkelloser Fick. Damit konnte er dienen, zur Not sogar ein Jahr lang, auch wenn sie nicht übermäßig engagiert war, sondern Männer vor allem als Dienstleister zu betrachten schien, die ihr Vergnügen zu bereiten hatten.
Den Kostenvoranschlag und ein paar eindrucksvolle Zeichnungen würde er morgen machen - die Details waren eh egal, musste nur eindrucksvoll aussehen.
Seine erste Frau hatte früher viel zu viel Liebe für die Zeichnungen aufgewendet, mit echter Tusche und noch mehr Herzblut. Sie hatte das neue Deutschland nie verstanden. Sie dachte immer, es ginge um die Sache, um wirklich tolle Gärten, um echte Kreativität, um Innerstes nach außen, so wie man sich in der DDR den Westen, abgesehen von dem ganzen Konsumterror, früher mal vorgestellt hatte - als das wahrere Land. Alles Quatsch. Die Blenderei war nur deutlich professioneller inszeniert.
Maik hatte lange versucht, seiner ersten Frau diese brutale Wahrheit beizubringen. Gemeinsam hätten sie die Gartenbaufirma nach vorn bekommen, klein, exklusiv und immer noch näher dran am Ideal als alles andere. Aber sie wollte sich mit Kompromissen nicht abfinden. Sie wollte auch nicht bei Chefarzt-Gattinnen auf dem Sofa sitzen und gehorsam Skizzen anfertigen. West-Frauen mit Versace-Gehabe machten seiner ersten Frau Angst. Sie fühlte sich einerseits nichts wert, aber andererseits meilenweit überlegen. Sie hatte es leider nie geschafft, Distanz zwischen sich und diese ondulierten Elsen zu legen. Sie war in ihre Innenwelt geflohen, immer weiter, tiefer, länger. Wochenlang verbarrikadierte sie sich auf der Datsche am See, duschte nicht mehr, verzottelte und fiel in anhaltendes Schweigen. Sie starrte stundenlang auf das Herbstwasser, während Maik um die Firma kämpfte. Er verstand viel von Gartenarchitektur, aber zu wenig von Betriebsführung.
Nach zwei Jahren war alles zu viel geworden: ihre Depression, die Vorwürfe ihrer Familie, die Schulden, die falschen Freunde, das ganze Leben. Zum Glück waren keine Kinder im Spiel.
»Wenn er überhaupt was vom Westen kapiert hatte, dann eines: Es ging um ihn, um nichts anderes.«
Maik tat, was er immer in solchen Momenten tat: Er floh. Eine Woche lang tauchte er ab, niemand wusste, wo er war. Ging auch keinen was an. Wenn er überhaupt was vom Westen kapiert hatte, dann eines: Es ging um ihn, um nichts anderes. Das hatte weniger mit Egoismus zu tun, wie er im Osten noch geglaubt hatte, sondern vielmehr mit Rücksicht. Erst wenn er sein eigenes Zentrum, seine Bestimmung, seine Richtung gefunden hatte, konnte er auch für andere nützlich sein.
Aber wie fand man sich mit all dem täglichen Nervkram ab? Gar nicht. Also hatte Maik sich ins Auto gesetzt und war in die Eifel gefahren, zu einem Indianer-Workshop, mit Grenzerfahrungen allein im Wald, in bestialischen Schwitzhütten und in schlaflosen Nächten, wo man zuerst einmal Handy, Uhr, Geld, alles abgenommen bekam. Diese Erleichterung war genau das, was er brauchte. Atmen, denken, frei sein - mehr nicht. Mehr als peinlich konnte es nicht werden.
»Self respect«, hatte der Schamane gesagt, darum drehe sich alles. Zuerst müsse er sich selbst akzeptieren und den Satz »Ich liebe mich« ganz selbstverständlich denken und sprechen. Maik versuchte es. Es klang seltsam. Er dürfte sich jetzt nicht zum Idioten machen, hatte der Schamane gesagt, er sei der Held in seiner Story: Er war der Häuptling. »Häuptling Cooler Panther« - diesen Namen hatte er sich selbst gegeben, nach Stunden in der Schwitzhütte, als er kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren.
Genau in diesem Moment sei er neu geboren worden, hatte der Schamane gesagt, er habe Erleuchtung erfahren.
