Die Helden dieses Buches
Attila - der Karriere-Mann

Anfang 40, verheiratet, Führungsposition in einer
Strategieberatung. Leistung ist alles, ob im Job oder zu Hause. Er
hat die Kontrolle, steht aber auch unter dauerndemDruck: Muss trotz
schwankender sexueller Performance einen Thronfolger zeugen und den
Marathon schneller laufen als die Rivalin im Job. Motto: Alles ist
gut, was dem eigenen Mythos dient. Hobby: Einmal in der Woche
Malen, genau eine Stunde lang. Frau: Eine langbeinige
Ukrainerin.
Jochen - der WG-Mann

Ende 30, ledig. Glaubt immer noch an eine kreative
Karriere, hangelt sich bis dahin mit McJobs durchs Leben. Letzter
Bewohner einer WG, die seine Familie war und Pink-Floyd-Experte.
Motto: Ich ignoriere die Frauen so lange, bis sie es merken, aber
würde auch jederzeit bei einem Dreier mitmachen, wenn mich nur
endlich jemand einlüde. Hobby: Onanieren. Frau: Ganz früher war da
mal eine, für ein paar Wochen.
Lars - der Macho-Mann

40, ledig. Vertriebler für Buchhaltungssoftware.
Jede Nacht unterwegs, um sich zu beweisen, dass er noch jung und
frisch ist und bei der Damenwelt ankommt. Gerät dabei schon mal
durcheinander. Die Arbeit leidet und das Altwerden nervt. Motto:
Bei der Full-Moon-Party
in Thailand wird alles besser. Hobby: Dates smsen. Frau: Heute
Doro und Mandy, morgen Tina und Cindy, übermorgen die süße
Praktikantin und diese, ääh, Dings…-ist ja auch egal. Irgendwas
geht immer.
Martin - der Frauen-Mann

Anfang 40, fest liiert, zwei Kinder.
Chef-Intellektueller einer PR-Agentur, parkt aber in Elternzeit.
Trägt Trend-Taschen quer über der weichen Brust, fährt Kinderwagen
mit Cord-Verdeck. Seine Partnerin hat Geld und das Sagen, er
Hausarbeit und Kinder. Leidet still. Motto: Mann oder Frau ist auch
egal. Hobby: Darwin widerlegen, den Rückwärtslauf der Evolution
nachweisen. Frau: Ehrgeizige TV-Moderatorin, emotional
limitiert.
Maik - der Familien-Mann

Mitte 40, strammes Ost-Kerlchen, verheiratet in
zweiter Ehe, zwei Kinder, Reihenhaus im Vorort. Oberster Gestalter
im größten Gartencenter der Stadt. Frau nervt, Schwiegereltern
nerven und Spieleabende mit befreundeten Paaren noch mehr.Motto:
Eines Tages bin ich weg. Hobbys: Indianer-Träume, geheimer Sex, im
Auto sitzen. Frau: Berufsmutti mit physischer
Expansionstendenz.
»Was auch immer ich getan habe,
was auch immer ich tun werde,
wo auch immer ich gewesen bin,
wo auch immer ich sein werde -
es ist Sünde.«
was auch immer ich tun werde,
wo auch immer ich gewesen bin,
wo auch immer ich sein werde -
es ist Sünde.«
Pet Shop Boys
EINE TANKSTELLE IN BERLIN, MORGENS UM FÜNF UHR

Als Jochen sah, wie der Heini mit dem Cabrio fast
den Schluffi mit dem Kinderwagen ummähte, da durchfuhr ihn dieser
wunderbare Satz: »Die Tankstelle ist das Frauenhaus des Mannes« -
brillanter Gedanke. Klar, Tankstellen waren die letzten Schutzräume
einer aussterbenden Art, seitdem das Internet die Peepshows
praktisch vernichtet hatte.
Jochen kritzelte die Worte in sein Notizbuch zu all
den anderen Sätzen, die er dort bereits aufbewahrte. »Frauen sind
gar nicht so schlimm« war bislang sein Liebling gewesen. Viele
seiner Sätze drehten sich um Frauen, aber elegant provokant, nicht
mit dem Holzhammer wie Mario Barth. Das Sätzesammeln war Teil
seiner neuen Strategie. Das ewige Umschwänzeln von Frauen mit SMS
oder Sushi hatte in der letzten Zeit kaum Erfolg gebracht. Seit ein
paar Wochen versuchte er daher, Frauen einfach lässig zu
ignorieren. Das machte ihn viel interessanter, jedenfalls ab dem
Moment, da die Frauen es merken würden. Der Tag würde kommen. Ganz
sicher. Denn aus all den brillanten Sätzen würde er eines Tages
etwas Großes entwerfen, einen Roman oder erst mal einen Liedtext.
Und alle Männer würden anerkennend raunen: Mann, der Jochen, der
sagt, wie’s ist. Er würde nicht nur Teil einer neuen Männerbewegung
sein, er würde sie anführen.
»Seit ein paar Wochen versuchte er daher,
Frauen einfach lässig zu ignorieren. Das machte ihn viel
interessanter, jedenfalls ab dem Moment, da die Frauen es merken
würden.«
Mit seiner Musiksendung war Jochen auf dem besten
Weg. Denn er hatte ein einzigartiges Konzept entwickelt: gute
Jungs-Musik von früher und zwischendrin immer wieder so ein
provozierender Frauen-Satz. Das war politisch unkorrekt. Deswegen
würden die Hörer dranbleiben wie Süchtige. Sie brauchten den
nächsten tückischen Satz, sie wollten schmunzeln, wiehern, auf
jeden Fall zustimmend nicken. Frauenbeauftragte weltweit würden
ausrasten. Aber die Männer wären auf seiner Seite.
Auf Twitter hatte die Sendung schon
dreiundzwanzig Follower. Das war gut für den Anfang. Wenn jeder
Follower nur einen weiteren Follower pro Woche animierte, war er in
vierzehn Tagen schon fast bei hundert. Alle großen Geschäftsmodelle
verbreiten sich heute schneeballartig, am Anfang langsam, aber dann
rasend schnell.
Trotz des Ruhms würde Jochen weiter in seiner
Techi-Bude wohnen, mit Bretti zusammen. Gemeinsam waren sie schon
mehrfach ganz kurz vor dem Durchbruch gewesen, geschäftlich, bei
Frauen, eigentlich überall. Jetzt endlich würde es so weit sein.
Die Prominenz und die Werbeverträge würden ihm nichts anhaben,
charakterlich. Er bereitete sich seit Jahren innerlich vor auf
diesen Moment. Er würde weiter die Stehplatzkarte für Hertha
kaufen, sich allerdings einen schnelleren Rechner zulegen. Er war
es so satt, auch auf den pixeligsten Porno ewig warten zu
müssen.
Und er würde sich einen Personal Coach leisten,
der ihn fit machte. Brad Pitt sah nur so aus, weil er seinen
eigenen Trainer hatte. Jochen nahm sich seit Jahren vor, Sport zu
machen, erst mal was Leichtes wie Laufen. Er hatte sogar schon ein
Buch mit Anweisungen gekauft. Aber er kam
einfach nicht dazu. Immerhin hatte er schon von Spezi auf
Cola Zero umgestellt, wenn auch ohne sichtbaren Erfolg.
Selbst seine weitesten T-Shirts konnten die Fleischwurst nicht
verbergen, die sich in Hüfthöhe um seinen Körper gelegt hatte.
Dafür fühlte sich sein Speiseröhrenende von dem vielen
Cola-Süßstoff jetzt an wie der Feudel in einer usbekischen
Autobahntoilette, schlaff und schmutzig.
»Wir Männer sind in Gefahr. Das war die
Kernbotschaft, sein Markenzeichen, das immer wieder penetriert
werden musste.«
Den Job an der Tanke würde er jedenfalls behalten,
auch wenn er die Kohle dann nicht mehr brauchte. »Das ist
Volksnähe: Star-Moderator schuftet für Hungerlohn«, würde
Bild auf Seite eins melden und ein unscharfes Handy-Foto
zeigen. Jochen würde Bild dafür verklagen. Sein Job sei
Privatsphäre, würden seine Anwälte argumentieren. Das war natürlich
Marketing. Nach dem Streit mit Bild würden die Leute zur
Tanke pilgern, um ihrem bescheidenen Lieblingsmoderator bei der
Arbeit zuzuschauen. Jochen würde Außenlautsprecher anbringen. Und
wer für über dreißig Euro tankte, bekam eine Autogrammkarte.
Eigentlich war Jochen fertig mit Bild. Das
Mistblatt hatte seine Sendung nie angekündigt im Berlin-Teil,
obwohl er eine geniale Pressemitteilung an die Redaktion geschickt
hatte. »Beyond Cool - für Männer, die noch leben«, lautete
die Überschrift. Das war ja wohl ein Knaller, gerade für eine
Bauarbeiter-Zeitung. »Die noch leben« - das hieß ja: Einige waren
schon tot. Und wer die Männer getötet hatte,
war auch klar. Wir Männer sind in Gefahr. Das war die
Kernbotschaft, sein Markenzeichen, das immer wieder penetriert
werden musste.
»Man kann auch Kluges penetrieren« - noch so ein
tückisch eleganter Spruch, der in seinem Buch stand. Seine Rache an
den Frauen zeichnete sich durch gehobene Perfidie aus. In der
nächsten Sendung würde er aber erst mal den Tankstellen-Satz fallen
lassen, ganz nebenbei, als sprudelten solche Gedanken einfach aus
ihm heraus. Die Hörer würden jubeln oder jaulen oder voller Andacht
schweigen.
Beyond Cool war bereits mit der dritten
Folge auf dem Weg zum Kult. »Du musst Männer zum Weinen bringen,
erst recht morgens um drei«, hatte der Programmchef gesagt, einer,
den sie beim richtigen Rundfunk frühpensioniert hatten und der
jetzt ehrenamtlich beim Offenen Kanal arbeitete. Bretti kannte ihn
noch von früher und hatte ein Gespräch eingefädelt.
Der Offene Kanal war nicht gerade das
Quoten-Paradies, schon gar nicht morgens um drei mit einem
Laienprediger als Vorlauf, der sich auf der Multikulti-Schiene ins
Programm schlawienert hatte. Religiöse Minderheit geht immer.
»Viele Minderheiten sind auch die Mehrheit«, hatte ihm der
Programmchef die Philosophie erklärt. »Männer sind ja eine
Minderheit«, hatte Jochen geantwortet. Sie hatten herzlich
gelacht.
Jochens Sendeplatz war eigentlich der schwulen
Community vorbehalten gewesen, aber es hatte sich gerade niemand
gefunden, der schwules Radio machen wollte. Jochens Radio für
Männer war ja thematisch auch nicht so weit weg. Und schon war
Beyond Cool im Berliner Radio, wenn auch auf einer Frequenz,
die sich noch nicht überall herumgesprochen hatte. Dennoch konnte
Jochen sein Glück kaum fassen. So nah war er einem Traumjob noch
nie gewesen:
DJ mit Tiefgang. Er würde in der Liste der wichtigsten Berliner
zum Aufsteiger des Jahres werden, weit vor Wowereit und nur knapp
hinter Preetz.
Der Cabrio-Heini war ausgestiegen und debattierte
mit dem Kinderwagen-Typen. Die Schuldfrage war eindeutig. Aber das
würde ein Cabrio-Heini nie zugeben, schon gar nicht einer, der
Cowboy-Stiefel trug. Der Kerl sah aus wie ein typischer
Temposünder: weißes Hemd, einen Knopf zu weit offen, dunkelblaues
Jackett, Jeans. Er war einfach zu schnell in die Einfahrt
gebrettert. Morgens um fünf kommt schon keiner, hatte er gedacht,
also mal eine Runde Roulette versuchen. Kam aber doch einer.
Der Kinderwagen-Typ schlurfte fast jeden Morgen um
die Zeit hier entlang. Jochen erkannte ihn am Gang. Er trug diese
merkwürdigen Gesundheitsschuhe, deren halbrunde Sohle aus einem
Stück Autoreifen zu bestehen schien. Jochen hatte die Treter
neulich in einem Schaufenster gesehen: Massai-Technologie, oder so
ähnlich. Entwickelte ein afrikanischer Nomadenstamm seit Neuestem
orthopädische Technologie? Natürlich nicht.
Vielmehr hatte sich ein Marketing-Lurch die
Massai-Story ausgedacht. Perfektes Märchen für Kinderwagenschieber,
die auf der ewigen Suche sind nach dem guten einfachen Leben und
sich deswegen nicht gerolltes, sondern gefaltetes Klopapier bei
Manufaktum bestellen, aus einem kleinen Klopapierfaltbetrieb
im Thüringer Wald, dem letzten, der diese fast vergessene
Handwerks-Tradition des Klopapierfaltens noch pflegte, natürlich in
achter Generation in Familienhand.
Eine Tanke ist das Manufaktum des kernigen
Kerls, der Inbegriff des guten, einfachen Lebens. Tank auf, Rüssel
rein, Tank zu, Kasse, noch was Süßes, eine Zeitung - gut, klar,
einfach, sogar für Massai-Schuhträger mit Biofimmel.
Der Kinderwagentyp winkte immer. Manchmal, wenn
das Baby schlief, bog er ein, und sie redeten ein paar Worte. Er
trug eine Honk-Brille, arbeitete für eine Agentur, war aber auf
Elternzeit. Das Baby schlief nur, wenn es im Kinderwagen durch die
Gegend gefahren wurde. Der Massai-Typ hatte alle Tricks versucht,
den Kinderwagen in der Wohnung zu bewegen. Aber zu Hause brüllte
das Kleine offenbar wie ein Stier. Und seine Frau sollte pennen,
die schaffte jetzt das Geld ran. Also fuhr er das Kind im
Morgengrauen quer durch die Stadt. Was würde er wohl geben, um auch
mal wieder morgens um fünf mit einem Cabrio auf eine Tanke zu
brettern? Jetzt stand er vor dem Cabrio-Heini, sah allerdings nicht
sehr Furcht einflößend aus. Männer mit Kinderwagen besitzen
vielleicht eine moralische Hoheit, aber sie verbreiten keine Angst,
erst recht nicht in Massai-Schuhen. Die beiden brüllten sich nicht
mal an. Vielmehr schien sich der Cabrio-Heini zu entschuldigen. Na
klar. Jochen entdeckte zwei nackte Füße auf dem Armaturenbrett und
ziemlich viel Bein. Schade, dass das Verdeck geschlossen war. Der
Typ hatte sich offenbar noch Arbeit mit nach Hause genommen. Wenn
er sich jetzt mit dem Kinderwagen-Typen anlegte, würde er alle
Chancen verspielen. Baby-Väter standen unter Artenschutz.
Während die beiden debattierten, kam der Jogger
herangetrabt. Er lief hier seit ein paar Wochen lang, manchmal
kaufte er sich was zu trinken. Komischer Vogel. Guckte immer
grimmig. Kein Wunder, wenn man um die Zeit durch die Gegend rennt.
Schien aber jede Menge Kohle zu haben: edle Klamotten, sauteure
Pulsuhr, Blackberry wie eine Dienstwaffe im
Oberarmhalfter,die teuersten Clip-Kopfhörer. Der Jogger blickte
kurz auf die Streithähne, kam dann auf die Kasse zu, blieb aber
drei Meter vorher stehen und hackte plötzlich auf seinen
Blackberry ein.
Der Cabrio-Heini reichte dem Kinderwagen-Typ die
Hand. Gute Geste.
»Zwischen Kasse und Zapfsäulen verdichtete sich
soeben eines der großen Dramen des dritten Jahrtausends: die Krise
des Mannes.«
Zusammen mit dem besoffenen Bausparer, der in
seinem grünen Geländewagen seit über einer Stunde vor der
Waschanlage schlief, waren sie in diesem Moment fünf. Fünf Männer
um fünf Uhr morgens auf einer Tankstelle. Fünf Schicksale. Fünf
Einsamkeiten. Fünf Sorten Fürze. Die Braut und das Baby zählten
nicht. Beide nur Dekor. Hier dominierte der Geruch von Bier,
Schweiß und Frostschutz. »Die Tankstelle ist das Frauenhaus des
Mannes« - der Satz wurde immer besser.
Zwischen Kasse und Zapfsäulen verdichtete sich
soeben eines der großen Dramen des dritten Jahrtausends: die Krise
des Mannes. Einer rannte vor seiner Frau weg, einer schob den
Kinderwagen, weil seine Frau es ihm befahl, einer war so besoffen,
dass er es nicht mal zu seiner Frau nach Hause schaffte, und einer
würde jetzt noch den Affen machen, nur um eine Frau zum Sex zu
bewegen. Nur er, Jochen, hatte bereits die nächste Stufe der
Erkenntnis erreicht. Er hatte sich von Frauen so gut wie losgesagt.
Frauen brauchten ihn nicht, dann brauchte er sie eben auch
nicht.
Die moderne Frau ernährte sich ohnehin selbst,
wusste den Akkuschrauber zu führen, ließ in Reagenzgläsern
befruchten und delegierte die Kinder hinterher einfach weg. Der
Mann war nur mehr da, um herumkommandiert zu werden,
falls er nicht den Vorschriften gehorchte, die Frauen ihm machten.
Zu Recht hatten die Emanzen beklagt, dass vorwiegend Männer in den
letzten Jahrtausenden die Regeln bestimmt hatten. Jetzt bestimmten
Frauen. Und sehnten sich gleichzeitig nach echten Kerlen. Aber die
durften weder riechen, schreien und erst recht keine Widerworte
geben. Bei Bedarf mussten sie ein Stück schwellkörperhaltiges
Fleisch hinhalten. Und manchmal nicht mal das. Was blieb, war die
männliche Identitätskrise: Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin?
Was soll das alles?
»Die moderne Frau ernährte sich ohnehin selbst,
wusste den Akkuschrauber zu führen, ließ in Reagenzgläsern
befruchten und delegierte die Kinder hinterher einfach
weg.«
Jochen hatte sich für den Guerillakampf im
Piratensender entschieden, der Cabrio-Heini für das klassische
Auslaufmodell, der Kinderwagen-Typ für den Rollentausch. Der Jogger
hatte wahrscheinlich eine zickige blonde Zuckerpuppe zu Hause, der
besoffene Bausparer einen Hausdrachen mit Kontrollmanie. Sie alle
wollten ihr eigenes Leben zurückerobern, und wenn es nur für ein
paar Minuten am Grill war, wenn mal keine matschigen
Zucchini-Scheiben auf beölter Folie lagen. Fünf Männer, eine
Mission: Sie starteten gemeinsam in einen neuen Tag, in dem sie
sich vielleicht mal nicht verlieren würden.
Jochen spürte der Erhabenheit dieses Moments nach,
den die anderen vier wahrscheinlich gar nicht empfanden,
der besoffene Bausparer schon gar nicht. Wie es der Zufall wollte,
der in erhabenen Momenten immer gnädig ist, lief der perfekte
Soundtrack. Jochen starrte auf seinen iPod, der in der
kleinen Abspielanlage steckte. Er war überzeugt, dass dieses Gerät
über einen geheimen Stimmungssensor verfügte. Der iPod
wusste fast immer, welcher Titel gerade gefragt war. Musik war
eigentlich verboten im Kassenbereich.Aber Pink Floyd war ja
keine Musik, sondern Gottesdienst. »Wish You were here« konnte man
durchlaufen lassen, immer wieder. Welche Platte kann man denn heute
hören, ohne das ewige Gedrehe und Gespringe. Außerdem war Pink
Floyd der perfekte Kundentest. Kerle, die anerkennend nickten
oder den Titel sogar kannten, die waren fast immer okay. Denen
könnte er eigentlich gleich einen Flyer in die Hand drücken, besser
noch eine Visitenkarte, auf teurem Karton:
BEYOND COOL.
DIENSTAG AUF 97,5 FM.
UM DREI UHR MORGENS.
FÜR MÄNNER, DIE NOCH LEBEN.
MIT JOCHEN HEINE.
UM DREI UHR MORGENS.
FÜR MÄNNER, DIE NOCH LEBEN.
MIT JOCHEN HEINE.
Mehr nicht. Wie geil war das denn. Würde er gleich
nach der Schicht zu Hause am Rechner fertig machen.
Der Cabrio-Heini kam zur Kasse, dahinter fummelte
der Jogger immer noch an seinem Blackberry herum. Der Vater
beugte sich über den Kinderwagen. Offenbar war das Baby wach
geworden. Er winkte kurz und schuckelte los. Auf dem Rückweg würde
er bestimmt noch mal reinschauen.
»Fünf Männer, eine Mission: Sie starteten
gemeinsam in einen neuen Tag, in dem sie sich vielleicht mal nicht
verlieren würden.«
Der Cabrio-Heini stand jetzt vor der Scheibe.
Seine Haare sahen eine Spur zu ölig aus, so als ob er eine dringend
nötige Wäsche mit viel Gel noch einmal notdürftig hinausgezögert
hätte. Typischer Disco-Trottel. Wahrscheinlich schon lange auf der
Pirsch. Er hatte gar nicht getankt. Jede Wette: Er würde keine
Reaktion zeigen bei Pink Floyd. Mal abgesehen davon, dass
das Geklirre am Anfang von »Welcome to the machine« sowieso nur für
Experten zu identifizieren war.
Jochen drückte die Lippen fest auf das kalte
Metall. Das Drahtgeflecht schmeckte nach Nikotin und alter Spucke,
die nicht seine war. Egal. Jeder gute Radiomoderator wusste: Das
Mikrofon muss wie eine große Kugel Eis zwischen den Lippen sitzen.
Keine Hemmung, voller Kontakt. Jochen holte tief Luft und
konzentrierte sich auf seinen Rachen. Eine perfekte Stimme entstand
immer im Rachen.
Jochen blickte kurz auf und taxierte den
Cabrio-Heini. Die Sonnenbrille im Haar sah auch ziemlich affig aus,
erst recht morgens um fünf. Er trug verdrogte Pupillen, dafür aber
ziemlich dichtes Haar. Jochen achtete auf die Haare anderer,
schon seit der Schulzeit, als seine Geheimratsecken begannen,
immer weiter zusammenzuwachsen. An Koffein-Shampoo glaubte er nicht
so recht, hatte sich aber trotzdem eine Flasche gekauft. Vielleicht
half Doping für die Haare ja doch. Der Cabrio-Heini nahm überhaupt
kein Shampoo, sondern seit Jahren nur Gel. Vielleicht waren die
Haare deswegen noch so dicht. Er klebte sie einfach fest.
Jochen holte Luft und zwang sich zu einer Pause,
die sehr viel Mut erforderte, aber unglaublich wirkungsvoll war,
weil sie das Gegenüber zur Konzentration zwang. Jochen hatte viel
Übung auf diese Kunstpause verwendet, die seine Stimme richtig zur
Geltung brachte. Er sehnte den Moment herbei, wenn ein Kunde
stutzte, ihn lange taxierte und dann fragte: »Ihre Stimme kenne ich
doch irgendwoher? Ja, klar, aus dem Radio: Beyond Cool.
Starke Sendung, absoluter Kult. Habe ich gestern erst
weitergetwittert.«
Jochen hatte seine Reaktion bereits geplant: Er
würde Richtung Horizont gucken, als plane er bereits die nächste
Ausgabe von Beyond Cool. Dann würde er leise »Danke« sagen
und total bescheiden fragen: »Darf’s noch was sein?«
Der Cabrio-Heini guckte unwirsch. »Moin«, sagte
Jochen schließlich, was er cooler fand als Hi oder Guten Morgen.
»Was darf’s denn sein?« Los, Du Idiot, flehte Jochen innerlich. Sag
es! Sag’s schon! Der Cabrio-Heini stutzte. »Welcome to the
machine«, stellte er dann fest: »Super. Die ganze Platte ist super.
Kannste so durchlaufen lassen. Immer wieder.« Jochen wusste nicht
recht, ob er sich freuen sollte. Erstens hatte er mit seiner
Prognose falsch gelegen, dass der Cabrio-Heini die Musik nicht
beachten würde. Zweitens hatte der Kerl seine Stimme nicht erkannt.
Und drittens hatte er ziemlich genau das gesagt, was er vor wenigen
Minuten gedacht hatte: Kann man so durchlaufen lassen.
Jochen wollte nicht so sein wie der Cabrio-Heini.
- Aber: Wahrscheinlich dachten alle Männer
weitgehendsynchron.
»Wahrscheinlich dachten alle Männer weitgehend
synchron. Es war nur noch keinem aufgefallen, weil sich alle für
wahnsinnig individuell hielten.«
Es war nur noch keinem aufgefallen, weil sich alle
für wahnsinnig individuell hielten. Das musste man gleich testen,
dachte Jochen: Der Cabrio-Heini kaufte bestimmt Schampus, um die
Braut geschmeidig zu machen.
»Was habt Ihr an Schampus da?«
Volltreffer.
»Rotkäppchen, Henkel, Freixenet und
Moët«, antwortete Jochen. Früher hatte er immer »Mööt«
gesagt, weil er das witzig fand. Aber in Wirklichkeit zeugte es von
Blödheit. Also:
»Mo-ee«.
»Was kostet der Moët?«
»Achtundvierzigneunundneunzig.«

Ach Du Schreck, dachte Lars. Viel zu teuer für
komatösen Sex im Morgengrauen mit schlechtem Geschmack im Mund. Er
rechnete nach. Hatte er überhaupt noch den Fuffi im Portemonnaie?
Im Zweifelsfall nicht. Die Nacht war mal wieder unendlich teuer
gewesen, und er hatte den Überblick über die Finanzen verloren.
Tanja hatte im Wechsel Goldkrone auf Eis und
Wodka/Redbull getrunken. Jede Runde kam auf knapp zwanzig
Euro, obgleich er sich mit Bier
begnügt hatte. Wenn überhaupt, dann steckte noch etwas Wechselgeld
in seiner Hosentasche.
Warum zum Teufel hatte er überhaupt solange an
Tanja herumgequatscht? Er hatte um elf einen wichtigen
Kundentermin, also gleich. Anstatt ein paar Stunden zu schlafen,
hatte er sich Tanja aufgehalst. Sie waren vor zwei, drei Jahren
schon mal miteinander im Bett gelandet. Lars konnte sich an nichts
mehr erinnern. Konnte wohl nicht so doll gewesen sein. Tanja machte
ohnehin keinen sonderlich erregten Eindruck, eher
geschäftsmäßig.
Und für schlechten Sex und keinen Schlaf sollte er
jetzt einen Fuffi investieren, den er vermutlich gar nicht mehr
hatte. Er würde fast schlafen, sie ruckelte lustlos immer weiter,
und der teure Schampus würde schal und warm. Das Geld könnte er
besser im Strandkorb in den Spielautomaten werfen. Da würden
vielleicht drei Sonnen kommen.
Ich schmeiß’ die Braut an der U-Bahn raus und leg’
mich hin, dachte Lars. Andererseits konnte er eine schnelle,
schmutzige Entspannung gut gebrauchen, bevor er in einen Tag
startete, von dem er wusste, dass er beschissen werden würde. Wie
sollte er das halbe Jahr bis zur Full Moon Party jemals
durchstehen?
»Gib mir drei Dosen Redbull und’ne kleine
Goldkrone«, sagte er zu dem Tankstellen-Kassierer, der
immerhin Pink Floyd laufen hatte.

Jochen ging erst zum Spirituosenregal, dann zum
Kühlschrank. Sehr vernünftig, dachte er. Im schlimmsten Fall wird
eine halbe Dose Redbull schal. Kann man dann ja immer noch
zum Frühstück trinken.
»Einundzwanzigsiebzig.«
»Und’ne Packung Airwaves, die roten.« Nur
nicht Stinke-Knutschen.
»Zweiundzwanzigneunzig. Tüte?«
Der Cabrio-Typ fischte zerknitterte Scheine und
ein paar Münzen aus der Hosentasche.
»Nee, danke. Stimmt so. Coole Mucke, echt.«
Jochen zog die Schublade heran, der Cabrio-Typ
kehrte zurück zu den Füßen, die immer noch auf dem Armaturenbrett
ruhten.
Er hatte dreiundzwanzig Euro in die Blechkiste
gelegt. »Danke«, sagte Jochen. Zehn Cent Trinkgeld. War das nun
eine Beleidigung? Der Dank für Pink Floyd? Großkotzigkeit?
Ein Statement gegen die Geizgesellschaft? Oder einfach nur der
Unwille, Tonnen kleiner fast wertloser Metallstücke
herumzuschleppen?
Jochen fischte ein blankes Zehn-Cent-Stück aus der
Kasse. Diese Münze konnte verdammt kränkend sein, aber auch von
historischer Bedeutung. Es hing davon ab, ob er sich dem
Cabrio-Heini unterwarf und hündisch »Danke« sagte, ob er auf
Konfrontationskurs ging, schwieg und »Arschgeige« dachte, oder ob
er den Ball als Steilpass begreifen, aufs Tor rennen und einlochen
sollte.
Das war der dritte Weg, der Weg der
Männer-Solidarität. Männer begriffen sich zu wenig als Team. Der
erste Reflex, wenn zwei sich trafen, lautete fast immer: Krieg oder
Kapitulation. Zeige ich dem anderen sofort meine unheimlich großen
harten Cojones? Oder lege ich mich ergeben auf den Rücken? Jochen
entschied sich für den dritten Weg. Das Trinkgeld von dem
Cabrio-Heini könnte der magische Zehner sein, mit dem alles
beginnen würde, so wie der heilige Kreuzer von Dagobert Duck.
Eigentlich hasste Jochen alle Cabrio-Heinis,
andererseits hatte dieser hier offenbar Ahnung von Musik. Sie beide
gehörten
zum gleichen Musikstamm. Brüder im Sound. Neben Fußballvereinen
und Biermarken war die Musik das dritte große
Differenzierungsmerkmal der Gattung Mann. Außerdem war der
Cabrio-Heini Kernzielgruppe für »Beyond Cool«. Er war spät noch
wach. Ein Mann, der noch lebte, was er der Dame mit den nackten
Füßen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit gleich noch beweisen
würde.
Jochen spürte Neid aufsteigen. Er war schon lange
nicht mehr morgens um fünf mit einer Frau nach Hause gekommen.
Eigentlich noch nie. Deswegen hatte er ja auf die
Provokations-Strategie umgestellt.
»Das war der dritte Weg, der Weg der
Männer-Solidarität. Männer begriffen sich zu wenig als Team. Der
erste Reflex, wenn zwei sich trafen, lautete fast immer: Krieg oder
Kapitulation.«
Nur mal angenommen, er würde sich jetzt einen
eisgekühlten Moët aus dem Lager holen, die Tanke
abschließen, Flasche schwenkend zum Cabrio schlendern und die
beiden ganz freundlich fragen, ob er mitkommen und mitmachen dürfe.
Oder einfach nur zugucken. Was würden die beiden wohl sagen? Was
könnte er verlieren außer den blöden Job an der Tanke? Was aber
würde er im Gegenzug gewinnen, wenn sie ihn tatsächlich auf den
Notsitz bitten würden?
Jochen überlegte, welche Unterhose er heute trug.
Oh! Boxer-Shorts mit Fred Feuerstein. Ein Versehen. Nur,
weil alle anderen absolut nicht mehr tragbar und daher in der
Wäsche waren. Eines Tages würde er garantiert fragen. Wenn er eine
bessere Unterhose trug. Das Cabrio brauste davon.
Der Jogger hatte aufgehört, auf seinen
Blackberry einzuhämmern. Was zum Teufel war so wichtig, dass
man es morgens um fünf mitteilen musste? Der Jogger schwitzte
nicht. Er trug Verachtungsgesicht. Klare Sache, er hielt
Tankstellen-Nachtschichtler für Versager.
Jochen nahm sich vor, auf Cojones-Modus
umzustellen. Nix Bruder. Er drückte die Lippen fest auf das kalte
Metall. Das Drahtgeflecht schmeckte nach Nikotin und alter Spucke.
Egal. Jochen konzentrierte sich auf seinen Rachen und zwang sich zu
einer besonders langen Pause. Der Jogger guckte unwirsch. »Naa«,
sagte Jochen mit Radiostimme, »schon die ersten Aktien
gekauft?«

