»John!« Jennifer sprang auf. Die Handarbeit fiel unbeachtet zu Boden.

»Du warst bei Victor, habe ich recht? Du hast ihm gesagt, daß ich Schulden habe und die Buchmacher hinter mir her sind. Und du hast ihm gesagt, daß ich das Spielen nicht lassen kann.«

»Aber John!«

Er machte einen Schritt auf sie zu, und ich sah, wie sich die Besorgnis in Jennifers Augen in Furcht verwandelte. Sie drückte beide Hände auf die Brust, als er auf sie zukam, aber sie wich nicht vor ihm zurück.

»Das ist nicht wahr, John«, entgegnete sie ruhig. »Ich war nicht bei Victor.«

»Woher weiß er dann so genau Bescheid? Er weiß sogar den Betrag, den ich schulde.

Bis auf den letzten verdammten Penny. Und er wollte ihn bezahlen, Jenny. Er hat mir Geld angeboten!«

»Was ist daran so -«

»Gottverdammich, hast du denn überhaupt keinen Stolz ?« brüllte er sie an. Zitternd vor Wut kam er noch näher an sie heran. »Mußtest du ausgerechnet meinem Bruder über unsere privaten Sorgen dein Herz ausschütten? Wo bleibt eigentlich dein Schamgefühl?«

»Es war Harriet, John. Sie war bei ihm, nicht ich.«

»Das ist eine gemeine Lüge. Harriet würde niemals mit Victor über Dinge sprechen, die sie nichts angehen. So dumm ist sie nun auch wieder nicht. Du warst es, Jenny, und ich weiß es, weil ich genau beobachtet habe, wie ihr beide euch anseht. Du kriegst ja richtige Kuhaugen, wenn du meinen Bruder siehst. Du brauchst gar nicht zu versuchen, es zu leugnen.

Und er kann aus seinem Herzen auch keine Mördergrube machen. Ihm läuft förmlich das Wasser im Mund zusammen, wenn er dich anschaut.«

»O mein Gott!« flüsterte Jennifer und wandte sich ab. »Warum mußtest du gerade zu ihm gehen, Jenny?« John stand ziemlich wacklig auf den Beinen. Seine Augen waren glasig, und sein Blick war verschwommen. Es erschreckte mich, ihn so zu sehen, angetrunken und nachlässig. Sein Umhang war voller Schmutzspritzer, und den Hut hatte er auf den Hinterkopf geschoben.

»Du hast wohl geglaubt, ich hätte keine Ahnung, was vorgeht, Jenny ?« fragte er jetzt in ruhigerem Ton. »Du hast wohl geglaubt, ich wüßte nicht, warum Victor jeden Sonntag zum Essen herkommt? Da kann ich nur lachen, Jenny. Erst läßt mein Bruder sich ein ganzes Jahr lang nicht blicken, obwohl er praktisch nebenan wohnte, und dann schreibst du ihm ein einziges nettes Briefchen, und schon steht er hechelnd wie ein Hund vor unserer Tür. Und seitdem erscheint er regelmäßig jeden Sonntag. Hältst du mich für blind?«

Jennifer antwortete nicht. Sie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte lautlos. Ich sah es am Beben ihrer Schultern. John streckte zaghaft einen Arm nach ihr aus, hielt dann jedoch schwankend inne. Ich sah in seinem Gesicht das Erschrecken plötzlicher Erkenntnis und gleich darauf die Bitterkeit der Gewißheit. Er hatte nur einen Verdacht geäußert, aber nun hatte er die Antwort. Und sie tat weh.

Er zwinkerte ein paarmal mit den Augen, wie um die Alkoholnebel zu durchdringen, und ließ den Arm schlaff herabfallen. »Er wird dich nie bekommen«, murmelte er. »Ich lasse es nicht zu. Ich weiß, du hast mich nie geliebt, aber mein Bruder wird niemals -« Jennifer drehte sich mit einer heftigen Bewegung um. Ihr Gesicht war entsetzt. »John! Das ist nicht wahr! Ich habe dich geliebt, und ich liebe dich immer noch. Wie kannst du hier vor mir stehen und mich der Lüge und des Betrugs beschuldigen, wenn nichts davon wahr ist ? Harriet ist wegen deiner Wettschulden zu Victor gegangen, John, nicht ich. Und ich liebe dich immer noch.« Er dachte einen Moment über ihre Worte nach und sagte dann: »Genauso wie an dem Tag, an dem wir geheiratet haben ?« Sie zögerte zu lange.

Abrupt machte John Townsend kehrt, stürmte zur Tür zurück und riß sie zornig auf.

»Wir brauchen keine Almosen von meinem Bruder«, schrie er wütend. »Victor hat jetzt wirklich alles, nicht wahr? Er hat Geld, er hat einen Ruf wie ein Heiliger, und er hat meine Frau. Aber ich sage dir eines, Jennifer, weit wird er damit nicht kommen.«

Ich spürte das Zittern der Wände, als er krachend die Tür hinter sich zuschlug. Als ich mich wieder Jennifer zuwenden wollte, war sie verschwunden.

Ich stand wieder im schäbigen Wohnzimmer meiner Großmutter. Statt des grünen Samts lagen auf den Sesseln die geblümten Schonbezüge. Der Teppich war alt und abgenützt, im Kamin stand der Gasofen. Ich war zurück in der Gegenwart.

Dieses episodenhafte Leben in der Vergangenheit erschöpfte mich. Das plötzliche Erscheinen und Verschwinden der Townsends war jedes Mal ein Schock. Meine Nerven waren angegriffen, meine Hände zitterten, ich hatte keinen Appetit, der Schlaf mied mich, und mein Gehirn lief ständig auf Hochtouren. Eine Frage beschäftigte und quälte mich beinahe unablässig. Wie kam es, daß Victor von seinen Nachfahren der Stempel des Bösen und Nichtswürdigen aufgedrückt worden war, wenn doch, soweit ich erlebt hatte, John derjenige mit dem schwachen, um nicht zu sagen schlechten Charakter gewesen war? Victor Townsend war ein guter und ehrenhafter Mensch gewesen, voll Mitgefühl mit den Leidenden und treu in seiner Liebe zu einer einzigen Frau. Wieso wurde er von seinen Nachfahren so verleumdet ?

Ich fand die Hitze im Zimmer plötzlich erdrückend. Gereizt stand ich auf und schaltete den Gasofen aus. Während ich noch über das Gerät gebeugt stand, hörte ich plötzlich fern und traumhaft die Klänge eines Klaviers. Abrupt richtete ich mich auf. ›Für Elise‹ wieder, süß und schwermütig. Von allen Seiten zugleich schienen die sanften Töne durch den Raum zu schwingen. Die Uhr auf dem Kaminsims war stehengeblieben. Die Vergangenheit hatte mich wieder eingeholt.