Maik war nicht ganz sicher, ob sich Erleuchtungen so anfühlten. Ihm war eher schlecht gewesen. Egal, immerhin konnte er fortan sein neues Geheimwissen anwenden: Was würde Häuptling Cooler Panther in dieser Lage tun? Das war die Frage, die er sich seither in jeder Lebenslage zuerst stellte. Die Widersprüche, die ihn solange gequält hatten, waren plötzlich weg. Denn Häuptling Cooler Panther konnte zugleich Verantwortung für seine Familie übernehmen, sich aber dennoch jeder Squaw bedienen. Niemand hatte dem Häuptling zu sagen, was er zu tun oder zu lassen hatte.
»Häuptling Cooler Panther konnte zugleich Verantwortung für seine Familie übernehmen, sich aber dennoch jeder Squaw bedienen.«
051
Norbert sabberte Pastinakenbrei auf Martins Hemd. Offenbar hatte der Kleine doch etwas zu viel Wasser beim integrativen Babyschwimmen geschluckt. Und jetzt reierte der Zwerg ihm ausgerechnet auf dem Laufsteg die teure Vintage-Kapuzenjacke voll, mitten im Straßencafé. Laufsteg, das war der Platz in Berlin-Mitte, auf dem angeblich Deutschlands höchste Baby-Dichte herrschte. Die Türken donnerten mit ihren tiefergelegten BMWs über den Kudamm, die deutschen Neo-Spießer führten hier ihren Nachwuchs inklusive Zubehör vor. Sie wohnten zwar im Westen, aber zum Kinder-Contest kam Martin gern hierher.
Norbert mochte keinen Pastinakenbrei. Martin wusste auch gar nicht, was Pastinaken sein sollten - er stellte sich eine von glücklichen Indios mit der Hand ausgebuddelte Kartoffelart vor. Nicht lecker, aber total gut für alle. Wer jemals Pastinakenbrei probiert hatte, der wusste, wie gut die eigene Kotze schmeckte.
Auf dem Laufsteg war nichts weniger angesagt, als dem Kind einen ordinären Alete-Brei zu verabreichen. Es ging nicht um das Wohl der Kinder, sondern um das Wohlbefinden der Eltern. Und die waren nur glücklich, wenn sie ihrer Umwelt demonstrieren konnten, dass sie perfekt waren in der Zucht von Super-Kindern. Martin graute vor dem Tag, da diese Brut das Land regieren würde. Wir werden uns noch so nach den Arschlöchern vom Schlage Schröders und Fischers zurücksehnen, dachte er manchmal; vielleicht sogar nach Helmut Kohl.
Warum vertraute eigentlich keiner mehr seinen eigenen Instinkten und den soliden Tipps der Großeltern? Nein, jeder musste täglich die neuesten Erkenntnisse aufsaugen und gleich an seinen Kindern ausprobieren. Jeden Tag kam eine neue Studie ans Licht, die das Gegenteil von der gestrigen Untersuchung behauptete. - So wie beim Schnullerkrieg. Erst hatte Dorothea nach einschlägiger Lektüre bestimmt, dass Norbert keinen Schnuller haben sollte, und damit alle Schlafprobleme wahrscheinlich heraufbeschworen. Neulich stand in irgendeinem Eltern-Blog, dass Schnullerentzug das Lispeln fördert, weil die Zungenmuskulatur nicht kräftig genug entwickelt sei.
Und nun? Hatten sie Norberts Zukunft mal wieder verbaut? Er sah einen lispelnden Mittdreißiger, der nur einschlafen konnte, wenn ihn seine Pflegerin auf der Autobahn herumfuhr. Und dann noch der Kinderschänder aus dem Schwimmbad. Wer wusste denn, was an jenem Tag passiert war, als Martin gezwungen gewesen war, einer dieser Mütter Norbert zu überlassen, weil er wegen eines spontanen Fiebers zu Otto in die Kita hatte hetzen müssen? Konnte man das Schlimmste ausschließen?
Martin nahm sich vor, demnächst mit seinen Jungs den Kinderpsychologen aufzusuchen, das war er den Kleinen schuldig. Insgeheim hoffte er, dass er da mit einem Rezept für Ritalin rausgehen würde. Irgendwie mussten die Knaben doch ruhig zu kriegen sein.