Attila verabscheute Tankstellen zutiefst.
Tankstellen waren die Vorstufe zum Männerwohnheim. Der Anteil
verkrachter Existenzen lag hier weit über dem Berliner
Durchschnitt, und der war schon hoch.
Attila wäre gern wieder in München, weit weg von
dieser Hartz-IV-Hauptstadt. Aber wenn er Chef bei Wesley
werden wollte, musste er beweisen, was er draufhatte. Seine
Vorgänger waren in Berlin gescheitert. Nun war es an ihm
aufzuräumen in diesem Saustall, mindestens zwei, drei Jahre lang.
Er würde seinen Job als Partner perfekt erledigen, so wie alle
Jobs.
Fast alle Jobs. Mit seinem Marathon-Training war
er deutlich im Verzug. Er hatte keine Lust, zwei Stunden durch den
Übeldunst der erwachenden Großstadt zu traben. Disziplin, Attila,
ermahnte er sich. Er musste sein inneres Team wieder auf Kurs
bringen. Jetzt sofort.
Berlin war ein unglaublicher Motivationskiller.
Disziplin, Ausdauer, Erfolg waren nicht gefragt in dieser Stadt, wo
überall Luschen herumhingen, Kreaturen wie dieser fette
Tankstellen-Trottel, der in sein albernes Mikrofon sabberte. Attila
wurde schon beim Gedanken an all die Keime schlecht, die in dem
Mikro-Gitter wohnten. Aber diese Penner, die hier Nachtschichten
schoben, waren wohl unverwüstlich wie Kakerlaken, auch wenn sie
nicht mal den Edelweiß-Express auf einem Volksfest in
Sachsen-Anhalt ansagen könnten.
Immerhin: Der Kerl arbeitete wenigstens, noch
jedenfalls. In zehn Jahren würde diese Tanke vollautomatisiert sein
und das dämliche Gequatsche auch aufhören. Was ging den Kerl denn
an, was Attila gerade in seinen Blackberry getippt hatte?
Aktien kaufen? Wo war denn da der Hebel? Anfänger.
Attila versuchte sich zu erinnern, wo er die Musik
gehört hatte, die der Tankstellen-Wicht da laufen hatte. War was
Älteres auf jeden Fall. Klang nicht schlecht. Sollte er fragen?
Niemals. Es gab nichts Uncooleres, als nach Musik zu fragen.
Andererseits: Ein guter Chef blamiert sich jeden Tag, aber nur ein
Mal. Sollte er seine heutige Blamier-Option jetzt schon ziehen? Das
würde seine Spielräume für diesen Tag ziemlich einengen, was aber
nicht weiter schlimm war, da er heute ohnehin nicht ins Büro ging.
Er hatte seinen D-Day, den Durchcheck-Tag - Pflicht für alle
Führungskräfte, einmal im Jahr.
Attila fühlte sich topfit, auch wenn das
Marathon-Training ihn eher schlauchte als erfrischte. Morgens um
kurz vor fünf raus, zwei Stunden Pace machen und dann ab ins
Office, das war ein harter Start in den Tag. Kurz vor zehn bekam er
immer Heißhunger und gleich darauf eine Tiefschlafattacke.
Ausgerechnet um zehn Uhr, wenn die Videokonferenz mit München
startete.
Neulich hatte ihn die Bindinger beim Gähnen
erwischt.
»Na, hat Berlin jetzt nicht mal mehr Sauerstoff?«, hatte die alte
Hexe gegurrt. Die ganze Runde von Schleimern und Hosenscheißern
hatte gewiehert. Aber er hatte sofort gekontert und gefragt: »Was
macht eigentlich Leipzig?« Schlagartig erstarb das Gelächter.
Volltreffer. Leipzig war Bindingers Schwachstelle. Dort ging gar
nichts. Und allein sie war dafür verantwortlich.
Karen Bindinger gehörte zu jener Sorte Frauen, die
unangreifbar waren: exzellente Bildung, zwei Kinder, schnurgerade
Karrierelinie, top Figur, na ja, nicht ganz top, die kleinen Beulen
unterhalb des Hüftknochens würden sich über die Jahre zu zwei
imposanten Satteltaschen auswachsen. Und die Oberarme lappten auch
schon ganz schön. Die Bindinger wusste das.
Deswegen lief sie, ziemlich viel und ziemlich
schnell, den Halbmarathon knapp unter hundert Minuten. Sie sah
verdammt gut aus in den engen Laufklamotten, durchgehend schwarz
natürlich, vor allem wenn sie schwitzte, nicht in stinkigen
Pfützen, sondern eher feintropfig, als perle Champagner von ihr ab.
Aber an einen ganzen Marathon hatte sich diese tolle Frau bislang
noch nicht gewagt. Marathon, das war ihr zweites Leipzig. Und seine
Chance. Wenn er weniger als zweihundert Minuten brauchte, würde
Bindingers Halbmarathon-Mythos zerplatzen.
Mythen waren das Großartigste, aber auch das
Schlimmste in einer Firma, dieses ewige halbwahre Geraune, das sich
mit der Zeit in Realität verwandelte. Erst neulich hatte Attila
»Die Macht der Mythen« gelesen, ein wirklich kluges Buch. These:
Jede Hierarchie wurde durch die Mythen bestimmt, die einen Menschen
umgaben. Mythos, das war mehr als Image, tiefer, stabiler. Es gab
den Caligula-Mythos, den Herkules-Mythos, den Atlas-Mythos, den
Cäsar-Mythos. Er würde den Attila-Mythos hinzufügen.
Jeder war in der Lage, seinen eigenen Mythos zu
gestalten, behauptete das Buch, und zwar schneller als Julius
Cäsar. Der hatte sich ganz schön Zeit gelassen, erst mal musste er
die halbe Welt erobern, jede Menge Paläste, Tempel und Statuen in
Auftrag geben, seine Mitstreiter beschenken und sich vor allem von
seinem eigenen Sohn meucheln lassen - ein relativ aufwendiger Weg
zum Dasein als Halbgott.
Als Mann zum Mythos zu werden war auch in unserer
Zeit noch ziemlich anspruchsvoll. Früher gab es heroische Taten,
heute nur Karikaturen wie Boxer oder Luca Toni. Aber wo war ein
echtes Vorbild, einer, der was in der Birne hatte, nicht schwul
war, weder Proll noch Poser noch Weichei? Peter Kloeppel
vielleicht.
Es gab allerdings eine Abkürzung, eine Art
Mythen-Turbo. Man musste Symbole schaffen, mythologische Akte,
gleichsam Rituale vollziehen, über die auf jedem Flur getuschelt
wurde. »Das ist doch der Typ, der den Marathon schneller läuft als
die Bindinger den halben …« - das war der Text, den er im ewigen
Flurfunk von Wesley zu platzieren gedachte.
Diese Mythos-Korrektur war dringend nötig. Attila
hatte lange über seinen eigenen Ruf nachgedacht und war zu dem
Ergebnis gekommen, dass er etwas zu eindimensional wahrgenommen
wurde. Er war als Chef gefürchtet, weil er das Maximum aus seinen
Leuten herausprügelte. Wer ihm nicht bedingungslos folgte, der
flog. Wer am Wochenende nicht ans Handy ging, flog. Wer zweimal
unter seinen Vorgaben blieb, flog.
Erst der Kunde, aber vorher noch der Chef, so
lautete seine Parole. Wer ihm folgte, so wie Jaspers und Röttger,
wurde großzügig belohnt. Alle anderen wurden bestraft, immer hart,
manchmal ungerecht. Ihn umgab der Mythos der Gnadenlosigkeit.
Leider war nicht nur bei Kunden, sondern auch bei
Wesley selbst seit Neuestem der Wert »Empathie« groß im
Kommen, menschliche Wärme und derlei Tralala. Attila musste seinem
Profil also schleunigst eine soziale Komponente hinzufügen, die
aber nicht weicheiig aussehen durfte, Kultur und Kunst waren gut.
Oder eben Sport, aber mit anderen gemeinsam. Er hatte sich
entschieden, seinen Schwerpunkt aufs Laufen zu legen. Eine
Image-Analyse aus Großbritannien hatte ergeben, dass Läufer durch
alle gesellschaftlichen Schichten und Altersklassen akzeptiert
waren, Marathon-Läufer sogar respektiert. Und vierzigtausend
Starter beim Berlin-Marathon, das war ja wohl genug gemeinsam mit
anderen.
Natürlich würde diese Empathie-Phase vorübergehen.
Angst war seit Menschengedenken der beste Motor und würde es immer
bleiben. Kuschelpädagogik mochte im Dritte-Welt-Laden
funktionieren, aber nicht in einer Strategieberatung, die ein
klares Ziel hatte: die Nummer eins zu werden in Deutschland. Dafür
brauchte er Winner. Und keine sanftäugigen Schwachköpfe.
»Wir bei Wesley haben die höchsten
Ansprüche, die es in unserer Branche gibt«, das war sein stets
gleicher Auftaktsatz im Kündigungsgespräch, und meistens nickten
die Delinquenten, weil sie glaubten, sie könnten diese Ansprüche
erfüllen. Von wegen. Noch während sie nickten, schlug er ihnen das
Henkersbeil ins Genick. »Leider genügen Sie diesen Ansprüchen in
keinster Weise.«
Attila liebte diesen Moment, wenn ihn der
Gordon-Gekko-Flash durchfuhr.Allmacht. »When You’renot inside,
You’re outside« - ein großartiger Satz. O-Ton Gekko.
Der Delinquent brauchte einen Moment, um überhaupt
zu kapieren, was los war. Manche schluckten, andere erstarrten,
einige verloren den Kampf gegen die Tränen. Gut
so. Jede Träne nahm er als Einzahlung auf sein Mythen-Konto.
Attila griff sich dann meist ein Stück Papier von seinem
Schreibtisch und versenkte sich darin. Der Delinquent verstand,
erhob sich wortlos und ging.
»Jede Träne nahm er als Einzahlung auf sein
Mythen-Konto.«
Nur die Bindinger war vor vier Jahren einfach
sitzen geblieben. Sie hatte kühl um Erläuterung der Gründe gebeten.
Dann hatte sie erklärt, dass sie demnächst eine Stelle in der
Zentrale in München antreten werde. Das hatte sie hinter Attilas
Rücken eingefädelt. Bitch. In nur vier Jahren war sie zum Senior
Partner aufgestiegen. Erst hatte sie ihn ausgebremst, dann
überholt, und jetzt demonstrierte sie kalt ihre Macht, zum Beispiel
in den Videokonferenzen jeden Morgen. Sie war die einzige Frau. Die
Männer in der Runde lachten über jeden ihrer Scherze, aus Angst vor
ihr. Der Bindinger-Mythos war Furcht erregend: Kleopatra. Katharina
die Große. Angela Merkel. Und die Kerle so verunsichert, dass sie
albern kicherten. Nur mit Leipzig und beim Marathon war die
Bindinger zu kriegen. Ihrem Mythos vom schnellen gnadenlosen
Aufstieg würde er Ausdauer entgegensetzen, Beharrlichkeit,
Disziplin. Sie würde eines Tages einen Fehler machen oder einfach
gehen.
Wenn eine Frau so schnell so gerade Karriere
macht, dann war da was faul. Hochgebumst hatte sie sich allerdings
nicht, das hätte er erfahren. Aber sie gab allen Männern das
Gefühl, dass es theoretisch möglich wäre. Manche ihrer Röcke hatten
exakt diese edelnuttige Länge, die man eigentlich nicht mehr
durchgehen lassen konnte, waren aber gerade noch zu lang, um ihr
Billigkeit vorwerfen zu können.
Die Bindinger war wie Carla Bruni: außen Bambi, innen
Stalin-Orgel. Aber Attila wusste: Sie war die Pappel, zu schnell
gewachsen, um großen Stürmen zu trotzen. Eines Tages würde sie
einfach umfallen.
Seit er den Visualisierungskurs gemacht hatte,
versuchte er, in Bildern zu denken und zu sprechen.
Verständlichkeit war einer der wesentlichen Schlüssel zum Erfolg.
Das hatten mehrere amerikanische Studien ergeben, die sein
Executive Newsletter ausdauernd zitierte. Back to basic.
Weibliches Schwanken gegen männliche Stabilität, das war gut.
Attila, die nachhaltige Marathon-Eiche, die im Sturm noch wächst
statt knickt.
Aus Mythosgründen hatte er eben schon eine Mail an
Jaspers geschrieben: »Bitte call vor 10h-mtg«. Jaspers würde, wenn
er um halb sieben seinen Blackberry anmachte, auf die
Sendezeit starren und staunen: »Mann, der Attila, schon um fünf die
ersten Mails. Wahrscheinlich läuft er schon.« Jaspers vertrat ihn
heute morgen im Meeting; und er musste ihn noch briefen, wie er mit
der Bindinger umzugehen hätte, auch wenn die Führungskräfte an
ihrem D-Day dazu angehalten waren, sich nicht um die Arbeit zu
kümmern: keine Anwesenheit, keine Projektarbeit, keine Anrufe,
keine Mails. Aber Attila wusste, dass Jaspers seiner Sekretärin von
der frühen Mail erzählen würde. Damit wäre die Info rum im Haus,
und er hätte einen Felsbrocken mehr in seiner Nachhaltigkeitsmauer
ruhen. Die Mauer war ein gutes Bild, fast so gut wie die Eiche.
Nachhaltigkeit, das musste der Kern seines Mythos’ werden. Alles,
was er tat, musste nachhaltig sein, selbst das Feuern.
»Nachhaltigkeit« hatte »Innovation« abgelöst, als Leitbegriff, der
die nächsten Jahre jede Debatte dominieren würde, das hatten
mehrere Umfragen unter Führungskräften ergeben.
Wer vorne bleiben wollte, musste einen
empathischen Nachhaltigkeits-Mythos
um sich herum aufbauen. Dazu gehörte leider auch eine Familie.
Lange hatte Attila sich dagegen gesträubt, weil er Kinder ziemlich
lästig fand. Doch inzwischen war klar, dass Kinder Bedingung waren
für einen Posten an der Spitze des Landes: Frauen, Türken, Schwule,
Alleinstehende, die durften überall mitspielen. Nur ganz oben
nicht. Im Olymp regiert der deutsche Familienvater. Für diese
Erkenntnis brauchte man keine Umfragen. Nun musste Camille nur noch
schwanger werden. Auch deswegen ging er heute zum Arzt. Vielleicht
lag es ja doch an ihm. Obwohl: Das konnte gar nicht sein. Er
brauchte nur zwei, drei Gläser Rotwein, vielleicht noch ein paar
Porno-Splitter aus dem Internet, dann gingen seine Phantasien mit
ihm durch und er kam, meistens. Garantiert war Camille das
Problem.
»Einmal Arizona Green Tea und die FTD«,
sagte Attila.
Der Tankstellen-Tumb guckte verständnislos. »Was
war das zweite?«
»Financial Times Deutschland«, erklärte
Attila im Tonfall eines Sonderschullehrers.
»Zeitungen sind noch nicht da; kommen erst um
sechs«, sagte der Tankstellen-Trottel, »nur die von gestern.«
Attila dachte nach, getreu jenem Options-Modell, das er seit ein
paar Jahren mit großem Erfolg anwandte. Die Strategie: Jede
Entscheidung immer auf zwei klare Wege reduzieren und möglichst
noch visualisieren. Dann spontan den Bauch entscheiden
lassen.
Option eins: Mit der Zeitung von gestern auf eine
Bank im Park setzen, ausgiebig lesen, etwas dösen, dann eine halbe
Stunde richtig schnell laufen und einigermaßen fertig nach Hause
kommen, wo Camille ihm hoffentlich schon sein Eiweiß-Omelett
bereitet hatte.
Option zwei: Stöpsel ins Ohr und laufen, zwei
Stunden
lang. Das Hörbuch »Berlin Alexanderplatz« lief bestimmt noch zwei
Stunden. Und Attila brauchte Berlin-Nachhilfe. Wenn er bei Kunden
eingeladen war, musste er halbwegs kluge Bemerkungen zur Stadt
machen. Sicherheit in historischen Fragen war absolute Pflicht für
einen Partner bei Wesley. Die paar Hörbücher von Alfred Kerr
waren leider vergriffen. Also »Berlin Alexanderplatz«. Kannte er
noch aus dem Fernsehen von früher. Franz Biebermann, oder so
ähnlich. Biebermann und die Brandstifter. War das witzig? Attila
hatte keinerlei Gespür für Kulturwitze. Auch so ein Problem.
In Berlin war Kultur extrem wichtig. Klar, wo
keine Wirtschaft war, die echtes Geld verdiente, floh man in
Nebentätigkeiten, die moralisch unangreifbar waren: Kultur eben,
oder Soziales. Dagegen konnte man nichts sagen. Attila würde diesen
ganzen Kulturfuzzis und Charity Ladies in dieser Stadt gern mal
Beine machen: privatisieren, skalieren, sanieren. Einfach mal
durchkärchern, wie Sarkozy.
Aber in diesem schwarzen Subventionsloch Berlin
war jede Modernisierung unerwünscht. Hier regierte der rote Mob.
Deswegen sah die Stadt auch immer noch aus wie bei »Berlin
Alexanderplatz«. Attila verachtete diese Kleine-Leute-Romantik. Am
Ende blieb immer nur richtig, dass er mit seinen Steuern die ganzen
Hänger mitbezahlte.
Zu allem Elend las auch noch Ben Becker das
Hörbuch. Attila mochte Ben Becker nicht: diese alberne
Halbstarken-Attitüde, das Verdrogte, die Bibel-Brüllerei, die ganze
Selbstherrlichkeit, die dieser Fremdtextaufsager um sich
herumwolken ließ. Andererseits: Ben Becker las gut. Irgendwas blieb
immer hängen, vor allem, wenn er die neue Gedächtnis-Technik
anwendete, von der er am Wochenende gelesen hatte. Wie war das
noch? Man musste Worte in Bilder übersetzen und aus den Bildern
einen Film zusammensetzen,
der aber bestimmten Regeln folgen musste. Welchen, das hatte
Attila vergessen.
Jedenfalls würde er nach zwei Stunden Dauerlauf
ausgesprochen stolz nach Hause kommen und mit großer Genugtuung die
Trainingsdaten in den Rechner laden. Erstens Berlin-Nachhilfe,
zweitens nach Plan trainiert und drittens gute Laune - mehr war in
zwei Stunden nicht möglich. Ökonomisch gesehen musste er also
laufen. Professor Schneider heute Abend würde auch beeindruckt
sein. Abgemacht, sagte Attila zu seinem inneren Team: Wir laufen.
»Dann nur den grünen Tee«, sagte Attila.
»Zweineunzig bitte.«
Attila hatte drei Euro-Münzen und einen
Fünf-Euro-Schein in der kleinen Tasche in seiner Laufhose. Glück
gehabt. Er konnte die Münzen loswerden, die beim Laufen ohnehin nur
klirrten, und den Schein behalten. Nur die zehn Cent störten. Er
würde die Münze vergessen und wieder mit in die Waschmaschine
befördern. Eine kaputte Waschmaschine nur wegen zehn Cent?
»Rapper oder Kicker, das waren einträgliche
Berufe.«
Attila legte die drei Euro in den Blechkasten:
»Stimmt so.« »Danke«, sagte der Tankstellen-Trottel. Wahrscheinlich
bekam er höchstens alle zehn Wochen mal ein paar Cent Trinkgeld. So
sah er auch aus, in seinem albernen Kapuzen-Shirt mit der
Graffiti-Aufschrift, die man nicht lesen konnte. Anarcho-Folklore.
Selber schuld. In diesem Land konnte nun wirklich jeder Stoffel
reich und berühmt werden. Vielleicht nicht gerade bei
Wesley. Aber es gab ja noch tausend andere Möglichkeiten,
selbst fürs Prekariat: Rapper
oder Kicker, das waren einträgliche Berufe. Man musste nur
dranbleiben, mutig, ausdauernd, nachhaltig eben. Attila startete
seine Pulsuhr und trabte los. In einer Stunde und zwei Minuten
durfte er wenden. Negative Split, das war eine schlaue
Trainingstechnik: hin in zweiundsechzig Minuten, zurück in
achtundfünfzig, obwohl die Beine schon schwer waren. Das schulte
die Leidensfähigkeit.
Trabend suchte Attila im Display das Hörbuch und
klickte die Kopfhörer auf die Ohren. Je mehr man zu tun hatte
während des Laufens, desto weniger nervte es. Attila bog auf die
lange Gerade Richtung Park. In der Ferne erspähte er diesen
Kinderwagen-Heini, den er schon an der Tankstelle gesehen hatte. Es
gab nichts Entwürdigenderes, als mit so einem albernen Wagen
morgens um fünf durch die Stadt zu schieben, erst recht mit einem
kotbraunen Cord-Verdeck. Wahrscheinlich bevorzugte die dazugehörige
Frau den Neo-Trümmerfrauen-Look mit Kittelschürze von Gucci.
Camille war zum Glück ganz anders. Sie wusste, was es bedeutete,
den angehenden Chef von Wesley zu repräsentieren. Jetzt
musste sie nur noch schwanger werden. Es war alles vorbereitet: Er
hatte sie geheiratet, und die Wohnung bot locker Platz für ein
Kinderzimmer. Sobald tatsächlich so ein Schreihals bei ihnen
einzöge, würde er allerdings auf einem eigenen Schlafzimmer
bestehen, am besten schallgeschützt. Camille würde verstehen, dass
er seinen Schlaf brauchte, gerade jetzt, wo es im Berliner Büro um
alles ging. Am Wochenende würde er das Kind natürlich nehmen, so
richtig lange auf den Arm, vor allem, wenn sie eingeladen waren.
Väter mit Babys punkten einfach sagenhaft. Da würde sich die
Bindinger aber umgucken mit ihren wohlstandsverwahrlosten
Pubertätspickeln. Attila hob die Hand zu einem solidarischen Gruß,
als er den Kinderwagenfahrer überholte.

Martin erschrak, als der Jogger überholte. Warum
hatte dieser Mann die Hand gehoben? Ach ja, der Typ von der
Tankstelle. Er versuchte, diese harten Kerle nicht zu bewundern,
die ihr Sportprogramm sklavisch durchzogen. Eigentlich sollte er
auch Sport machen. Fand Dorothea jedenfalls. Martin glaubte an die
Macht des Gedankens und an seine Brille. Die war Markenzeichen
genug. Ein übertriebener Körperkult konnte das Privileg der
Unterschicht bleiben.
Dorothea ging dreimal die Woche ins Fitnessstudio.
Wollte sie plötzlich einen Muskelmann zum Gatten? Das konnte ja
wohl nicht sein. Dorothea war nicht so. Sie war stolz auf ihren
exklusiven Kerl mit der geschmackvoll-gewagten Retro-Brille, der
ganz anders war als die anderen Männer, viel nachdenklicher und
auch nachhaltiger irgendwie, ein moderner Mann, der sich um die
Kinder kümmerte, dem seine Karriere nicht so wichtig war, der zu
leben verstand, der heute Abend gemeinsam mit dem Miet-Koch ein
formidables Vier-Gänge-Menü zaubern würde, wenn Dorotheas Chef aus
dem Sender zum Essen kam.
Martin hatte schon im Studium beschlossen, jede
Art von zielloser Bewegung prollig zu finden. Intellektuelle
schwitzen nicht. Sport war die billigste Art, sich Anerkennung zu
verschaffen. Martin las lieber. Er sprach leise und bedächtig. So
zwang man seine Zuhörer zur Konzentration.
Martin hatte sich über Jahre einen Ruf als
wandelnder Zitatenschatz mit angeschlossener
Nachdenklichkeitsabteilung erworben. Damit war er konkurrenzlos in
der Agentur und in ihrem Freundeskreis. Er hatte seinen USP
gefunden. Laufen, golfen, segeln konnte jeder. Aber wer konnte
Sloterdijk zitieren? Martin. Dass ausgerechnet Sloterdijk jetzt
auch dem Sport huldigte, machte ihn allerdings etwas ratlos. Das
war philosophischer Verrat.
So weit wäre es nie gekommen, hätte Sloterdijk
diesen Jogger gesehen in seinen engen Hosen. Martin fand Männer in
Strumpfhosen peinlich. Nicht mal Robin Hood konnte die Dinger mit
Anstand tragen. Vorne sah man genau, wie der Träger bestückt war,
ob er sein Teil wie ein neurotischer Köter zwischen die Beine
klemmte oder angeberisch wie ein Kreuzberger Kiez-Lümmel Richtung
Nabel legte. Platt nach oben an den Bauch gepresst sahen Schwänze
aus, als habe der Läufer eine schlecht gerupfte Wachtel in der Hose
stecken. Martin wurde schlecht bei zu vielen physischen Details.
Mit seinem Penis hatte er sich nie richtig angefreundet. Außerdem
sah man unter Läufer-Leggings genau, welche Sorte Unterhose im
Einsatz war. Der Jogger, der vor ihm immer kleiner wurde, hatte
entweder einen String getragen oder gar nichts. Martin schüttelte
sich.
»Zu viel Körper-Information war eine Spielart
des Proll-Terrors.«
Noch schlimmer als die Unterhose war der Übergang
von Hose zu Bein. Bei Frauen mit leicht gebräunter, sorgfältig
rasierter und vor allem straffer Beinhaut sahen diese
Laufstrumpfhosen ja ganz scharf aus. Männer dagegen mit weißen
Beinen, schwarzen Haaren und ins Quarkige spielendem Bindegewebe
sollten unbedingt die gute, alte Jogginghose aus Baumwolle tragen,
gern auch in Grau, mit Schweißrändern. Wie Rocky - ehrlich und
diskret. Zu viel Körper-Information war eine Spielart des
Proll-Terrors.
Martin blickte auf die Uhr und drehte. Um sechs
Uhr wollte er wieder zu Hause sein. Vielleicht würde er ein
Honigbrötchen schaffen und einen Blick ins Feuilleton, bevor
Dorothea aufwachte. Martin liebte Rocky. Wenn er Sloterdijk
zitierte und gleich darauf Rocky, dann staunten immer alle. Rocky
hätte niemals Strumpfhosen getragen oder über Epilation
nachgedacht. Sloterdijk schon eher. Rocky boxte mit freiem
Oberkörper und offenem Brusthaar. Solange Sportler edle Wilde
waren, hatten sie ein zuverlässiges archaisches
Ästhetikempfinden.
Heute machten sich alle so nackt wie möglich.
Radfahrer, Schwimmer, Boxer, alle rasierten sich von Kopf bis Fuß.
Martin hatte sich noch keine abschließende Meinung zum Rasierwahn
gebildet, der angeblich schon Teenager erfasste. Sollte er sich
empören und Kulturwissenschaftler zum Exhibitionismustrieb
zitieren? »Wir epilieren uns zu Tode« - war das ein
gesellschaftlich relevanter Ansatz? Andererseits: Was war die
ästhetische Alternative? Fell?
In der Uni hatte er eine Freundin gehabt, Silke,
die einen braunen Riesenbusch getragen hatte; Afrokugel im Schritt.
Pausenlos hatte er Drahthaare im Mund gehabt. Manchmal hatte er
geglaubt, Tierchen im Dickicht zu erkennen. Das mochte allerdings
auch an diesem Teufelsgras gelegen haben, das Silke regelmäßig aus
Holland mitgebracht hatte. Egal. Das Thema Epilation würde beim
monatlichen Brainstorming in der Agentur jedenfalls bestimmt bald
dran sein. Es stand ja schon im Spiegel.
Martin war in Elternzeit. Aber das Brainstorming
durfte er nicht verpassen. Heute Vormittag würde er ganz
unauffällig mal in der Agentur anrufen, um herauszufinden, ob am
Nachmittag wie gewohnt gebrainstormed würde. Die Chefs waren immer
dabei. Dort wurden die Plätze auf dem Pavianfelsen verteilt. Wer
saß oben in der Agentur-Hierarchie, wer fegte unten die
Erdnussschalen zusammen? Martin konnte jedes Mal punkten, mit
seinen bedächtigen Sätzen. Diesmal würde er vielleicht Vlusser
zitieren. Er hatte da schon mal was angestrichen. Oder Jarvis. Aber
den
kannten schon zu viele. Hatte Jarvis jemals was zum Zusammenhang
von Social Media und Körperrasur gesagt?
Martin blickte in den Kinderwagen. Norbert
schlief. Martin war immer noch nicht sicher, ob »Norbert« wirklich
eine gute Namenswahl gewesen war. Aber Dorothea hatte darauf
bestanden. Unter ihren Freunden herrschte ein unerbittlicher Style
Battle. Alle bekamen Kinder. Und alle wollten exklusive Vornamen.
Ziel war es nicht, dem Kind ein schönes Leben mit seinem Namen zu
bereiten, sondern die Originalität der Eltern nachzuweisen.
Altdeutsche Namen (Otto, Karl, Hans) waren ebenso verbraucht wie
alttestamentarische (Leon, Jakob, Hezekiel), niedliche (Max, Tim,
Michel) und geschlechtslose (Luca, Noah oder Josh). Blieben nur die
völlig indiskutablen von früher: Jürgen, Heinz, Uwe und eben
Norbert. »Damit sind wir die Ersten«, hatte Dorothea gesagt, »so
hat noch keiner sein Kind genannt.« Vielleicht bleiben wir auch die
Einzigen, hatte Martin gedacht. Aber er widersprach Dorothea nicht.
Sie musste zwei von drei Debatten gewinnen, vor allem die
wichtigen. Das befahl ihr weibliches Selbstverständnis. Dorothea
sah sich als Powerfrau. Und sie fand, dass eine Powerperson pro
Beziehung reichte. Martin hatte sich daran gewöhnt nachzugeben.
Dorothea war der Chef; sie war die Reichere, Prominentere, Schönere
und Ehrgeizigere. Aber er war der Klügere. Ihre oberflächlichen und
seine inneren Qualitäten ergaben ein Gleichgewicht der
Abschreckung.
In letzter Zeit funktionierte das Prinzip
allerdings nicht mehr so gut. Je seltener sie miteinander
schliefen, desto mehr genoss Dorothea es offenbar, ihn persönlich
anzugreifen. Sie meckerte über seine Klamotten, seine
Lebensmitteleinkäufe, seinen Umgang mit Norbert und zunehmend auch
über seinen Körper. »Du siehst aber ganz schön schlaff aus«, hatte
sie neulich gesagt, als er den Bauch eingezogen
und sich nach dem Ausziehen vor dem Spiegel im Halbdunkel des
Schlafzimmers gedreht hatte. Er war davon ausgegangen, dass sie
schon schlief, so wie fast jeden Abend. Beleidigt hatte er
geschwiegen. Und Dorothea hatte sich einfach umgedreht. Gut
möglich, dass Männer in Elternzeit ein wenig von ihrer sexuellen
Strahlkraft verloren. Arbeitende Frauen allerdings auch. Seit
Dorothea sich die Haare abgeschnitten hatte und im Fitnessstudio
verstärkt an ihren Oberarmen arbeitete, waren sie von hinten
wahrscheinlich kaum mehr eindeutig als Mann und Frau zu
identifizieren. Dorothea trug ihre Kombat-Hose, er die
Einkaufstüten - da kam es bestimmt zu Verwechslungen.
»Verloren Männer in Elternzeit ein wenig von
ihrer sexuellen Strahlkraft?«
Er freute sich auf die Tankstelle, die bereits in
Sichtweite war. Jeder Besuch dort war ein stiller Akt der
Rebellion. Dorothea würde ausrasten, wenn sie wüsste, dass er das
Baby den Benzindämpfen aussetzte (Krebs!), dass er sich einen
Schokoriegel kaufte (Diabetes!!) und mit dem Mann an der Kasse
redete (sozialer Abstieg!!!). Martin schätzte das kurze, meist
sinnfreie Gespräch mit dem Vertreter einer anderen Kaste. Es ging
nicht um Inhalte, sondern um das gemeinsame Gefühl, nicht allein zu
sein. Sie beide hatten eine harte Nacht hinter sich, der eine an
der Tanke, der andere mit Norbert. Und sie hatten es wieder
geschafft. Helden des Alltags.
Als Martin an der Waschanlage vorbeischob, fiel
ihm der verstrubbelte Typ im Geländewagen auf. Er saß einfach nur
auf dem Fahrersitz und starrte reglos durch die Frontscheibe. Er
sah fertig aus. Auch ein Held des Alltags.

Maik spürte seinen Puls rasen. Der Herzschlag
hämmerte Salven in seine Ohren. Panik. Ulrike hatte bestimmt schon
ein Dutzend SMS auf sein Handy gefeuert. Aber wo war das Handy? Er
hatte seine Taschen dreimal durchsucht. Er hatte unter dem Sitz
gewühlt, in der Tür, in allen Ablagen.
Was war überhaupt geschehen? In seinen Adern
lieferten sich Adrenalin und Alkohol ein dramatisches Gefecht.
Erinnerungsfetzen trieben durch sein Hirn. War er wirklich in
dieser Thai-Bar gewesen? Oder hatte er einen feuchten, trunkenen
Traum gehabt?
Erstmal die Fakten: Es war halb sechs und er nicht
zu Hause. Ulrike würde ihn ermorden. Er würde nicht mal eine Chance
bekommen, sich zu erklären. Wo war das verfluchte Handy? Immerhin
trug er sein Portemonnaie noch bei sich. Kreditkarte, Ausweis,
EC-Karte, alles da. Hatte Lehmann bezahlt? Oder hatte Maik seine
Hertha-BSC-Kreditkarte gezückt, auf die er so stolz war? Er
erinnerte sich nicht.
Vielleicht sollte er einfach nach Hause fahren und
behaupten, er sei überfallen und ausgeraubt worden. Dazu müsste er
allerdings sein Portemonnaie wegwerfen. Um dann die ganzen Ausweise
und Karten wieder zu besorgen.
Maik schloss die Augen. Er hatte Angst vor Ulrike.
Was sollten die Kinder sagen, wenn ihr Vater wie ein Heckenpenner
zur Tür hineinstolperte und stank? Nur Mitleid konnte ihn
retten.
Maik rang nach Luft. Er mühte sich um logische
Gedanken. Er würde jetzt erstens zur Tanke gehen und den Kassenmann
um ein Telefonat bitten. Er würde zweitens Ulrike anrufen und ihr
die Überfallgeschichte auftischen. Er würde drittens den Kassenmann
fragen, ob er sein Portemonnaie im Tankstellenmüll finden könnte,
gegen ein großzügiges Trinkgeld natürlich. Und er würde viertens
einen Doppelzentner
Pfefferminz lutschen, um den obszönen Dunst zu überlagern, der ihn
umgab.
Was fehlte, war eine möglichst glaubhafte
Schilderung des Überfalls. Ulrike würde nach Wunden fahnden. Er
brauchte eine Beule, am besten mit Blut. Unsinn, die Diebe hatten
ihn betäubt. Warum aber war er nicht zur Polizei gegangen? Klar,
der Schock. Aber um eine Anzeige kam er trotzdem nicht herum. Wo
war der Überfall überhaupt geschehen? In dem kleinen Park, als er
gerade zum Auto gehen und nach Hause fahren wollte.
War die Story glaubhaft? Wo waren die Schwächen?
Lehmann war die Schwäche. Er hatte Maik in der Hand. Er konnte
alles auffliegen lassen.
Maik starrte durch die Frontscheibe. Es war alles
zu viel. Und nur, weil dieser Idiot Lehmann ihn in den Betriebsrat
quatschen wollte. »Maik, wir brauchen Männer wie dich«, hatte er
gesagt. Quatsch. Niemand brauchte Männer wie Maik, schon gar nicht
in diesem Zustand. Höchstens Ulrike, zum Rumkommandieren.
Wie entwürdigend. Sie hatten die Vertretung von
Arbeitnehmerrechten in einem Etablissement verhandelt, das Illegale
ohne Arbeitsverträge beschäftigte. Ehrlicherweise musste man
allerdings feststellen, dass sie in dem Thai-Laden schon lange
nicht mehr über den Betriebsrat geredet hatten, sondern über
Frauen, und zwar ziemlich eindimensional.
Lehmann schien öfter in dieser Bar zu verkehren.
Irgendwann war er jedenfalls verschwunden. Und Maik allein mit drei
lächelnden Schönheiten, die immer neue Schirmchengetränke
bestellten. Was wohl auf seiner Kreditkarte ausgewiesen sein würde?
Mit der Diebstahlgeschichte könnte er womöglich auch eine
verräterische Abrechnung erklären. Klar, der Dieb war einfach mit
seiner Karte losgezogen.
Maik atmete tief ein und aus, zwanzig Mal. Fast
wäreer dabei wieder eingeschlafen. Er wagte es nicht, in den
Spiegel zu schauen. Er würde jetzt aussteigen, den Mann an der
Kasse ins Vertrauen ziehen, bei Ulrike anrufen und sich irgendwo
ganz heftig den Kopf stoßen. Aber erst, wenn der Typ mit dem
Kinderwagen verschwunden war. Maik hatte Angst.
6 UHR

Kurz bevor der Geländewagen-Fahrer mit der
Bierfahne in sein reihenzerhaustes Ghetto am Stadtrand verschwunden
war, hatte er Jochen die entscheidende Nummer aufgeschrieben, unter
der die große Show starten sollte. Jochen war aufgeregt. Er fühlte
sich als Verschwörer in einem geheimen
Jungs-gegen-die-Mädchen-Komplott. Erkonnte einen Bruder vor seinem
grausamen Schicksal bewahren, wenn er jetzt keinen Fehler machte.
Ehrensache.
Die Lage war komplex. Der Typ war letzte Nacht in
einem zwielichtigen Thai-Schuppen versackt und hatte das ganze
Programm absolviert: einmal Pattaya mit alles. Jochen stand nicht
unbedingt auf asiatische Frauen, die zur Hälfte ja ohnehin Transen
waren. Aber einen Blick hätte er ja gern mal in diesen Laden
geworfen, eher aus gesellschaftspolitischem Interesse
natürlich.
Wie ein Puffgänger hatte der Typ gar nicht
ausgesehen. Obwohl: Tag für Tag bezahlte eine Million deutscher
Männer für Sex, hatte Jochen gelesen, nur am Wochenende waren es
weniger. Da war Mutti an der Reihe.
Jochen rechnete: Vierzig Millionen männliche Wesen
gab es in Deutschland. Alles bis zur Volljährigkeit schied aus,
alles über sechzig auch, blieb vielleicht noch gut die Hälfte,
sagen wir fünfundzwanzig Millionen. Wenn täglich eine Million
Männer Sex für Geld hat, aber nicht jeden Tag die
gleichen, sondern, schon aus Kostengründen, jeder nur einmal
werktäglich, dann gönnten sich pro Woche fünf Millionen eine
professionelle Entspannung - also jeder fünfte deutsche Mann
zwischen achtzehn und sechzig, jedenfalls statistisch gesehen.
Hoppala.
Jochen las zwar seit Jahren die kleinen, versauten
Anzeigen in der B. Z., bewunderte die Kreativität der Texter
und malte sich aus, wie er eine »Dreilochstute« wohl ohne
Bänderdehnung befriedigen könnte. Flatrate-Bumsen war offenbar der
neue Hit. Jochen hätte schon ein einziges Mal gereicht. Er war noch
nie bei einer Hure gewesen, auch wenn er schon mehrmals ernsthaft
darüber nachgedacht hatte. Wahrscheinlich sah er trotzdem wie ein
Flatrate-Popper aus. Das Leben ist scheiße ungerecht, dachte
Jochen.
Andererseits war er auch ganz froh, dass er nicht
in der Klemme steckte wie dieser Thai-Puff-Typ, der sich
vorgestellt hatte mit: »Ich bin der Maik, mit ›a‹ und ›i‹.« Jochen
unterdrückte ein Grinsen. »Maik mit ›a‹ und ›i‹« war außer Trabi
und auberginefarbenen Haaren das sicherste Indiz für eine
Ost-Biografie. Immerhin eine ehrliche Haut. Maik wollte seiner Frau
keine halbgare Geschichte auftischen, wo er denn die ganze Nacht
wohl zugebracht habe. Er zitterte ziemlich glaubwürdig. Also
bastelten sie ein Alibi. Und Jochens Anruf würde der Schlüssel
sein. Jochen fühlte sich geehrt, dass man ihm in einer derart
heiklen Mission vertraute. In seiner Not hatte sich Maik eine
Räuberpistole ausgedacht, die er soeben seiner Frau an Jochens
Handy erzählt hatte: überwältigt, betäubt, ausgeraubt, liegen
gelassen, aufgewacht, bei einem Passanten das Handy geliehen, für
eben diesen Anruf jetzt bei seiner Frau. Jochen hörte gebannt zu,
wie überzeugend Maik die Story vortrug. Es klang so, als ob die
Gattin seine Geschichte tatsächlich fraß. Yes, Bruder, dachte
Jochen und reckte innerlich den Daumen.
Nun folgte sein Part: Jochen sollte bei Maiks Frau
anrufen und behaupten, er habe das Portemonnaie von Maik gefunden,
bei seiner Kontrollrunde kurz vor Schichtende. Angeblich hatten es
die Diebe ausgeräumt und ins Gebüsch bei Luft/Wasser
geworfen.
Maik hatte das Bargeld aus seinem Portemonnaie
genommen, Jochen einen Fuffi in die Hand gedrückt und den Rest in
seine Hosentasche gestopft. »Würden Diebe nicht auch die
Kreditkarte mitnehmen?«, wandte Jochen ein. Maik überlegte. Stimmte
ja, die Abrechnung. Er zog die Kreditkarte heraus und
zerschnipselte sie mit der Schere, die ihm Jochen reichte. Es tat
weh, die Hertha-Karte eigenhändig zu zerstören. »Das muss
genügen«, sagte er, »will mir den ganzen Kram ja nicht neu besorgen
müssen.«
Maik gab Jochen die Hand, coole Version, mit
Daumengriff. Jochen fühlte sich großartig. Er hatte einen Freund
gewonnen. Vertrauen herrschte, ohne viele Worte. So machen Männer
Geschichte.