Langsam und gespannt bewegte ich mich durch das Zimmer und versuchte, die Quelle der Musik ausfindig zu machen. Als ich die Sessel umrundete und der Wand näherkam, die mich vom Salon trennte, hörte ich das Klavierspiel deutlicher. Versuchsweise schlich ich mich zur Tür und zog sie geräuschlos auf. Die Musik kam aus dem Salon.

Ich ließ die Helligkeit des Wohnzimmers hinter mir und tauchte in die Finsternis des Flurs. An der Wand tastete ich mich bis zur Salontür, die angelehnt war. Von drinnen schimmerte schwacher Lichtschein heraus.

Mit klopfendem Herzen stieß ich die Tür ein Stück weiter auf und streckte den Kopf durch den Spalt. Ein Zimmer lag vor mir, das ich nie gesehen hatte.

Die Flammen eines prasselnden Feuers beleuchteten farbig bezogene Sessel, kleine Tischchen, ein großes Sofa, Nippes und Glaskästen, großblättrige Pflanzen in Messingtöpfen, helle Wände, die dicht mit gerahmten Fotografien behängt waren. In der Mitte der Zimmerdecke brannte zu meiner Überraschung eine Lampe mit elektrischem Licht.

Einen Moment lang blickte ich zu ihr hinauf, während die zarten Töne von ›Für Elise‹

mich umspielten, dann erst wandte ich mich nach rechts, dem kleinen Spinett an der Wand zu.

Auf dem Schemel vor dem Instrument saß elegant gekleidet in rostbraunem Gehrock und schwarzer Hose Victor Townsend. Das lange, lockige Haar war ihm über die Schulter nach vorn gefallen und verdeckte halb das ernste Gesicht, das tiefe Versunkenheit ausdrückte.

Jennifer, die in einem langen Satinkleid am Feuer saß, war ihm zugewandt, und ihr Blick hing voller Liebe und Bewunderung an ihm.

Ich glaube, mein Gesicht drückte ähnliche Gefühle aus, denn auch ich erlag augenblicklich dem Zauber von Victors Spiel. Die schlichte kleine Weise verwandelte sich unter seinen Fingern zu einem behexenden Lockruf. Ich blieb reglos an der Tür stehen, hin und her gerissen zwischen zwei Sehnsüchten; daß die Musik niemals aufhören möge und daß er im Spiel innehalten möge, um mit uns zu sprechen.

Als er dann tatsächlich zu spielen aufhörte, blieb er lange Zeit schweigend sitzen, den Blick auf die Tasten gesenkt, als brauche er Zeit, um in die Gegenwart zurückzufinden. Mit den Klängen von ›Für Elise‹ hatte Victor seine Seele freigesetzt, und jetzt mußte er sie zurückholen und wieder in ihren Käfig sperren. Auch Jennifer sprach nicht, auch sie war noch in einer anderen Welt, aus der sie nicht zurückkehren wollte. Sie wünschte sich, dieser Moment würde ewig dauern.

»Kannst du es noch einmal spielen?« fragte sie schließlich. Victor drehte sich auf dem Klavierschemel herum und legte die

Hände auf die Knie. »Ich habe nicht viel Zeit. Die anderen werden bald nach Hause kommen.«

»Sie würden sich freuen, dich spielen zu hören.« Victor schüttelte den Kopf. »Sie dürfen uns niemals allein hier vorfinden, Jenny, sonst werden sie glauben, was sie tief drinnen befürchten, und in unser Verhalten etwas hineinlesen, was niemals stattgefunden hat.« Sein Gesicht verdunkelte sich. »Und niemals stattfinden wird.«

»Ach, komm doch bitte und setz dich zu mir.« Er stand auf, beeindruckend in seiner Größe und seinem markanten Aussehen, ging zu dem Sessel an Jennifers Seite und setzte sich. Das feine Leder seiner Stiefel glänzte im Feuerschein, als er die Beine ausstreckte.

»Meine Mutter hat mir Indiskretion vorgeworfen«, sagte er. »Wie ironisch, da nicht einmal ein Händedruck zwischen uns getauscht wurde.«

»Bitte, Victor, sei nicht bitter.«

»Und warum nicht ? Jeden Sonntag hierherzukommen, im selben Raum mit dir zu sitzen und so zu tun, als dächte ich nicht, was ich denke! Du scheinst zufrieden, Jenny, bereit, dich mit dem zu begnügen, was uns gegönnt ist. Aber ich bin es nicht. Ich verfluche mein Schicksal.« Er lachte kurz und trocken. »Es hat uns wahrhaft übel mitgespielt. Hätte ich dir nur viel früher schon gesagt, daß ich nach Warrington zurückkehren werde, dann hättest du John nicht geheiratet und wärst jetzt meine Frau. Du könntest ein großes Haus führen und brauchtest dir keine Sorgen zu machen. Statt dessen bist du mit einem Mann verheiratet, der seine Tage auf der Rennbahn zubringt und seine Abende im Gasthaus.«

»Bitte, Victor«, sagte sie leise.

»Ich finde, John sollte sich seinen Schwächen endlich stellen und versuchen, sein Leben zu ordnen. Er ist ständig auf der Flucht vor seinen Gläubigern, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihm keinen Ausweg mehr lassen werden. Gestern lieh er sich Geld, um heute Cyril Passwater zu bezahlen, von dem er sich letzte Woche Geld geborgt hatte, um Alfred Grey zu bezahlen. Was glaubst du, wie lange er so weitermachen kann? Er will kein Geld von mir nehmen, obwohl ich weiß Gott genug habe.

Lieber spielt er weiter dieses riskante Versteckspiel. Es ist an der Zeit, daß John seinen Verpflichtungen ins Auge sieht und sich auf anständige Weise mit seinen Gläubigern einigt.