Martin hatte sein iPhone noch in der Umkleidekabine gecheckt - immer noch keine Nachricht aus der Agentur. Warum wollten sie ihn nicht dabeihaben? Erst letztes Jahr hatte er die brillante Idee geboren, das Kreditkarten-Marketing vom Flughafen in die Straßencafés zu verlegen und mit einem Vorteils-Club zu verknüpfen. Und eine große Bank hatte sofort angebissen. Seine Kollegen mobbten ihn, keine Frage. Martin ahnte auch, wer dahintersteckte.
»Ist man nicht gerade Brad Pitt, ist man als Vater ungefähr so attraktiv wie ein Glas Pastinaken.«
Das Babyschwimmen war wie immer eine Qual gewesen. Er war der einzige Mann unter acht Frauen, drei magersüchtig, fünf flusspferdig, aber alle guckten verklemmt. Sie steckten in gerüschten, getupften und gebatikten Monturen, die nur mit viel Phantasie als Badeanzüge zu erkennen waren. Warum trugen eigentlich immer nur Frauen im Internet solche scharfen knappen Teile?
Martin verachtete die ständig überdrehten und Glück spielenden Super-Moms schon deswegen, weil sie ihn auch nicht leiden konnten. Sie grinsten immer ganz vertraut, aber in Wirklichkeit hielten sie ihn für einen Schlappschwanz, der seine Frau immer nur mit Calendula-Öl massierte, anstatt sie mal ordentlich durchzuhämmern. Allem politisch korrekten Geseier zum Trotz galt nach wie vor: Ist man nicht gerade Brad Pitt, ist man als Vater ungefähr so attraktiv wie ein Glas Pastinaken. Neulich hatte er gelesen, dass sich die Mütter, die ihre Kinder im selben Kindergarten wie Brad Pitt hatten, wie blöd aufbrezelten. Die Super-moms beim Babyschwimmen könnten sich wenigstens mal wieder rasieren.
Wer alles tat, um die Anerkennung von Frauen zu gewinnen, der war gänzlich verloren. Martin guckte routiniert freundlich, in Wirklichkeit aber ignorierte er die Glucken, die tausendmal spießiger, langweiliger,ängstlicher und uncooler waren als seine Reihenhaus-Mutter früher. Und sie kamen nicht umhin, ihn zu bewundern, wie schnell er wieder zurück war, nachdem Norbert mitten im Kurs die Delfin-Hose vollgekackt hatte. Unter der Männerdusche wurden schon immer die handfesten Dinge erledigt.
Eigentlich war nur eine Frau halbwegs normal, das war die mongolische Übungsleiterin, die in Irland einen Aufbaukurs in integrativem Babyschwimmen absolviert hatte, was auch groß auf ihrem T-Shirt statt. Dorothea hatte sich gewünscht, dass Norbert in die englische Gruppe kommen würde, aber die war schon voll.
Die integrative Gruppe war ein Experiment, sie folgte einem ganz neuen Ansatz, der erstmals in einer irischen Bauernhof-Kommune erprobt worden war und seither seinen pädagogischen Siegeszug um die Welt angetreten hatte: Behinderte und nichtbehinderte Kinder planschten zusammen, was einen wahnsinnigen Kulturschock bedeutete für Hundertzwanzig-Prozent-Eltern.
Martin war sich auch nicht ganz sicher, ob der Kurs Norberts Entwicklung wirklich diente. Aber die Zukunftsperspektive dahinter war verlockend: Wer nachweisen konnte, dass sein Kind auch soziale Kompetenzen entwickelte, der hatte deutlich bessere Chancen von Nobels Nest aufgenommen zu werden, dem mit Abstand besten Kindergarten der Stadt. Otto hatte das Pech, dass er nur Marie-Albert in seiner Vita würde vorweisen können. Wenn Norbert dagegen mit Nobels Nest startete, war sein Leben auf einem sehr guten Gleis. Dafür konnte er einmal die Woche auch mit Mongos schwimmen. Immerhin mussten sie nicht unter Wasser auch noch Pekip machen und dabei auf Orffschem Holz trommeln.
Norbert prustete Pastinaken, pupste vernehmlich,meckerte und begann genau in dem Moment ganz fürchterlich zu stinken, als der Anruf von der Agentur kam. »Ja, hallo«, sagte Martin, »steht der Termin für das Brainstorming?«
Die Team-Assistentin antwortete irgendwas, aber Martin musste das iPhone vom Ohr nehmen, da Norbert gerade strampelte. Die Blicke der Umsitzenden töteten ihn: Rabenvater. Das Kind schreit, aber dieses Karriereschwein telefoniert. Und setzt das arme Baby auch noch der Handystrahlung aus. Die Pastinaken waren bestimmt auch nicht bio genug. Klare Sache: Hier wuchs ein Amokläufer heran.