Lars stand unter der Dusche und seifte bereits zum
dritten Mal lustlos an sich herum. Eine Klubnacht hinterließ einen
Schmierfilm auf der Haut, aus Schweiß, Nikotin, Rasierwasser und
Dreck. Einmal Einseifen reichte da nicht.
Kaum hatte er die Wohnung aufgeschlossen, hatte
sich Tanja auf sein Ledersofa fallen lassen. Ihr Rock war so weit
hochgerutscht, dass er gar nicht mehr viel hätte herumfummeln
müssen. Ihre Beine waren eigentlich ganz hübsch, die Haut
allerdings deutlich zu transparent. Zwanzig Jahre Klubnächte gingen
auch am stählernsten Körper nicht spurlos vorbei.
Bei Tanja waren es die Beine. Wie durch eine fahle
Folie
schimmerten ihre Adern als blaues Geflecht, so als ob sie kurz vor
dem Erfrieren wäre. Es sah aus, als ob sie Netzstrümpfe trug, mit
sehr unregelmäßigem Muster allerdings. Lars überlegte, ob es
Google Maps eines Tages auch für Frauenkörper geben würde.
Wenn er zum Beispiel unauffällig Tanjas Schenkel schon im Klub mit
dem Handy fotografiert hätte, würde ihm Google für
neunundneunzig Cent umgehend melden: »Tanja Schuster,
neununddreißig Jahre, ledig, zweihundertsechsunddreißig
verschiedene Sexualpartner, manche bis zu einer Dauer von vier
Monaten, dennoch keine ernsteren ansteckenden Krankheiten,
bevorzugt Madonna, Goldkrone/Prosecco auf Eis und Doggy
Style hart. Bleibt nicht zum Frühstück, ruft nicht wieder an,
unkompliziertes Handling.« Das wäre mal eine geldwerte Information,
die ihm das Leben wirklich leichter machen würde.
Lars hatte höllische Angst vor diesen
Drama-Queens, die nur wegen ein bisschen Sex auf einmal mit Liebe
kamen und noch auf der Treppe, dreißig Sekunden, nachdem sie die
Tür hinter sich geschlossen hatten, schon die erste SMS absetzten:
»Es war einzigartig mit Dir. Würde Dich total gern wiedersehen,
auch länger.« So begannen Dramen. Früher hatte Lars auf solche SMS
zurückhaltend geantwortet, um die Braut erstmal wieder
herunterzukühlen. Inzwischen antwortete er gar nicht mehr.
Das Problem war ja nicht, dass es zu wenige Frauen
gab auf der Welt, sondern eindeutig zu viele, die sehr oft und sehr
dringend und sehr unkompliziert einfach nur eine Nummer brauchten,
gern auch eine schnelle. Kam es dann allerdings wirklich dazu,
vollführten nahezu alle einen radikalen Bewusstseinswandel:
Am Ende wollten sie doch Liebe, oder ein Nest,
zwei kräftige Arme, die sie hielten, eine starke Schulter zum
Anlehnen
- der übliche Kleinanzeigentext eben. Am schlimmsten waren die
Enddreißigerinnen, die festgestellt hatten, dass man im Nachtleben
nicht in Würde altern konnte. Plötzlich wollten selbst die
härtesten Disco-Mäuse Kinder und Endreihenhaus mit
Salzteigtürschild. Nichts war eben peinlicher als Frührentnerinnen,
die ihr welkes Fleisch auf der Tanzfläche flattern ließen.
»Am Ende wollten sie doch Liebe, oder ein Nest,
zwei kräftige Arme, die sie hielten, eine starke Schulter zum
Anlehnen - der übliche Kleinanzeigentext eben.«
Lars dagegen wollte Triumphe. Wenn Sofas sprechen
könnten, dann hätte seins eine Menge zu erzählen. Wie viele
Frauenhintern hatten ihre Abdrücke wohl schon in dem Leder
hinterlassen? Wie oft hatte er am Morgen danach mit dem
Küchenlappen und zwei Tropfen Spüli den getrockneten Schlorz vom
Leder gewischt. Er betrachtete es seit jeher als gutes Karma, den
Küchenlappen noch eine Weile weiterzubenutzen.
Lars rechnete: Er besaß das Sofa seit ungefähr
fünf Jahren, das machte selbst zurückhaltend gerechnet mindestens
hundertfünfzig Übungseinheiten. Jahrelang hatte sich Lars
eingebildet, es ginge ihm bei der Turnerei um Sex. Stimmte aber gar
nicht. Die ewige goldene Regel lautete: Von zehn Frauen konnte man
vier vergessen, drei zur Not noch mal wiedertreffen, zwei waren
halbwegs okay, aber nur eine war die geile, wunderbar lockere,
fröhliche Supersau. Diese Regel galt für jede willkürlich
zusammengestellte Zehnerreihe,
ob auf dem Kirchentag, der Love Parade, beim Lauftreff oder im
Einwohnermeldeamt.
Es wäre nun allerdings hochgradig dämlich, zehn
Abende, Nächte und vor allem Morgen zu investieren für einen
einzigen guten Fick. Die anderen neun waren aber dennoch wichtig,
zur Überprüfung, dass alles noch stimmte, dass der Erfolg
zuverlässig kam.
Es ging nicht um Sex, sondern um Kerben im Colt,
wie bei einem Desperado. Was zählte, war allein die Zahl der
Umgelegten. Während der Desperado allerdings das Hirn aus dem
Schädel des Gegners spritzen sehen musste, reichte Lars der Moment,
da die Dame sich aufs Sofa goss. Da wusste er bereits, dass er
gewonnen hatte. Alles war möglich, prima, er musste gar nicht mehr
abdrücken.
Meistens wollte er auch gar nicht. Wie oft war er
schon drauf und dran gewesen zu sagen: »So, meine Liebe, das war’s
für heute. War wirklich ein schöner Abend mit dir. Aber ich leg’
mich jetzt pennen. Kannst gern hierbleiben, auf dem Sofa. Hier ist
das Bettzeug. Schlaf schön.«
Aber körperlicher Einsatz war nun mal der Preis.
Die Frau wollte keinen Killer, der sich damit zufrieden gab, wenn
sich sein Gegner in den Staub warf und winselte. Sie wollte zur
Strecke gebracht werden. Und hinterher Liebe.
Lars hoffte insgeheim, dass Tanja eingeschlafen
war, wenn er aus der Dusche zurückkommen würde. Er hatte ihr viel
Wodka und wenig Redbull ins Glas gefüllt und außerdem noch
einen Joint gerollt. Eine solche Dröhnung wirkte fast immer. Er
würde ihr eine Decke überwerfen und sich leise in sein Bett
verziehen. Zumal Tanja es abgelehnt hatte, sich auch unter die
Dusche zu begeben.
Lars wurde übel bei dem Gedanken, dass ihm gleich
noch zehn Stunden Piste ins Gesicht gedrückt werden würden. Wenn
Frauenklos auch nur annähernd so eklig waren wie
Männerklos, und daran gab es keinen Zweifel, dann würde er einen
giftigen Cocktail probieren müssen, entweder als Geruchsbombe oder
als Geschmackssprengsatz über den Gaumen. Sowieso ein Wunder, dass
ihm nicht alle vier Wochen blumenkohlgroße Ekzeme auf den Lippen
oder sonstwo sprossen. Er sollte sich mal in der Uni-Klinik melden,
als medizinisches Wunder. Vielleicht war er immun gegen Infektionen
aller Art, so wie bestimmte Affenarten.
Lars dreht die Dusche ab und lauschte. Er hörte
die Musik, aber nichts von Tanja. Der Tankstellenfuzzi hatte ihn
auf die Idee gebracht, »Wish You were here« aufzulegen -
Spitzen-Mucke, konnte man so durchlaufen lassen. Eigentlich viel zu
gut für Tanja. Sie hatte das Gesicht verzogen, als sie die ersten
Takte hörte. Konsequenterweise hätte man sie genau in diesem Moment
bereits an die Luft setzen müssen. Hundeschule für Frauen, das
wär’s mal. Tanja hatte keine Ahnung von Musik, wie die meisten
Frauen. Sie glaubte an die Charts und die Brabbelexperten aus dem
Radio, die wiederum nur nacherzählten, was sie in britischen
Fachzeitschriften-Blogs gelesen hatten.
Lars fuhr sich eilig mit der Zahnbürste durch den
Mund und schlang sich ein Badetuch um die Hüften, nachdem er
sorgfältig geprüft hatte, ob es auch wirklich durchgängig weiß war.
Nichts war peinlicher als ein Handtuch mit roten, braunen oder
gelben Flecken. Von Ei bis Haarcoloration war alles denkbar, auch
Schlimmeres.
Tanja lag zusammengerollt auf dem Sofa und
schnarchte leise. Ein dünner Sabberfaden rann aus ihrem Mundwinkel
auf sein Sofa. Leder war doch eine feine Sache. Einmal mit dem
Küchenlappen drüber, und fertig. Bei Cord dagegen hätte er sich
jetzt echte Sorgen machen müssen, ob die toxische Spucke nicht
vielleicht helle Flecken im dunklen Stoff hinterlassen würde.
Lars schickte ein stilles Dankesgebet zum Himmel,
warf Tanja seine geliebte Fernsehdecke aus echtem Kamelhaar über,
ein Erbstück von seiner Mutter, und schlich sich ins Schlafzimmer.
Er stellte den Wecker auf halb neun, warf einen sehnsüchtigen Bick
auf das Panoramabild von Ko Phanghan und verfluchte sich ein
weiteres Mal, weil er immer noch keine Vorhänge hatte. Tageslicht
nervte ihn, eigentlich schon sein Leben lang.

Attila hatte das verdammte Hörbuch nach we-nigen
Minuten abgedreht. Das manierierte Geschwätz von diesem Ben Becker
machte ihn aggressiv. Der Typ tat so, als habe er mindestens fünf
Jahre russischer Gefangenschaft durchgemacht. Attila hatte nun
wirklich nichts gegen Attitüden. Aber sie mussten einigermaßen
glaubhaft sein.
Jetzt lief das Electric Light Orchestra.
ELO - Musik von früher. Attila war textsicher. Er sang jede
einzelne Zeile mit, um sich zu beweisen, dass seine Fehlerquote bei
null Komma null lag. »It’s a little thing, it’s a terrible thing to
lose.« Herrje, der Refrain machte gar keinen Sinn. »Livin’ Thing«
hieß das Stück natürlich. »Oh, moving in line when you look back in
time to your first day, I’m shakin’, I’m shakin’«, verdammt, nein:
»I’m taken, I’m taken«.
Zwei textliche Unsicherheiten in einem textarmen
Stück, von dem er dachte, dass er es noch auf dem Sterbebett
fehlerfrei würde singen können. Wie peinlich. Man darf sich nie
sicher sein, in gar nichts. Höchste Wachsamkeit, erst recht bei
sich selbst. Der kleinste Patzer konnte der letzte sein, vor allem,
wenn man sich zu sicher fühlte. Die Gefahr lauerte immer und
überall und dort am unerbittlichsten, wo man nicht damit
rechnete.
Die Bindinger würde jede Schwäche unerbittlich
ausnutzen. Es herrschte Krieg. Und Kriege gewann nicht der, der
tolle Siege errang, sondern der, der weniger Fehler machte. Fehler
ließen sich reduzieren, mit Disziplin und Akribie und
mathematischer Kühle. Erst dann, ganz am Ende, kam Genialität
hinzu, bei den letzten fünf oder sieben Prozent vielleicht. Wenn
alles andere stimmte, dann kam man gut auch ohne Genialität
zurecht, vor allem in Deutschland: Angela Merkel, Wolfgang Joop,
Thomas Gottschalk, Heidi Klum, Jan Hofer - sie alle waren
akribische Pflichterfüller, die vor allem Fehler reduziert
hatten.
Wer in Deutschland Star sein wollte, musste nur
eines begriffen haben: Am Ende war das Leben nicht mehr als eine
Excel-Tabelle, die sich aus einem festen Repertoire von Variablen
zusammensetzte. Es gab einerseits Pflicht-Variablen wie die
Bereitschaft, sich zu jedem Scheiß zu äußern, der konsequente
Verzicht auf alle historischen Bezüge und das Lob der deutschen
Mutter. Andererseits waren da die Kür-Variablen, zum Beispiel die
Garderobe, das Maß an Schlüpfrigkeit oder die Reklame-Hurerei.
Diese Variablen ließen sich wie in einer Excel-Tabelle mit
mathematischer Präzision gegeneinander verschieben, bis eine nahezu
perfekte Performance entstanden war.
Ob im Show-Geschäft, in der Wirtschaft oder im
öffentlichen Nahverkehr - Erfolg war immer skalierbar.Was nicht
skalierbar war, war wiederum nichts wert. Selbst Gefühle waren
messbar in ihrer Auswirkung auf das Geschäftsergebnis. Wenn zum
Beispiel gute Laune einen nachweislichen Einfluss auf den Umsatz
hatte, dann war gute Laune eben ein Erfolgsfaktor.
Attila hatte festgestellt, dass er in den letzten
Jahren zu wenig Wert auf gute Laune gelegt hatte. Auch deswegen
hatte er mit der Lauferei angefangen: Waden stählen, Glückshormone
her, ein bisschen Ruhe und Natur, Anerkennung allenthalben und
Ausdauer obendrein. Zähigkeit war ein weiterer, ganz entscheidender
Erfolgsfaktor, fest verankert im kollektiven Gedächtnis der
Deutschen. Wer Marathon oder Triathlon als Hobby angab, bekam
deutlich bessere Noten bei deutschen Personalchefs, hatte eine
Studie festgestellt, aber nur, sofern die Zeiten stimmten. Marathon
unter drei Stunden, das war das Signal, dass einer nichts anderes
mehr im Kopf hatte als Laufen. Autisten aber waren für ein
Unternehmen eher Gefahr als Bereicherung, außerhalb des
Controllings jedenfalls.
Marathon über vier Stunden wiederum bewies, dass
derjenige sich nicht wirklich quälen konnte, einfach nur zum Spaß
gelaufen war und die halbe Strecke wahrscheinlich gewalkt. Peinlich
für ein Unternehmen, erst recht, wenn es sich um eine Führungskraft
handelte, und noch viel mehr, wenn sich Filmchen vom walkenden CEO
eines Tages auf Youtube wiederfanden.
Ideal war ein Marathon in dreieinhalb Stunden -
ambitioniert, aber nicht verbissen, durchaus Sport, aber nicht bis
zum Crash der letzten Muskelfaser. Die ideale
Führungskraftzeit.
Attila hatte sich exakt drei Stunden, neunzehn
Minuten und siebenundzwanzig Sekunden vorgenommen. Diese Zeit würde
der Bindinger lebenslang im Nacken sitzen, wie die Krallen eines
Greifvogels; die würde sie nie mehr loswerden. Sie würde davon
träumen, jede Nacht, in blutigem Schweiß gebadet. Sie würde ihn
verfluchen. Aber das würde ihn nur stärker machen.
Das Problem dabei: Er musste vier Minuten und
fünfundvierzig Sekunden auf den Kilometer laufen, zweiundvierzigmal
hintereinander. Trotz eines knappen halben Jahres Training,
angeleitet von einem Personal Coach, war Attila
noch ein grausam weites Stück entfernt von seiner Traumzeit. Er
hatte inzwischen eingesehen, dass man Laufleistung nicht erzwingen,
sondern nur kontinuierlich aufbauen konnte.
Die Regeln des Laufens standen im fundamentalen
Gegensatz zu den Gesetzen in seinem Job. Als Berater musste er den
Unternehmen immer die Story vom langfristig geplanten nachhaltigen
Aufbau erzählen, in Wirklichkeit aber sehr schnell Resultate
bringen. Das ging am Ende immer nur mit hektischem Personalabbau,
den man mehr oder weniger kunstvoll rechtfertigen musste, am besten
mit ein paar zusammengenagelten Studien zur Effektivität von
Abläufen. Ab einer bestimmten Fremdwortdichte kam ohnehin kein
Praktiker mehr mit.
Beim Laufen war es genau umgekehrt: Da wurde immer
die gleiche Story vom schnellen Glück erzählt, aber in Wirklichkeit
handelte es sich um einen langwierigen Prozess, der sich weder mit
Zaubertricks noch mit Studien wesentlich abkürzen ließ. Das Rezept
lautete: Training, Training, Training, am besten außerhalb des
Wohlfühlkorridors. Attila war fasziniert von der Anmut
schonungsloser Ehrlichkeit, die dem Laufen innewohnte.
Marathon-Training, das war eine sehr lange Zen-Meditation, die
Hunderte von Coaching-Stunden ersetzte.
Attila schaute auf seine GPS-Uhr. Er war noch
nicht mal eine Dreiviertelstunde unterwegs, hatte alle verfügbaren
Gedanken bereits durchdacht, aber doch erst knapp über acht
Kilometer absolviert. Machte ungefähr fünf Minuten auf den
Kilometer. Und er hatte jetzt schon keine Lust mehr.Acht Läufer
waren ihm bislang entgegengekommen. Faszinierend, wie viele
Menschen mitten in der Nacht aufstanden, um ihr Trainingsprogramm
zu absolvieren. Attila war fest überzeugt gewesen, der einzige
disziplinierte
Mensch in dieser Hauptstadt der Nutzlosigkeit zu sein, der so früh
so schnell rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Selbstkritisch stellte Attila fest, dass selbst ein Teufel mit
Arthrose, doppeltem Kreuzbandriss und Walking-Stöcken ihn locker
einholen würde.
Obwohl Attila noch nichts Messbares geleistet
hatte, stellte er dennoch eine untypische Albernheit bei sich fest,
völlig unverdient. Ob das die Glückshormone waren? Von der Musik
aus dem Kopfhörer ließ er sich immer wieder zum Mitsingen
animieren, ganz leise natürlich. Der Typ, der ihm gerade
entgegengekommen war, hatte ihn ziemlich schräg angesehen. Was
glotzte der so blöd? Attila erschrak. Hatte er im frühmorgendlichen
Überschwang womöglich etwas lauter bei ELO mitgesungen, und
zwar ausgerechnet die Textzeile »You took me ooooh higher and
higher baby«? Und dabei ebenso debil geklungen wie ausgesehen?
Hatte er also die zukünftig führende deutsche Strategieberatung
soeben der Lächerlichkeit preisgegeben?
Erst schämte Attila sich, dann verfluchte er sich
für seine Kontrolllosigkeit. Er hatte sich dämlicher angestellt als
der letzte Praktikantenschwengel. Was wäre passiert, wenn der
Entgegenkommende ein Rivale gewesen wäre, der geistesgegenwärtig
ein Handyfilmchen mit Tonspur aufgenommen hätte? Attila wäre
erledigt gewesen. Vielleicht hätte er für seine ehemaligen Kunden
noch einen letzten Lehrfilm drehen können: Wie Youtube eine
Karriere in dreißig Sekunden erledigt. Gleich danach hätte
Wesley ihn gefeuert, und zwar völlig zu Recht.
Seine Frau Camille behauptete ja, derlei
unkontrollierte Singerei sei ein Zeichen tiefer Entspannung. Aber
wenn Entspannung bedeutete, dass man die Kontrolle über sich
verlor, dann wollte Attila lieber nicht entspannt sein.
Krieg, dachte Attila, es herrscht Krieg, jede
Minute, jede
Sekunde. Wer einen einzigen Fehler macht, der verliert. Und ich
werde nicht verlieren.

Maik mochte diesen Geruch von Haferbrei, der ihm
entgegenwehte, als er die Tür öffnete. So roch Zuhause. Man konnte
viel über Ulrike sagen. Aber ihr Haferbrei war großartig.
Seine Frau eilte ihm entgegen, in diesem
marokkanischen Familienzelt, das sie Morgenmantel nannte und das
ihre üppige Silhouette noch betonte. Sie fiel ihm um den Hals. »Ich
bin so froh, dass es dich gibt«, schluchzte sie. Maik hätte gern
etwas Gleichwertiges erwidert. Aber er log ohnehin schon genug.
Ulrikes plötzlicher Gefühlsausbruch rührte ihn dennoch. Die letzten
Jahre hatte sie im Wesentlichen damit zugebracht, ihm nachzuweisen,
dass er ein schlechter Mensch sei.
Ob jede Ehe so verlief? Erst eine kurze Weile
großer schöner Emotionen, dann Heirat, Kinder und schließlich eine
sehr lange Weile voll gruseliger Gefühle. Ulrike und er lieferten
sich seit Jahren einen permanenten Wettbewerb, wer der
Gründlichere, Klügere, Verantwortungsvollere sei, wen die Kinder
mehr liebten, wer besser erzog, wer fleißiger war, wer also der
bessere Mensch war. Jeder Dialog war gespickt mit Nadelstichen,
kleinen Hieben oder triumphalen Beweisführungen. Am Ende ging es um
nichts anderes als einen Machtkampf, der keinen Anfang hatte, kein
Ende außer dem Tod und außer einer Zementierung des Stillstands
nichts brachte.
»Ob jede Ehe so verlief? Erst eine kurze Weile
großer schöner Emotionen, dann Heirat, Kinder und schließlich eine
sehr lange Weile voll gruseliger Gefühle.«
Genauso musste es in Verdun gewesen sein, als sich
viele Tausend Männer jahrelang eingebuddelt und beschossen hatten,
ohne auch nur einen Millimeter voranzukommen. Hätten sich deutsche
und französische Soldaten gleich am ersten Tag darauf verständigt,
gemeinsam in die Bretagne zu fahren, auszuspannen, Fisch zu essen
und eiskalten Entre-deux-mer zu trinken, wahlweise Muscadet, um
schließlich nach zwei, drei Jahren wieder in die alten Stellungen
zurückzukrabbeln, wäre die Weltgeschichte nicht wesentlich anders
verlaufen. Aber ein paar Männer hätten garantiert mehr vom Leben
gehabt. Deserteure sind keine Feiglinge, sondern die wahren Helden,
dachte Maik, und der Stellungskrieg ist ein Fluch.
Es war noch viel zu früh zum Aufstehen, aber alle
waren wach. Henry und Anna lugten hinter Ulrikes Folklorezelt
hervor. »Wo hat es denn wehgetan, Papa?«, fragte Anna. Sie war
fünf, wollte Tierärztin werden und übte sich seit Längerem in der
Kunst der Diagnose.
»Willst du’s ganz ehrlich wissen?«, fragte Maik,
wobei er die Worte lang zog, um Zeit zu gewinnen. Denn er musste
nachdenken. Den genauen Tathergang hatte er sich nur in Grundzügen
zurechtgelegt, vor allem, um bei der Polizei größtmögliche
Plausibilität abzuliefern. Nun musste sich seine Story zum ersten
Mal bewähren, vor drei skeptischen Ermittlern gleichzeitig, die
alle ein verdammt gutes Gedächtnis hatten. Selbst Henry mit seinen
sieben Jahren war darauf getrimmt, sich jedes gottverdammte Detail
zu merken. Das kam von den Detektiv-Geschichten, die Ulrike ständig
mit ihm las. Misstrauen und Mülltrennen, das
waren die beiden Zentralwerte, die Kinder heute vermittelt
bekamen.
Maik holte tief Luft. »Ich war mit Lehmann aus dem
Garten-Center ein Bier trinken.«
Seine Tochter nickte.
»Natürlich haben wir uns wieder verquatscht. So
gegen Mitternacht wollte ich dann durch den kleinen Park zum Auto
gehen und nach Hause fahren.«
Bis hierhin stimmte die Geschichte sogar. Nur,
dass er nicht ins Auto stieg, sondern in ein schummeriges
Parallel-Universum, das aus einer Theke bestand und einer Bühne mit
Silberstange, nicht größer als eine Telefonzelle. Wie aber erklärte
man Kindern, dass ein Bier zehn Euro wert war, wenn man es beim
Anblick von Frauen trinken durfte, die mehr oder weniger anmutig an
dieser Stange herumturnten? Maik begab sich auf das schwankende
Terrain der Phantasie. »Als ich im Dunkeln durch diesen kleinen
Park an den Bänken entlangging, da spürte ich plötzlich etwas im
Nacken. Ich drehte mich um, und schon hatte ich einen stinkenden
Lappen im Gesicht. Irgendwer zog meine Arme auf den Rücken. Ich
wollte schreien - aber da war ich auch schon weg.«
Anna und Henry guckten angstvoll. Ulrike hatte die
Arme schützend um die beiden gelegt.
»Und dann?«, fragte sein Sohn.
»Es gab kein ›Und dann‹. Ich war sofort
bewusstlos. Wie in tiefem Schlaf. Ich habe niemanden gesehen, nicht
mal was gehört. Als ich aufwachte, lag ich im Gebüsch. Mein Schädel
brummte, und das Portemonnaie war weg, samt Handy. Zum Glück haben
sie den Autoschlüssel nicht gefunden; den hatte ich in der
Hosentasche. Ein netter Zeitungsausträger hat mir dann sein Handy
geliehen. Damit habe ich Mama angerufen.«
Maik blickt in die Gesichter seiner Familie. Sie
schauten ihn an, starr vor Furcht und Mitgefühl. »Tut dir noch was
weh?«, fragte Ulrike. »Du solltest zum Arzt. Und vor allem zur
Polizei. Und die Karten sperren lassen.«
Maik nickte grimmig. »Mache ich alles. Aber erst
mal muss ich wieder klar aus den Augen gucken können. Kann ich eine
Schüssel Haferbrei haben?«
»Ein echter Kerl tut, was er tun muss, basta.
Und die Frau hat ihn zu lieben oder nicht. Auch basta.«
Die Kinder stürzten in die Küche, Ulrike
hinterher. »Finger weg vom Topf«, rief sie, »der ist heiß. Es ist
genug für alle da.«
Maik atmete auf. Ulrikes Fürsorge galt wieder
ausschließlich den Kindern. Keine peinlichen Nachfragen, also
offenbar auch keine Widersprüche. Sein Schädel brummte. Aber er
schien das Gröbste hinter sich zu haben.
Warum tat er sich das eigentlich an, jeden Mist
mit den absurdesten Geschichten zu rechtfertigen? Ein echter Kerl
tut, was er tun muss, basta. Und die Frau hat ihn zu lieben oder
nicht. Auch basta. Und vor allem hatte ihm die Familie mit
Ehrfurcht zu begegnen. Seit eine völlig normale männliche Regung
wie Aggression zur schlimmsten Krankheit seit Herpes erklärt worden
war, schwankte das seit Jahrtausenden bewährte Sippen-Konzept.
Familie, das war bestenfalls Aufgabe, aber bestimmt nicht jenes
Lebensabenteuer, das ihm drei Dutzend gefühlsklebriger Vater-Bücher
versprochen hatten. Vor allem von den fundamentalen Veränderungen
der Frauen war absolut nichts zu lesen gewesen.
Das war auch wieder so eine West-Spezialität: Erst
diegroße
Schnauze. Aber kaum wurde es spannend oder ehrlich oder radikal,
dann zogen sie zurück. Wessis waren Maulhelden, nicht unbedingt
bösartig, aber hasenfüßig und verlogen. In Wirklichkeit war selbst
Ulrike so, auch wenn sie Solidaritätsadressen für die Leipziger
Buchmesse abgab, unermüdlich die Mecklenburgische Seenplatte pries
und ein Trikot vom 1. FC Union als Nachthemd trug.
Maik sehnte sich nach Freiheit, spannend, ehrlich
und radikal. Es war Zeit für Konsequenzen. Nur jetzt noch nicht.
Aber eines Tages würde es so weit sein.