Und daß er endlich aufhört zu spielen.«

»Das ist leicht gesagt, Victor, aber John sieht es nicht so. Jeden Tag glaubt er, daß er endlich den großen Gewinn einstreichen wird, mit dem er alle Schulden bezahlen und ein Haus für uns kaufen kann.«

»Und jeden Tag gerät er tiefer in Schulden. Jennifer, man kann nicht ein Loch aufreißen, um ein anderes zu füllen. Wenn es nach mir ginge -«

»Es geht aber nicht nach dir. John ist sein eigener Herr, und wenn er vielleicht auch sonst nicht viel vorweisen kann, so hat er doch seinen Stolz. Du darfst dich da nicht einmischen, Victor.«

»Wenn er nicht mit dir verheiratet wäre, würde mich das alles überhaupt nicht kümmern. Aber er ist dein Mann, und er macht dich unglücklich. Nur deinetwegen, Jenny, möchte ich, daß John endlich reinen Tisch macht.«

»Dann laß ihn um meinetwillen auch in Frieden. John muß selbst seinen Weg finden.«

»Er braucht einen Schock, er muß gezwungen werden —«

»Victor!«

Sein Gesicht mit der scharfen Einkerbung zwischen den dunklen Brauen war zornig, als er Jennifer ansah. Er hatte Mühe, seine Bitterkeit in Schach zu halten, ließ sich von ihr allzu oft zu Worten von schneidender Schärfe hinreißen.

»Versprich mir«, sagte Jennifer ruhig, »daß du John in Ruhe läßt.«

Er starrte grimmig ins Feuer. »Wenn du es so wünschst, dann verspreche ich es.« Ich beobachtete sein Gesicht und erhielt dabei eine Ahnung von seinen Gedanken. Er dachte an den Erfolg, den er sich in diesen anderthalb Jahren seit seiner Rückkehr aus London in Warrington erarbeitet hatte, an die Verbesserungen, die er am hiesigen Krankenhaus hatte bewirken können, an das Ansehen, das er in dieser Stadt genoß.

Er war der Leibarzt des Bischofs in Warrington und der Hausarzt der Familie des Bürgermeisters. Er hatte Ehrungen eingeheimst und großen Einfluß gewonnen. Aber an alledem lag ihm wenig.

Sein Forscherdrang hatte sich nicht gelegt, immer noch beherrschte ihn der starke Wunsch, durch streng wissenschaftliche Arbeit den Weg für den medizinischen Fortschritt zu ebnen. Ich spürte seine Enttäuschung über seine Hilflosigkeit, den Opfern von Gehirntumoren oder schweren Herzkrankheiten zu helfen. Es quälte ihn, daß er sich nicht am Kampf gegen die zahllosen Leiden und Krankheiten beteiligen konnte, die immer noch Tausende und Abertausende dahinrafften, weil kein Mittel gegen sie gefunden war. Dies war der Platz, an dem er gebraucht wurde, hier auf dem dunklen Kontinent der Medizin, Victor Townsend wollte Lichter anzünden.

»Woran denkst du ?« fragte Jennifer leise.

»An einen Mann namens Edward Jenner. Weißt du, wer er war?« Victor wandte sich ihr wieder zu. Die Düsternis seines Gesichts hatte sich aufgehellt, seine Züge wirkten lebhaft.

»Edward Jenner war ein Mann, der sich eines Tages fragte, wieso Melkerinnen eigentlich nie die Pocken bekamen. Ihm fiel außerdem auf, daß Melkerinnen fast immer irgendwann einmal an den Kuhpocken erkrankten. Er überlegte, ob da vielleicht ein Zusammenhang bestünde und was geschehen würde, wenn man Gesunde mit dem Erreger der Kuhpocken impfte; ob man sie nicht damit vielleicht vor den tödlichen Schwarzen Blattern bewahren könnte. Alle Welt lachte ihn aus, Jenny, aber dank Edward Jenners Pockenimpfstoff können wir alle ohne Furcht vor dieser schrecklichen Krankheit leben, die früher einmal ganze Städte ausgelöscht hat. Was aber ist mit den anderen tödlichen Krankheiten? Mit der Lungenentzündung, der Cholera, dem Typhus, der Kinderlähmung?«

Er beugte sich vor und nahm ihre Hände. »Sieh mal, was tue ich denn hier ?

Verschreibe Rezepte für Hustensaft und Migränepulver. Täglich stoße ich an die Grenzen meines Wissens. Soviel gibt es in der Medizin noch zu tun. Verstehst du, was ich sagen will?«

»Ja«, antwortete sie mit kleiner Stimme. »Du hättest nach Schottland gehen sollen.«

Er ließ ihre Hände los. »Das wollte ich damit nicht sagen. Das Labor, das in Edinburgh auf mich wartete, läßt sich genausogut hier in Warrington aufbauen.«

»Was willst du damit sagen ?«

»Daß ich im Kreis herumlaufe. Ich habe mich von meiner Bitterkeit und meiner Enttäuschung lahmen lassen. Weshalb sollte ich forschen und kämpfen, wenn das eine, das einzige, das ich mir wirklich auf dieser Welt ersehne, mir auf immer verwehrt sein wird?«

Jennifer legte ihm leicht die Hand auf den Arm. »Soll ich auch an deinem Irrweg die Schuld tragen ?«

Victor sah sie an, als hätte sie ihm einen Schlag versetzt. Schreck und Entsetzen huschten über sein Gesicht. Tief betroffen von der Bedeutung ihrer Worte riß er Jennifer in seine Arme. Sie wehrte sich nicht, protestierte nicht. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und schloß die Augen, um diesen verbotenen Moment auszukosten. Ich sah, daß sie mit den Tränen kämpfte. »Was habe ich da gesagt?« murmelte Victor, den Mund in ihr Haar gedrückt.

»Wie kann ich nur so egoistisch sein und dich mit solchen Verrücktheiten kränken. Nichts ist mir wichtiger als dein Glück und dein Wohlbefinden, Jenny, ach Jenny...« Victor zog sie fester an sich, als könnte das die Qual lindern. »Wie kann ich so gedankenlos sein, so etwas zu sagen, wenn ich weiß, daß dein Leben so unglücklich sein muß wie meines! Aber du leidest stumm, während ich mich lauthals dem Selbstmitleid ergebe. Ach, ich verdiene dich nicht...«

So standen sie eine Weile, eng umschlungen im flackernden Licht des Feuers, bis Jenny sich schließlich widerstrebend von ihm löste und zu ihm aufsah.

»Deine Berührung zu spüren«, flüsterte sie. »Deine Arme um mich zu fühlen... das ist...« Victor neigte den Kopf, als wolle er sie küssen, aber dann hielt er inne.

»Du mußt jetzt gehen, Liebster«, sagte sie. »Sie werden bald hier sein. Solche Zärtlichkeiten sind uns verboten, Victor, denn John ist immer noch mein Mann, und ich habe ihm Treue geschworen.«

Jennifer löste sich ganz aus seiner Umarmung, trat einen Schritt zurück und sah ihn ernst an. »Wir dürfen uns nicht mehr allein sehen, Victor, denn ich weiß, daß ich nicht die Kraft habe, auf Dauer zu widerstehen. Und dann würden wir zu allem Unglück auch noch Schuld auf uns häufen.«

Victor stand mit hängenden Armen und starrem Gesicht, während Jennifer mit feucht glänzenden Augen unverwandt zu ihm aufblickte. Und so verschwanden sie vor meinen Blicken und ließen mich allein zurück.