»Warum funktionieren die meisten Frauen eigentlich immer erst mit Drohungen?«
»Nee, du, ich komme gern«, rief Martin ins iPhone, während Norbert ihm seinen stinkenden Hintern ins Gesicht drehte und beinahe auf die Steinfliesen fiel. Martin schnappte das Kind am Nacken und hielt das Telefon für eine Sekunde ans Ohr.
»… brauchst du nicht - hat der Chef auch gesagt. Kümmer dich mal ganz um deine Familie …«, hörte er die Assistentin sagen.
»Aber ich komme gerne«, beharrte Martin.
Die anderen Gäste sahen aus, als seien sie kurz davor, die Polizei zu rufen.
»Brauchst du aber wirklich nicht«, bekräftigte die Assistentin.
Verdammt noch mal, hatte diese dämlich grinsende Telefonmaus denn keinerlei Respekt mehr vor ihm, seit er in Elternzeit war? Wenn er klar sagte, er käme gern, dann hatte sie gefälligst alles möglich zu machen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Norbert pupste lauter und schrie mit pastinakenerstickter Stimme. Die Frau am Nebentisch erhob sich kopfschüttelnd und verließ das Lokal. Wahrscheinlich rief sie die Bullen. »Ich sage es jetzt zum letzten Mal in aller Klarheit: Ich würde gern dabei sein«, wiederholte Martin in einem Ton, dessen Schärfe erkennen lassen sollte, dass es sich hier ab sofort um eine dienstliche Anordnung handelte. Endlich kapierte die Assistentin. Sie schwieg lange. »Achtzehn Uhr«, sagte sie dann.
Na endlich, dachte Martin. Warum funktionieren die meisten Frauen eigentlich immer erst mit Drohungen?
052
Vergnügt hörte Attila, was sein Kollege Jaspers aus der Firma berichtete. Die Bindinger hatte sich heute blamiert, aber wie. Sie hatte einen großen Kunden aus dem Maschinenbau verloren, nicht sie persönlich, aber ihr Team. Bei Wesley sprachen alle über nichts anderes. Tschakka.
Attila hätte jetzt bei den Partnern anrufen und noch ein bisschen in der Wunde stochern können; er hätte auch die Bindinger anrufen und Mitleid heucheln können. Doch er beschränkte sich darauf, einen alten Freund in London anzurufen und ihn auf Bindingers Fiasko hinzuweisen. Auf den war Verlass: Er verbreitete jede News in Echtzeit. So würde Bindingers Reputation untergraben, er hatte sich aber nicht die Finger schmutzig gemacht.
Ein herrlicher Tag, dachte Attila, während er noch einmal etwas genauer den Schreibtisch von Camille inspizierte. Vielleicht fand er ja doch noch einen Hinweis darauf, was seine Frau eigentlich vorhatte mit diesem Rückführungsspuk in San Francisco. Sie schien es jedenfalls ernst zu nehmen. Als er neulich mal scherzhaft »Kleopatra« zu ihr sagte, hätte sie ihm fast die Augen ausgekratzt.
Camille hatte Architektur studiert, was für Attila ein wesentliches Ausstattungsmerkmal gewesen war. Nur nichts aus der eigenen Branche, sondern gedankliche Breite zeigen. Lange dachte Attila, er käme ohne Frau an die Spitze. Vor fünf Jahren hatte er sich einen Hund zugelegt, den die Kollegen auch ganz süß fanden. Aber in mehreren Führungskräfte-Seminaren war das Thema Ehe und Familie angesprochen worden. Resultat: Hund reicht nicht. Attila hatte sich daraufhin in mehreren Online-Börsen umgeschaut.
»Lange dachte Attila, er käme ohne Frau an die Spitze. Vor fünf Jahren hatte er sich einen Hund zugelegt, den die Kollegen auch ganz süß fanden.«
Okay, Camille war Ukrainerin, das sprach im ersten Moment nicht direkt für sie. Aber immerhin klang ihr neuer Vorname nicht nach Kolchose-Pfannkuchen, und ihr Akzent war auch schon deutlich besser geworden.