Martin genoss diese Momente, wenn alles stimmte.
Er hatte mit dem Tankstellenverkäufer über das durchwachsene Wetter
gesprochen, die leeren Versprechen der Politik und über Pink
Floyd. Jetzt schob er nach Hause.
Norbert schlummerte besonders gut, wenn sie an der
sechsspurigen Bundesallee entlangliefen und der Windzug eines
Lasters den Kinderwagen schaukeln ließ. Parks oder die gediegene
Stille von Altbaustraßen machten das Baby dagegen unruhig. Von
Vogelgezwitscher erwachte Norbert bisweilen. Guter Junge, dachte
Martin, wird wenigstens kein Esoteriker.
Ihre Freunde, die Eltern, die Konkurrenz-Brüter in
der Kita, eigentlich alle sahen diesen seltsamen Wurm, der
Straßenlärm brauchte, um zur Ruhe zu kommen, mit mehr oder weniger
offener, nicht selten vorwurfsvoller Sorge. Dorothea auch. Sie litt
unter den unausgesprochenen Befürchtungen. Die Botschaft war klar:
Wenn bereits der Säugling derlei offenkundige Deformationen in sich
trägt, dann sind erstens die Gene der Eltern schuld, zweitens deren
Erziehung, und drittens weiß man jetzt schon, dass Kindheit
und Jugend von schweren Problemen überschattet sein werden:
Therapien, Ritalin, Schulversagen, Kriminalität,
Drogenabhängigkeit. Dorothea hoffte immer noch auf Anzeichen von
Hochbegabung. Doch auch bei großzügigster Auslegung waren nicht die
geringsten Indizien zu entdecken. Selbst die Zähne waren ziemlich
spät gekommen. Und laufen konnte er auch noch nicht. Dafür brauchte
der Kleine wahrscheinlich jetzt schon eine Brille. Martin würde ein
tolles Gestell aussuchen, aus schwarzem Horn.
»Der moderne Mann und die moderne Frau hatten
sich bis zur Unkenntlichkeit angeglichen.«
Martin fand Norberts Eigenart in Wirklichkeit
großartig. Ein echter Kerl, mit einem amtlichen Hau, so wie sich
das gehört, dachte er, auch wenn er sich das niemals zu sagen
trauen würde. Jede Bemerkung, die auch nur entfernt die
Rollenbilder ihrer Eltern hochleben ließ, war riskant, weil sie ihn
als rückständig auswies, als stumpfen Macho. Dabei ließ sich
Norberts Spleen sehr gut damit erklären, dass seine Mutter sechs
Wochen nach der Entbindung wieder im Fernseh-Studio stand, was ihr
in der Bunten das Etikett »Powerfrau« eingebracht hatte und
den Status einer »Gewinnerin der Woche«. Dafür kann man eine Macke
beim Kind schon mal riskieren.
Dorotheas Weltbild war so schlicht wie falsch. Der
moderne Mann und die moderne Frau hatten sich bis zur
Unkenntlichkeit angeglichen. Jeder konnte den anderen ersetzen.
Unterschiede waren gesellschaftlich bedingt und konnten wegerzogen
werden.
Wo sich die Geschlechter aber nicht mehr
unterschieden, da waren leider Erotik, Lust, Spannung, eigentlich
alle großen
Gefühle gleich mit auf der Strecke geblieben. Auf seinen
morgendlichen Ausfahrten mit Norbert hatte sich Martin eingehend
mit diesem Thema befasst. Und er hatte eine großartige Theorie
entwickelt, die seinen Ruf als Anführer einer neuen deutschen
Denker-Generation begründen würde. NIWRAD, so hieß das Konzept:
DARWIN, nur rückwärts.
Er hatte den Beweis erbracht, dass die Evolution
sich mit der Emanzipation umgekehrt hatte und eben nicht mehr
fortlaufende Optimierung mit sich brachte, sondern im Gegenteil
einen permanenten Sinkflug der menschlichen Entwicklung eingeleitet
hatte.
Die Theorie hatte noch einige Schwächen, aber die
könnte man auf dem semantischen Wege glätten. Wichtig war eine
steile These. Und die hatte er.
Martin schnupperte. Der Geruch frischer Croissants
zog ihn magisch an. Dorothea hatte seit einem halben Jahr jedes
Kohlenhydrat aus ihrer Küche verbannt und auf Kräuter- und
Pulverernährung unter streng basischem Diktat umgestellt. Dorothea
machte jeden Ernährungs-Schnickschnack mit, wenn sich dahinter auch
nur der geringste Ansatz einer glaubwürdigen Story verbarg, warum
ausgerechnet diese Scharfgarbe-Alanin-Mischung nun zu ewiger
Schönheit führte. Als TV-Moderatorin vermietete man ja weniger
seine rhetorische Brillanz als vielmehr eine geringfügige optische
Überdurchschnittlichkeit. Dicke Titten plus dummes Zeug reden war
eine wesentlich quotenträchtigere Kombination als Flachbrust mit
hochschlauwitzigen Bemerkungen.
»Er hatte den Beweis erbracht, dass die
Evolution sich mit der Emanzipation umgekehrt hatte und eben nicht
mehr fortlaufende Optimierung mit sich brachte.«
Der unmenschliche Zwang zu ewiger Schönheit, der
auf einer zweifachen Mutter weit schwerer lastete als auf just der
Pubertät entwachsenen Wetterfeen hatte das Zeitalter von Spaghetti
alla puttanesca und Honigbrötchen schlagartig beendet.
»Im Sender machen jetzt alle Jentschura«,
sagte Dorothea. Toll, dachte Martin, welch ein machtvolles
Argument.
Was ist, wenn sich im Sender alle einen Liter
Botox-Collagen-Cocktail in die Arschfalten jagen? Und die Partner
gleich mit. Obwohl: Wenn der Sender zahlte, würde Martin seinen
Hintern vermutlich auch hinhalten, vor allem aus soziokulturellem
Interesse: Wie würde sich das wohl anfühlen, wenn man sich in der
Gruppe aufspritzte? War man plötzlich Mitglied einer Sekte? Und,
wie fühlte sich Hinsetzen dann an?
Martin betrat die kleine Croissanterie und kaufte
sich ein Brioche mit Schokofüllung. Marzipan hatte er erst gestern.
Es war nicht nur der unglaubliche satte Geschmack dieses kleinen
Backwerks, sondern vor allem das Bewusstsein, gegen Dorotheas
Basen-Terror aufzubegehren.
Mit dem kleinen Finger schob er Norbert etwas
Schokofüllung zwischen die Lippen. Der Kleine schmatzte
interessiert. »Aber nichts Mama erzählen«, sagte Martin
verschwörerisch. Dieser Satz würde einer der wichtigsten in
Norberts Leben werden. Das neue Verhältnis zwischen Mann und Frau
förderte weniger das Miteinander als vielmehr die
Heimlichtuereien.
Die Idee von gleichberechtigter Partnerschaft, vom
fairen
Miteinander, von erfüllter Elternzeit gab es nur in den
Barbie-Phantasien neokonservativer höherer Töchter. Seit
Jahrhunderten hatten die Frauen ihre Machtposition durch
ausdauernde Intrigen rund um ihre Männer gefestigt, nun gingen sie
in die Offensive. Nach dreißig Jahren Infiltration hatte sich auch
die letzte Burberry-Topfpflanze endlich Alice Schwarzers Theorien
von Unterdrückung und Geschlechterkampf zu eigen gemacht und zeigte
nun viel Freude daran, den Mann klein zu hacken, um sich hinterher
über all die klein gehackten Männer zu beschweren.
Männer, die sich in die Elternzeit begaben,
bedeuteten vor allem für Frauen einen großen Triumph. So wurde
öffentlich, dass sie ihre Kerle im Griff hatten. Der Mann hatte die
Hundeschule erfolgreich absolviert.
»Nach dreißig Jahren Infiltration hatte sich
auch die letzte Burberry-Topfpflanze endlich Alice Schwarzers
Theorien von Unterdrückung und Geschlechterkampf zu eigen
gemacht.«
Männer wie Martin hatten nun genau zwei Chancen:
Entweder er lächelte generös, wenn die Damen bei Buchweizentörtchen
mal wieder vergnügt über die Unzulänglichkeiten ihrer Kerle
herzogen und gleichzeitig schmatzend Brad Pitt hochleben ließen.
Oder man stieg aus. Martin hatte sich fürs Durchhalten entschieden,
nicht ohne allerdings jede Chance auf Usurpation wahrzunehmen. Mit
der Zungenspitze stopfte Martin sich ein großes Stück Croissant in
seine linke hintere Weisheitszahnlücke. Eiserne Ration für
schlechte Zeiten.
7 UHR

Jochen wählte die Nummer.
Eine Frauenstimme meldete sich mit einem kühlen
»Ja, bitte …«. Frauen, die sich mit »Ja, bitte« meldeten, hatten
ein Paranoia-Problem: Sie witterten bei jedem Telefonklingeln einen
stöhnenden Sittenstrolch. Jochen versuchte, sich eine Frau zu dem
»Ja, bitte …« vorzustellen: Er kam nur auf Frau Malzahn von Jim
Knopf, allerdings deutlich dicker.
»Ja, hier ist Jochen Heine von der Tankstelle an
der Bundesallee. Spreche ich mit Sobotzky?« Die Frau antwortete
nicht viel freundlicher: »Am Apparat.«
Jochen bemühte sich um einen halb dramatischen,
halb seriösen Tonfall: »Ja, ich habe hier ein Portemonnaie
gefunden, mit Papieren von Maik Sobotzky.«
»Das ist mein Mann«, sagte die Frau, »er ist heute
Nacht überfallen worden. Er hat sich gerade mal ganz kurz
hingelegt. Er hat heute so viel zu tun.« Jochen atmete auf: Maik
war zu Hause angekommen. Die Geschichte schien tatsächlich zu
funktionieren.
»Dann haben die Diebe das Portemonnaie wohl hier
ins Gebüsch geworfen, direkt bei Luft/Wasser. Ich habe jetzt gleich
Schichtende. Dann nehme ich die Sachen wohl am besten an mich; dann
kann Ihr Mann alles bei mir abholen. Ist ohnehin kein Bargeld mehr
drin, wie Sie sich denken können.«
»Oh, ja, das ist sehr nett von Ihnen. Vielen
Dank«, sagte die Frau, plötzlich sehr viel freundlicher, »mein Mann
wird sich sofort bei Ihnen melden. Und er wird sich sicher
erkenntlich zeigen.«
»Ach, das ist nicht so wichtig«, sagte Jochen und
grinste, »Ihr Mann hat ja jetzt erst mal genug Scherereien. Er soll
mich einfach anrufen.«
Jochen gab seine Adresse und die Handy-Nummer
durch. Erleichtert fiel ihm ein, dass er seine
Rufnummerunterdrückung eingeschaltet hatte, schon im Hinblick auf
die Fans, die ihn alsbald nerven würden. Die Frau hätte
wahrscheinlich einige bohrende Fragen gestellt, wenn MaiksAnruf und
seiner von ein und derselben Nummer gekommen wären.

Attilas Beine fühlten sich an wie Blei. Nur die
Knie waren wie Butter. Bei jedem Schritt schienen die Schenkel
einfach rechtwinklig wegzuknicken. Auf den letzten Kilometern hatte
er noch einmal alles gegeben. Er war gelaufen, gelaufen, gelaufen,
aber seine Uhr zeigte durchweg schlechte Zeiten. Bei Kilometer
fünfzehn lag er bei einem Durchschnittstempo von fünf Minuten und
zehn Sekunden auf den Kilometer. Das war nicht nur schlecht, das
war völlig indiskutabel. Wäre Attila sein eigener Mitarbeiter
gewesen, er hätte sich gefeuert.
Wenn er zu Hause nicht mindestens auf eine
durchschnittliche Kilometerzeit käme, die mit einer Vier beginnt,
dann wäre der ganze Tag im Eimer.
»Reiß dich zusammen«, schrie Attila sich an.
»Willst du alles geben?«, brüllte er im Park, wo
er sich allein wähnte und versuchte, den unerbittlichen Tonfall
eines Marine-Ausbilders zu imitieren. »Ja«, antwortete er im
lauten, aber unterwürfigen Rekrutenton.
»Gibst du wirklich alles?«, fragte der
Ausbilder.
»Nein«, gestand der Rekrut kleinlaut.
»Wirst du sofort anfangen?«, fragte der Ausbilder,
»jetzt, in dieser Sekunde?«
»Sir! Yes! Sir!«, antwortete der Rekrut.
Attila konzentrierte sich auf seine Schritte.
Schneller, länger,
kräftiger mussten sie sein. Er blickte immer wieder auf die Uhr.
Alle drei Minuten sprang das Display um; sein Temposchnitt
verbesserte sich, aber nur quälend langsam. Seine Beine wurden
immer schwerer. Attila rannte an drei U-Bahn-Stationen vorbei. Er
hätte nur die Treppen hinabsteigen müssen. »Das ist eine Prüfung«,
fluchte er, »das ist eine Scheißprüfung.« Verbissen erhöhte er das
Tempo.
»Das ist eine Prüfung, das ist eine
Scheißprüfung.«
Als er in seine Straße einbog, zeigte die Uhr fünf
Minuten und drei Sekunden auf den Kilometer. Verdammter Mist. Mit
dieser elenden Versager-Fünf konnte er dieses Training nicht
beenden. Attila rannte an der Fassade aus Glas und Sandstein
vorbei, hinter der seine Wohnung verborgen lag. Er schätzte das
diskrete Understatement dieses Neubaus, der nicht die geringsten
Hinweise darauf gab, dass sich darin die Crème der Berliner
Strategieberater und Banker verbarg. Wer nicht mindestens eine
Million im Jahr machte, durfte sich hier nicht mal als
Hausmeister-Praktikant bewerben. Ein Haus mit Stil und
Klasse.
Im Moment war ihm allerdings völlig gleichgültig,
ob ihn seine Nachbarn sehen würden, so struppig und verschwitzt.
Alles was zählte, war sein Durchschnittstempo. Im gestreckten
Galopp schoss Attila die lange gerade Straße entlang. Die
Vorstellung, dass er beobachtet werden würde, gab ihm neue Kraft,
jedenfalls bis zur nächsten Ecke. Die Uhr zeigte fünf Minuten und
zwei Sekunden. Attila bog rechts ab und zwang seine Bleibeine zu
einem letzten Aufbäumen. Einmal um den Block, das musste genügen.
Doch als er wieder in seiner Straße angelangt war,
stand die Uhr nur auf fünf Minuten und einer Sekunde. Diese
Scheißdinger waren sündteuer, aber maßen trotzdem nicht, was sie
sollten.
Attila passierte zum zweiten Mal sein Haus.
Spätestens jetzt würden ihn die Mitbewohner für komplett behämmert
halten. Egal. Man darf sich ein Mal am Tag blamieren. Pumpend warf
er sich auf die letzte Runde. Wo mal seine Beine waren, donnerten
jetzt T-Träger in die Gehwegplatten. Attila spürte einen Krampf
aufsteigen, tückischerweise im Oberschenkel, wo man deutlich mehr
davon hatte. Er verbot sich, noch einmal auf die Uhr zu schauen. Er
wusste, dass er es schaffen würde. Er glaubte an sich. An wen denn
sonst? Tatta-taaa, tatta-taaa… Die Titelmusik von »Rocky I«
trompetete durch sein Hirn. Ich bin ein Sieger, schrie er sich an.
Mit den letzten Schritten drückte Attila auf den großen roten Knopf
seiner GPS-Uhr: 4:59.58 min/km. Yes! Geht doch. Alles geht. Du
musst nur wollen.
Attila war zu schwach, um die Treppen in den
dritten Stock zu nehmen, wie es sich für einen Sportler gehört
hätte. Er drückte den Fahrstuhlknopf. Schweißtropfen klecksten auf
den Marmor. An der Wohnungstür gab Attila die Zahlenkombination
ein. Ein Leben ohne Schlüssel, das war echter Luxus.
Es war leise in der Wohnung, schlafleise. Offenbar
lag Camille noch im Bett. Dabei wusste sie ganz genau, dass er sich
auf nichts mehr freute als auf sein Eiweißomelette. Drei Eier ohne
das Gelb, das zu viel Cholesterin und Fett enthielt.
Attila rührte drei Messlöffel Amino
Competition in ein Glas Molke. Hatte ihm sein Coach empfohlen.
Das Zeug war kurz vor Doping. Unmittelbar nach der Belastung
eingenommen, konnte man den Muskeln beim Wachsen zuschauen. Gegen
die Krämpfe, zu denen Attila leider neigte,
warf er zwei Magnesium-Tabletten in ein Glas und einen halben
Teelöffel Salz dazu.
Attila ließ Badewasser ein und gab einen kräftigen
Schuss Muskelfluid in die Wanne. Das Zeug brannte wie Höllenfeuer,
aber es entspannte, vor allem, wenn er die Sprudeldüsen anstellte.
Vielleicht bekam er den verfluchten Krampf auf diese Weise aus dem
Bein gejagt. Nichts war entwürdigender als ein Hottentottentanz vor
der Badewanne, klatschnass und nullerigiert, ohne dass man seiner
Frau sofort erklären konnte, was los war, weil man vor Schmerzen
einfach nur brüllte.
Attila griff sich noch zwei Fläschchen
Vitasprint aus dem Küchenschrank: B12-Komplex, das war
genau, was er jetzt brauchte. Turbopowerboost. Folsäure war das
geheime Elixier aller Erfolgreichen. Außerdem mochte er das kleine
Ritual: Zuerst den Plastikdeckel wie bei einer Handgranate
abreißen, dann den roten Knopf wie bei einem Notfall einschlagen
und schließlich den Deckel mit den Zähnen losbeißen. Das Zeug
schmeckte wie Seife, aber immerhin wie teure.
Als Attila in die Badewanne glitt, spürte er das
Glück der Erschöpfung. Er hatte gewonnen, mal wieder. Und: wie
immer.

Die Familie lag im Bett, Dorothea in der Mitte,
Otto links neben ihr. Martin packte Norbert auf die andere Seite.
Auf einmal schlief dieser Teufelsbraten. Dafür liebte Martin seinen
Sohn. Alles, nur nicht normal, dachte er sich, immer wieder
überraschend.
Martin genoss die wenigen Minuten der Morgenruhe,
die er für sich allein hatte. Manchmal griff er sich die Zeitung,
die er von unten mitgebracht hatte, manchmal stöberte er in einem
Buch, manchmal grübelte er einfach nur vor sich hin. Heute könnte
er mit seinen kühnen Gedanken beim Brainstorming punkten.
Leider nahm die Agentur seine Elternzeit deutlich
ernster als er. Man brauchte ihn einfach nicht. Er war offenbar zu
ersetzen. Womöglich lümmelte dieser klugscheißerische Praktikant
auf seinem Designer-Hocker aus Nussbaum. Dieser kleine
Hosenscheißer hatte Philosophie zu Ende studiert und trug ebenfalls
eine Brille mit breitem schwarzen Hornrahmen. Elender Kopist.
Martin konnte nichts machen. Es war grausam. Aber er würde einen
Weg finden, sich ins Brainstorming zu schleichen. Er würde
beiläufig ein paar Sätze zu NIWRAD verlieren, die Runde würde nur
die Hälfte kapieren, aber andächtig schweigen. PR-Trottel halt. Und
er konnte sich beruhigt in die nächsten vier Wochen verziehen.
Gleich nach der Kinder-Abwurf-Tour würde er im Büro anrufen.
Martin wurde übel, als er ans Frühstück dachte.
Seit zwei Monaten war Dorothea auf dem Jentschura-Trip. Sie hatte
Schüßler-Salze ausprobiert, nach Farben gegessen und jede Diät
durchlitten, die die Brigitte je verordnet hatte, sofern sie
nicht auf dem Atkins-Trip war, der auch nicht viel anders
funktionierte als Trennkost oder Montignac. Nur eines hatte
sie nie versucht: einfach nur mal ganz normal zu essen.
Martin fand die Ernährungsexperimente seiner
Gattin durchaus interessant. Relativ solidarisch absolvierte er die
Programme mit, jedenfalls solange Dorothea in der Nähe war. Kaum
war sie aus dem Haus, holte er sich erst einmal einen Negerkuss aus
dem Versteck hinter den Büchern oder saure Pommes, deren Geruch
allein seine Speichelproduktion verdreifachten.
Während sich seine Frau mit jedem neuen Trip
einbildete,
jünger, schöner, frischer zu sein, fühlte Martin sich durchgehend
gleich: müde und aufgeregt, gestresst und gelangweilt, halbwegs
erfüllt und völlig leer. Den einzigen Unterschied, den Dorotheas
jeweilige Ess-Philosophie bei ihm machte, war der Geruch seiner
Fürze. Alles Eiweißlastige roch besonders giftig.
Die Jentschura-Methode schwang, wie immer,
im Einklang mit der Natur, ganzheitlich und glutenfrei. Der
Apotheker Peter Jentschura, der sich gern als »letzten Druiden«
bezeichnen ließ, präsentierte zum hundertsten Mal die alte
Säure-Basen-Geschichte. Die zog immer beim modernen Menschen, der
auch ohne saure Pommes unter permanentem Sodbrennen litt.
Dorothea verordnete der Familie nun also
Wurzelkraft. Das Zeug sah aus wie die Krümel auf der
Kehrschaufel, wenn man nach fünfzehn Jahren erstmals wieder hinter
dem Kühlschrank gefegt hatte. Diesen »omni-molekularen« Streu
konnte man überall einrühren, zum Beispiel in den
Pflichtfrühstücksbrei MorgenStund, auf Hirse- und
Kürbiskernbasis. Otto, durchs Heimlich-Essen bei Oma deutlich
aufgeschwemmt, meuterte jeden Morgen, Martin würgte still, aber
Dorothea schwärmte, dass sie sich seit Langem nicht mehr so gut
gefühlt habe.
Nächste Stufe: die basischen Stulpen, die man sich
feuchtwarm über die Waden zog, in den Farbtönen »Jade« und »Perle«
- »Teewurst« und »Leberwurst« wäre treffender gewesen. Oder das
Einlaufgerät, mit dem man einen Liter Kräutertee auf eher unübliche
Art in den Körper beförderte, aber dafür zweimal im Monat. Martin
überlegte, ab wann die Jungs wohl derlei Foltern unterzogen würden.
Griffen die Kinderschützer von Wildwasser eigentlich auch ein, wenn
wurzelgläubige Mütter ihre Söhne mit Kräutertee-Einläufen
traktierten?

Lars blieb regungslos liegen, als er die Hand an
seinem Schwanz spürte. Er war sich noch nicht ganz im Klaren, ob er
träumte. Manchmal erlebte er im Schlaf die geilsten Sachen, weit
besser als alles, was ihm die Realität bot. Der faulige Geruch, der
ihm in die Nase stieg, brachte allerdings Gewissheit - dies hier
war kein Traum.
Tanja hatte sich löffelartig hinter ihn gelegt. Er
spürte ihre Brüste auf den Schulterblättern und ihre Finger im
Schritt. Der kleine Lars schien Gefallen an ihrem beherzten
Würgegriff zu finden. Sie beugte sich über ihn und hüllte den
Morgen in eine Wolke Fischfabrik: »Komm schon, Darling.« Lars
wollte aber weder kommen noch Darling sein, sondern schlafen. Wenn
dieses Weibsstück wenigstens im Bad gewesen wäre; sie hätte auch
seine Zahnbürste benutzen dürfen.
Lars stellte sich vor, wie die Fasern des
Cheeseburgers, den sie auf dem Nachhauseweg verschlungen hatte, bei
jedem ihrer Worte in den Backenzähnen flatterten. Vielleicht waren
auch noch Partikel der eingelegten Gurke dabei.
Lars überlegte, wie er einen einfühlsamen
Hygiene-Vortrag beginnen sollte. Vielleicht mit einem gut gelaunten
»Komm, wir gehen noch mal rasch ins Bad.« Er tastete an seiner
Bettkante entlang. Vielleicht stand hier irgendwo noch was zu
trinken oder lag ein Kaugummi oder sonst etwas, was neutralisierend
wirkte.
Tanjas Zunge fuhr über seine Lippen. Sie war eine
Knutschfrau. Dagegen war nichts einzuwenden, sofern er nicht das
Gefühl haben musste, eine Biotonne an einem Hochsommernachmittag
auszulecken. Tanja drehte ihn kompromisslos auf den Rücken. Lars
stellte sich schlaftrunken. Er hätte sich auch auf den Bauch drehen
und abwehrend grunzen können.
Aber aktive Gegenwehr wagte er nicht. Am Ende war
es ja doch immer schön, von einer Frau sexuell bedrängt zu werden.
Das half dem Ego mehr als jede Beförderung. Aber eben nicht jetzt
und nicht von dieser. Tanja merkte natürlich nichts. Sie hatte die
Sensibilität von einem Sack Schrauben. Sie wollte einfach nur
Schwanz. Na gut.
Geschickt turnte Tanja auf Lars. Setz dich schon
drauf, dachte er.Soweit er sich erinnerte, war sie relativ schnell
zufrieden zu stellen. Nichts war anstrengender, als komplexe
Anlaufspielereien. Sie zog sich am stählernen Geländer seines
Bettes nach oben. Lars spürte ihre Brüste im Gesicht, dann den
Rippenbogen, schließlich den Bauchnabel mit dem silbernen Ring.
»Bitte nicht«, flehte er innerlich. Doch es gab kein Entkommen.
Tanja setzte sich aufrecht auf sein Gesicht. Lars hoffte, dass es
nicht so schmecken würde, wie es roch. Er sehnte sich zurück nach
seiner Biomülltonne. Tanja stöhnte schon mal, offenbar probehalber.
Warum eigentlich? Er hatte doch noch gar nichts gemacht. Und er
hatte auch gar nicht die Absicht. Lars beneidete Apnoe-Taucher, die
minutenlang unter Wasser bleiben konnten, ohne Luft zu holen. Tanja
schmeckte bitter. »Wie Gin Tonic«, dachte Lars, um sich das Aroma
schön zu schmecken. Wenn da diese leicht ranzige Kopfnote nicht
gewesen wäre. Und der Rest von irgendeinem Reinigungsmittel. Gab es
eigentlich diese Intimdeos noch? Oder war sie vielleicht doch im
Bad gewesen, während er geschlafen hatte, hatte aber, breit wie sie
war, die WC-Ente erwischt?
»Am Ende war es ja doch immer schön, von einer
Frau sexuell bedrängt zu werden. Das half dem Ego mehr als jede
Beförderung.«
Lars nahm seinen ganzen Mut zusammen und atmete,
soweit ihm das unter der Last von Tanjas Unterleib möglich war.
Dann fuhr er seine Zunge aus. »Drei Ave Maria und dann bist durch,
Madl.« Den Spruch hatte er von seiner älteren Schwester. So hatte
ihre bayerische Oma sie aufgeklärt. Wenn Oma wüsste, dass der
Spruch auch von Männern angewendet werden würde. Und dass drei Ave
Maria eindeutig zu lang sind.
Faszinierend, wie unterschiedlich Frauen
schmecken. Im Prinzip war es wie mit Wasser: Es gab jede Menge
Geschmacksrichtungen: Bergsee, Nordsee, Kanalisation oder dezent
aromatisiert. Ich könnte mich bei »Wetten, dass …« bewerben, dachte
Lars. Ich wette, dass ich zwanzig Frauen nur an ihrem Geschmack
erkenne. Da würden diese ganzen blasierten Rotweinschmatzer aber
staunen. Könnte allerdings sein, dass nicht alle seiner Kunden
diese Leistung auch adäquat zu schätzen wüssten.
»Wenn du Stil hast, dachte Lars, dann
verzwitscherst du dich jetzt einfach.«
Tanja merkte offenbar,dass Lars nicht mit voller
Konzentration bei der Sache war. Sie rutschte abwärts und flanschte
ihre beiden Körper mit traumwandlerischer Sicherheit zusammen. Lars
mochte diesen schlangenartigen Hüfteinsatz, der Routine, aber eben
auch unstillbare Freude verriet.
Er hob das Becken rhythmisch und zählte in
Gedanken mit. Bis zum achtzehnten Stoß stöhnte Tanja, bis
zweiunddreißig quietschte sie, immer lauter, und knapp über vierzig
endete sie mit einem spitzen kleinen Schrei. Wenn sie einen
Orgasmus vorgetäuscht hatte, dann hatte sie sich wenigstens
halbwegs Mühe gegeben.
Lars küsste sie auf die Stirn und sagte »Danke«.
Wofür eigentlich? Egal. Wer »Danke« sagt, erspart sich alle
weiteren Debatten. Tanja schmiegte sich noch einmal an ihn, dann
stand sie auf. Wenn du Stil hast, dachte Lars, dann verzwitscherst
du dich jetzt einfach. Zwei Minuten später hörte er die Tür ins
Schloss fallen. Hurra.

Maik stand nackt im Bad. Er untersuchte seinen
Körper nach frischen Gebrauchsspuren, insbesondere Schultern und
Oberarme, in die sich Frauen so gern mit ihren Fingernägeln
krallten. Seit er kaum noch selbst im Garten arbeitete, sondern vor
allem Kunden gewann und die Pläne entwarf, hatte sein Oberkörper
deutlich gelitten. Aber im Vergleich zu den anderen Mittvierzigern
mit ihren Matschleibern war er immer noch relativ weit vorn. Es
schadete nicht, dass er in letzter Zeit jede freie Minute für seine
Waldläufe nutzte.
Maik stellte das Wasser der Dusche eine Spur
kälter ein, als es angenehm war. »Du musst immer wieder raus aus
dem Wohlfühlbereich«, hämmerte er sich ein, »keine Trägheit, keine
Routine.« Fröstelnd stellte er sich unter den kühlen
Wasserstrahl.
Wo war sein Duschgel? Ulrikes Flaschen standen wie
eine Armee auf dem kleinen Kachelvorsprung. Auf den Plastikbuddeln
standen Worte wie »Wellness«, »Relax« oder »Balance«. Duschgel- und
Shampoo-Texte gaben nicht den Inhalt der Flaschen wieder, sondern
das Bedürfnis ihrer Käufer. Demnach war Ulrike erstens unwohl,
zweitens unentspannt und drittens aus dem Gleichgewicht. Stimmte
genau.
Maik überlegte, ob er, nass wie er war, im Bad
nach seinem extracoolen Polar-Duschgel suchen oder stattdessen eine
von Ulrikes Psycho-Pullen nehmen sollte. »Relax« erschien ihm als
am wenigsten verdächtig. Das Zeug roch nach Industrie-Ingwer. Maik
seifte seinen Schwanz dreimal gründlich ein. »Relax« brannte
leicht, aber nicht unangenehm.
8 UHR

Jochen hörte schon auf der Treppe, dass Bretti
wach war. Und wie. Würde er das Geräusch zum ersten Mal hören,
hätte er umgehend die Polizei gerufen oder den Notarzt oder die
Sitte oder alle drei gleichzeitig, was allerdings weniger an Bretti
lag als an Julia. Sie klang, als würde sie erstickt, was auch
stimmte. Julia war eine unscheinbare Person mit mittellangen
Haaren, mittelgroßen Möpsen, mittellangen Beinen, einem
mittelprallen Hintern und mittelscharfer Aura. Nur ihre Klamotten
waren unterdurchschnittlich. Jede bulgarische Erntehelferin war
schicker als Julia.
Aber in einer Disziplin war sie absolute
Weltspitze: Radau beim Sex. Sie schrie nicht, sie brüllte wie am
Spieß, sie quiekte, grunzte, röhrte und winselte. Jochen fand Julia
zwar ansonsten überflüssig, aber dieses Getöse machte ihn
rattenscharf. Zumal Julia nicht nur unkontrollierte Laute ausstieß
wie »Jajaja« oder »Ohohoh«, sondern die Zuhörer keine Sekunde im
Unklaren ließ, in welchem Stadium sie sich gerade befand und was
der Herrgerade mit ihr anstellte. In Phase I zum Beispiel
kommentierte sie die Anstrengungen des Mannes wie ein
Sportreporter, etwa »Oh ja, das ist gut, mach weiter so. Ja,
schneller, noch schneller, ja, bleib da, oh Mann. Das ist so gut.
Ja, etwas fester, ja so, jetzt bleib so, mach weiter,
jajaja.«
Spätestens in Phase II meldeten sich die ersten
Nachbarn, brüllten durch den Hof, wenn Bretti mal wieder das
Fenster
offen gelassen hatte, was der alte Angeber garantiert absichtlich
machte. Manche riefen auch an oder klingelten oder stießen mit
Besen gegen Boden oder Decke. Denn Julia hatte inzwischen alle
Zügel fallen lassen, so sie jemals welche gehabt hatte. »Ja, du
Sau«, juchzte sie, »härter, mach’s härter, ja, mach’s mir, du geile
Sau.« Jochen konnte machen, was er wollte, aber er bekam immer
wieder einen Ständer, wenn der nicht schon in Phase I gewachsen
war. Als er sich ins Bett legte, operierte Julia bereits in Phase
III, die Jochen »Schlachthof-Symphonie« nannte. Julia heulte und
schrie: »Nein, nein, nein, bitte nicht, hör’ nicht auf! Aua, aaah,
nein, ooohuuh, tiefer, ooh neinneinnein, oh bitte, bitte, bitte
nicht, oh Gott, oh mein Gott« - und dann ein markerschütternder
Schrei, der die Weißbiergläser im Küchenschrank klappern
ließ.
Bretti musste sich fühlen wie Rocco Sifredi. Was
Jochen umso mehr wunderte, da Bretti weder schön noch schlank, noch
untenrum irgendwie auffallend gut bestückt war. Bretti hatte sich
letztes Jahr allerdings mal ein Buch gekauft mit dem Titel:
»Hundert Wege, eine Frau in den Wahnsinn zu treiben.«
Jochen hatte sich das Buch natürlich geliehen,
auch wenn er nicht an solche Ratgeber glaubte. Die vermeintlichen
Geheimtipps waren ja doch immer die gleichen. Jochen würde Julia
genauso in die Raserei treiben, auch ohne Buch. Leider ließ sie ihn
nicht. Jochen fragte sich, ob die beiden immer noch oder schon
wieder rammelten. Schwer vorzustellen, dass Julia schon die ganze
Nacht lang fast abkratzte. Das hätte sie nicht überlebt.
Denn Bretti hatte eine ebenso rüde wie
wirkungsvolle Methode entwickelt, die Krawallschachtel zu dämpfen.
Er drückte Julia einfach sein Kopfkissen ins Gesicht. Und wenn sie
sich wehrte, drückte er noch fester.Eigentlich werden
unliebsame Familienmitglieder auf diese Weise umgebracht. Aber
Julia fand es geil, halb zu ersticken.
Sauerstoffmangel bewirkt beim Sex offenbar
Wunderdinge. Halb Hollywood ist inzwischen mit einem Gürtel um den
Hals an Türklinken oder Hotelschranktüren gefunden worden, die
wenigsten lebendig. Wahrscheinlich hatte sich Michael Jackson in
Wirklichkeit mit einem Lakritz-Lasso an die Ankerwinde vom
Barbie-Traumschiff geknotet - aber das war den Angehörigen doch zu
peinlich zum Bekanntgeben. Es sei denn, irgendwer hätte
gesponsert.
Jochen hatte mal versucht, sich beim Wixen die
Luft abzudrücken, aber er war völlig durcheinandergekommen mit
seinen beiden Händen und den unterschiedlichen Bewegungsabläufen.
Irgendwann jedenfalls schubberte er an seinem Hals auf und ab,
während er seinen Schwanz würgte. Auch nicht schlecht.
Jochen hatte sich allerdings nicht getraut, eine
Lidl-Tüte über den Kopf zu stülpen. »Zieh dir immer frische
Unterwäsche an, falls du mal einen Autounfall hast oder aus sonst
irgendeinem Grund in die Verlegenheit kommst, in einem Notarztwagen
zu landen«, hatte seine Mutter immer gesagt. Da Jochen schon nicht
mit attraktiver Unterwäsche dienen konnte, weil er schlichtweg
keine hatte, wollte er zumindest nicht auch noch mit einer Tüte
über dem Kopf von der Kripo gefunden werden, schon gar nicht mit
einer von Lidl.
Jochen überlegte, ob die edle Tüte noch in seiner
Plastiktütenschublade steckte? Er hatte vor drei Jahren im
Ausverkauf mal Boss-Socken im Doppelpack erworben. Jochens
Kalkulation: Wenn der Schriftzug zwischen Billighose und
abgeschabten Tretern hervorlugte, dachten alle Leute, er wäre ein
Understatement-Typ, der sich aus teuren Klamotten nichts machte,
auch wenn er sie sich leisten konnte, wie
die Socken ja scheinbar bewiesen. Inzwischen hatte er leider nur
noch einen Strumpf von jedem Paar, einen weinroten und einen
dunkelgrünen, womit sich eine weitere Lebensregel seiner Mutter
bewahrheitete, nämlich die, dass man sein Leben lang die gleichen
Strümpfe kaufen sollte, um nie das Problem der Single-Socke zu
haben. Fraglich, ob die Leute ihn mit zwei verschiedenen
Boss-Socken immer noch für einen Understatement-Typen
hielten oder einfach nur für einen Volltrottel, der seine Socken
nicht zusammenhalten konnte.
Warum zum Teufel dachte er eigentlich über
einzelne Socken nach, während Julia keine sechs Meter Luftlinie
entfernt soeben getötet wurde? Ach ja, die Tüte. Hatte er für die
Socken damals nicht nur so einen kleinen Beutel bekommen? Jochen
war zu bequem, um aufzustehen und in seinem Spezialkarton für edle
Verpackungen nachzuschauen, wo auch die wattierten Briefumschläge
lagen, die fast aussahen wie neu und die Weinsafes aus Pappe.
Würde er mit seinem Kopf in einen kleinen Beutel
überhaupt hineinpassen? Vielleicht konnte man die Tüte an der Naht
vorsichtig auftrennen, über das Gesicht ziehen und hinten mit
Tesa luftdicht umwickeln. Oder besser mit Lassoband. Dann
würde er aber ziemlich viele Haare mit einkleben. Ausgerechnet
davon hatte er nun wirklich kein einziges mehr abzugeben. Neulich
erst hatte er mit Hilfe von drei Spiegeln versucht, die Größe jener
kargen Hochebene zu ermitteln, die sich auf seinem Hinterkopf
blitzartig gebildet hatte. Der Verfall war dramatisch, keine Frage,
dennoch fühlte Jochen sich noch nicht bereit für diese
Tüten-Nummer. So sterben nur Prominente, dachte er. Und da würde er
noch ein paar Wochen, eventuell sogar Monate warten müssen. Klar,
Beyond Cool würde richtig durchstarten. Aber niemand wusste,
wie und wann. War es so weit, würde er sich
das mit der Plastiktüte aber erst recht noch mal überlegen. Seine
allerschlimmste Vorstellung bestand darin, dass er im Todeskampf
nicht mal gekommen sein würde. Totgewixt, aber knochentrocken im
Schritt. Die Cops würden sich kaputtlachen. Vielleicht stünde es
sogar in der Zeitung: Deutschlands bester Radiomoderator impotent?
Wie schrecklich. »Ableben ohne Grund«, würde der Gerichtsmediziner
in den Totenschein schreiben.
Vieles sprach dafür, auf konventionelle Art weiter
zu onanieren, so wie sich das seit dreißig Jahren bewährt hatte,
auch wenn Jochen die Begeisterung von früher abhanden gekommen war.
Er hätte das Pärchen im Cabrio doch fragen sollen.
Jochen versuchte, sich Bretti und Julia beim
Poppen vorzustellen, aber erregend war das nicht. Er sah immer nur
ein bebendes Kopfkissen oder Julias unrasierte Achseln oder Brettis
behaarten Hintern, der angestrengt pumpte. Jochen war Haaren
gegenüber eigentlich nicht abgeneigt. Sexuell gesehen war er auf
dem totalen Retro-Trip.
Im Internet hatte er in den letzten zehn Jahren
alle erdenklichen Kunststücke gesehen. Fehlte nur noch, dass Frauen
sich eine Eichenschrankwand einführen ließen. Dieser Wettbewerb der
Absonderlichkeiten, der in den seltensten Fällen gesund aussah,
erregte ihn allerdings immer weniger. So war er zu den Pornos der
Achtzigerjahre zurückgekommen, die ihn als Pubertierenden in den
Wahnsinn getrieben hatten: Die Frauen trugen nicht
quadratmeterweise Bauernmalereien auf ihrem Körper, hatten nicht
jede Falte durchlöchert und Gardinenringe befestigt, staksten nicht
auf zwanzig Zentimeter hohen Bänderriss-Plateaus umher - und waren
trotzdem tausendmal schärfer.
Denn sie schritten barfuß über ein Bärenfell. Oder
in hautfarbenen Strümpfen, die an komplexen Strapsgürteln befestigt
waren. Irgendein Schlauberger hatte für den Farbton, der in
Wirklichkeit »Popelgrütze« heißen musste, den wunderbaren Begriff
»Champagner« erfunden. Farbtondichter, das wäre auch noch mal ein
Job.
Lustlos schubberte Jochen an sich herum.
Eigentlich war er ein großer Verfechter von autonomem Sex. Mit
Frauen war es immer langwierig und teuer, ohne dass Vollzug
garantiert gewesen wäre. Mit sich selbst war man in drei Minuten
fertig - preisgünstig und garantiert, meistens jedenfalls. Der
Dunst, der unter der Decke aufstieg, half nicht gerade, seine Lust
ins Unendliche zu treiben. Man musste schon ziemlicher
Feinschmecker sein, um sich an diesem Gemisch aus Aal, Altschweiß
und Batteriesäure aufzugeilen. Jochen hatte kein Problem mit dem
Geruch, nur mit dem Geschmack auf der Zunge, wenn er mit dem Finger
noch einen Tropfen Spucke auf der Eichel platzierte, um die
Reibungswärme zu minimieren. Er hatte mal Olivenöl probiert, von
Bretti, aber das neigte zum Flocken. Weit in der Ferne vernahm
Jochen noch Julias finalen Schrei: »Ohohjajaja, ich sterbe« - dann
fiel er in einen traumlosen Schlaf.