Ich brauchte einen Moment, um mir bewußt zu werden, daß aus dem eleganten Salon lang vergangener Zeiten wieder der muffig riechende, verstaubte Abstellraum meiner Großmutter geworden war. Ich sah die Leintücher auf den Möbeln, den aufgerollten Teppich, das staubbedeckte Rollpult, die nachgedunkelten Wände. Ich hatte für die Rückreise aus dem Jahr 1892 nur Sekunden gebraucht, aber ich fühlte mich so matt und erschöpft, als wäre ich den ganzen langen Weg zu Fuß gegangen.

Ich schloß die Salontür hinter mir und wankte in den kalten Flur hinaus, froh über die Dunkelheit, die mich wie ein tröstender Schleier umhüllte.

Wie glücklich konnte Jennifer sich preisen, von so einem Mann geliebt worden zu sein. Ich hatte das nie erlebt. Oder - doch ? War es das vielleicht, was Doug mir hatte geben wollen und was ich in meiner Verbohrtheit zurückgewiesen hatte ?

Dröhnendes Klopfen von oben riß mich aus meinen Gedanken. Das konnte nur Großmutter sein. Rasch eilte ich die Treppe hinauf. Nachdem ich das Flurlicht angeknipst hatte, ging ich zu ihrem Zimmer, öffnete leise die Tür und blickte hinein. Großmutter lag fest schlafend in den Kissen. Wieder klopfte es laut. Hastig zog ich mich aus Großmutters Zimmer zurück und schloß die Tür. Natürlich! Das war nicht die Gegenwart, die mich rief, sondern die Vergangenheit. Das Geräusch kam aus dem vorderen Schlafzimmer.

Die Tür stand weit offen. Drinnen war alles neu und hell, und im offenen Kamin brannte ein Feuer. Ich stellte mit Interesse fest, daß hier, genau wie im Salon, elektrisches Licht die Gaslampen verdrängt hatte.

Ich ging hinein und sah mich um. Am Kamin stand ein Ohrensessel, mit burgunderrotem Samt bezogen und weißen Spitzendeckchen auf den Armlehnen. Dort saß Jennifer, die Füße auf einem dunkelroten Fußbänkchen, den Blick zur Tür gerichtet. Während ich sie noch betrachtete und wieder überlegte, ob ich versuchen sollte, sie anzusprechen, spürte ich einen kalten Luftzug im Rücken und hörte, wie jemand ins Zimmer trat. Es war Harriet. »Jenny!« sagte sie nur.

Jennifer drehte sich ein klein wenig in ihrem Sessel herum und lächelte. »Hallo, Harriet. Komm doch herein.« Harriet, die beinahe direkt neben mir stand, zögerte. Ihr Gesicht war grau wie Asche, ihre Lippen waren völlig blutleer. »Jenny«, sagte sie wieder.

Jennifer, die jetzt ebenfalls bemerkte, daß mit ihrer Schwägerin etwas nicht in Ordnung war, stand auf und ging ein paar Schritte auf sie zu. »Was ist denn, Harriet?«

»Ich -« Sie machte einen Schritt, stockte und schwankte, als drohe sie ohnmächtig zu werden.

»Harriet!« Jennifer lief zu ihr und legte ihr fest den Arm um die Schultern, um sie zum Sessel zu führen. Harriet hing wie ein lebloses Bündel an Jennifer, ließ sich willenlos in den Sessel drücken und Umhang und Hut abnehmen. Ihre Augen waren seltsam leer, sie sah aus wie jemand, der einen schweren Schock erlitten hatte. Ungleich jünger wirkte sie jetzt als Jennifer, klein und zusammengesunken in dem schweren Sessel, das Gesicht kreidebleich, die Augen wie erloschen. Sie bewegte die Lippen, aber es drang kein Laut aus ihrem Mund.

Jennifer holte sich den anderen Sessel und zog ihn so dicht an Harriet heran, daß die Knie der beiden Frauen sich berührten, als sie sich setzte. Sie nahm Harriets Hände zwischen die ihren und rieb sie behutsam. »Du bist ganz durchgefroren. Und wie blaß du bist! Wo warst du denn bei diesem Wetter, Harriet ?« Harriets Versteinerung löste sich ein wenig. »Wo sind die anderen, Jenny?« fragte sie mit tonloser Stimme. »Wo sind Mutter und Vater ?«

»Vater ist noch im Werk, und Mutter ist bei einem Krankenbesuch bei Mrs.

Pemberton. Und John - ich weiß nicht genau, wo John im Augenblick ist. Sag mir doch, was mit dir ist.« Harriet drehte den Kopf zum Feuer und starrte in die Flammen. Wieder bewegten sich ihre weißen Lippen, und wieder versagte ihr die Stimme.

Jennifer musterte sie tief besorgt. Während ich die Szene beobachtete, gewann sie etwas Traumhaftes, Unwirkliches, das teilweise auf der Stille beruhte und den tanzenden Schatten an den Wänden, vor allem aber auf Harriets befremdlichem Verhalten.

»Ich war bei ihm«, flüsterte sie schließlich. »Was hast du getan, Harriet?«

»Ich bin zu ihm gegangen. Genau wie du gesagt hast.« Harriet drehte den Kopf und richtete den seltsam leeren Blick auf Jennifer. Dann sagte sie ein wenig lauter: »Ich bin zu Scan gegangen und habe ihm gesagt, was mit mir los ist.«

»Und was hat er gesagt ?«

»Er sagte, es wäre meine eigene Schuld.« Harriets Gesicht war so ausdruckslos wie ihre Stimme. »Er hätte damit nichts zu tun. Und er sagte, daß er fortgeht.«

»Er geht fort?« Jennifer ließ sich in ihrem Sessel zurückfallen. »Scan O'Hanrahan geht fort? Wohin denn?«

»Ich weiß es nicht. Aber sogar während ich bei ihm war, hat er gepackt. Er sagte etwas davon, daß er nach Belfast zurück will.«

»Aber - aber du hast ihm doch gesagt, was mit dir -«

»Daß ich ein Kind bekomme ? O ja, das habe ich ihm gesagt. Und er ist wütend geworden. Als hätte ich es ganz allein getan. Ich habe ihn daran erinnert, daß er immer vom Heiraten gesprochen hat, wenn wir draußen bei der alten Abtei waren, und daß er immer sagte, er wolle mich so bald wie möglich heiraten. Aber das war damals, Jenny, und jetzt will er mich ganz offensichtlich nicht mehr heiraten.«

»Ach, Harriet!« Jennifer begann wieder, Harriets Hände zu reiben, als könnte sie die Freundin so zum Leben erwecken. Nicht einmal die glühenden Farben des Feuerscheins konnten Harriets Gesicht einen Anschein von Lebendigkeit verleihen. »Harriet«, sagte Jennifer wieder voller Mitgefühl. Obwohl wie Jennifer fast zwanzig Jahre alt, war Harriet immer noch sehr kindlich. Doch das Leben war im Begriff, ihr eine grausame Lektion zu erteilen, und die ernüchternde Wirkung begann schon, sich auf ihrem Gesicht zu zeigen.