Als Martin ins Schlafzimmer lugte, traf ihn Ottos
verschlafener Blick. »Böser Papa«, sagte der Junge nur.Martin war
zutiefst getroffen. Warum war der erste Gedanke eines vierjährigen
Jungen am Morgen ausgerechnet dieser? Warum böser Papa? Er war
nicht böse, ganz im Gegenteil, er war ein gutmütiger Trottel, der
sich seiner Frau und ihrer Karriere bereitwillig unterwarf. Hatte
er sein ganzes Leben, seine Position in der Agentur, vor allem aber
sein Selbstwertgefühl geopfert, nur um sich von diesem Gör
beleidigen zu lassen? Warum verletzte ihn sein eigener Sohn auf
diese perfide Weise?
»Er war nicht böse, ganz im Gegenteil, er war
ein gutmütiger Trottel, der sich seiner Frau und ihrer Karriere
bereitwillig unterwarf.«
Er meint es doch nicht so, würde Dorothea jetzt
sagen. Martin war sich da nicht so sicher. Kinder meinen vieles so,
wie sie es sagen, und zwar ganz gerade und unkompliziert. Irgendwas
musste vorliegen zwischen ihnen. Aber was? Was hatte er dem Kind
getan, vielleicht unbewusst und unabsichtlich? Was war von gestern
übrig geblieben an Erinnerungen? Welches Trauma begann sich in
diesem Moment unauslöschlich in die Kinderseele einzufressen?
Martin war sich keiner Schuld bewusst. Aber Otto
hatte dafür gesorgt, dass er diesen Tag nach einem guten Start mit
einem schlechten Gewissen fortsetzte. Machen Kinder in dem Alter so
was absichtlich? Oder hatten Dorothea und Otto bereits getuschelt,
bevor er die Schlafzimmertür geöffnet hatte?
Er hatte schon länger den Verdacht, dass seine
Frau die Jungs heimlich gegen ihn aufhetzte. Kinder sind eine
unglaublich brutale Waffe im Geschlechterkrieg, wenn man sie zu
bedienen weiß. Dorothea war eine Meisterin in dieser Disziplin.
Aber er holte auf.
»Böser Papa«, wiederholte Otto. Martin überlegte,
ob er diesem miesen kleinen Kerl einfach ansatzlos eine Backpfeife
verpassen sollte.
Da schlug Dorothea die Augen auf. »Was ist los?
Was hast du mit dem Jungen gemacht?«, fragte sie. Typischer Reflex.
Er war schuld. Klar. Wer sonst?
»Nichts, gar nichts. Ich wollte nur gucken, wie es
euch geht.«
»Böser Papa«, wiederholte Otto noch einmal.
»Ist ja gut«, sagte Dorothea und befahl zu Martin
gewandt: »Mach doch schon mal eine Liste wegen heute Abend. Das
Essen mit Holtkötter ist vielleicht der wichtigste Termin des
Jahres für uns.«
Martin nickte ergeben. Vor allem für uns, dachte
er.
Holtkötter war der Senderchef. Und Dorothea hatte
ihn eingeladen. Normalerweise kam Holtkötter nie zu solchen Essen.
Aber er mochte Dorothea. Sie wiederum wollte ihn überzeugen, dass
sie die ideale Moderatorin für das neue Magazin sei, das
Wissenschaft, Gesellschaft und Partnerschaft vereinen sollte.
»Think society« oder so ähnlich lautete der Titel.
Entgegen der großmäuligen Ankündigungen würde das
Format sich am Ende doch wieder nur darum drehen, warum die
Deutschen immer weniger Sex hatten. Und seine Frau sollte diesen
Krempel moderieren. Eines Tages würde die Bunte dann
vermutlich fragen, wie es denn mit ihrem eigenen Sexleben bestellt
sei. Martin fürchtete sich vor der Antwort.

Attila zuckte, erschrak und tauchte unter. Das
kühle Wasser versetzte ihn schlagartig in Panik. Er schlug um sich.
»Alles okay?«, hörte er eine vertraute Stimme fragen. Er riss die
Augen auf. Über ihm stand Camille, in einer Sünde von Nachthemd.
Attila fand, dass eine Erektion jetzt wohl die angemessene Reaktion
wäre. Aber das kalte Wasser verhinderte jede Blutbewegung.
Faszinierend, dass ihn die Kühle des Badewassers
nicht aufgeweckt hatte. Wahrscheinlich war es mit ihm wie mit dem
Frosch, nur umgekehrt. Der Frosch im Topf merkte
nicht, wenn er gekocht wurde, solange die Temperatur
kontinuierlich stieg. Und der Mann in der Wanne merkte nicht, dass
er erfror, solange das Wasser stetig abkühlte. Attila sortierte
seine Gedanken. Er hatte offenbar schon eine ganze Weile in der
Badewanne gelegen, weil er eingeschlafen war. Er war heute Morgen
gelaufen, mit einem sensationellen Schnitt unter fünf Minuten. Gute
Zahlen gaben ihm Kraft. Er musste heute nicht ins Büro, stattdessen
zum Check, und seine bezaubernde Frau ließ soeben ihre Brüste über
ihm baumeln, denen man gar nicht ansah, dass ihnen das Implantieren
von körpereigenem Fett zu jeweils dreihundertfünfzig zusätzlichen
Gramm verholfen hatte.
»Konnte man von Liebe sprechen? Warum
eigentlich nicht? Wahrscheinlich hatten sie das klarste und fairste
Verhältnis, das man sich vorstellen konnte.«
Camille lächelte ihn an, wobei er nie wusste, ob
es sich um Sympathielächeln oder Heiratsschwindler-Grinsen
handelte. Schließlich hatte er Camille aus ihrem ukrainischen Elend
befreit. Daher auch ihr ursprünglicher Vorname Olga, der Attila
allerdings entschieden zu stark an Kolchose und Kartoffelacker
erinnert hatte. Konnte man von Liebe sprechen? Warum eigentlich
nicht? Wahrscheinlich hatten sie das klarste und fairste
Verhältnis, das man sich vorstellen konnte. Sie führten eine
Win-Win-Beziehung, die edelste Form der Ökonomie. Es gab keine
Geheimnisse, keine Hidden Agenda, beide Seiten hatten das Gefühl,
ein gutes Geschäft zu machen: Er schenkte ihr ein menschenwürdiges
Leben, sie half ihm bei der gesellschaftlichen Perfektionierung:
Repräsentieren, Kinderkriegen, die Bude in Schuss halten, eben
alles, was ein erfolgreicher Chef von Wesley braucht, um
Lebenskompetenz jenseits des Büros nachzuweisen.
Camille ging es wirklich gut bei ihm. Sie hatte
ein großzügiges Budget für ihre Klamotten, das sie auch jeden Monat
gründlich ausschöpfte. Dafür sah sie immer gut aus und war bei
sexuellem Bedarf jederzeit abrufbar.Nur bei der Fruchtbarkeit
schien irgendwas unrund zu laufen. Aber hätte er vor der Ehe einen
Test einfordern sollen? Wenn sich so was rumgesprochen hätte. Nein,
keine Sorge, beruhigte sich Attila, Herren-Männersamen hatte sich
noch immer durchgesetzt. Er liebte Nazi-Anspielungen jeder Art, so
wie alle Machtmenschen. Mit jeder Flasche Cheval Blanc, die in
diesem Land geköpft wurde, fiel mindestens einmal der Name Hitler,
Goebbels, Göring, fast immer verbunden mit kollektivem Prusten. Da
war sich das Geldgewerbe mal einig. »Du hast mein Omelett
vergessen, heute Morgen«, sagte Attila mit leicht mahnendem
Tonfall. Er wolle verhindern, dass diese Nachlässigkeiten
einrissen. Aus kleinen wurden schnell große Schlampigkeiten. Die
Broken-Window-Theorie galt auch für Partnerschaften. Und Camille
musste jederzeit klar sein, um wen es in ihrer Beziehung wirklich
ging. Ihr esoterischer Fimmel war ihm schon unangenehm genug.
Mussten diese vormodernen Urvölker eigentlich immer auf Hokuspokus
abfahren?
»Heute es gibt kein Omelett«, sagte Camille sanft,
»du darfst nicht essen, wegen die Untersuchung.«
»Wegen der Untersuchung«, korrigierte
Attila. Immer jede Chance nutzen, um besser zu werden.
»Wie war das Bauchgetränk«, fragte Camille, »sehr
schlimm?«
Attila sprang aus der Wanne. Verdammt, er hatte
gestern Abend den Darmreinigungstrunk vergessen. Er hatte die
Karaffe mit der trüben Brühe extra auf seinem Schreibtisch
platziert, wo er bis kurz nach zwei gesessen und gearbeitet hatte.
Aber er hatte nicht einen Schluck getrunken. Er konnte den Check
unmöglich platzen lassen, nur weil er seine Aufgabe nicht erfüllt
hatte. Bei Wesley würden sich alle das Maul zerreißen.
Was tun? Vierundzwanzig Stunden vor der
Untersuchung hätte er einen Liter von diesem Zeug trinken müssen.
Nun waren es kaum mehr als zehn Stunden bis zum Termin, also musste
er mindestens die doppelte Menge trinken: Zwei Liter in zehn
Stunden waren ungefähr so gut wie ein Liter in vierundzwanzig
Stunden.
Attila fuhr in seinen Bademantel, huschte Camille
einen Kuss auf die Wange und hastete auf die Galerie, zu seinem
Schreibtisch. In der Karaffe stand eine gelbliche Flüssigkeit mit
einem wolkigen Bodensatz. »Attacke«, dachte Attila und hob den Krug
an die Lippen. Er trank und trank ohne abzusetzen, fest
entschlossen, den Geschmack überhaupt nicht wahrzunehmen, bevor die
Karaffe leer war. Doch als der erste Schwung vom Bodensatz seine
Kehle traf, konnte er das Würgen nicht länger unterdrücken. Tränen
schossen ihm in die Augen.
Aber er setzte nicht ab. »Stell dir vor, es geht
um dein Leben«, feuerte er sich an. Das dachte er immer in
entscheidenden Momenten. In Augenblicken existenzieller Not
mobilisierte die Psyche jene entscheidenden Prozente, die über Sieg
und Niederlage entschieden. Noch zwei Schlucke, dachte Attila.
Schweigend sah Camille von unten aus dem Kaminzimmer zu, wie ihr
Mann auf der Galerie einen merkwürdigen Kampf ausfocht. Sie war
froh, diesen Vormittag nicht zu Hause zu verbringen.
Attila warf ihr einen triumphierenden Blick hinab.
Den zweiten Liter würde er sogleich ansetzen.
Sie lächelte hinauf zu ihm. Sie liebt mich
wirklich, dachte er.

Es war alles so praktisch in Maiks Leben. Henry
konnte allein zur Schule gehen, in weniger als zehn Minuten. Auf
dem Weg dorthin las er zwei Klassenkameraden auf, die ebenfalls in
ihrer Eigenheimsiedlung wohnten. Und gleich neben der Schule lag
die Kita, in der Henry seine kleine Schwester Anna abzuliefern
hatte, die meistens artig an der Hand ihres großen Bruders ging.
Alles unendlich praktisch.
Maik war fast aus einem kurzen, tiefen, traumlosen
Schlaf erwacht, als Ulrike die Tür öffnete. Sie hatte sich immer
ein praktisches Schlafzimmer gewünscht, mit eigenem
Badezimmerzugang und einem begehbaren Kleiderschrank. Er hatte all
ihre Wünsche erfüllt, so wie immer, seit sie zusammen waren, fast
zwanzig Jahre jetzt schon. Maik sah das marokkanische Hauszelt über
dem Stuhl hängen. Ulrike war in ihrem Kleiderschrank
verschwunden.
»Maik dachte nach, warum die Lust exakt in
jenem Maße verschwunden war, in dem das Wort ›praktisch‹ in ihr
Leben eingezogen war.«
Früher wäre er leise, aber mit anschwellender
Latte aufgestanden, hätte sich angeschlichen und sie mit gierigen
Griffen überzogen. Sie hätte es sich genussvoll grunzend gefallen
lassen. Sie wären in einem großen Körperknäuel
auf dem Bett gelandet und drei Minuten später entspannt
auseinandergefallen. Kleiner Akt, große Wirkung.Gelassen wären sie
beide in den Tag gestartet.
Maik dachte nach, warum die Lust exakt in jenem
Maße verschwunden war, in dem das Wort »praktisch« in ihr Leben
eingezogen war. War Ulrike eine glückliche Frau? War er ein
glücklicher Mann? Oder war er es zumindest einmal gewesen? Waren
ihre Kinder glücklich? Oder war alles einfach nur praktisch, ihr
gesamtes Leben nur darauf ausgelegt, so schnell und so reibungslos
wie möglich absolviert zu werden, ohne Kurven, Kanten, Chaos.
Sie hatten Erfolg, immerhin. Maik war vom
DDR-Bürger mit Gärtnerlehrezum führenden Gestalter des größten
Berliner Gartencenters aufgestiegen. »Kontrolliert-kreatives
Durcheinander« machte seine Entwürfe aus, hatte eine
design-fixierte Stadtzeitung geschrieben. In den Dandy-Kreisen der
Hauptstadt galt es inzwischen als schick, sich einen Ost-Murkel zu
mieten, und sei es nur zum Aufstellen der biologisch abbaubaren
Blumenkästen, die sie bei Manufaktum bestellt hatten.
Ulrike dagegen hatte sich nach der Geburt von
Henry entschlossen, ihren Job als Buchhändlerin aufzugeben. Es
hatte ihr ohnehin keinen großen Spaß gemacht, die erzkonservativen
Weltsichten halbgebildeter und völlig zu Recht alleinstehender
Zeit-Leserinnen mit Literatur-Empfehlungen zu stützen.
Auch wenn sie viel lieber Krimis und
Abenteuer-Romane las, musste sie am Ende doch wieder zu Büchern
raten, in denen sich tapfere kleine Frauen durch eine böse
Männerwelt kämpften. Oder sie verkaufte Lebenshilfe, mehr oder
weniger intellektuell verpackt. »Männer sind Schweine, oder wie ich
zwanzig Kilo abnahm und meine Traumfrisur fand« - das wäre der
ideale Buchtitel, den sie jeder Kundin
jede Woche aufs Neue verkaufen konnte, hatte Ulrike einmal gesagt.
»Buchmarkt ist Frauenmarkt«, so lautete eine der ewigen Weisheiten
der Branche. Maik hatte vollstes Verständnis dafür, dass seine Frau
keine Lust hatte, unter diesen Umständen zu arbeiten.
Aber musste sie jetzt zweifelhafte Diät-Produkte
im Bekanntenkreis vertreiben? Maik fand das Schneeball-Prinzip
relativ unseriös, mit dem wertlose Fruchtfaser-Pillen, die nach
Hundefutter schmeckten, flächendeckend verscheuert wurden. In ihrem
Carport-Ghetto gab es noch zwei weitere Damen, die ebenfalls mit
maßlos überteuerten Schlankheitsmittelchen von Tür zu Tür
zogen.
Immerhin stand Ulrike jetzt unter dem Druck,
tatsächlich abnehmen zu müssen. Maik wusste: Das war ihr Kick. Es
ging nicht darum, ein paar hundert Euro nebenher zu verdienen oder
was Eigenes zu haben. Sie wollte sich selbst unter Druck setzen.
Ihre persönliche, für alle Bewohner der Siedlung sichtbare Story
sollte das ideale Verkaufsargument werden. »Wie haben Sie denn das
geschafft?«, wollte Ulrike in spätestens drei Monaten von
Nachbarinnen, Spielplatzbekanntschaften und Mitschülereltern
gefragt werden. Dann würde sie ganz lässig auf ihre Pillen
hinweisen und serienweise Jahres-Abos verkaufen.
Das postmoderne weibliche Ideal von der totalen
Unabhängigkeit faszinierte Ulrike nicht sonderlich; sie hatte keine
Probleme damit, sich ökonomisch und emotional einem Mann
anzuvertrauen. Ihr großer Traum war der von der ewigen heilen
Familie. Dafür war sie bereit, jedes erdenkliche Opfer zu bringen:
ihren Job aufzugeben, zu kochen, zu putzen, ihrer Brut
vierundzwanzig Stunden am Tag den Hintern nachzutragen, ihr
gesamtes Leben auf dem Altar der Heiligen Vielfaltigkeit von Vater,
Mutti und Kindern preiszugeben, selbst ihren früher so prallen Po,
der inzwischen
leider eine gewisse Lappigkeit aufwies. Immerhin hatte sie
gemerkt, dass auch das teuerste Walking-Equipment gegen den Verfall
so wenig half wie Aspirin gegen Krebs.
Ulrike nutzte ihre demonstrative Selbstaufopferung
zugleich knallhart zur emotionalen Geiselnahme. Der
unausgesprochene Text lautete: Wenn ich mein Leben gebe, um unsere
Familie zu hegen, lieber Maik, dann stehst du auch in der
Verantwortung. Es wäre unfair, mich erst in die totale Abhängigkeit
zu zwingen und dann sitzen zu lassen. Komme ja nicht auf die Idee,
dich deinen Pflichten entziehen zu wollen. Das kannst du nicht
bringen; damit ruinierst du unser aller Leben und dich, vor allem
moralisch.
Maik lag im Bett, kratzte sich genussvoll im
Schritt und hörte Ulrike im Kleiderschrank rumoren; sie würde in
irgendetwas Zeltartigem zum Vorschein kommen, so wie immer, seit
sie sich das Gewicht von zwei Kästen Bier auf die Hüften geladen
hatte. Maik hatte kein Problem damit; er mochte Üppigkeit. Aber
Ulrike fühlte sich nicht wohl. Neulich hatte er sie dabei erwischt,
wie sie zwei Schlankmacherslips beim TV-Shopping bestellt hatte.
Die Dinger pressten Fett und Fleisch zusammen, mit der
unglaublichen Gewalt einer Gummimischung, wie sie sonst nur in
Bremsseilen auf Flugzeugträgern verarbeitet wurden.
Die Hosen, die vom Nabel bis fast zum Knie
reichten, sorgten für Durchblutungsstörungen, Atemnot, vor allem
aber für unglaublich hartnäckige Pressfalten durch den
stundenlangen Druck. Ulrike war vor allem auf die Außenwirkung
bedacht, also auf ihre Silhouette. Was sie leider überhaupt nicht
mehr bedachte, war die Binnenwirkung: Wie sollte ein Mann sich an
seiner Frau aufgeilen, die selbst bei vollständiger Dunkelheit ein
Völlegefühl erzeugte, weil sie nach alten Autoreifen roch?
Ulrike kam aus dem Kleiderschrank. Sie war nackt
bis auf ein durchsichtiges Nichts von Bluse. Ihre immensen Brüste
hüpften in grenzenlosem Optimismus. »Mach mal Platz«, befahl sie
und schlüpfte zu ihm unter die Decke. Maik musste umdenken. Es gab
Momente, da verspürte er tatsächlich noch so etwas wie Liebe zu
dieser Frau, nicht nur wegen der Kinder.

Lars stemmte sich mit aller Kraft gegen die Blase,
aber der Druck war stärker. Er blickte auf den Wecker. Kurz nach
acht. Mit sehr viel Kreativität könnte er den Morgen so gestalten,
dass er noch eine gute Stunde würde pennen können. Lars hielt
seinen Schwanz über die Schüssel. Das Ding brannte. Wo früher ein
strammer Strahl heraus schoss, tröpfelte es jetzt wie bei einem
undichten Wasserhahn. Dafür nahm das Plätschern überhaupt kein Ende
mehr. Und was waren das für komische rote Flecken? Klare Sache:
Inkontinenz, Prostatakrebs und Schwanzpilz. War ja klar, dass er
eines Tages würde bezahlen müssen für seinen Lebenswandel.
»Wenn er schon sterben musste, dann wollte er
lieber in den Himmel, als einfach nur zu Staub zu zerfallen: Nur
jetzt gerade bitte nicht. Er hatte noch so viel vor.«
Er hatte sich in letzter Zeit immer mal wieder mit
dem Gedanken getragen, zu beten. Das Leben als Atheist war ihm zu
unsicher geworden. Wenn er schon sterben musste,
dann wollte er lieber in den Himmel, als einfach nur zu Staub zu
zerfallen: Nur jetzt gerade bitte nicht. Er hatte noch so viel
vor.
9 UHR

Es wummerte an der Tür. »Spacko, komm ma’ raus!«
Jochen fuhr empor und blickte auf die Uhr. Kurz vor neun. Bretti,
der Arsch. Der Kerl wusste genau, dass er von der Nachtschicht kam.
Aber er wusste auch, dass Jochen gern noch wixte oder im Internet
surfte, um in einigen Blogs zu posten. Was sollte der Radau?
»Was willst du, Vollpfosten?«, brüllte Jochen. Eine
Beleidigung pro Satz war Minimum und der Beweis, dass alles stimmte
zwischen ihnen. »Wir müssen mit dir reden«, erklärte Bretti.
Wir? Wieso wir? Litt Bretti inzwischen an
multipler Persönlichkeit?
Jochen nahm einen tiefen Atemzug. Mal ganz
subjektiv gerochen, lag ein zarter Hauch von maskuliner Erotik in
der Luft. Sensiblere Nasen könnten es auch für das erste Stadium
von Pumakäfig bezeichnen.
»Ich komm’ ja schon«, ächzte Jochen und wälzte
sich von seiner Matratze. Er riss das Fenster auf und streifte sich
das XXL-T-Shirt mit Tweety und Sylvester über, das auch schon mal
weiter gesessen hatte. Seine Latte hatte sich zum Glück gelegt,
maximal zwanzig Prozent morgendlicher Resterektion.
Jochen riss die Tür auf. Da stand Bretti, frisch
geduscht, an der Hand Julia, frisch gefickt. Aha, deswegen also
»Wir«. Was sollte der Auftritt? Organisierte Bretti jetzt
Besichtigungen von Jochens Zimmer, als Musterbeispiel für
merkwürdige Single-Behausungen? War er seltsam geworden,
ohne es zu merken? In Jochen stieg das Gefühl auf, bisweilen nicht
am richtigen Leben teilzunehmen.
»Wollt ihr mich zum Frühstück einladen?«, fragte
Jochen. Ein originellerer Spruch war ihm so schnell nicht
eingefallen. Plötzlich durchfuhr ihn ein heißer Gedanke. War Bretti
mit seiner ohnehin nicht bemerkenswerten Kondition am Ende? Wollte
Julia noch eine Runde, aber Bretti konnte einfach nicht mehr?
Vielleicht durfte er als Notnagler mitmachen - so wie fast bei dem
Cabrio-Paar.
»Alter«, sagte Bretti, »ich hab immer nur dich
geliebt.«
Jochen guckte skeptisch. Das klang nur mit sehr
viel Phantasie wie eine Einladung zum Sex.
Julia schnupperte in die halboffene Tür. Jochen
spürte, dass sich zwanzig Prozent Latte auf knapp fünfzig Prozent
steigerten. Der Gedanke, dass dieses Nichts von Frau ein solches
Sex-Konzert veranstaltete, machte ihn nun mal rappelig.
»Vielleicht durfte er als Notnagler mitmachen -
so wie fast bei dem Cabrio-Paar.«
»Pass auf, mein herzallerliebster Joe«, sagte
Bretti, »Männer wie wir brauchen keine großen Worte, oder? Also
machen wir’s kurz: Ich ziehe aus, jetzt sofort, zu Julia. Die Miete
bezahle ich dir natürlich bis Monatsende. Aber ich will, dass du
die Chance hast, so schnell wie möglich einen neuen Mieter zu
finden. Da zählt ja jeder Tag. Wir hatten ja schon ewig vereinbart,
dass wir uns völlig entspannt trennen, wenn eine Frau sich
anschickt, eines unserer Leben zu verwüsten.« Julia fasste Brettis
Hand.
Jochen war sprachlos. Brettis schwanzgesteuerte
Dummheit
erschütterte ihn noch mehr als der gestelzte Mist, den der Kerl
verzapfte, nur weil er die Perle beeindrucken wollte, die neben ihm
stand und triumphierend grinste.
Eine Frau, na gut, dafür konnte keiner was. Aber
es war nur Julia, ein begnadeter Schreihals, aber ansonsten ein
Nichts. Wollte Bretti mit diesem Glas Leitungswasser von Frau die
nächsten fünfzig Jahre zubringen, ein Reihenhaus abbezahlen, aber
deutlich vor der letzten Rate an Langeweile sterben?
War doch völlig klar, dass Julia den Radau im
Moment der Eheschließung einstellen würde, wahrscheinlich würde sie
schon in dem Moment leiser, da Bretti bei ihr eingezogen war.
Klarer Fall von Show-Orgasmus.
»Aha. Kein Glas Milch mehr, sondern jetzt die
ganze Kuh«, entfuhr es Jochen.
Bretti grinste verhalten. Er wusste, was Jochen
dachte. Hoffentlich schämte er sich wenigstens für seine emotionale
Schwäche. Eine Frau - lachhaft.
Julia guckte irritiert.
Jochen überlegte, wie er diese völlig beschissene
Situation möglichst mannhaft durchstehen sollte. »Okay, kein
Problem«, sagte er schließlich, »leg die Schlüssel auf den
Küchentisch. Ich hau’ mich jetzt wieder hin.«
Jochen drehte sich um und zog die Tür hinter sich
zu. Bretti hatte ihn verlassen. Einfach so. Wegen einer Frau.
Jochen fühlte sich allein wie lange nicht mehr. Sie hätten ihm
alles nehmen dürfen. Aber nicht seinen einzigen Freund.

Dorothea war schon seit Ewigkeiten im Bad zugange.
Heute Abend nach der Arbeit würde sie gemeinsam mit Holtkötter aus
dem Sender kommen. Da blieb keine Zeit mehr für
Restaurierungsarbeiten.
Martin überlegte, wann Dorothea das letzte Mal so viel Zeit
investiert hatte, um sich für ihn aufzuhübschen. Eigentlich noch
nie, stellte er fest. Vielleicht würde sie ihm ja anlässlich ihrer
Hochzeit diese Ehre erweisen. Die Tür öffnete sich wie ein
Windhauch, und Dorothea kam lautlos aus dem Bad geschwebt. Sie trug
einen limettenfarbenen Bademantel, der ihr unverschämt gut stand.
Martin fragte sich immer,ob es Absicht war, dass sie den Knoten des
Gürtels so locker schloss, dass seine Augen nicht wussten, ob sie
zuerst auf ihre bezaubernden Brüste starren sollten oder auf ihre
Schenkel, die fast bis ganz oben zu sehen waren. Martin betrachtete
sie und hörte sich sprechen: »Sag mal, läuft da was mit
Holtkötter?« So lange, wie sie sich gerade aufgehübscht hatte.
Dorothea warf ihm einen amüsierten Blick zu und sagte: »Du spinnst
wohl. Mit dem habe ich höchstens Brainfuck. Er will immer, und ich
mache ihm Hoffnung, er könnte irgendwann vielleicht mal.«
»Da waren nur noch Taschequer-Luschen,
Dreiviertelcargohosen-Träger und Zauderer, die erstmal lange
Bewältigungsgespräche führen wollten, während die Frauen einfach
nur Sex im Kopf hatten.«
Sehr feministisch war das nicht. Aber dafür hatte
sie ja auch ihn. Martin wehrte sich erfolglos gegen das Gefühl,
unter einem Rollenkonflikt zu leiden. Wie sollte er denn jetzt
sein, der Mann? Krieger, pfeifende Bauarbeiter, agile
Staubsaugervertreter, Rüpel, Rocker - alle ausgestorben.
Stattdessen waren da nur noch Taschequer-Luschen,
Dreiviertelcargohosen-Träger und Zauderer, die erst mal lange
Bewältigungsgespräche führen wollten, während die Frauen einfach
nur Sex im Kopf hatten.
»Denk an den Wein«, sagte Dorothea in ihrem
wundervollen Generalston. »Holtkötter trinkt nur Bordeaux, alles
andere hält er für Katzenpisse.« Martin kannte Holtkötter gar nicht
richtig, aber er war jetzt schon bereit, ihn abgrundtief zu hassen.
»Bordeaux, Bordeaux, Bordeaux«, wiederholte Dorothea, als habe er
nicht alle Latten im Zaun, »Harry wird wieder versuchen, dir
irgendetwas anderes anzudrehen. Aber du wirst standhaft bleiben,
dieses eine Mal jedenfalls, okay?«
Martin liebte ihr »Okay?« Erst behandelte sie
einen wie den letzten Dreck, aber dann kam, ganz am Ende, dieses
»Okay«: versöhnlich, kameradschaftlich, aufmunternd, geradezu
verschwörerisch.
»Bordeaux, Bordeaux, Bordeaux«, wiederholte
Martin. Dorothea nickte. Sie schnürte ihren Bademantel fester zu,
was die Aussichten deutlich reduzierte. Das war eine klare
Provokation. Und sie wusste es.
Martin hätte ihr jetzt gern ein paar rustikale
Kommandos gegeben. Und sie hätte vielleicht sogar gehorcht. In
sexuellen Angelegenheiten waren ihre Machtverhältnisse immer
komplett umgekehrt gewesen. Dorothea hatte es früher genossen, grob
behandelt zu werden. Und Martin hatte immer große Freude daran
gehabt, mit jener Angst und jener Hoffnung zu spielen, die Dorothea
praktisch unablässig durchbebt hatte. Einerseits hatte sie seine
Befehle gefürchtet, andererseits durch kalkulierte Unartigkeiten
immer wieder eine Bestrafung provoziert. Bisweilen hatte ihn das
Spiel genervt, jetzt wäre er froh, wenn er es öfter spielen dürfte.
Es hatte ihr Leben unter Spannung gehalten.

Im Rasierspiegel sahen die Poren aus wie Krater,
in denen all seine Hoffnungen verschwanden. Lars dimmte das
Badezimmerlicht und musterte sein Gesicht von allen Seiten. Eine
gute Stunde Schlaf pro Nacht war nicht gerade das, was einen
Menschen schöner machte.
Lars hatte die Spiegel so angeordnet, dass er jeden
Millimeter seines Körpers kontrollieren konnte. Er verachtete
Männer, die sich gehen ließen. Als Single konnte er sich keine
Bindegewebsschwäche leisten. Da draußen herrschte Krieg zwischen
den Geschlechtern, eine einzige Kampfzone, das hatte doch dieser
verklemmte Franzose geschrieben. Nur die Attraktivsten spielten
mit, und er wollte dazugehören.
Jeden Morgen kontrollierte er zuerst sein Kinn.
Das Kinn war der wunde Punkt des Mannes. Man konnte trainieren, wie
man wollte - wenn man am Kinn ein genetisches Gewebeproblem geerbt
hatte, hatte man spätestens mit vierzig ein Doppelkinn und sah mit
fünfzig aus wie ein Leguan. Auf die üblichen Liegestütze zur
Straffung der Brustmuskulatur verzichtete er heute, mit Rücksicht
auf seinen Kreislauf. Lars zitterte.
Im Gym musste er dringend wieder auf den Stepper,
auch wenn das ein eher schwules Gerät war. Aber er hatte den
Eindruck, sein Po baumelte ein wenig schlaff herum. Der Hintern ist
das Kinn der Rückseite, dachte Lars. Geht gar nicht. Bei alten
Frauen, also denen in seinem Alter, kam man auch als Leguan mit
Hängearsch durch. Aber darauf wollte er sich erst gar nicht
einlassen. Das wäre die größte Niederlage, wenn er sich plötzlich
mit so einer Schabracke begnügen müsste. Der Maßstab war die
Praktikantin, jetzt und für immer.
»Als Single konnte er sich keine
Bindegewebsschwäche leisten.«
Lars inspizierte seinen Hinterkopf Millimeter für
Millimeter unter einem speziell ausgerichteten Halogenstrahler.
Kreisrunder Haarausfall wäre der Tod. Er nahm jeden Morgen
Alpecin Liquid und Seborin Hair Tonic, manchmal beide
Mittel zugleich und in doppelter Dosis. Man konnte sich nicht
sorgfältig genug pflegen. Er hatte die komplette Produktpalette von
Biotherm im Regal, für gereizte und empfindliche Haut, gegen
vorzeitiges Altern und Pflege für den ganzen Tag.
Sein Kopf brannte immer noch. Lars fühlte sich
immer noch nicht fit, aber mit Kosmetika für zwanzig Euro auf der
Haut zumindest wertvoll.

Attila stöhnte. Das Grummeln hatte sich in seinem
Magen ausgedehnt und zu mehreren verheerenden Eruptionen geführt.
Zum ersten Mal seit Langem war er verdammt froh, nicht im Büro zu
sein. Er hatte Jaspers zurückgerufen, der erst um halb acht auf
seine Mailbox gesprochen hatte, und ihm eingeschärft, jedes Wort zu
protokollieren, dass die Bindinger fallen ließ, insbesondere
Gehässigkeiten über Attila.
Beim Sprint zum Klo hatte er den Blackberry
abgeschaltet, was er sonst niemals tat. Aber wie schnell passierte
es, dass man eine Handy-Verbindung versehentlich aufrechterhielt.
Attila wollte sicher gehen, dass es keine Zeugen gab, wenn sich
Magen und Darm ein weiteres Mal geräuschvoll umstülpten.

Keine Schwäche zeigen, schon gar nicht nach einer
durchzechten Nacht. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps. Das
war wahrscheinlich der Erste von unendlich vielen Sinnsprüchen, die
Maik von seinem Vater gelernt hatte. Die Botschaft war klar: Wer
bis in die Puppen saufen kann, der kann auch am nächsten Morgen als
Erster im Büro sein. War nicht gerade ostig, diese Haltung, aber
Maiks Vater war auch eher Preuße gewesen als DDR-Bürger.
Auf dem Weg zum Gartencenter überlegte Maik, was
er in den letzten zwölf Stunden alles erlebt hatte: Lehmanns
Attacke, um ihn in den Betriebsrat zu quatschen, ein paar Gläser
Goldkrone als Digestif, dann der Thai-Schuppen, der Typ an
der Tanke, die Waltons zu Hause, eine überraschend geile Ulrike und
praktisch kein Schlaf.
Natürlich hätte Maik zu Hause bleiben können. Als
Chef-Kreativer hatte er alle Freiheiten. Aber er hatte immer noch
Probleme damit, diese Freiräume auch zu nutzen. Er fühlte sich
faul, illoyal, arrogant, wenn er zu Hause arbeitete.
»Du spinnst«, sagte Ulrike immer, wenn er über
seine Pflichtgefühle redete. Das war die falsche Antwort. Zuerst
einmal waren seine Empfindungen nicht falsch oder schlecht, sondern
tendenziell edel. Er wollte sich seinem Arbeitgeber gegenüber als
fleißiger Angestellter erweisen und zugleich nicht aus der Schar
der Mitarbeiter ragen. Maik hätte mehr Verständnis erwartet für
seine Haltung. Aber Ulrike versuchte nie, die Welt durch seine
Augen zu betrachten. Sie dachte nur an sich und die Kinder. Und ein
Papa, der viel zu Hause war, der war gut für die Familie. Außerdem
hob ein Mann, der zu Hause arbeitete, das Sozialprestige in
Reihenhausen. Die ganzen Hektiker in der Nachbarschaft, die sich
wahrscheinlich schon überlegten, wie sie sich den Blackberry
in den Unterarm implantieren
könnten, verkrümelten sich morgens vor acht und liefen abends erst
nach zehn wieder zu Hause ein.
In Wirklichkeit war diese Siedlung keine
Familiengegend, sondern ein Endlager für Hunderte praktisch
alleinerziehender Frauen, die gelegentlich Besuch von einem Mann
bekamen, der ihnen jeden Tag fremder wurde. Über die Jahre wurden
sie fett und grau, während der Gatte sich fröhlich von Praktikantin
zu Praktikantin bumste.
Maik hatte sich lange gesträubt, in eine dieser
austauschbaren, unfassbar praktischen Neubauschachteln zu ziehen,
die vor allem eines waren: eine Vorstufe des Sarges. Begriffe wie
»Reihenendhaus« klangen in Maiks Ohren nicht nach Qualitätsmerkmal,
sondern machten ihm einfach nur Angst.
Aber Ulrike hatte sich nach Jahren ausdauernder
Quengelei durchgesetzt. Sie wollte Übersicht im Leben. Bullerbü
wäre der ideale Wohnort für sie gewesen, allerdings nicht der
Mittelhof, sondern einer der beiden Reihenendhöfe, am besten der im
Süden, weil dort mehr Licht ins Kinderzimmer schien und der Garten
größer war. Jahrelang hatte Maik gehofft, Ulrike würde eines Tages
einsehen, dass nicht die äußeren Umstände ein Leben spannend
machten, sondern die Haltung.
Aber Ulrike wollte gar keine andere Haltung,
sondern einfach nur Beständigkeit. Sie ging am liebsten jeden Tag
in die gleichen Geschäfte, absolvierte die gleichen Dialoge mit
ihrer Mutter, die sie als »meine beste Freundin« bezeichnete, und
legte jeden Morgen einen aufs Gramm genau gleich schweren Haufen in
die Schüssel. Seit sie sich kennengelernt hatten, fuhren sie jeden
Sommer in die gleiche Pension auf Wangerooge, eben dorthin, wo sie
mit ihren Eltern bereits die Ferien verbracht hatte. Wenn der Hund
des Vermieters starb, schickte Ulrike eine Trauerkarte.
Maik war nichts egaler als irgendeine schnappende
Kackmaschine. Aber er hatte auch eingesehen, dass es völlig sinnlos
war, Grundsatzdebatten über derlei Kinkerlitzchen anzuzetteln. Denn
das Finale verlief immer identisch. »Du bist so herzlos«,
schluchzte Ulrike früher oder später. Und Maik fühlte sich mies,
ohne genau zu wissen warum. Eigentlich fühlte er sich ganz gern
mies - schließlich war er Ossi. Tränen sind die hinterlistigste
Masche überhaupt. Sie beenden jede halbwegs vernünftige Diskussion
mit einem moralischen Sieg für die Frau. Denn wer weint, hat
automatisch recht. Also heulten Frauen immer dann los, wenn sie
merkten, dass sie unterliegen könnten.
»Tränen sind die hinterlistigste Masche
überhaupt. Sie beenden jede halbwegs vernünftige Diskussion mit
einem moralischen Sieg für die Frau.«
Ulrike weinte oft, um sich durchzusetzen. Und wenn
Maik einmal wagte, ihr trotzdem nicht recht zu geben, so gab es ja
noch Mutti und Vati: Und die lebten praktischerweise seit zwei
Jahren ganz in der Nähe. Nach jahrelangen juristischen Scharmützeln
hatten ihre Eltern eine Familienimmobilie vom bösen Osten
zurückerobert und waren tatsächlich von Wuppertal in die Nähe der
Hauptstadt gezogen. Er schätzte angeblich das preußische Potsdam,
sie tat so als liebte sie die Berliner Kultur, und beide fühlten
sich, umringt von Ossis, herrenmenschlich wie die Buren in
Südafrika. Ihren Besitz würden sie notfalls mit Waffengewalt gegen
die Wilden verteidigen. Seither musste er seine Frau nicht nur mit
zwei Kindern, sondern, viel schlimmer, auch
noch mit zwei chronisch übellaunigen Senioren teilen, die schon
dadurch zur Last fielen, weil sie pausenlos betonten, dass sie
nicht zur Last fallen wollten.
Auch deswegen fuhr Maik gern ins Büro. Denn
spätestens um halb zehn begann Schwiegermutter Leni damit, zur Last
zu fallen. Früher überlegte sie sich wenigstens noch einen Vorwand
- Brötchen vorbeibringen, Gardinen abnehmen und waschen,
Bob-der-Baumeister-Poster im Kinderzimmer aufhängen -, doch
inzwischen stand sie einfach so vor der Tür, unangekündigt, jeden
Tag.
Von Maik hielten Ulrikes Eltern gar nichts:
Erstens war er Ossi. Zweitens hatte er in der DDR nicht studieren
dürfen, weil seine Familie seit jeher Ärger mit dem System hatte.
Für Ulrikes Eltern war das Studienverbot kein Beweis von
menschlicher Integrität und Aufrichtigkeit, sondern eher Indiz
dafür, dass mit diesem Burschen und seiner Familie irgendetwas
nicht in Ordnung sein konnte. Klar, wenn die Stasi schon ihre
Bedenken hatte; dann wirdja wohl was dran gewesen sein. Wo Rauch
ist, fällt man nicht weit vom Stamm. Drittens hatte Maik nach dem
Mauerfall keine neue Ausbildung mehr begonnen, geschweige denn ein
Architektur-Studium, wie er es sich immer erträumt hatte, sondern
er hatte sich durch verschiedene Gartenbaufirmen hochgerackert. Wer
etwas von Grünzeug verstand, merkte sehr schnell, dass Maik ein
geradezu magisches Verständnis für Pflanzen hatte, für jede
einzelne und die Komposition von vielen, auch bei größeren
Ensembles wie Gärten und Terrassen. Unlängst erst hatte er für
einen Adeligen in Brandenburg einen ganzen Schlosspark gestaltet.
»Lenné hätte vor Glück gejuchzt«, hatte der Freiherr hinterher
gesagt. Maik war glücklich. Es tat ihm gut, Beständiges zu
schaffen.
Dass er nach der Pleite mit seinem eigenen kleinen
Betrieb ausgerechnet in einem Gartencenter gelandet war, hatte er
anfangs als Katastrophe empfunden. Aber inzwischen hatte sich der
Job als Glücksfall entpuppt. Denn mit dem Verkauf von
Stiefmütterchen und Säcken voller Blumenerde war kein großes
Geschäft mehr zu machen.
Allerdings wussten immer weniger Kunden, wie sie
denn Pflanzen, Erde, Dünger und Pötte halbwegs sinnvoll zu
kombinieren hatten. Hier half Maik. Für einen fürstlichen
Stundenlohn beriet er vermögende Rentnerinnen, gestresste Anwälte,
gelangweilte Zahnarztgattinnen und betont lässige Medien-Fuzzis,
die zwar mit einem blütenprächtigen Garten protzen wollten oder mit
ihrer zen-artigen Dachterrasse, aber nicht die geringste Ahnung
hatten, wie solche floralen Kleinode anzulegen und am Sprießen zu
halten waren.
Heute Vormittag erst war er wieder von einer
Fernsehmoderatorin gebucht. Er hatte ihren Namen noch nie gehört,
aber das durfte er natürlich nicht sagen, wenn er sie begrüßte.
Vielmehr hatte es sich bewährt, jeden noch so Semi-Prominenten um
eine Autogrammkarte anzugehen. Damit war der nächste Job schon so
gut wie ausgemacht. Du denkst schon wie ein Wessi, ermahnte sich
Maik. Und das war kein Kompliment. Die Krone der Schöpfung war ja
wohl der Ost-Mann.
10 UHR

Jochen versuchte wieder einzuschlafen. Klappte
nicht.
Jochen versuchte noch mal zu onanieren. Klappte
nicht. Jochen versuchte seine Gedanken zu ordnen. Klappte nicht.
Wie ein Steilwandfahrer sauste ein einziges Wort pausenlos an der
Innenwand seines Schädels entlang: Warum? Warum, Bretti? Warum
dieses Weibsstück? Was sollte der Scheiß, du blöde, alte, dumme
Sau?
Acht Jahre hatten sie zusammengewohnt, sie hatten
alles geteilt, sogar die Frau, theoretisch jedenfalls, wenn es eine
gegeben hätte - das hatten sie mal morgens um drei nach sehr viel
Bier beschlossen. Sie waren füreinander gemacht, wie Tom und Jerry,
Starsky and Hutch, Fischer und Abramczik. Bis auf die Geburt und
das erste Mal Sex hatten sie praktisch alle wichtigen Momente ihrer
Leben geteilt. In den Jahren des ersten Dotcom-Hypes hatten sie
zusammen eine Firma gegründet, die so was Ähnliches wollte wie
Google. Mit ein paar Tausendern mehr hätten sie es vielleicht
geschafft, dann hieße Google jetzt nicht »Google«, sondern
»JoBrett«. Bretti war ganz kurz davor gewesen, den entscheidenden
Logarhythmus zu programmieren.
Leider waren ihre Rechner zu langsam gewesen. Der
Typ, der sie an die Börse bringen wollte, erwies sich zudem als
Gangster. Bis zum vergangenen Jahr hatten sie die Schulden aus der
Insolvenz abgestottert, heldenhaft gemeinsam. War das jetzt alles
nichts mehr wert, nur weil Bretti einen Weg sah, seinen Samenstau
aufzulösen? Für einen gottverdammten System-Administrator hatte
Bretti eindeutig zu viele Hormone.
Jochen überlegte: Er könnte versuchen, Bretti
umzudrehen. Mit einem Kasten Veltins und einer Flasche
Goldkrone hätte er ihn so weit. Bretti würde ihm morgens um
drei schluchzend um den Hals fallen, laut greinen »wie konnte ich
nur, Alter …« und Julia bei nächster Gelegenheit in ihren
mittelguten Hintern treten.
Was aber, wenn Julia konterte? Wenn sie beim
nächsten »Meat and Greet« noch hemmungsloser schreien würde, und
zwar Dinge, die nicht mal Jochen seinem alten Kumpel Bretti bieten
konnte, zum Beispiel in Phase III, nach Luft ringend, winselnd,
kieksend, flehend, betend: »Ooooh, ja, du machst das so gut, so
hart, du bist der geilste Liebhaber
der Welt! Bitte, geh nie wieder raus!« Dagegen hätte selbst er mit
einem Fass Goldkrone keine Chance. Julia, die alte Schlange,
würde diesen Trumpf knallhart ausspielen.
Die Wahrheit krachte wie eine Keule zwischen
Jochens Augen: Er hatte verloren. Er war raus aus dem Spiel. Bretti
war Geschichte. Aus. Vorbei. Entscheidend war jetzt nur noch, wie
er mit der Niederlage umgehen würde. Er könnte jetzt tage-,
wochen-, monatelang jammern und sich zum Vollidioten machen. Aber
mit welchem Ergebnis? Im schlimmsten Fall litt sein wichtigstes
Projekt - Beyond Cool. Außerdem würde Bretti seinen Teil an
der Kaution abdrücken müssen. Und damit konnte Jochen die zwei
Monate Mietrückstand begleichen, fast jedenfalls. Jochen schluckte
einen großen Kloß Trauer herunter, erhob sich so elegant wie
möglich von seiner Matratze und aktivierte seinen Rechner.
Er überlegte, welcher Kleinanzeigentext
einigermaßen entspannt klänge. Klar, die Schlüsselworte lauteten:
Radio-Moderator, frauenfrei, unschwul, bezahlbar, gute Lage, keine
behämmerten WG-Rituale, überhaupt keine erzkonservative altlinke
Dogmen-Scheiße, eher ultra-liberal. Wenn er ehrlich war, hatte
Jochen nichts dagegen, auch in Zukunft zumindest Ohrenzeuge eines
sexuell überdurchschnittlich aktiven Mitbewohners zu werden.
Nach vielen Korrekturen, mit denen er vor allem
jedes Anzeichen von Verbitterung bekämpft hatte, war Jochen so
weit: »Radio-Moderator bietet ab sofort großes helles, renoviertes
Zimmer im Bestwesten. Putzfrau statt WG-Irrsinn. Nur unkomplizierte
Bewerber.«
Jochen fragte sich selbstkritisch, wie er als
Zimmersuchender auf eine solche Anzeige reagieren würde. Er
beschloss, dass der Ton eine Spur arrogant, aber in Ordnung war. Es
war ein erwachsener Sound.
Blieben zwei Probleme: Er brauchte erstens eine
Putzfrau. Und musste zweitens Brettis Zimmer so schnell wie möglich
renovieren; Minimum waren Plane, Klebeband, Rolle, Pinsel und zwei
Eimer Alpina. Baumärkte waren fast so sehr Frauenhaus für
Männer wie Tankstellen. Wie sollte er all diese Aufgaben lösen? Und
dann musste er auch noch drei Stunden in seinem neuen Job
schrubben, mindestens. Endlich schlief Jochen ein.

Das schlechte Gewissen quälte Attila. Seit Jahren
hatte er keinen Morgen mehr im Bett verbracht, schon gar nicht
krank. »Der frühe Vogel fängt den Wurm« - wenn ein Sprichwort
stimmte, dann dieses. Aufstehen können, das war der Nachweis von
Disziplin, Verantwortung und Ernsthaftigkeit. Nur heute eben
nicht.
Immerhin schien alles ruhig zu sein in der Firma,
meldete der Blackberry. Attila hatte einige Mails geschickt,
um gerade heute zu prüfen, wer ab wann am Platz war und wie lange
der für eine Antwort brauchte. Die Bande sollte nicht glauben, dass
die Mäuse heute auf dem Tisch tanzen durften, nur weil die Katze
mal nicht da war.
Camille war bereits gegangen. Sie setzte sich
morgens gern ins Café an dem kleinen Platz um die Ecke und rauchte.
Er hasste den Zigarettenqualm in der Wohnung. Camille hatte sich
herausgeputzt wie jeden Morgen: High Heels, um ihre langen strammen
Beine noch ein wenig besser zu betonen, die weiße Bluse, die so
artig aussah und doch verrucht dekolletiert war. Die vollen roten
Lippen. Attila war stolz auf seine Frau - sie war seine, ganz
allein seine; er hatte viel Geld und Zeit in diese Frau
investiert.
Und es war eine gute Geldanlage gewesen. Eine
Frau, die
im Elend der Tundra aufgewachsen war, die hatte vor lauter
Überlebenskampf überhaupt keine Zeit für Emanzipation. Camille war
völlig unverdorben von jeglichen Geschlechterdebatten. Diese
Gender-Idioten, die jetzt überall die Gesetze machten, wollten den
Unterschied zwischen Mann und Frau einfach wegregeln. Andersherum
wurde eine Lösung daraus: Man musste den Unterschied betonen und
wertschätzen. Kinderkriegen war eine verdienstvolle
volkswirtschaftliche Leistung; man musste einen Lehrberuf daraus
machen. Jede Mutter brauchte Ausbildung, Bezahlung, Rentenanspruch
für eine Art von öffentlichem Dienst. Schlagartig würde der Status
der Gebärenden steigen, die Mutter wäre leitende Angestellte des
Gemeinwesens. Attila dachte nach: Hatte es nicht schon einmal
ähnliche Ideen gegeben? Egal, man konnte es ja anders formulieren.
Gleichheit war jedenfalls nicht die Lösung, wenn sogar das Gebären
schon wegorganisiert wurde. Die moderne Frau arbeitete bis zum
achten Monat, hatte dann vier Wochen lang ein schlechtes Gewissen,
weil sie unproduktiv herumlag, entband vor lauter Perfektionspanik
zu früh, war aber nach vierzehn Tagen wieder im Büro. Kein Wunder,
dass die Kinder allesamt einen Schaden davontrugen. Wenn man mal
ökonomisch an die Sache heranging, stellte sich sofort heraus, dass
es Irrsinn war, die Aufgabentrennung von Mann und Frau aufzuheben.
Überall schritt die Spezialisierung fort, nur bei der Produktion
von neuen Steuer- und Rentenzahlern sollten plötzlich alle alles
können: Karriere machen, Geld verdienen, wickeln, vorsorgen,
Früh-Mandarin, Autorität und Pekip.
»Diese Gender-Idioten, die jetzt überall die
Gesetze machten, wollten den Unterschied zwischen Mann und Frau
einfach wegregeln. Andersherum wurde eine Lösung daraus: Man musste
den Unterschied betonen und wertschätzen.«
Wurde die Qualität der Aufzucht besser? Die
Zufriedenheit aller Beteiligten höher? Weder noch. Was wuchs, war
der Stress.
Camille war da ganz anders. Arbeit bedeutete ihr
nichts. Karriere schon gar nicht. Sie hatte doch ihn. Sie würde
eine gute Mutter sein, eine perfekte Gattin, eine Bereicherung. Sie
würde einer modernen arbeitsteiligen Familien-Organisation nicht im
Wege stehen.
Attila fühlte sich ausgedörrt wie eine
Backpflaume. Die doppelte Dosis Abführmittel war wohl doch etwas
reichlich gewesen. Seine Magenschleimhaut blutete offenbar an
mehreren Stellen, der Darmausgang brannte wie nach einem
Habanero-Dinner. Mit letzter Beherrschung hatte er vermeiden
können, sich in die Badewanne zu übergeben. Klarer Nachteil eines
großen Badezimmers, hatte Attila gedacht: Die Behältnisse sind
nicht in Kotzweite angebracht, wenn man auf der Schüssel
hockt.
Außerdem fehlte neben dem Klo eine Ablagefläche
für den Blackberry. Ihn nervte schon, dass er Camilles
Frauenzeitschriften, die er sich gern als Lektüre mitnahm, immer
auf den Kachelboden legen musste.
Weil er natürlich im Stehen pinkelte, waren die
Fliesen rund ums Klo mit einem Mikrofilm von Urintropfen
gesprenkelt. Lustige Vorstellung: Das Papier einer
Frauenzeitschrift saugte eine Menge Männerpisse auf. Roch eine
Frau, die ja nachweislich über eine feinere Nase verfügte,
einen Hauch ungezähmten Mann, wenn sie mit derselben Zeitschrift
wenig später auf dem Wohnzimmersofa lag? Wurde sie womöglich
unterbewusst erregt, auf eine archaische Art und Weise? Weil sie
Reviermarkierung roch? War sie dadurch paarungs- oder besser noch
kaufbereiter? Sollte man in Frauen-Boutiquen statt Parfüm-Düsen
künftig Männerurin-Zerstäuber installieren, in verschiedenen
Nuancen, um die weibliche Kundschaft zu mehr Leichtsinn beim
Shopping zu bewegen? Attila würde die Idee weiterverfolgen;
vielleicht hatte er soeben die Welt des Einkaufs
revolutioniert.
Sein Magen rebellierte schon wieder.Attila stürzte
aus dem Bett ins Bad. Er hatte das Gefühl, schon auf dem Weg
auszulaufen. Mit Impotenz könnte er leben; aber Inkontinenz war
wirklich keine schöne Sache. Zum ersten Mal freute er sich, der
immensen Investition für ein Bidet zugestimmt zu haben, als sie
seinerzeit diese Wohnung planten.
Attila fröstelte, versuchte aber mit einer
neuartigen Gedankentechnik sich von seinem ausgezehrten Körper zu
lösen: Nicht das Naheliegendste denken,sonderndas Vertrauteste.
Attila stellte sich ein PowerPoint-Chart vor: Sechs Punkte, warum
es besser war, nicht ins Büro zu gehen. Erstens würde er in diesem
Zustand sein sorgsam aufgebautes Image ruinieren. Zweitens konnte
er im Büro kaum alle paar Minuten aufs Klo stürmen. Drittens: Was
war im Ernstfall, wenn er es tatsächlich nicht rechtzeitig
schaffte? Selbst der dunkelste Anzug würde die Flecken kaum
schlucken. Viertens bewies es Größe, seine Leute auch mal ohne
ständige Kontrolle laufen zu lassen. Fünftens zeigte er
Souveränität, weil er loslassen konnte. Sechstens war es schlauer,
entspannt zum Check zu gehen und nicht gehetzt.
Ein Ruhetag würde die Ergebnisse allemal positiv
beeinflussen und damit auch sein weiteres Leben. Es war also
ökonomisch richtig, heute daheimzubleiben. Diese Zwangspause
hatten die Gründungspartner schon aus guten Gründen
eingerichtet.
Attila fühlte sich trotzdem so unwert wie lange
nicht mehr. Dieser Check heute Abend war völlig überflüssig.
Vielleicht sollte er kurzfristig absagen oder, besser noch, einen
Unfall fingieren. Zumal er überhaupt keine Lust hatte, Camilles
Wunsch nachzukommen. Seine Frau hatte ihn gebeten, bei Professor
Schneider doch mal ganz allgemein und unauffällig nach möglichen
Gründen für die ausbleibende Schwangerschaft zu fragen.
Was sollte dabei schon rauskommen? War doch klar:
Camille trug einen körperlichen Defekt in sich, den er bei
Eheschließung leider nicht hatte vorhersehen können. Bei seiner
nächsten Heirat würde Attila sich eine Frau nehmen, die bereits ein
Kind zur Welt gebracht hatte, das man sich schon mal sehr genau
würde anschauen können. Ein Auto kaufte man ja auch nicht ohne
Probefahrt.
War ja nicht seine Schuld, wenn ausgerechnet diese
Frau nicht schwanger wurde. Attila hielt es für einen weiteren
Mythos der Feministinnen, dass Fruchtbarkeitsprobleme vor allem bei
Männern zu suchen seien. Das war wieder so ein Psycho-Terror, mit
dem die Kampflesben den Mann an sich zu entwerten gedachten. Sie
wollten ihn zwingen, in eine Plastikröhre zu onanieren. Wie
demütigend.
Attila war kein großer Masturbierer. Er hatte die
Selbstbefriedigung nahezu eingestellt, seit seine Phantasien ihm
immer unkontrollierbarer erschienen. Früher hatte es ihm vollauf
genügt, sich den getragenen Slip einer Frau übers Gesicht zu
ziehen. Er brauchte keine zwei Minuten, dann war er vollends
erleichtert. Camilles Slips verfehlten diese Wirkung zunehmend.
Offenbar gab es gerade bei Ehefrauen einen Gewöhnungseffekt,
außerdem roch Camille
kaum, eigentlich fast gar nicht, was man bei einer Osteuropäerin
ja auch nicht gleich erwarten würde. Aber da hatte er sich auf kein
Risiko eingelassen.
Seit Attila vor ein paar Monaten, ausgerechnet auf
Arte, eine Reportage über einen Klub in Manhattan gesehen
hatte, ließ ihn eine neue Phantasie nicht mehr los. Die Damen
dieses Etablissements hatten sich darauf spezialisiert, Banker,
Analysten, Berater von der Wall Street gern auch gewalttätig zu
betreuen, also seine Kollegen.
Attila war nicht klar gewesen, dass sexuelle
Obsessionen in seiner Branche derart verbreitet waren. Voller Ekel
und Faszination hatte er diesen grauhaarigen Herrn beobachtet, der
eine Schweinsmaske über dem Kopf trug, einen sehr knappen Tanga und
im Anus einen Staubwedel. In diesem Aufzug wollte der Mann an einer
Hundeleine über die Wall Street geführt werden, an einem
regnerischen Novembertag, auf allen vieren. Die Dame musste hohe
Hacken tragen und einen schwarzen Mantel, darunter natürlich so gut
wie nichts. Polizei, Gaffer, Medien sorgten dafür, dass die Nummer
nie länger als ein paar Minuten dauerte. Aber diese Momente
genügten, um den Herrn auf Wochen nachhaltig zu befriedigen.
Attila verfluchte sich für seine unkontrollierte
Phantasie. Aber die Vorstellung, nackt und an einer Hundeleine
durchs Brandenburger Tor geführt zu werden, machte ihn unendlich
geil. Es war allerdings weniger das gefühlte Gefühl der Demütigung,
als vielmehr das Absolvieren einer exklusiven Mutprobe. Wer sich im
Tanga auf allen vieren durch die Hauptstadt zerren ließ, dem konnte
man vieles vorwerfen, nur eines nicht: Feigheit.
Und das war ja genau das, was der organisierte
Feminismus den Männern streitig machen wollte, von Alice Schwarzer
bis Karen Bindinger. Von den hundert wichtigsten Frauen
Deutschlands arbeitete die Hälfte als Journalistin, Publizistin
oder Moderatorin - also in der Bewusstseinsindustrie. Vereint
wollten sie dem Mann den Mut nehmen, sie wollten ihn demütigen und
zu einem kleinen Würstchen machen, das mit hochrotem Kopf und
brennender Eichel in ein Plastikröhrchen onanierte. Und dann würde
er wie ein Angeklagter vor einer Zeugungsexpertin sitzen, die das
Röhrchen schwenkte, über ihre randlose Brille starrte, genau auf
ihn, und sagte: »Also, an Ihrer Frau liegt es nicht.«
»Der ganze Feminismus-Firlefanz hatte die
Frauen verrückt gemacht, erst recht, wenn sie aus anderen Kulturen
stammten wie Camille.«
Das Gegenteil war doch der Fall: Der ganze
Feminismus-Firlefanz hatte die Frauen verrückt gemacht, erst recht,
wenn sie aus anderen Kulturen stammten wie Camille. Sie waren
entwurzelt, das seit Jahrtausenden gelernte Urvertrauen in den Mann
war durch diese Emanzen-Weiber zerstört worden und mithin
natürlich, wenn auch unbewusst, die Empfängnisbereitschaft. Alice
Schwarzer verhinderte Camilles Schwangerschaft, nicht er. Die
Frauen waren viel öfter an ihren Problemen schuld als sie
dachten.

Es gehörte zu den Selbstverständlichkeiten einer
modernen Familie, dass Martin sich morgens um die Kinder kümmerte:
Anziehen, Frühstücken, Otto in die Kita fahren, Norbert in seiner
Entwicklung fördern, die ersten Machtkämpfe des Tages gegen
die kleinen Biester bestehen. Dorothea küsste die Jungs, wünschte
ihnen einen guten Tag, zog sich dann aber mit einer Tasse Kaffee
und den Zeitungen ins Bett zurück. Eine erfolgreiche Journalistin
musste immer informiert sein, auch wenn sie im Fernsehen nur die
Börsenkurse vorlas. Nur mal angenommen, sie wäre ein Mann und
Martin die Frau, dann hätten sie wahrscheinlich sofort das
Jugendamt auf dem Hals: Vater im Bademantel entzieht sich mit
Zeitungen unterm Arm seinen familiären Pflichten. Klarer Fall von
Verwahrlosung. Rabenvater. Pascha. Sorgerecht entziehen.
Beugehaft.
Wenn Dorothea stolz von ihrer morgendlichen
Abseilerei erzählte, klatschten ihre Freundinnen so euphorisch in
die Hände, als hätte die deutsche Nationalelf gerade die öligen
Italiener im WM-Finale zerschossen. Heißa, da hat wieder ein Mann
die Hundeschule erfolgreich absolviert.
Martin war fasziniert von seinen Reflexen: Er
hatte immer ein schlechtes Gewissen, weil er in keinerlei Hinsicht
zu genügen glaubte. Automatisch dachte er das Statement der
zuständigen Ministerin mit: Man sei zwar noch sehr weit von
Geschlechtergerechtigkeit entfernt, aber viele kleine Schritte
mancher Männer machten auch Mut für die Zukunft.
Martin hatte schon dreimal in der Agentur
angerufen, um die Startzeit fürs Brainstorming in Erfahrung zu
bringen. Aber es war nur eine Praktikantin am Desk, die keine
Ahnung hatte.
Otto hatte sich noch nicht wieder beruhigt. Martin
hörte seinen älteren Sohn im Kinderzimmer wimmern. Beim Frühstück
hatte er die naturhoniggesüßten Dinkel-Pops mit dem Löffel über den
Tisch geschossen. Beim ersten Mal hatte Martin an einen Unfall
geglaubt und die Milchspur weggewischt. Beim zweiten Mal hatte er
gemahnt: »Otto,
bitte lass das!« Beim dritten Mal hatte er Otto Schüssel und
Löffel weggenommen. Der Junge hatte zu brüllen begonnen, und Martin
wartete auf den Moment, da Dorothea ihren Kopf in die Küche stecken
und sich für unverzichtbar halten würde. Aber Dorothea kam nicht.
Wahrscheinlich war sie schon wieder eingeschlafen.
Martin war verzweifelt. Sein Sohn war grundlos
aggressiv gegen ihn. Dabei gab er sich alle Mühe, ein guter Vater
zu sein: Drachen bauen, Seifenkisten konstruieren, Kanu fahren,
Chemie-Baukasten, ein Vater-Sohn-Kurs für Sägen, Hämmern, Nageln -
alles hatte er dem Jungen angeboten. Martin hatte alle Ratgeber zur
Jungen-Bespaßung gekauft, die offenbar Väter in ähnlichen
Notsituationen verfasst hatten. In Wirklichkeit holten die Väter
nur ihre eigene ereignislose Kindheit nach unter dem Vorwand, es
machte den Söhnen Spaß.
Es reichte nicht mehr, einfach nur Fußball spielen
zu gehen. Wo denn auch? Die Stadt war viel zu gefährlich. Manchmal
fuhren sie mit dem Auto in den Park, auch wenn Otto sich vor
anderen Kindern oft fürchtete.
Dorothea sagte, dass Otto übermäßig intelligent
sei, aber auch sehr sensibel. Das hatten Tests beim
Kinderpsychologen ergeben. Dorothea war fest davon überzeugt, dass
Otto hochbegabt war. Martin war da nicht so sicher.
Nach seinem dritten Dinkelpop-Attentat hatte er
seinen Sohn ins Kinderzimmer strafversetzt, wo Norbert immer noch
schlummerte. »Sei bitte leise. Wenn du dich entschuldigen möchtest,
kannst du jederzeit in die Küche kommen.« Während Otto wimmerte,
blätterte Martin unruhig durch den Sonderteil
»Senioren-Residenzen«, den Dorothea aus der Zeitung auf den
Küchentisch geschüttelt hatte.
Dieser Tisch solle das Zentrum der Familie sein,
ein Ort von Frieden und Gemeinsamkeit, hatte Dorothea bestimmt,
nachdem sie das tonnenschwere Monstrum in einem Kloster in der
Provence entdeckt und nach Berlin geschafft hatte. Alles musste
immer eine Geschichte und ganz viel Bedeutung haben. Esoterische
Wichtigkeitszumessung war Pflicht in ihrer Generation, der in
Wirklichkeit fast alles scheißegal war.
»Aggro war total abgesagt, außer bei Mädchen.
Bei denen galt es als selbstbewusst, wenn sie einem Jungen mit der
Blechschaufel den Scheitel nachzogen.«
Doch Otto wollte weder Frieden noch Gemeinsamkeit.
Offenbar spürte er, hochbegabt und sensibel wie er war, die
spirituelle Aufladung der antiken Bretter und rebellierte
unterbewusst dagegen, indem er Dinkelpops über das hölzerne
Heiligtum schoss.
Warum war es eigentlich plötzlich so still im
Kinderzimmer? Martin wurde unruhig. Was wäre, wenn Otto sich an
Norbert vergehen würde, so wie er es schon öfter getan hatte. Warum
war dieses Kind nur so unglaublich aggressiv, wenn es sich nicht
gerade ängstigte? Martin hatte kaum noch Lust, mit Otto auf den
Spielplatz zu gehen, wo sich die modernen Großstadteltern
gegenseitig ihre Kinder samt Ausstattung vorführten. Aggro war
total abgesagt, außer bei Mädchen. Bei denen galt es als
selbstbewusst, wenn sie einem Jungen mit der Blechschaufel den
Scheitel nachzogen. Jungs verhielten sich korrekt, wenn sie ihre
Bar-bie kämmten. Deswegen funktionierte auch das Mann-Frau-Spiel
nicht mehr. Man spielte nicht mehr mit- oder gegeneinander,
sondern jeder für sich. Es gab ganz viele Geschlechter- und
Lebensentwürfe, nicht mehr Mann und Frau, sondern nur noch Hybride
wie Tokio Hotel.
Martin ging ins Kinderzimmer. Norbert schlief
immer noch. Aber Otto hatte begonnen, jedem Einzelnen seiner
zahlreichen Playmobil-Männchen ein Bein zu amputieren. Er hatte
eine ziemlich schlaue Bieg-und-Brech-Technik entwickelt, der auch
das härteste Plastik nicht standhielt.
Martin war immer gegen Playmobil-Figuren gewesen,
da sie die Phantasie des Kindes viel zu stark determinierten. Er
hatte in der Kita sogar versucht, einen Playmobil-Bann
durchzusetzen. Etwa ein Drittel der Mütter hatten sich ihm
angeschlossen, leider nur Frauen mit Blumenröcken,
Gesundheitsschuhen oder Zöpfen. In der Kita gab es entweder
Trümmer- oder Karrierefrauen. Beide machten Martin Angst. Vor allem
fürchtete er sich vor dem allmonatlichen Elterngespräch, das ihn an
diesem Vormittag erwartete. Otto hatte in den letzten vier Wochen
alles getan, ihn zu quälen, das stand mal fest.
Martin schwieg verzweifelt, als er das
Playmobil-Massaker sah. Otto hatte soeben Spielzeug im Wert von
geschätzten hundert Euro zerstört. Voller Trauer sah Martin, dass
auch seine Lieblingsfigur unter den Opfern war, ein ägyptischer
Wagenlenker. Otto hatte den Köcher für die Pfeile, den prächtigen
Kopfschmuck und den Flitzebogen zerkaut. Sein Sohn war ein
Monstrum.
Der Junge saß auf dem Boden und sah ihn
erwartungsvoll an. Fürchtete er Strafe? Oder freute er sich, dass
überhaupt eine elterliche Reaktion erfolgte?
Martin ging im Geiste alle Erziehungsberater
durch: Was hätte der Tyrannen-Experte jetzt gemacht? Und wie hätte
Axel Hacke reagiert? Martin hätte seinem Sohn am liebsten
eine gescheuert. Diese schöne und bewährte Erziehungsmethode war
trotz allem Retro-Wahn leider noch nicht wiederentdeckt worden. Zu
schade.
»Warum hast du deinen Männern wehgetan?«, fragte
Martin. Er sagte »Männer«, weil Otto sich gern als Piratenkapitän
oder Ritteranführer sah und Martin an sein
Verantwortungsbewusstsein appellieren wollte.
»Tut gar nicht weh«, entgegnete Otto.
»Jetzt können sie aber nicht mehr stehen«, sagte
Martin.
»Doch, guck!«, antwortete Otto und schob zwei
Legosteine als Stütze unter eine Playmobil-Figur.
»Mir gefällt das gar nicht, dass du die Figuren
kaputt machst«, sagte Martin. Ein Perspektivwechsel, da es auf der
sachlichen Ebene kein Vorankommen gab. Jetzt eher die
Vater-Sohn-Hierarchie-Schiene.
»Ist doch egal«, sagte Otto. Der kleine Sauhund
plapperte irgendeine entlastende Kita-Floskel nach, womit Martins
moralischer Angriff ins Leere lief.
»Du bekommst keine neuen Playmobil-Figuren mehr«,
sagte Martin. Attacke! Unverhohlene Drohung. Macht ausspielen.
Jetzt du, mein Sohn.
»Dann klaue ich eben welche bei Matteo-Tyler oder
Josef.« Martin gab auf. Schweigend verließ er das Zimmer. Beim
Hinausgehen knurschte etwas unter seinem Schuh - er hatte ein
Playmobil-Männchen zu Mus getreten. Unglaublich, wie viel
zerstörerische Kraft ein handgewalkter Filzpantoffel entwickeln
konnte. Otto sah den Schaden und begann zu heulen. Norbert erwachte
und greinte gleich solidarisch mit. Martin konnte ein Gefühl tiefer
Befriedigung nicht unterdrücken. Er drehte den Fuß langsam auf dem
Männchen hin und her, so als ob er eine Kippe austreten würde. Dann
kickte er den Plastikmüll wortlos unters Kinderbett. Otto war
fassungslos.