»Und dann bin ich zu ihm gegangen«, sagte sie, den Blick wieder ins Feuer gerichtet.

»Zu Scan, meinst du ?«

»Zu ihm, genau wie du mir geraten hast. Ich wußte nicht, wohin. Vater könnte ich es niemals sagen, er würde mich schrecklich bestrafen. Du hast ja keine Ahnung, wie er mich behandelt hat, als er entdeckte, daß Scan und ich uns Briefe schrieben. Diesmal würde er mich bestimmt nicht bloß in den Kleiderschrank sperren. Diesmal würde er etwas viel, viel Schlimmeres tun.«

»Er hat dich in den Kleiderschrank-«

»Ja, das hat er immer getan, weißt du«, fuhr sie fort, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. »Immer, wenn er mich strafen wollte, hat er mich in den Schrank gesperrt. Am Ende habe ich nie mehr aus Respekt oder aus Liebe gehorcht, sondern nur noch weil ich so eine grauenhafte Angst davor hatte, wieder in den Schrank gesperrt zu werden. Ich konnte es nicht aushaken, Jenny. Es war furchtbar. Ich hockte in dem dunklen Schrank, in den nirgends auch nur der kleinste Lichtschimmer hereinfiel, und hörte, wie er den Schlüssel umdrehte. Und dann wartete ich verzweifelt darauf, daß er endlich wiederkommen und mich herauslassen würde. Immer hatte ich Angst, er würde mich vergessen, und ich würde da drinnen sterben. Anfangs habe ich geschrien, dann hab ich nur noch gewimmert und gebettelt und wie eine Wahnsinnige an der Tür gekratzt. Es war ein Gefühl, als würde ich lebendig begraben. Aber er kam immer zurück und holte mich heraus.

Einmal - da schrie und heulte ich so laut, daß er zurückkam und mich herausholte. Er schlug mich fast bewußtlos, und dann sperrte er mich wieder ein und ließ mich die ganze Nacht drinnen. Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren. Und das gleiche würde er jetzt mit mir tun, Jenny, oder noch was viel Schlimmeres. Vater ist sehr korrekt und sehr streng. Wenn er von dieser Sache erführe, würde er sagen, ich hätte es ihm zur Schande getan. Du kennst ihn doch selbst, Jenny. Du weißt, wie er ist. Du weißt, wie sehr Mutter ihn fürchtet und wie John sich vor ihm duckt. John wollte nie in Warrington bleiben und Verwaltungsangestellter werden. Aber er mußte es, weil Vater es befahl. Victor war der einzige, der sich gegen ihn auflehnte...« Harriet schien vergessen zu haben, was sie hatte sagen wollen. Als sie schwieg, fragte Jennifer sanft drängend: »Und zu wem bist du nun gegangen, Harriet?«

»Zu meinem Bruder. Ich dachte, er könnte mir vielleicht helfen. Und - er hat's ja auch getan...«

Wie ein Automat streckte Harriet ihren rechten Arm aus, rollte den Ärmel hoch und zeigte Jennifer ihren weißen Unterarm. In der Ellbogenbeuge war ein großer roter Fleck, von dem blaurote Streifen wegführten.

»Harriet, was ist das ?«

»Das ist von einer Spritze. Wie nennt man es gleich — von einer Injektion.«

»Wo hast du die bekommen?« Jenny beugte sich über Harriets Arm. »Das sieht aus, als wäre es entzündet.«

»Ist es auch. Aber es vergeht wieder, hat er gesagt.«

»Harriet, ich begreife nicht. Was ist geschehen ? Wer hat das getan ?«

Sie faßte Harriet bei den Schultern und schüttelte sie ein wenig. Harriet sah sie an, aber ihr Blick war so leer wie zuvor. »Ich bin keine Schönheit, nicht wahr?« sagte sie leise.

»Ich bin eine graue Maus, nach der kein Mann sich umdreht. Ich werde niemals heiraten. Jetzt nicht mehr. Ich habe Sean O'Hanrahan geliebt. Ich wollte nur ihn. Aber jetzt werde ich eine alte Jungfer werden und bis zu meinem Tod eine bleiben.«

»Harriet, was war das mit der Spritze ?«

Harriet holte tief Atem. Ihr Gesicht wurde noch einen Schein blasser. Jennifer dachte flüchtig, Harriet sähe aus wie jemand, der eben mit dem Tod in Berührung gekommen war.

»Er hat gesagt, sie wäre, um mich einzuschläfern. Er wollte mich betäuben. Aber irgendwie hat es nicht gewirkt - vielleicht weil ich zuviel Angst hatte. Oder vielleicht hat er mir nicht genug von dem Mittel gegeben. Dann mußte ich mich auf den Tisch legen. Ich wollte aufstehen, aber ich war angeschnallt. Ich sagte ihm, ich wolle einschlafen. Ich hab gebettelt und gebeten. Aber er war zornig und ärgerlich. Wahrscheinlich hat er es darum getan. Er sagte, ich hätte die Familie in Schande gestürzt.«

»Harriet, wovon -«

»Er hatte ein Instrument. Ich habe gesehen, wie es im Licht funkelte. Er hielt es in der Hand und befahl mir, ganz still zu liegen. Mein eigener Bruder...«

»O Gott«, stöhnte Jennifer.

»Er sagte, das wäre die einzige Möglichkeit. Er sagte, damit erspare er mir Leid und Kummer in der Zukunft. Ich würde gar

nichts spüren, sagte er, und - oh, Jenny!« Harriet fiel plötzlich nach vorn und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ihr Weinen klang wie das Wimmern eines Kätzchens. Zitternd versuchte sie, durch ihre Hände hindurch zu sprechen. »Ich war die ganze Zeit bei Bewußtsein. Ich habe alles gespürt. Dieser Schmerz! O Gott, Jenny, der Schmerz war grauenhaft. Du hast keine Ahnung! Es war wie eine Folter. Ich spürte genau, wie dieses scharfe, grobe Instrument das Leben aus mir herauskratzte. Erst als ich den Schmerz nicht mehr ertragen konnte, wurde ich endlich bewußtlos.«

»Ach, Harriet, Harriet«, murmelte Jennifer und neigte sich vor, um Harriet über das Haar zu streichen. »Du armes, armes Kind. Du tust mir so entsetzlich leid.«

Sie weinten beide. Jennifer streichelte Harriet und versuchte mit sanfter, liebevoller Stimme, sie zu trösten. Doch schon nach ein paar Sekunden hob Harriet den Kopf und sah Jennifer mit dem verständnislosen Blick eines verletzten Tieres an. »Was soll ich jetzt tun?«

flüsterte sie. Jennifer konnte ihr keine Antwort geben.

Harriet streifte Jennifers Hände ab und stand auf. Am ganzen Körper zitternd, blieb sie schwankend vor dem Feuer stehen. Die Blässe ihres Gesichts war erschreckend, und als ich sah, daß sie gehen wollte, stürzte ich vorwärts, weil ich fürchtete, sie würde stürzen. Aber Jennifer war schon auf den Beinen und stützte sie auf dem Weg zum Bett.

»Ich möchte sterben«, sagte Harriet. »Mein eigener Bruder. Wie konnte er mir das antun. Ach, lieber Gott, laß mich doch sterben ...«

Nach den ersten stockenden Schritten zum Bettt blieb Harriet stehen und blickte zu Boden. Mit zitternder Hand hob sie langsam ihren langen Rock. Auf dem Teppich leuchtete eine rote Blutlache, die sich rasch vergrößerte.

14

Mir war an diesem Abend keine Atempause gegönnt. Obwohl ich mich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten konnte, als ich mich schwankend durch den Flur zur Treppe tastete, sollte ich schon sehr bald wieder in den Strudel der Ereignisse des Jahres 1892

hineingezogen werden.

Das schreckliche Verbrechen, das an Harriet begangen worden war, hatte mich in gleichem Maß entsetzt wie Jennifer. Aber obwohl alles darauf hinwies, daß Victor der Täter war, konnte ich nicht glauben, daß er einer solchen Scheußlichkeit fähig sein sollte. Doch auch John konnte ich nicht verdächtigen. Er mochte schwach und labil sein, skrupellos und schlecht war er nicht. Mir blieb keine Zeit, mich von meinem Entsetzen zu erholen oder länger an dieser Unglücksgeschichte herumzurätseln; ich hatte noch nicht einmal die Treppe erreicht, als ich aus dem Vorderzimmer erneut Geräusche hörte. Die Ereignisse überstürzten sich jetzt.

Ich kehrte zur Tür des Vorderzimmers zurück, lehnte mich an den Pfosten und beobachtete John, der ruhelos im Zimmer hin und her lief. Jennifer, die wieder in dem roten Samtsessel saß, verfolgte sein Hin und Her mit unglücklichem Blick. Sie hatte ein anderes Kleid an, daran erkannte ich, daß es ein neuer Tag sein mußte. »Muß es denn wirklich sein?«

fragte sie mit gequälter Stimme, während John unablässig hin und her lief wie ein wildes Tier im Käfig. Sein Gesicht war finster und hart. Er sah in diesem Moment seinem Bruder Victor ähnlicher denn je.

»Ich habe keine Wahl«, erklärte er. »Es gibt keinen anderen Ausweg. «

»Könntest du dich ihnen nicht einfach stellen ? Ließe sich denn nicht irgendeine Einigung erreichen? Mußt du wirklich fliehen wie ein Dieb?«

Er wirbelte wütend herum. »Was soll ich denn tun ? Was schlägst du vor ? Soll ich vielleicht flennend zu diesen Kerlen laufen und um Gnade betteln ? Ach, Jenny, das ist eine geldgierige und erbarmungslose Bande. Denen ist mein Leben völlig gleichgültig. Sie wollen nur ihr Geld.«

»Dann laß Victor -«

»Nein!« donnerte er so aufgebracht, daß es uns beide erschreckte. »Ich nehme keine Almosen von meinem Bruder. Und gerade jetzt möchte ich überhaupt nichts mit ihm zu tun haben.«

»John, du glaubst doch nicht im Ernst -«

»Laß diesen Schurken aus dem Spiel. Nach dem, was er Harriet angetan hat, will ich nie wieder etwas mit ihm zu tun haben. Und was mich angeht, so werde ich verschwinden, weil das für mich die einzige Möglichkeit ist, meine Haut zu retten.«

»Dann gehe ich mit dir.«

»Nein, das wirst du nicht tun, Jenny«, entgegnete er in sanfterem Ton. »Du mußt hierbleiben und auf mich warten. Ich werde in einigen Tagen fort sein, aber ich kann nicht sagen, wohin ich gehen werde. Und ich kann dir auch nicht sagen, wann ich zurückkehren werde. Ich muß mich eine Weile versteckt halten, bis die Wellen sich glätten und ich ein paar Pfund zusammenkratzen kann. Dann komme ich zurück. Du wirst doch auf mich warten, Jenny, Liebste?« Sie sah ratlos zu ihm auf.

John fiel plötzlich vor ihr auf die Knie und umfaßte ihre Hände. »Ich liebe dich, Jenny, auch wenn du mich nicht liebst. Nein, sag nichts, laß mich weitersprechen. Ich habe über manches nachgedacht, und ich weiß jetzt, daß ich an vielem die Schuld trage, weil ich dich so sehr vernachlässigt habe. Und meine Schwester auch. Wenn sie zu mir gekommen wäre, anstatt zu Victor zu gehen...« John schüttelte den Kopf. »Ich will jetzt nicht daran denken. Es ist geschehen und nicht mehr zu ändern. Aber wir, Jenny, wir haben noch eine Chance. Ich werde verreisen, und ich weiß nicht, wie lange ich fortbleiben werde. Aber du wirst sehen, wenn ich zurückkomme, wird alles anders werden zwischen uns. Ich werde als ein andrer zurückkommen, ganz bestimmt. Ich werde diese gemeinen Kredithaie bezahlen und für immer die Finger vom Glücksspiel lassen. Du wirst es sehen, Jenny, meine Liebste.«

»Ach, John«, murmelte sie traurig. »Ich wollte, du müßtest nicht fort.«

»Aber ich muß, es ist nicht zu ändern. Aber mir wird nichts geschehen, weil niemand von meinen Plänen weiß. Ich werde einfach verschwinden. Denk daran, Jenny, es ist ein Geheimnis. Sie dürfen nichts davon erfahren, denn wenn sie etwas ahnen, ist mein Leben in Gefahr. Du verstehst doch, nicht wahr ? Im Augenblick bin ich ihnen eine Nasenlänge voraus.