»Nimm mal die Rufumleitung raus!«, hörte Maik den
Kollegen aus dem Nachbarbüro rufen. Ulrike war am Apparat: »Ich
wollte dir nur einen wunderschönen Tag wünschen! Was machst du
gerade?« »Viel Arbeit«, antwortete Maik knapp. Er hatte soeben
schon den Verlust seines Handys angezeigt und seine SIM-Karte
sperren lassen. Er wollte auf gar keinen Fall noch mal diese
Thai-Bar aufsuchen, um nach dem Gerät zu fahnden. Eigentlich war es
auch ganz angenehm ohne Handy. Er hatte eine uralte Keule von
Mobiltelefon reaktiviert, groß, klobig, aber
funktionstüchtig.
Maik saß am Rechner und skizzierte einen japanisch
anmutenden Steingarten. Seine geraden Linien waren wieder im
Kommen. Die Entwürfe, die so wunderbar komplex aussahen, gingen ihm
blitzschnell von der Hand. Die Kunst bestand darin, die eigene
Arbeit zu inszenieren. Man durfte nie sagen, dass es schnell und
einfach ging, sondern musste stets betonen, wie viele unglaubliche
Hürden zu nehmen waren, wie anstrengend, ja fast unmöglich die
Aufgabe war.
Lehmann war noch nicht aufgetaucht. Maik musste
mit ihm reden, sofort. Denn Lehmann hatte ihn in der Hand. Er
wusste als Einziger, was wirklich passiert war. Maik war die
Thai-Nummer unendlich peinlich. Er hatte noch nie in seinem Leben
für Sex bezahlt. Warum auch? War ja überall umsonst zu haben.
Es gab zwei Sorten von Männern: die Ratten und die
Wölfe. Lehmann war eine Ratte. Klar: Wer sich das Selbstbewusstsein
von einer Organisation leihen muss, ganz egal ob Betriebsrat,
Fußballklub oder Schützenverein, der war völlig anders sozialisiert
als ein Wolf. Ratten hatten gelernt, sich ihrer Organisation
vollständig anzupassen. Dem Aufstieg in dieser Hierarchie ordneten
sie alles andere unter.
Lehmann wollte Maik in den Betriebsrat quatschen,
um seine eigene Position zu verbessern, und nicht, weil er Maik so
nett fand. Durch die Thai-Aktion hatte Lehmann Maik nun in der
Hand, und er wusste das. Maik könnte den einfachen Weg gehen und
einfach mitmachen im Betriebsrat. Dort waren die üblichen
Funktionärsmurkel zugange. Er wäre der Exot, dem sie womöglich mal
zuhören würden. Aber es würde Zeit kosten und eine Menge Nerven.
Maik glaubte nicht an Betriebsräte. Er glaubte an Wölfe, starke,
autonome Wesen, die ihr eigenes Revier verteidigten und sich mit
anderen starken Wölfen arrangierten. Miteinander war das Ergebnis
von Gegeneinander plus Respekt, ganz gleich, ob zwischen Mann und
Frau oder Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
»Er glaubte an Wölfe, starke, autonome Wesen,
die ihr eigenes Revier verteidigten und sich mit anderen starken
Wölfen arrangierten. Miteinander war das Ergebnis von Gegeneinander
plus Respekt, ganz gleich, ob zwischen Mann und Frau oder
Arbeitgeber und Arbeitnehmer.«
Lehmann hatte hinter seinem Schreibtisch einen
vergilbten Zeitungsausriss gepinnt, Text: »Die Ehe fordert eine
Gewährung in ehelicher Opferbereitschaft und verbietet es,
Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen.« So begründete der
Bundesgerichtshof im Jahre 1957 die eheliche Pflicht zum
Sex. Ein Mann hatte gegen seine offenbar lustlose Frau
geklagt.
Maik wusste bis heute nicht, was Lehmann mit dem
Zettel sagen wollte: Dass Frauen frigide sind? Dass Männer Rechte
haben? Aber wer will schon eingeklagten Sex? Dann lieber gar
keinen. Oder überraschenden. So wie heute Morgen mit Ulrike. Da
hatte sie mal keine Gleichgültigkeit zur Schau getragen, wie sonst
fast durchgängig in den letzten Jahren. Vielleicht sollte er sich
ab sofort jede Nacht überfallen lassen.
Ulrikes krankhafte Eifersucht stand in einem
erbärmlichen Kontrast zu ihrem sexuellen Desinteresse. Kein Vorwand
war ihr blöd genug gewesen. Vom Knöchelschmerz bis zum Tinnitus,
von allgemeiner Traurigkeit bis zum Hüftknarzen reichte die Palette
der schlechten Ausreden. Bisweilen hatte Maik das Gefühl, mit einem
Eishockey-Profi im Bett zu liegen, der nach dreiundzwanzig
Dienstjahren keinen heilen Knochen mehr im Leib trug. Aber es war
seine Frau Ulrike.
Dass sie ausgerechnet heute Morgen weit
überdurchschnittlichen Bedarf gezeigt hatte, musste mit dem
Überfall zu tun haben, der keiner war. Die Angst um ihn war
ausnahmsweise mal stärker gewesen als die Gewichtsprobleme, die sie
bei allem lähmten, was mit Leben zu tun hatte. Vielleicht hatte sie
sich heute Nacht vorgestellt, wie das Leben ohne ihn sein würde.
Und war zu keinem besseren Ergebnis als dem Status quo
gekommen.
Kaum anzunehmen, dass sie nun wieder regelmäßiger
bereitläge. Maik gab sich keinen Illusionen hin. Er hatte sich mit
der heimischen Sexlosigkeit arrangiert, die ja offenbar ziemlich
verbreitet war, wie jede Woche eine neue Statistik belegte.
Insofern war ihre Ehe nicht untypisch, sondern im Gegenteil
schrecklich normal. Warum nur war der Sex
so kompliziert geworden? Bei Tieren war es die einfachste Sache
der Welt.
Maik verstand nicht ganz, warum so viele Menschen
offenbar freiwillig auf Sex verzichteten. Welche Welt war denn die
bessere? Die, in der viel gefickt wurde? Oder die andere? Maik
brauchte Sex wie Essen, Trinken, Atmen.
»Warum nur war der Sex so kompliziert geworden?
Bei Tieren war es die einfachste Sache der Welt.«
Er wollte auch keine Problemgespräche darüber
führen; es galt die Regel: Sobald man theoretisierte, war der
Zauber dahin. Maik brauchte keinen Kerzenschein, keinen Champagner,
keine ausgefallenen Techniken, sondern einfach die gemeinsame
Bereitschaft, zusammen Spaß zu haben, auch mal nur zwei Minuten,
aber am besten drei Mal am Tag. Manchmal sehnte er sich nach der
erotischen Schlichtheit des Ostens. Einfacher gerader Sex wie in
der Legende von Paul und Paula - das war doch das Paradies.

Wie jeden Morgen setzte Lars im Treppenhaus die
Sonnenbrille auf und hoffte, der knackärschigen Journalistin aus
dem zweiten Stock zu begegnen, der er seit Ewigkeiten den Ausblick
von seiner Dachgeschosswohnung präsentieren wollte. Lars widerstand
der Versuchung, sein Handy einzuschalten. Jahrelang war der
dreiminütliche Blick aufs Display ein Teil seines Lebens gewesen.
Inzwischen nervte, stresste, langweilte ihn das verdammte kleine
Ding.
Handy-Aktivieren war wie Rauchen: Es gab keinen einzigen guten
Grund dafür, dennoch musste man es einfach tun. Lars wusste genau:
Wenn er jetzt einschalten würde, wären mindestens drei SMS im
Postfach und zwei Anrufe. Viermal von irgendwelchen Weibern,
vielleicht die von heute Nacht, deren Namen ihm gerade nicht
einfiel. Und ein Anruf vom Büro, das nach ihm fahndete.
Lars kaufte einen schwarzen Kaffee und ein San
Pellegrino in der italienischen Bäckerei und suchte nach seinem
Cabrio. Ein Vogel hatte auf sein Verdeck gekackt. Unglaublich,
welche Mengen Scheiße in einem so kleinen Tier untergebracht sind.
Eigentlich wollte er das San Pellegrino trinken. Nun wusch
er damit Taubenkacke vom Dach.
Lars ließ sich in den Ledersitz fallen und zog die
Tür ins Schloss. Klickte auch nicht mehr so geschmeidig. Radio an.
Ich und ich. Machte ihn depressiv. Suchlauf.
Metallica. Furchtbar. Suchlauf. Revolverhelden. Was
die alle an dem Quatsch fanden. Radio aus.
Stille. Aufstoßen. Brennen. Das Büro kotzte ihn
an. Das Personalgespräch heute Mittag kotzte ihn an. Der Kunde, den
er heute umschleimen musste, kotzte ihn an. Die Betriebsfeier heute
Nachmittag kotzte ihn an. Das Fitnessstudio kotzte ihn an. Das
nächtliche Gepose kotzte ihn an. Frauen kotzten ihn sowieso an.
Seine dröhnende Birne kotzte ihn an. Und dass ihn alles ankotzte,
kotzte ihn erst recht an. Lars schaltete das Handy an. Eine SMS von
Tanja, bestimmt das übliche Dankesschreiben. Eine SMS von Sandy:
»Würde Dich gern mal wiedersehen;).« Au weia. Wer Zwinkergesichter
smste, der trug auch Leggings oder MCM-Handtaschen. Wer zum
Teufel war Sandy überhaupt? Zwei vergebliche Anrufe aus dem Büro:
Wahrscheinlich hatten sie ihn längst gefeuert. Auch egal. Der
verdammte Bonus war sowieso zum Teufel. Wie er den Flug nach
Thailand
bezahlen sollte, war ihm schleierhaft. Der Dispo war schon lange
am Anschlag.
Lars verspürte Appetit auf Spiegeleier mit Speck.
Er fuhr die paar Meter zum kleinen Platz mit den Cafés und parkte
unter dem Halteverbotsschild. Offensive Regelverstöße fand er cool.
Draußen in der Sonne saß ein wirklich scharfer Ofen: High Heels,
lange stramme Beine, eine weiße Bluse, die zwar züchtig aussah,
aber den Blick geradezu zwischen ihre Brüste zwang, von denen er
annahm, dass sie tatsächlich echt waren, die schwarzen Haare streng
nach hinten, sehr volle, sehr rote Lippen - ideal. Lars wurde
heiß.
Sie guckte heimlich zu ihm herüber, zwei, drei
Mal, das war kein Zufall. Sie rauchte. Frauen, die rauchten und
guckten und schon morgens schick zurechtgemacht waren, die wollten
eigentlich so schnell wie möglich mal wieder richtig durchgenagelt
werden, das wusste Lars aus Erfahrung. Er hatte zwar überhaupt
keine Lust auf Sex. Aber er wollte wissen, ob er mit seiner
Vermutung richtig lag.
Er lächelte sie an. Sie lächelte zurück, ziemlich
verhalten allerdings. Gutes Zeichen: Sie will, aber nicht um jeden
Preis. Dieser Mund machte ihn verrückt. Lars kritzelte seine
Handynummer auf einen Zettel. Bei der nächstbesten Gelegenheit
würde er ihr den Zettel zustecken, am besten auf dem Weg zum Klo.
Mit dieser Frau könnte er sich vorstellen, alt zu werden.
»Frauen, die rauchten und guckten und schon
morgens schick zurechtgemacht waren, die wollten eigentlich so
schnell wie möglich mal wieder richtig durchgenagelt
werden.«
Lars stand auf und überlegte, wie er ihr den
Zettel am besten zukommen lassen sollte. Er lachte sie im
Vorbeigehen noch mal an, volles Rohr. Doch sie blickte zur Seite.
Keine Chance für unpeinliche Zettelübergabe. Die alte Bitch. Sie
wusste genau, wie sie ihn noch heißer machte. Solche Frauen waren
wie Zigaretten. Nach fünf Minuten waren sie runtergeraucht, am Ende
blieb ein komischer Geschmack im Mund und Geruch an den Fingern.
Aber man konnte nicht ohne, sondern brauchte immer mehr.
Lars schüttete sich Wasser ins Gesicht. Er sah
verdammt gut aus, trotz allem. Er würde jetzt sofort diese Frau
ansprechen.
Als er zurückkehrte, war ihr Tisch leer. Egal.
Wahrscheinlich hatte sie einen Termin. Aber sie wollte auch; das
wusste Lars. Das würde doch noch sein Tag werden. Er spürte
es.
11 UHR

Eigentlich wollte Jochen duschen, aber eine alte
Spex hatte ihn davon abgehalten. Er liebte es, in
historischen Musikzeitschriften zu blättern. Früher war nicht alles
schlecht, nur weil es früher war.

Martin ließ sich ins Auto fallen. Er hasste diesen
lieferwagengroßen Kombi. Aber ein guter Vater fuhr nun mal so ein
Auto. Sonst war man gesellschaftlich erledigt in den
neubürgerlichen Kreisen einer Stadt, die sich supercool und lässig
gab und doch so neidisch, ängstlich und verbissen auf die
Kinderwagenmarke des Nachbarn schaute wie ein Schwabe.
Hier dachte jeder jede Minute nur über die Wirkung
all dessen nach, was er tat, sagte, trug oder glaubte. Was sollen
denn die Nachbarn denken? Dieser alte eklige Elternspruch
galt nirgendwo radikaler als in sogenannten Szene-Gegenden.
Style-Faschismus.
Martin war erleichtert. Norbert brabbelte im
Babysitz auf der Rückbank. Otto war bereits im Kindergarten
abgeliefert. Das Babyschwimmen mit Norbert würde ein paar Momente
der Entspannung bringen, falls das knappe Dutzend Stress-Mütter
nicht wieder in grundloser, dafür aber permanenter Panik eine
Stunde lang durchdrehte.
Die Team-Assistentin hatte ihm verraten, dass das
Brainstorming wahrscheinlich um siebzehn Uhr starten würde, sie
würde sich nochmal melden. Das passte gerade noch in seine
Abendplanung.
Das allmonatliche Problemgespräch mit Ottos
Kindergärtnerin war ebenfalls zufriedenstellend verlaufen, kurz vor
Kuschelsex. Otto sei sehr kreativ, sehr rücksichtsvoll, sehr
sozial, sehr konzentriert, kurz: ein wunderbarer Junge, die Zierde
von »Marie-Albert«, benannt nach Marie Curie und Albert Einstein,
der Kita für rollenübergreifend erzogene Frühleister. Sprachlos
hatte Martin zugehört. Er war eher auf ein besorgtes Gewispere
eingestellt gewesen als auf ein richtiges Gespräch. Zwei Gedanken
waren Martin durch den Kopf geschossen: Was war, wenn die
Kindergärtnerin alles erstunken und erlogen hatte? Schließlich
schmückte mit Dorothea von Campen eine halbwegs bekannte
TV-Moderatorin den Kindergarten.
Wahrscheinlich terrorisierte Otto die Kita wie der
junge Mussolini, aber die Leitung hatte verfügt, dieses Thema
einfach zu ignorieren. Um Promi-Kundschaft bei Laune zu halten, bog
man die Wahrheit über die Brut schon mal zurecht, oder? Und,
zweitens, schlimmer noch:Angenommen, die Kindergärtnerin sprach
halbwegs die Wahrheit, und Otto war wirklich ein stinknormales
Musterkind - warum war er dann so unglaublich gemein zu seinem
Vater?
Martin wusste nicht, was ihm lieber war: ein
verhaltensgestörtes Kind, das alle nervte, oder ein normales Kind,
das seinen Vater hasste? Martin schaltete das Radio an. Eine CD
lief an: »Jim Knopf und die wilde 13«. Prinzessin LiSi sang:
»Mädchen können alles; Mädchen sind unheimlich stark.« Jungs auch,
dachte Martin. Aber das durfte man nicht mal denken.

Maiks Handy vibrierte auf der Treppe. Eine SMS von
Ulrike: »Bitte pünktlich zu Hause sein. Sind heute Abend mit
Seilers verabredet. Kuss«. Maik antwortete »Ja«.
Oben im Dachgeschoss brauchte er genau zwei
Minuten, um die Lage zu peilen. Die Frau, die ihm im limettengrünen
Bademantel die Tür geöffnet hatte, roch nach Lust wie ein Teller
frischer Bratheringe. Sie hatte ihm einen Kaffee gemacht, ihn dann
auf die eindrucksvolle Terrasse geführt. Grandioser Blick über die
Stadt. Die Frau mochte jede Menge Probleme haben, aber Geldmangel
gehörte sicher nicht dazu. Sie hatte Maik von einer Freundin
empfohlen bekommen.
»Sie sind meine Rettung«, sagte sie zur Begrüßung.
Maik hatte nur gelächelt. Er wusste um die Wirkung von engen weißen
T-Shirts unter Karohemden, von Stiefeln und strammen Männerhintern
in Jeans.
Klassischer Fall: Viel Geld, wenig Geschmack,
keine Zeit, aber in zwei Stunden sollte alles fertig sein. Die Frau
hatte abends offenbar einen sehr wichtigen Gast zum Essen
eingeladen. Bis dahin sollte die leicht verwilderte Dachterrasse in
ein mediterranes Kunstwerk verwandelt sein.
Maik schwieg und tat, als ob er rechnete. Dabei
hatte er eigentlich schon alles durchkalkuliert: Drei, vier Büsche
in Töpfen, Schilf am Meter, ein paar versteckt installierte
Scheinwerfer, die üblichen Stehimwegs Marke Schwedisches Landhaus
oder Long Island, und schwupp, war ein Ensemble arrangiert, das für
einen rotweinseligen Chef im Halbdunkel allemal genügen müsste.
Zwei Leute, fünf Stunden für An- und Abtransport, drei Stunden Maik
- das war schon mal der erste Tausender. Aber ein paar Euro für
Schleppen und Arrangieren von Öko-Deko waren Maik nicht genug: Hier
schlummerte eine große und langfristige Aufgabe, in mehrerlei
Hinsicht.
»Was schlagen Sie vor?«, fragte die Frau. Sie saß
auf dem Liegestuhl und versuchte nicht mal, züchtig auszusehen.
Maik blickte sich um. Von den Häusern ringsum waren sie nicht zu
sehen. Er starrte unverhohlen auf ihre Beine und schwieg noch ein
wenig. Eigentlich war schon alles klar. Sie würde sich nicht
wehren, wenn er sich jetzt einfach über sie hermachte. Spitz wie
sie war, würde sie seinen Vorschlägen allerdings viel eher
zustimmen, solange sie voller Ungeduld brannte. Also erst mal das
Geschäftliche.
Maik mühte sich um einen sachlichen Ton, als er
ihr erklärte, dass man es hier mit zwei Vorgängen zu tun habe:
erstens der überaus kurzfristigen Deko für heute Abend und zweitens
einem langfristig durchdachten Konzept zur ganzheitlichen und
nachhaltigen Gestaltung des Ökosystems Dachterrasse, das einer
intensiven und kontinuierlichen Betreuung bedürfe.
Bei dem Wort »Betreuung« warf Maik einen geraden
Blick auf die Frau. Sie nickte nur und sagte: »Ich würde die Sache
gern abkürzen: Sie bekommen den Auftrag für heute Abend, wenn Sie
mir versprechen, dass es auf keinen Fall nach Toscana aussieht,
nicht mal nach Provence. Und für die Neugestaltung machen Sie mir
einen Kostenvorschlag, der auf ein Jahr ausgelegt ist.« Sie war
aufgestanden, durch
die Glastür ins Wohnzimmer gegangen und drehte sich nun um, als
warte sie auf ihn.
»Wird erledigt«, sagte Maik und folgte ihr.

Lars hätte seinen Problemkunden eigentlich
persönlich besuchen sollen. Aber er hatte nur angerufen. Mussten
die Penner im Büro ja nicht wissen. Die Vertragsverlängerung war so
gut wie beschlossen. Puuh. Damit war auch sein Hintern vorerst
gerettet.
Auf der Fahrt ins Büro kriegte Lars diese Frau
nicht aus dem Kopf. Eigentlich etwas zu alt und viel zu seriös für
ihn. Er bevorzugte die unterkomplexe Party-Maus. Vielleicht hatte
sie sogar Kinder. Er hatte eine Affäre mit so einer Mutter bis vor
vier Wochen. Ausgehungert hatte sie sich auf ihn gestürzt, es war
der helle Wahnsinn. Sie wollte offenbar mehrere Jahre in einer
Woche aufholen und fuhr das volle Programm: Fesseln, Augenbinde,
Dildos in allen Farben des Regenbogens.
Er kam sich vor wie ein Bonobo. Drei Tage länger,
und er hätte eine Infusion gebraucht. Beim letzten Mal war er bei
ihr zu Hause gewesen. Der Mann war auf Dienstreise, sie hatte
keinen Babysitter gefunden; also verstieß er gegen die goldene
Regel und besuchte eine verheiratete Frau daheim.
Es ging natürlich nicht gut aus. Nachts vor der
Toilette war er im Dunkeln über ein Feuerwehrauto ihres Jüngsten
gestolpert und lang hingeschlagen. Schwere Verstauchung. Lars wurde
eine Woche krankgeschrieben, das war die gute Nachricht. Danach
hatte er sich einfach nicht mehr bei ihr gemeldet. Mütter lösten
bei ihm generell Depressionen aus. Er war fast einundvierzig. Keine
Frau, kein Kind, und
das war richtig. Diese ganzen Ehe-Schluffis waren doch so gut wie
tot: Biertitten, Impotenz und den Kadaver dann auf den Golfplatz
geschleppt.
Im Büro machten die meisten schon Mittag, einige
hatten die belegte Pappe vom Sandwich-Mann gekauft und mampften vor
den Bildschirmen. Alle grüßten ihn, die meisten halbwegs nett.
Angelika aus der Zentrale winkte, Jasmin, seine Assistentin,
lächelte süffisant, eine ganz junge Frau neben ihr musterte ihn
ziemlich unverschämt. Ob Jasmin …? Egal.
Ihm fiel wieder auf, wie jung die alle waren.
Selbst sein Chef war gerade mal fünfunddreißig. Die machten Druck,
diese jungen Hunde, und gut waren die, richtig gut.
Jasmin kam auf ihn zu. »Na«, sagte sie spitz,
»haben wir gestern mal wieder ein bisschen doll gefeiert?« Das »mal
wieder« klang perfide. Er blieb stumm. Von Feiern konnte gar keine
Rede sein. Es war ein ganz normaler Beuteabend. Jasmin guckte ihn
an, deutlich zu spöttisch. »Unsere neue Praktikantin da vorne«,
sagte sie, »hat mir eben von so einem peinlichen alten Typen
erzählt, der letzte Nacht in ihrem Lieblingsclub völlig drüber war
und immer versucht hat, ihre Freundin zu knutschen, obwohl die gar
nicht wollte. Kannst dir ja vielleicht vorstellen, warum die jetzt
so guckt.«
Lars erinnerte sich schemenhaft an die Stunden vor
Tanja. Die meisten Abende waren einfach zu lang, als dass man sie
sich komplett merken konnte. Und Berlin war ein gottverdammtes
Kaff. Von wegen Anonymität der Großstadt. Jeder kannte jeden in der
Klubszene. Der Tag würde kommen, an dem er alle halbwegs willigen
Frauen gehabt hatte. Man müsste sie markieren, dachte sich Lars,
wie Kühe, mit solchen gelben Ohrmarken, in denen ein Chip
implantiert ist, mit allen wichtigen Informationen inklusive
Krankheiten.
Und dann scannen, ob sich nochmaliges Aufsatteln überhaupt
lohnt.
Jasmin provozierte sein stilles Grinsen offenbar.
Im Gehen fragte sie ihn: »Weißt du eigentlich, was die jungen Leute
sagen, wenn sich peinliche Party-Rentner wie du hackebreit an der
Bar entlangbaggern?« Lars wusste, dass sie ihm wehtun wollte und
tat so, als habe er die Frage nicht verstanden. Doch Jasmin gab die
Antwort ungebeten: »Die sagen: Jetzt kommen die Opas schon zum
Sterben hierher.« Lars lachte, etwas zu laut.

Attila hatte sich an den Schreibtisch gesetzt. Er
musste noch den Bericht fertig stellen über diese drittklassige
Vertriebsbude für BuchhaltungsSoftware. Wesley legte großen
Wert darauf, dass die Führungsleute mindestens zweimal im Jahr
selbst berieten, und zwar nicht die großen, schönen, prächtigen
Unternehmen, sondern den Mittelstand. Attila hatte sich vergangene
Woche einen halben Tag neben so einen Vertriebs-Routinier gesetzt
und versucht zu ermitteln, nach welchem System dieser Mann
arbeitete. Er hatte keines gefunden. Der Knabe war seit acht Jahren
dabei, roch stark nach Aftershave und fuhr ein viel zu protziges
Cabrio angesichts seines kontinuierlich schrumpfenden
Kundenstamms.
Pausenlos quäkte sein Handy, weil er wieder eine
SMS bekommen hatte. Attila hätte wetten können, dass keine einzige
davon dienstlich gewesen war. Nichts war doch wohl peinlicher als
ein in die Jahre gekommener Single, der auf der verzweifelten Suche
nach ein bisschen verdrogtem Gefummel immer noch um die Häuser zog
wie vor zwanzig Jahren - wie entwürdigend.
Und dann kam ihm dieser Kerl auch noch auf die
Kumpeltour. Attila war Respekt gewohnt, besser noch vorauseilende
Unterwürfigkeit. Das »Du« hätte er am liebsten sogar Camille
verwehrt. Attila hätte diesen Pflaumenaugust am liebsten sofort vor
die Tür gesetzt. Aber der Knabe war hoch angesehen bei seinem Chef,
sicher weil er jedes Problem einfach weggrinste. Und Attila musste
den Job holen; also blieb das Thema Personalanpassung erst einmal
unangetastet. Attila konnte sich auf die Arbeit nicht
konzentrieren. Obwohl er sich immer wieder zur Ordnung rief, hatte
ihn eine völlig ungewohnte Bleiernis befallen. Er hatte sogar die
Lust am Blackberry verloren, den er seit Jahren praktisch im
Minutentakt checkte.
Viel spannender erschien ihm seine eigene Wohnung.
Attila stöberte auf Camilles Schreibtisch, ohne jedoch
Interessantes zu finden. Dieser ganze Esoterik-Quatsch
interessierte ihn kaum, aber störte auch nicht weiter: Hauptsache,
Camille war beschäftigt.
Wie von einer unheimlichen Macht gezogen, fand
sich Attila plötzlich vor ihrer Wäschekommode wieder. Vorsichtig,
als sei eine Alarmanlage montiert, zog er die oberste Schublade
auf. Mit beiden Händen grub er in den luftigen Slips, deren Preis
in einem irrationalen Missverhältnis zur Textilmenge stand. Attila
nahm ein besonders knappes schwarzes Exemplar und schnupperte wie
ein Wolf daran. Er spürte, dass er sich dringend hinlegen
musste.
12 UHR

Das Telefon klingelte. Mutter war dran. »Ach,
Junge«, sagte sie zur Begrüßung, »ach, Junge«. Jochen ahnte, dass
eine teils geklagte, teils geheulte Tirade kommen würde, er wusste
allerdings nicht, warum. »Ach, Junge«, sagte sie noch einmal.
»Guten Morgen, liebe Mutter«, erwiderte Jochen
betont gut gelaunt.
Ewige Pause.
»Dein Bruder hat gestern sogar Blumen geschickt«,
presste sie hervor.
Gestern? Was war gestern?
»Ich, ääh«, sagte Jochen, um Zeit zu
gewinnen.
»Gestern war Papas Todestag«, heulte sie.
»Ooh, ja, klar«, sagte Jochen.
Er hatte wieder einmal den Todestag seines Vaters
verpennt, während sein Bruder, der alte Erbschleicher, mit
Fleurop-Gestrüpp aufgetrumpft hatte.
»Aber ich habe viel an dich gedacht«, log
Jochen.
Er wusste, dass er nicht sehr überzeugend
klang.
»Papa sieht alles von da oben«, sagte seine
Mutter, immer noch heulend und anklagend.
Außer Power-Trauern hatte sie in den letzten drei
Jahrzehnten noch eine zweite Disziplin zur Perfektion getrieben:
Sie konnte anderen Menschen in Rekordzeit ein schlechtes Gewissen
bereiten.
Jochen versuchte verzweifelt, sich nicht schlecht
zu fühlen. Einerseits sah er sich gezwungen, jene Gefühle seiner
Mutter zu respektieren, mit denen sie ihr Leben seit den
Achtzigerjahren gestaltete. Andererseits ging ihm das ewige
Gegreine gehörig auf die Nerven. Weil sie keinen Neustart mehr
wagte, hatte sich seine Mutter in der Witwenrolle eingerichtet, die
insofern praktisch war, als alle Rücksicht zu nehmen hatten auf die
arme Frau, die ihren lieben Mann verloren hatte. Die Verklärung
seines alten Herrn zu einem Heiligen war durch sein gelebtes Leben
allerdings nicht gedeckt. Sein Vater war bestenfalls okay gewesen,
kein Zocker, kein Tyrann, kein Dogmatiker - immerhin ja schon mal
was.
Jochen erinnerte sich daran, dass seine Eltern
sich wegen jedem Mist gezofft hatten, dass er bei jedem kleinen
Vergehen vorwurfsvoll angeschwiegen wurde, dass der Satz »Was
sollen denn die Nachbarn denken« ihr Leben bestimmte. Am
schlimmsten war, dass er diesen Satz so verinnerlicht hatte, dass
er bei Julias Gebrüll zuallererst dachte: Was sollen denn die
Nachbarn denken?
»Warst du auf dem Friedhof?«, fragte Jochen und
hasste sich im gleichen Moment für diese kreuzdämliche Frage.
Natürlich war seine Mutter auf dem Friedhof gewesen.
Immerhin bewegte sie das Thema: »Das Grab musste
ja auch frisch bepflanzt werden«, sprudelte sie los, »ich habe ein
paar Bodendecker gekauft, die waren im Angebot, dann sieht das Grab
auch im Herbst noch grün aus. Und ein paar Stiefmütterchen, die
mochte Papa doch immer so gern.« Jochen war erleichtert, ein
Gesprächsthema gefunden zu haben, das für eine Weile ohne Vorwürfe
und Tränen auskam.
Jochens Handy klingelte. Ach du Scheiße. Warum
ausgerechnet jetzt?
»Äh, Mutter«, sagte Jochen, während die alte Dame
über die Feinheiten der Grabgestaltung unter Berücksichtigung von
Jahreszeiten referierte. Sie klang, als hätte sie noch Luft. Jochen
sagte nur: »Ja, das stimmt«, und beschloss, sie einfach weiterreden
zu lassen, während er ans Handy ging. Die Nummer kam ihm bekannt
vor.
»Hallo«, meldete sich Jochen.
»Ach, schön, dass ich Sie gleich dranhabe …« - es
war der Programmchef vom Offenen Kanal.
Jochen riss innerlich die Arme triumphierend in
die Luft. Wahrscheinlich sollte Beyond Cool einen besseren
Sendeplatz bekommen. Oder ein richtiger Sender hatte Interesse am
Format bekundet.
»Ja?«, sagte Jochen erwartungsvoll und legte den
Hörer mit seiner Mutter beiseite, aus dem er beruhigendes
Friedhofsgärtnergemurmel hörte.
»Nun, Herr Heine, es hat im Programmbeirat ein
paar Irritationen gegeben wegen Ihrer Sendung, deswegen haben wir
eine außerplanmäßige Redaktionskonferenz anberaumt. Können Sie
heute um achtzehn Uhr im Sender sein?«
Jochen schluckte. »Programmbeirat?«, fragte er.
Von diesem Gremium hatte er noch nie gehört.
»Jeder Sender hat ein Kontrollgremium, das darauf
achtet, dass die Inhalte unseren ethischen Normen genügen:
Rassismus und so«, belehrte ihn der Programmchef, »und unsere
Frauenbeauftragte Frau Dr. Bohnsack-Oppenheim hatte wohl ein paar
Probleme mit Ihren Moderationen - das muss nichts Ernstes bedeuten.
Aber es kann.«
Jochen schwitzte. Wer war Frau Bohnsack-Oppenheim?
Was hatte sie mit seiner Sendung zu tun? Was verstand sie von
Radio? Beyond Cool war gar nicht für Frauenbeauftragte
gemacht, im Gegenteil: Es war eine Sendung, die ausdrücklich
verboten war für die Bohnsack-Oppenheims dieser Welt.
»Sie sollten auf jeden Fall heute kommen, um
Missverständnisse auszuräumen«, sagte der Programmchef. »Jochen!«,
hörte Jochen von Ferne eine aufgebrachte Stimme, »Jooochen …!« Er
sah den Hörer auf dem Tisch. »Ja, Mutter, einen Moment bitte«,
sagte er und hörte noch, wie sie giftete: »Kannst du nicht
wenigstens …«
Jochen sprach wieder ins Handy: »Klar, ich werde
da sein. Sind Sie auch da?«
»Ja«, erwiderte der Programmchef, »aber ich weiß
nicht, ob ich Sie gegen Frau Dr. Bohnsack-Oppenheim verteidigen
kann.«
Jochen fröstelte.
»Ja, Mutter«, sagte er dann in den anderen Hörer.
Aber seine Mutter hatte bereits aufgelegt.
Jochen startete »Atom Heart Mother«. Zeit für
große Gefühle. Danach würde er seine Mutter noch mal in Ruhe
anrufen. Oder morgen.