Aber wenn diese Leute erfahren sollten, daß ich vorhabe zu verschwinden... ach, ich möchte gar nicht daran denken. Also, es bleibt unter uns, hm ?« Ihre Schultern erschlafften. Jennifer schien in sich zusammenzusinken. »Ja, John, es bleibt unter uns.«

Als ich endlich wieder zu mir kam, saß ich unten im Wohnzimmer am Fenster. Durch den Regen zeigte sich das erste schwache Licht des Morgens, doch meine Augen nahmen es kaum auf. Das verstärkte Prasseln des Regens an den Fensterscheiben war es, das mich aus meiner Gedankenverlorenheit riß, und es wunderte mich nicht festzustellen, daß ich schon eine ganze Weile so gesessen haben mußte. Düster erinnerte ich mich, nach unten gegangen und völlig erschöpft auf diesen Stuhl gesunken zu sein. Ich blickte mich um. Nichts Warmes oder Behagliches war jetzt in diesem Zimmer. Es war kalt und grau wie der regnerische Morgen draußen, und ich fühlte mich eins mit ihm. In meiner Seele war kein Licht, nur kalte, graue Asche. Diese Nacht war zu schlimm gewesen. Nicht nur hatte ich das ganze Unglück mitansehen und hören müssen, ich hatte es auch noch fühlen müssen. Alle Gefühle meiner toten Vorfahren, gleich, welcher Natur, schienen sich ohne Abschwächung auf mich zu übertragen. Ich war nicht mehr als ein hilfloses Opfer, Leidenschaften preisgegeben, die längst

erloschen waren und doch im Rahmen dieser unerklärlichen Zeitsprünge weiterbrannten. Wie kam es, fragte ich mich, daß ich mich vor der Annäherung der Lebenden sehr wohl abschirmen konnte, daß die Toten jedoch ohne Mühe in mein Innerstes vordringen konnten? Was alles sollte ich noch leiden, ehe ich frei davon wurde ? Wenn ich überhaupt je frei davon werden sollte. Und wollte ich denn überhaupt frei sein ?

Todmüde stand ich auf und schleppte mich zum Kamin hinüber. Großmutter würde bald herunterkommen und sich wieder aufregen, wenn sie sah, daß der Gasofen nicht ging.

Ich stellte ihn an, schaltete ihn auf die niedrigste Stufe und tappte zum Sofa hinüber.

Wollte ich denn überhaupt dieses Haus jemals verlassen und wieder in mein früheres Leben zurückkehren, fragte ich mich. Würde ich es fertigbringen, Jennifers aufopfernder Liebe, der Erregung von Victors Nähe den Rücken zu kehren ? Selbst Johns ausweglose Verzweiflung und Harriets Angst und Kummer hatten mich lebendig gemacht, so daß ich mich, zeitweise wenigstens, ganz gefühlt hatte. Bestand darin ihre zauberische Kraft, in ihrer Fähigkeit, mich zum Leben zu erwecken, Gefühle in mir zutage zu fördern, die ich niemals zuvor gekannt hatte ? Ich fieberte jetzt den kurzen Episoden aus der Vergangenheit entgegen wie ein Drogensüchtiger seiner Spritze. Solange ich in der Zeit meiner Vorfahren lebte, war ich, was auch immer für Qualen ausgesetzt, wahrhaft lebendig. In den Perioden dazwischen, die mir endlos erschienen, war ich hingegen wie abgestorben. Die Stunden krochen dahin. Ich sah immer wieder auf die Uhr und konnte es nicht glauben, daß mir fünf Minuten so lang wie eine Stunde schienen. Großmutter kam nicht herunter. Als sie um acht Uhr noch immer nicht erschienen war und ich von oben keinerlei Geräusche hörte, beschloß ich, hinaufzugehen und nach ihr zu sehen.

Ich bewegte mich träge und schwerfällig. Ich sah, daß meine Fingernägel blau unterlaufen waren. Es mußte eiskalt sein in diesem

Haus, doch ich fühlte es nicht. Am oberen Ende der Treppe blieb ich stehen und lauschte. Aus dem Zimmer meiner Großmutter war kein Laut zu hören.

Jetzt wurde ich unruhig. Von Besorgnis aus meinem Zustand völliger Gleichgültigkeit gerissen, erinnerte ich mich endlich daran, wer ich war und wo, und mir fiel ein, daß Großmutter am vergangenen Tag schlecht ausgesehen hatte. Ich klopfte bei ihr. Nichts rührte sich. »Großmutter?« Keine Antwort.

Ich öffnete die Tür und schaute ins Zimmer. Es war ganz dunkel. Ich blieb einen Moment lauschend stehen und hörte immer noch nichts. Mit wachsender Besorgnis lief ich durch das Zimmer, schlug mich dabei an diversen Möbelstücken an und erreichte schließlich das Fenster. Mit einem Ruck zog ich die Vorhänge auf.

Das Bett war leer. »Was ist denn, Kind?« Ich fuhr zurück. »Großmutter!«

»Ich war im Bad, Andrea, hast du mich nicht gehört?« Ihr plötzliches Erscheinen hatte mich erschreckt. »Nein«, sagte ich. »Ich habe dich nicht gehört. Ich habe dich auch nicht aufstehen hören.«

»Ja, ich war aber auch ganz leise. Ich dachte, du schläfst vielleicht noch, und wollte dich nicht wecken. Wie fühlst du dich denn ? Ich sehe, du bist schon angezogen.«

»Ja... Ich - mir geht's gut. Gott, hast du mich eben erschreckt.«

»Du bist schrecklich nervös, Kind. Das gefällt mir gar nicht. Komm, gehen wir runter und machen uns einen heißen Tee.« Als ich wieder unten am Fenster saß und in den Regen hinausstarrte, gestand ich mir ein, wie recht meine Großmutter hatte. Ich war wirklich nervös.

Mehr als das - meine Nerven waren aufs Höchste angespannt. Aber was hätte ich anderes erwarten können. Ich aß nicht, ich schlief kaum und war Nacht für Nacht der Spielball heftiger Gefühle.

»Wirklich, Kind, ich möchte wissen, was dir fehlt. Du machst mir Sorgen. Und dazu dieser schreckliche Regen, wie sollen wir da einen Arzt ins Haus holen ?«

»Ich brauche keinen Arzt, Großmutter. Nur ein bißchen - eine Tasse Tee wird mir guttun.« Ich zwang mich, das süße Gebräu zu schlucken. Aber von meinem Toast brachte keinen Bissen herunter.