Als Attila aufwachte, wunderte er sich, dass er
Camilles Slip über dem Kopf trug. Zuerst schämte er sich ein
bisschen. Dann genoss er den transparenten Hauch vor Mund und Nase
und sog die Luft tief ein. War da eine letzte kleine Spur von
Aroma? Ich sollte öfter mal einen Tag zu Hause bleiben, dachte er,
während er nach seinem Blackberry suchte.

Norbert nölte, als Martin ihn in die kotdichte
Gummibadehose zwängte. Dorothea hatte diese Spezial-Shorts extra
aus den USA kommen lassen, Marke Sweet Little Dolphin. Die
Elastikbuxen waren in einem wasserpädagogischen Zentrum in Orlando
entwickelt worden, hermetische Abdichtung für hochbegabte Babys,
die zur Steigerung ihrer Sozialkompetenz mit Delfinen schwammen.
Kinderkacke fand Flipper wohl nicht so dufte.
Jedenfalls war Martin sicher, dass Norbert als
einziges Kind mit Sweet Little Dolphin antreten würde.
Gerade bei den Super-Eltern, die mit ihren Babys zum integrativen
Frühschwimmen gingen, konnte man gar nicht aufmerksam genug die
richtigen Labels präsentieren, die maximalen Preis und mithin
übermenschliche elterliche Fürsorge signalisierten.
Leider paddelten vier von neun Kindern in Sweet
Little
Dolphin. Es war also wie immer: Der immense
Individualitätsdruck führte dazu, dass alle Babys nahezu gleich
aussahen, so wie ihre Eltern auch: Die Mütter liefen rum wie
Elfriede Tetzlaff oder Kampflesben, die Väter trugen
Wim-Wenders-Brille, verteidigten ihre Rest-Männlichkeit auf dem
Felde des Spezialwissens (Comics, iPhone-Apps, Pink
Floyd) und trugen die Riemen ihrer Filz-Leder-Taschen quer über
der Brust, weil das nach Fahrradkurier aussah. Wer noch mit
Lastwagenplanentaschen erwischt wurde, mit Ohrstöpseln oder
Klamotten von Stella McCartney, der konnte gleich an den Stadtrand
ziehen. Martin hätte gern einen Essay über Markenterror und
Individualitätswahn für seinen Blog geschrieben, den er für die
Dauer seiner Elternzeit mit einem großen Baustellenschild
stillgelegt hatte. Aber sein Chef hatte ihm davon abgeraten. Das
sei das falsche Signal an die Kunden.
Die Schwimmwindel von Sweet Little Dolphin
hatte er jedenfalls mehrfach mit aggressivem Oxy-Waschmittel und
viel zu heiß gewaschen, Öko hin oder her. Wenn schon alle die
gleiche Hose trugen, sollte Norberts wenigstens am ältesten
aussehen. »Die haben wir vor zwei Jahren aus Florida mitgebracht«,
war auch kein schlechter Satz, um sich gegen die ganzen
übermotivierten Mütter zu behaupten, die ihm und Norbert die
Schwimmstunde mal wieder zur Hölle machen würden.
Von Weitem konnte Martin den »Kinderschänder«
erkennen, so nannte er den Typen, der meistens vormittags im
Schwimmbad herumlungerte und irgendwie höchst verdächtig wirkte.
Wabbelig und käsig war er, undefinierbaren Alters, trug eine
unvorteilhafte Beutel-Badehose und plantschte alle paar Minuten im
Nichtschwimmerbecken herum. Oder stand einfach am Rand, den Blick
scheinbar in die Ferne gerichtet. Danach würde er dann in der
Umkleide
verschwinden und sich einen runterholen, da war Martin sich
sicher. Martin ließ seinen Sohn keine Sekunde aus den Augen.
Martin checkte noch mal sein iPhone. Immer
noch keine neue Rückmeldung aus der Agentur. Vielleicht hatten sich
die lieben Kollegen verabredet, dass sie ihn nicht dabeihaben
wollten. Ging ja schnell so was, diese Eigendynamiken innerhalb
einer hierarchischen Funktionsgemeinschaft hielt man nicht auf.
Kaum war er ein paar Wochen nicht da, stellte man fest, dass es
ohne ihn ginge, womöglich nicht mal schlechter. Martin hatte Angst,
dass er nicht einmal merkte, wie er wegrationalisiert, weggemobbt,
entsorgt wurde. War den Kollegen so viel Bösartigkeit zuzutrauen?
Aber klar doch. Vor allem den jungen Frauen. Das waren Killerinnen,
allesamt. Eiskalt.

Maiks Handy vibrierte - eine SMS von Ulrike. »Habe
bei Ebay einen tollen Sportanzug von Stella McCartney gefunden -
soll ich den kaufen?« Maik wunderte sich, dass es
Designer-Klamotten jetzt auch in Ulrikes Größe gab, und stellte
sich schon mal darauf ein, den Karton mit dem aufgeklebten
Rücksendeschein eines nahen Morgens mit zur Post zu nehmen. »Klar«,
smste er zurück.
Er hatte seinen Dienstwagen, den grünen Nissan
Patrol, in sein Lieblingsversteck manövriert, eine kleine
unscheinbare Einfahrt am Waldparkplatz, nicht einzusehen von der
Straße, kaum beachtet von Spaziergängern und Hundeführern. Hier
hatte er viele Stunden seines Lebens verbracht, schlafend, lesend,
denkend. Oft zog er die Laufklamotten an, die er immer hinten im
Kofferraum liegen hatte, und trabte einfach eine Stunde durch den
Wald. Inzwischen
allein, nicht mehr mit Fee, aber an sie wollte er jetzt lieber
nicht denken. Es tat zu weh.
Maik schloss die Augen. Er war auf einem guten
Weg. Seit einem halben Jahr zweigte er jeden Monat unauffällig
fünfhundert Euro in bar ab. Machte sechstausend Euro pro Jahr, wenn
es so gut weiterlief wie bisher. In sechs, acht, zehn Jahren, wenn
die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, könnte er den Plan seines
Lebens umsetzen: einfach noch mal ganz neu anfangen, allein, in
Südamerika oder Asien. Wenn er sein Ableben einigermaßen schlau
inszenierte, würde die Lebensversicherung Ulrike eine hübsche Summe
zahlen, außerdem hatten ihre Eltern Geld genug. Niemand würde ihm
lange hinterhertrauern. Maik schloss die Augen.

Lars hockte an seinem Schreibtisch, rauchte,
spielte Tetris und arbeitete seinen SMS-Speicher ab. Ein gutes
Dutzend Frauen wollte bespielt werden. Tanja brauchte etwas
Knappes, nicht zu Nettes. Eva ging ihm schon seit Wochen auf die
Nerven - gar keine Antwort.
Doro war ein tiefes Wasser. Anfangs erschien sie
ihm sterbenslangweilig, aber die Nächte mit ihr waren sensationell
gewesen. Zeit für eine Neuauflage. Die Frau machte Yoga oder
Tai-Chi oder weiß der Teufel welchen Verrenkungssport, und so ein
Spagat eröffnete ja völlig neue Perspektiven.
Lars fühlte sich ja selten körperlich unterlegen,
aber bei Doro kam ihm doch der Gedanke, wieder regelmäßiger Eisen
zu stemmen. Heute Nachmittag würde er noch ins Gym gehen, nur für
Doro. »Muskelkater weg. Fühle mich fit für die nächste Runde …«,
würde er Doro smsen. Das war lustig und direkt.
Besonders lästig war Erika. Sie schmeckte wie ein
Yak. Lars traf sich nur mal mit ihr, weil er Panik schob vor ihren
Trennungsarien. Sie hatte Balkanblut in den Adern und wollte sich
wegen jeder Kleinigkeit umbringen. Lars antwortete ihr trotzdem
nicht.
Er wartete auf sein Gespräch beim Chef. Ganz wohl
war ihm nicht. In den acht Jahren bei seiner Firma hatte Lars sehr
genau kapiert, was wirklich wichtig war. Eigentlich gab es nur drei
wesentliche Punkte: Erstens mussten seine Zahlen am Jahresende
halbwegs stimmen; auch der netteste Kerl konnte schwindenden Umsatz
nicht lange erklären. In den letzten beiden Jahren war er bei
seinen Abschlüssen leider nicht mehr ganz so erfolgreich gewesen
wie früher. Zweitens durfte er das Betriebsklima nicht wesentlich
beeinträchtigen; kein Chef mochte Unruhe. Einer, der jede
Praktikantin durchnudelte, noch bevor sie ihre erste Essensmarke
für die Kantine in der Hand hielt, war für ein Team nur bedingt
geeignet.
Manchmal hatte Lars das Gefühl, dass alle ihn
hassten. Die Männer, weil er ihnen zeigte, wie’s ging. Und die
Frauen, weil sie sich benutzt vorkamen - natürlich völliger
Quatsch, schließlich waren alle volljährig. Und ein One-Night-Stand
war immer ein Geschäft auf Gegenseitigkeit ohne nachfolgende
Ansprüche. Dieser Amore-Kram ging ihm gehörig auf die Nerven.
Liebe? Die empfand Lars zu seinem Auto, zu seinem Körper und zur
Full-Moon-Party auf Ko Phanghan: Sommer, Drogen, Meer und Mädchen,
dazu perfekte Musik.
Der dritte wichtige Punkt war das Gespräch mit dem
Chef. Gut, dass Lars heute Morgen bei seinem Problemkunden die
Zusage über eine Vertragsverlängerung reingeholt hatte, nicht
schriftlich, aber immerhin so eindeutig, dass er damit vor den Chef
treten konnte. Lars wusste: Der Chef
hatte ein Problem - sein weiches Herz. Ganz schlecht für einen
echten Kerl.
13 UHR

Tetris war ein wunderbares Spiel. Hatte genau den
Grad an Stumpfheit, den Lars tagsüber brauchte, um sich mental auf
das Personalgespräch vorzubereiten und auf die nächste Nacht.
Katharina hatte gesmst und endlich Rita - beide langjährige
Körperbeziehungen, die sich immer mal wieder meldeten, wenn ihnen
nach einem unkomplizierten Abend war. Rita wollte immer noch
ausgehen vorher, Kino, Essen, Drinks. Katharina strebte dagegen
ohne Umwege zum Ziel: anhauen, umhauen, reinhauen, abhauen. Lars
mochte ihre provozierend versauten SMS. »Kannst Du noch?«, hatte
sie gefragt. »Für Dich reicht’s immer«, hatte er geantwortet. »Ich
will eine Stunde rundum«, hatte sie bestellt. »Warum nur
Vorspeise?«, hatte er geprahlt.
Zum ersten Mal seit Jahren fürchtete Lars sich vor
dem Personalgespräch. Die angekündigte Umstrukturierung bedeutete
nichts Gutes. Dieser eiskalte Heini von der Unternehmensberatung,
der ihm letzte Woche ein paar Stunden auf die Finger geschaut und
völlig merkwürdige Fragen gestellt hatte, bekam seinen
unverschämten Tagessatz ja nicht dafür, dass er Jobs erhielt.
Lars hatte sich vielleicht doch ein wenig zu lange
auf seinen Ruf als Vertriebsgott verlassen. Mit neunzehn hatte er
schon seine eigene Drückerkolonne angeführt. »Eine jugendliche
Legende« hatte ihn das Fachblatt »Der Vertrieb« genannt und ihm
zwei Seiten gewidmet, mit Fotos.
Früher war er Weltklasse, dann eine ganze Weile
supergut, aber jetzt war er nur noch da. Zum ersten Mal hatte er
letztes Jahr seinen Bonus nicht erreicht. War auch ein beschissenes
Jahr. Aber die anderen hatten den Bonus trotzdem eingefahren.
Manchmal fühlte er sich wie Ernie bei »Stromberg«. Andererseits:
Die würden ihn nicht feuern können; nicht mit seiner Erfahrung,
seinen Kontakten, all seinen Verdiensten in acht Jahren.
Lars wurde die Angst nicht los. Eigentlich müsste
er jetzt sofort zu Katharina. »Bist Du zu Hause?«, smste er. »Ab 19
h, dafür frisch gewachst«, schickte sie zurück. Er überflog seine
Optionen und konterte: »Freu mich auf Hollywood … bis später!«
Hollywood, das war das Codewort für das Komplett-Waxing, das sie
bevorzugte und das ihn so anmachte.
Lars würde sich diesem Mittagessen mit dem Chef
nicht entziehen können. Wie sollte er seine Formschwäche erklären?
In Wirklichkeit hatte er einfach keinen Bock mehr. Jedes Gespräch
geführt, jeden Kunden bespaßt, jede Kollegin besprungen. Und heute
Nachmittag schon wieder so eine überflüssige Bürofeier.
Lars war zu müde, um zu schlafen. Er zog zu oft um
die Häuser. Wie lange würde das noch gut gehen? Mit dem Grundgehalt
allein sah es düster aus. Davon könnte er nie und nimmer eine
Familie ernähren. Daran dachte er in letzter Zeit doch manchmal.
Viel zu oft eigentlich. Wollte er das wirklich: schlecht sitzende
Anzüge, Reihenhausinsasse, hyperaktive Kids, einer Frau beim
Verfall zuschauen?
»Wollte er das wirklich: schlecht sitzende
Anzüge, Reihenhausinsasse, hyperaktive Kids, einer Frau beim
Verfall zuschauen?«
Der Chef rief an. Ob er so weit sei. »Klar«, sagte
Lars. Ob italienisch okay sei? »Klar«, sagte Lars. Also dann in
fünf Minuten unten. Lars nickte in den Hörer. War das das Leben,
von dem er geträumt hatte?

Jochen hatte lange überlegt, ob er noch zum
Baumarkt gehen sollte. Er hätte Bretti ja gern einen Eimer
Wandfarbe vor die Zimmertür gestellt. Einfach so, als Zeichen, wie
egal ihm der Auszug seines ehemaligen besten Kumpels war. Aber er
musste vor dieser gespenstischen Redaktionskonferenz unbedingt noch
drei Stunden Akquise schaffen. Sonst wäre er den neuen Job gleich
wieder los, um den er so gekämpft hatte.
Auf Teilzeitbasis arbeitete Jochen in der
ambulanten Finanzdienstleistungs-Branche. Er versuchte, Kunden für
platinfarbene Kreditkarten zu gewinnen, allerdings nicht am
Flughafen wie die meisten seiner Kollegen. Seine Firma hatte sich
auf Straßencafés, Bars und Lounges spezialisiert. Jochen musste
auch gar nicht aggressiv werben, sondern saß ganz still an einem
mit Bedacht gewählten Platz, nicht allzu zentral, aber dennoch gut
einsehbar, spielte an dem ihm zur Verfügung gestellten
iPhone, das ein platinfarbenes »P« unter dem Apfel trug und
las in einer Zeitschrift, die dasselbe »P« auf der Titelseite trug
und die riesige Zeile »iPhone kostenlos«.
So funktionierte modernes Marketing. Denn nach
spätestens zehn Minuten hatte ihn irgendjemand angesprochen. Diese
label-versessene Caféhaus-Bande wollte natürlich wissen, was es mit
dem »P« auf sich hatte und wie man an das kostenlose iPhone
kam. Und schon konnte Jochen loslegen. Er referierte dann eher
beiläufig über den P-Klub,
eine Vorteilsgemeinschaft für High Potentials: Handys, Reisen,
Computer, Zeitschriftenabos, Telefonverträge, alles gab es
billiger. Es dürfe leider nicht jeder mitmachen, log Jochen, aber
er könne ein gutes Wort einlegen, wenn derjenige jetzt sofort den
Kreditkartenantrag in der Zeitschrift unterschriebe. Ungefähr die
Hälfte verzog sich umgehend, von den Restlichen unterschrieb etwa
jeder Dritte.
»Jeder Mann brauchte ein
Markenzeichen.«
Wenn Jochen zehn Verträge in den nächsten vierzehn
Tagen schaffte, würde er dreihundertzwanzig Euro bekommen und den
Status eines Senior Sellers. Die Aufstiegsmöglichkeiten bei »P«
waren enorm. Endlich könnte er den Job an der Tanke
drangeben.
Jochen hatte sich im Ausverkauf extra einen neuen
Anzug gekauft. Das kräftige Braun sah unwiderstehlich nach Erfolg
aus. Kakao und Schokolade seien ja die Trend-Themen schlechthin,
hatte die Verkäuferin gesagt; und die Hose würde sich bestimmt noch
ein wenig weiten nach zwei, drei Mal Tragen. War halt reduzierte
Ware, ein echtes Schnäppchen. Jochen kaufte. Den Anzug würde er
auch bei den Preisverleihungen für Beyond Cool tragen
können, wenn er noch etwas abnahm.
Früher war Jochen mal Punk gewesen, hatte sich in
seiner richtig harten Phase dann an den Hools orientiert, um seiner
damaligen Flamme Bianca zuliebe dann auf Gothic-Wave zu schwenken.
Jochen war stolz, sich bis heute weder Piercings noch Tattoos
angetan zu haben. Die wirklich coolen Typen waren ihrem
unversehrten Körper immer treu geblieben, und er obendrein seinem
Kapuzen-Pullover, der
unter dem braunen Anzug zwar ein wenig auftrug, ihm aber zugleich
eine unverwechselbare Note verlieh: edel und lässig. Jeder Mann
brauchte ein Markenzeichen.

Maik hatte noch mal im Büro angerufen und sich
abgemeldet. Er würde noch zwei Kunden besuchen und den Fortschritt
der Arbeiten dort kontrollieren. Lehmann war immer noch nicht
aufgetaucht. Wenn er den Dachterrassen-Job für ein Jahr bekäme,
hätte er seinen eigenen Monatslohn reingeholt, und zwar in einer
guten halben Stunde. Faszinierend, wie scheißegal dieser Frau ihre
Pflanzen in Wirklichkeit waren, wie scheißegal ihr Geld war, wie
scheißegal ihr ihr Leben war. Alles was sie wollte, war was zum
Angeben. Und ein schnörkelloser Fick. Damit konnte er dienen, zur
Not sogar ein Jahr lang, auch wenn sie nicht übermäßig engagiert
war, sondern Männer vor allem als Dienstleister zu betrachten
schien, die ihr Vergnügen zu bereiten hatten.
Den Kostenvoranschlag und ein paar eindrucksvolle
Zeichnungen würde er morgen machen - die Details waren eh egal,
musste nur eindrucksvoll aussehen.
Seine erste Frau hatte früher viel zu viel Liebe
für die Zeichnungen aufgewendet, mit echter Tusche und noch mehr
Herzblut. Sie hatte das neue Deutschland nie verstanden. Sie dachte
immer, es ginge um die Sache, um wirklich tolle Gärten, um echte
Kreativität, um Innerstes nach außen, so wie man sich in der DDR
den Westen, abgesehen von dem ganzen Konsumterror, früher mal
vorgestellt hatte - als das wahrere Land. Alles Quatsch. Die
Blenderei war nur deutlich professioneller inszeniert.
Maik hatte lange versucht, seiner ersten Frau
diese brutale Wahrheit beizubringen. Gemeinsam hätten sie die
Gartenbaufirma
nach vorn bekommen, klein, exklusiv und immer noch näher dran am
Ideal als alles andere. Aber sie wollte sich mit Kompromissen nicht
abfinden. Sie wollte auch nicht bei Chefarzt-Gattinnen auf dem Sofa
sitzen und gehorsam Skizzen anfertigen. West-Frauen mit
Versace-Gehabe machten seiner ersten Frau Angst. Sie fühlte
sich einerseits nichts wert, aber andererseits meilenweit
überlegen. Sie hatte es leider nie geschafft, Distanz zwischen sich
und diese ondulierten Elsen zu legen. Sie war in ihre Innenwelt
geflohen, immer weiter, tiefer, länger. Wochenlang verbarrikadierte
sie sich auf der Datsche am See, duschte nicht mehr, verzottelte
und fiel in anhaltendes Schweigen. Sie starrte stundenlang auf das
Herbstwasser, während Maik um die Firma kämpfte. Er verstand viel
von Gartenarchitektur, aber zu wenig von Betriebsführung.
Nach zwei Jahren war alles zu viel geworden: ihre
Depression, die Vorwürfe ihrer Familie, die Schulden, die falschen
Freunde, das ganze Leben. Zum Glück waren keine Kinder im
Spiel.
»Wenn er überhaupt was vom Westen kapiert
hatte, dann eines: Es ging um ihn, um nichts anderes.«
Maik tat, was er immer in solchen Momenten tat: Er
floh. Eine Woche lang tauchte er ab, niemand wusste, wo er war.
Ging auch keinen was an. Wenn er überhaupt was vom Westen kapiert
hatte, dann eines: Es ging um ihn, um nichts anderes. Das hatte
weniger mit Egoismus zu tun, wie er im Osten noch geglaubt hatte,
sondern vielmehr mit Rücksicht. Erst wenn er sein eigenes Zentrum,
seine Bestimmung,
seine Richtung gefunden hatte, konnte er auch für andere nützlich
sein.
Aber wie fand man sich mit all dem täglichen
Nervkram ab? Gar nicht. Also hatte Maik sich ins Auto gesetzt und
war in die Eifel gefahren, zu einem Indianer-Workshop, mit
Grenzerfahrungen allein im Wald, in bestialischen Schwitzhütten und
in schlaflosen Nächten, wo man zuerst einmal Handy, Uhr, Geld,
alles abgenommen bekam. Diese Erleichterung war genau das, was er
brauchte. Atmen, denken, frei sein - mehr nicht. Mehr als peinlich
konnte es nicht werden.
»Self respect«, hatte der Schamane gesagt, darum
drehe sich alles. Zuerst müsse er sich selbst akzeptieren und den
Satz »Ich liebe mich« ganz selbstverständlich denken und sprechen.
Maik versuchte es. Es klang seltsam. Er dürfte sich jetzt nicht zum
Idioten machen, hatte der Schamane gesagt, er sei der Held in
seiner Story: Er war der Häuptling. »Häuptling Cooler Panther« -
diesen Namen hatte er sich selbst gegeben, nach Stunden in der
Schwitzhütte, als er kurz davor war, das Bewusstsein zu
verlieren.
Genau in diesem Moment sei er neu geboren worden,
hatte der Schamane gesagt, er habe Erleuchtung erfahren.
Maik war nicht ganz sicher, ob sich Erleuchtungen
so anfühlten. Ihm war eher schlecht gewesen. Egal, immerhin konnte
er fortan sein neues Geheimwissen anwenden: Was würde Häuptling
Cooler Panther in dieser Lage tun? Das war die Frage, die er sich
seither in jeder Lebenslage zuerst stellte. Die Widersprüche, die
ihn solange gequält hatten, waren plötzlich weg. Denn Häuptling
Cooler Panther konnte zugleich Verantwortung für seine Familie
übernehmen, sich aber dennoch jeder Squaw bedienen. Niemand hatte
dem Häuptling zu sagen, was er zu tun oder zu lassen hatte.
»Häuptling Cooler Panther konnte zugleich
Verantwortung für seine Familie übernehmen, sich aber dennoch jeder
Squaw bedienen.«

Norbert sabberte Pastinakenbrei auf Martins Hemd.
Offenbar hatte der Kleine doch etwas zu viel Wasser beim
integrativen Babyschwimmen geschluckt. Und jetzt reierte der Zwerg
ihm ausgerechnet auf dem Laufsteg die teure Vintage-Kapuzenjacke
voll, mitten im Straßencafé. Laufsteg, das war der Platz in
Berlin-Mitte, auf dem angeblich Deutschlands höchste Baby-Dichte
herrschte. Die Türken donnerten mit ihren tiefergelegten BMWs über
den Kudamm, die deutschen Neo-Spießer führten hier ihren Nachwuchs
inklusive Zubehör vor. Sie wohnten zwar im Westen, aber zum
Kinder-Contest kam Martin gern hierher.
Norbert mochte keinen Pastinakenbrei. Martin
wusste auch gar nicht, was Pastinaken sein sollten - er stellte
sich eine von glücklichen Indios mit der Hand ausgebuddelte
Kartoffelart vor. Nicht lecker, aber total gut für alle. Wer jemals
Pastinakenbrei probiert hatte, der wusste, wie gut die eigene Kotze
schmeckte.
Auf dem Laufsteg war nichts weniger angesagt, als
dem Kind einen ordinären Alete-Brei zu verabreichen. Es ging
nicht um das Wohl der Kinder, sondern um das Wohlbefinden der
Eltern. Und die waren nur glücklich, wenn sie ihrer Umwelt
demonstrieren konnten, dass sie perfekt waren in der Zucht von
Super-Kindern. Martin graute vor dem Tag, da diese Brut das Land
regieren würde. Wir werden
uns noch so nach den Arschlöchern vom Schlage Schröders und
Fischers zurücksehnen, dachte er manchmal; vielleicht sogar nach
Helmut Kohl.
Warum vertraute eigentlich keiner mehr seinen
eigenen Instinkten und den soliden Tipps der Großeltern? Nein,
jeder musste täglich die neuesten Erkenntnisse aufsaugen und gleich
an seinen Kindern ausprobieren. Jeden Tag kam eine neue Studie ans
Licht, die das Gegenteil von der gestrigen Untersuchung behauptete.
- So wie beim Schnullerkrieg. Erst hatte Dorothea nach
einschlägiger Lektüre bestimmt, dass Norbert keinen Schnuller haben
sollte, und damit alle Schlafprobleme wahrscheinlich
heraufbeschworen. Neulich stand in irgendeinem Eltern-Blog, dass
Schnullerentzug das Lispeln fördert, weil die Zungenmuskulatur
nicht kräftig genug entwickelt sei.
Und nun? Hatten sie Norberts Zukunft mal wieder
verbaut? Er sah einen lispelnden Mittdreißiger, der nur einschlafen
konnte, wenn ihn seine Pflegerin auf der Autobahn herumfuhr. Und
dann noch der Kinderschänder aus dem Schwimmbad. Wer wusste denn,
was an jenem Tag passiert war, als Martin gezwungen gewesen war,
einer dieser Mütter Norbert zu überlassen, weil er wegen eines
spontanen Fiebers zu Otto in die Kita hatte hetzen müssen? Konnte
man das Schlimmste ausschließen?
Martin nahm sich vor, demnächst mit seinen Jungs
den Kinderpsychologen aufzusuchen, das war er den Kleinen schuldig.
Insgeheim hoffte er, dass er da mit einem Rezept für Ritalin
rausgehen würde. Irgendwie mussten die Knaben doch ruhig zu kriegen
sein.
Martin hatte sein iPhone noch in der
Umkleidekabine gecheckt - immer noch keine Nachricht aus der
Agentur. Warum wollten sie ihn nicht dabeihaben? Erst letztes Jahr
hatte er die brillante Idee geboren, das Kreditkarten-Marketing
vom Flughafen in die Straßencafés zu verlegen und mit einem
Vorteils-Club zu verknüpfen. Und eine große Bank hatte sofort
angebissen. Seine Kollegen mobbten ihn, keine Frage. Martin ahnte
auch, wer dahintersteckte.
»Ist man nicht gerade Brad Pitt, ist man als
Vater ungefähr so attraktiv wie ein Glas Pastinaken.«
Das Babyschwimmen war wie immer eine Qual gewesen.
Er war der einzige Mann unter acht Frauen, drei magersüchtig, fünf
flusspferdig, aber alle guckten verklemmt. Sie steckten in
gerüschten, getupften und gebatikten Monturen, die nur mit viel
Phantasie als Badeanzüge zu erkennen waren. Warum trugen eigentlich
immer nur Frauen im Internet solche scharfen knappen Teile?
Martin verachtete die ständig überdrehten und
Glück spielenden Super-Moms schon deswegen, weil sie ihn auch nicht
leiden konnten. Sie grinsten immer ganz vertraut, aber in
Wirklichkeit hielten sie ihn für einen Schlappschwanz, der seine
Frau immer nur mit Calendula-Öl massierte, anstatt sie mal
ordentlich durchzuhämmern. Allem politisch korrekten Geseier zum
Trotz galt nach wie vor: Ist man nicht gerade Brad Pitt, ist man
als Vater ungefähr so attraktiv wie ein Glas Pastinaken. Neulich
hatte er gelesen, dass sich die Mütter, die ihre Kinder im selben
Kindergarten wie Brad Pitt hatten, wie blöd aufbrezelten. Die
Super-moms beim Babyschwimmen könnten sich wenigstens mal wieder
rasieren.
Wer alles tat, um die Anerkennung von Frauen zu
gewinnen, der war gänzlich verloren. Martin guckte routiniert
freundlich, in Wirklichkeit aber ignorierte er die Glucken,
die tausendmal spießiger, langweiliger,ängstlicher und uncooler
waren als seine Reihenhaus-Mutter früher. Und sie kamen nicht
umhin, ihn zu bewundern, wie schnell er wieder zurück war, nachdem
Norbert mitten im Kurs die Delfin-Hose vollgekackt hatte. Unter der
Männerdusche wurden schon immer die handfesten Dinge
erledigt.
Eigentlich war nur eine Frau halbwegs normal, das
war die mongolische Übungsleiterin, die in Irland einen Aufbaukurs
in integrativem Babyschwimmen absolviert hatte, was auch groß auf
ihrem T-Shirt statt. Dorothea hatte sich gewünscht, dass Norbert in
die englische Gruppe kommen würde, aber die war schon voll.
Die integrative Gruppe war ein Experiment, sie
folgte einem ganz neuen Ansatz, der erstmals in einer irischen
Bauernhof-Kommune erprobt worden war und seither seinen
pädagogischen Siegeszug um die Welt angetreten hatte: Behinderte
und nichtbehinderte Kinder planschten zusammen, was einen
wahnsinnigen Kulturschock bedeutete für
Hundertzwanzig-Prozent-Eltern.
Martin war sich auch nicht ganz sicher, ob der
Kurs Norberts Entwicklung wirklich diente. Aber die
Zukunftsperspektive dahinter war verlockend: Wer nachweisen konnte,
dass sein Kind auch soziale Kompetenzen entwickelte, der hatte
deutlich bessere Chancen von Nobels Nest aufgenommen zu
werden, dem mit Abstand besten Kindergarten der Stadt. Otto hatte
das Pech, dass er nur Marie-Albert in seiner Vita würde
vorweisen können. Wenn Norbert dagegen mit Nobels Nest
startete, war sein Leben auf einem sehr guten Gleis. Dafür konnte
er einmal die Woche auch mit Mongos schwimmen. Immerhin mussten sie
nicht unter Wasser auch noch Pekip machen und dabei auf Orffschem
Holz trommeln.
Norbert prustete Pastinaken, pupste
vernehmlich,meckerte
und begann genau in dem Moment ganz fürchterlich zu stinken, als
der Anruf von der Agentur kam. »Ja, hallo«, sagte Martin, »steht
der Termin für das Brainstorming?«
Die Team-Assistentin antwortete irgendwas, aber
Martin musste das iPhone vom Ohr nehmen, da Norbert gerade
strampelte. Die Blicke der Umsitzenden töteten ihn: Rabenvater. Das
Kind schreit, aber dieses Karriereschwein telefoniert. Und setzt
das arme Baby auch noch der Handystrahlung aus. Die Pastinaken
waren bestimmt auch nicht bio genug. Klare Sache: Hier wuchs ein
Amokläufer heran.
»Warum funktionieren die meisten Frauen
eigentlich immer erst mit Drohungen?«
»Nee, du, ich komme gern«, rief Martin ins
iPhone, während Norbert ihm seinen stinkenden Hintern ins
Gesicht drehte und beinahe auf die Steinfliesen fiel. Martin
schnappte das Kind am Nacken und hielt das Telefon für eine Sekunde
ans Ohr.
»… brauchst du nicht - hat der Chef auch gesagt.
Kümmer dich mal ganz um deine Familie …«, hörte er die Assistentin
sagen.
»Aber ich komme gerne«, beharrte Martin.
Die anderen Gäste sahen aus, als seien sie kurz
davor, die Polizei zu rufen.
»Brauchst du aber wirklich nicht«, bekräftigte die
Assistentin.
Verdammt noch mal, hatte diese dämlich grinsende
Telefonmaus denn keinerlei Respekt mehr vor ihm, seit er in
Elternzeit war? Wenn er klar sagte, er käme gern, dann hatte
sie gefälligst alles möglich zu machen, ihm diesen Wunsch zu
erfüllen. Norbert pupste lauter und schrie mit pastinakenerstickter
Stimme. Die Frau am Nebentisch erhob sich kopfschüttelnd und
verließ das Lokal. Wahrscheinlich rief sie die Bullen. »Ich sage es
jetzt zum letzten Mal in aller Klarheit: Ich würde gern dabei
sein«, wiederholte Martin in einem Ton, dessen Schärfe erkennen
lassen sollte, dass es sich hier ab sofort um eine dienstliche
Anordnung handelte. Endlich kapierte die Assistentin. Sie schwieg
lange. »Achtzehn Uhr«, sagte sie dann.
Na endlich, dachte Martin. Warum funktionieren die
meisten Frauen eigentlich immer erst mit Drohungen?

Vergnügt hörte Attila, was sein Kollege Jaspers
aus der Firma berichtete. Die Bindinger hatte sich heute blamiert,
aber wie. Sie hatte einen großen Kunden aus dem Maschinenbau
verloren, nicht sie persönlich, aber ihr Team. Bei Wesley
sprachen alle über nichts anderes. Tschakka.
Attila hätte jetzt bei den Partnern anrufen und
noch ein bisschen in der Wunde stochern können; er hätte auch die
Bindinger anrufen und Mitleid heucheln können. Doch er beschränkte
sich darauf, einen alten Freund in London anzurufen und ihn auf
Bindingers Fiasko hinzuweisen. Auf den war Verlass: Er verbreitete
jede News in Echtzeit. So würde Bindingers Reputation untergraben,
er hatte sich aber nicht die Finger schmutzig gemacht.
Ein herrlicher Tag, dachte Attila, während er noch
einmal etwas genauer den Schreibtisch von Camille inspizierte.
Vielleicht fand er ja doch noch einen Hinweis darauf, was seine
Frau eigentlich vorhatte mit diesem Rückführungsspuk in San
Francisco. Sie schien es jedenfalls ernst zu
nehmen. Als er neulich mal scherzhaft »Kleopatra« zu ihr sagte,
hätte sie ihm fast die Augen ausgekratzt.
Camille hatte Architektur studiert, was für Attila
ein wesentliches Ausstattungsmerkmal gewesen war. Nur nichts aus
der eigenen Branche, sondern gedankliche Breite zeigen. Lange
dachte Attila, er käme ohne Frau an die Spitze. Vor fünf Jahren
hatte er sich einen Hund zugelegt, den die Kollegen auch ganz süß
fanden. Aber in mehreren Führungskräfte-Seminaren war das Thema Ehe
und Familie angesprochen worden. Resultat: Hund reicht nicht.
Attila hatte sich daraufhin in mehreren Online-Börsen
umgeschaut.
»Lange dachte Attila, er käme ohne Frau an die
Spitze. Vor fünf Jahren hatte er sich einen Hund zugelegt, den die
Kollegen auch ganz süß fanden.«
Okay, Camille war Ukrainerin, das sprach im ersten
Moment nicht direkt für sie. Aber immerhin klang ihr neuer Vorname
nicht nach Kolchose-Pfannkuchen, und ihr Akzent war auch schon
deutlich besser geworden.