»Ist es wieder die Verdauung?«

»Nein!« Lieber Gott, niemals würde ich dieses gräßliche weiße Zeug hinunterbringen.

»Meine - Verdauung ist in Ordnung, Großmutter. Es ist nur - es ist nur...«

»Weißt du was, ich geh dir ein Glas Kirschlikör, und dann pack ich dich richtig ein, und du setzt dich ans Feuer. Du brauchst Wärme. Du frierst dich ja zu Tode. Schau dich doch nur an.« Sie neigte sich zu mir und berührte meinen Arm. »Um Gottes willen!« rief sie entsetzt. »Du bist ja so kalt wie eine Leiche!« Ich sah auf meine Arme hinunter.

»Es ist ein Wunder, daß du dir noch keine Lungenentzündung geholt hast. Wie kannst du diese Kälte nur aushaken ? Im Radio haben sie gesagt, daß die Temperaturen noch weiter fallen. Hier drinnen hat's keine zehn Grad. Ich hab drei Strickjacken an und friere immer noch. Und du - halbnackt. Ich frag mich wirklich, wie du das aushältst.«

Es ist dieses Haus, dachte ich. Es will mich langsam umbringen. Wir setzten uns ans Feuer, und obwohl ich unter der Hitze litt, blieb ich Großmutter zuliebe brav sitzen. Sie sollte sich keine Sorgen um mich machen. Und so saßen wir fast den ganzen Tag.

Am frühen Abend fühlte sich Großmutter so weit durchgewärmt, daß sie keine allzu starken Schmerzen mehr hatte, wenn sie sich bewegte. Sie ging in die Küche und machte uns ein kleines Abendessen. Wie ich es hinunterbrachte, weiß ich selbst nicht. Ich kaute und schluckte ganz automatisch, ohne etwas zu schmecken, und behielt es sogar bei mir.

Danach wurde ich schläfrig. Ich hatte schon lange nicht mehr soviel gegessen. Trotz meiner gereizten Nerven und der unablässigen Gedanken, die in meinem Kopf wirbelten, erlag ich schließlich der Hitze.

Als ich erwachte, sah ich als erstes auf die Uhr. Es war neun. Dann sah ich nach Großmutter. Sie schlummerte friedlich in ihrem Sessel. Draußen tobte immer noch der Sturm.

Im Zimmer brannte nur eine Stehlampe in der Ecke. Ein diffuses Licht erfüllte den Raum, und es zeigte mir John, der am Kamin stand. Er war nervös, trommelte mit den Fingern auf den Kaminsims, sah immer wieder auf die Uhr. Seine ganze Haltung drückte ungeduldige Erregung aus, und sein Gesicht war angespannt. Als Jennifer fast lautlos ins Zimmer schlüpfte und leise die Tür hinter sich schloß, atmete er erleichtert auf. Sie hatte eine gepackte Reisetasche mitgebracht.

»Danke, Liebes«, sagte John, als er sie ihr abnahm. »Hat dich jemand gehört?«

»Nein. Sie schlafen alle. Vater und Mutter haben sich vor ungefähr einer Stunde zurückgezogen, und Harriet schläft in unserem Bett. Ich lege mich heute nacht aufs Sofa im Salon.«

»Jenny -«

»Ich habe dir meine Granatohrringe eingepackt«, fuhr sie steif fort. »Sie haben fünf Pfund gekostet, da müßtest du eigentlich noch ein oder zwei Guineen für sie bekommen. Du wirst das Geld brauchen.«

»Jennifer.« Zaghaft und unsicher legte er die Arme um sie. »Es schmerzt mich tief, daß ich so plötzlich fort muß. Ich hatte gehofft, ich hätte noch ein paar Tage Zeit und wir könnten auf würdigere Weise voneinander Abschied nehmen. Aber nun hat mein ehrenwerter Bruder mir die Hunde auf den Hals gehetzt, und ich muß gleich fort, wenn ich mit dem Leben davonkommen will.«

Jennifers Gesicht war unbewegt, als ich ihre Wange küßte. »Du wirst mir schrecklich fehlen, Jenny, mehr als ich dir sagen kann. Ich werde oft an dich denken.« Sie sah ihn an wie versteinert. »Hast du keine Tränen für mich ?«

»Ich werde auf dich warten, John.«

»Ja, das weiß ich. Jetzt brauche ich nicht mehr zu fürchten, daß du mit Victor, diesem Schurken, auf und davongehen wirst. Jetzt, da er den Namen der Familie in den Schmutz gezogen hat, erkennst du ihn wohl endlich als den, der er wirklich ist.« Jennifer stand kerzengerade da und sah ihren Mann mit steinerner Miene an. Ich spürte die starre Kälte ihres Herzens. Sie durchdrang mich, wie Harriets Jammer mich durchdrungen hatte, und Fetzen trüber Gedanken erzählten mir vom Schmerz und Entsetzen über Victors vernichtenden Sturz.

Der Name Megan O'Hanrahan wehte bitter und schmerzhaft durch unsere Gedanken. Sie war es, die das Gerücht von Harriets Abtreibung ausgestreut und den Ruf Victors, der sie angeblich vorgenommen hatte, ruiniert hatte. Ich erinnerte mich mit Jennifer ihrer flehentlichen Bitten an ihn, die Behauptung zurückzuweisen, und ich erinnerte mich mit Jennifer seines beharrlichen Schweigens. Nicht ein einziges Wort hatte Victor zu seiner Verteidigung vorgebracht, während sich das Gerücht von der Abtreibung wie die Schwarze Pest in Warrington verbreitet hatte. In sehr kurzer Zeit war vom Ansehen Victor Townsends nichts mehr übrig gewesen.

Bilder von Mrs. Townsend stiegen auf, die vor Scham und Demütigung schwer krank geworden war und nun von ihrem Leiden an ihr Bett gefesselt war; Bilder von Mr. Townsend, der jeden Morgen stolz und hocherhobenen Hauptes den Weg zur Arbeit antrat und jeden Abend niedergedrückt wie ein geprügelter Hund heimkehrte.

Er hatte gehört, was hinter seinem Rücken getuschelt wurde, absichtlich so laut, daß er es nicht überhören konnte. Da, seht ihn euch an. Seine Tochter ist nicht mehr als eine gemeine Hure. Sein

ältester Sohn ist ein Engelmacher. Sein jüngster ist ein Trinker und Spieler.

»Du glaubst mir nicht, stimmt's?«

»Nein, ich glaube dir nicht.«

»Aber es ist wahr. Victor ging schnurstracks zu den Buchmachern und sagte ihnen, daß ich vorhabe, aus der Stadt zu verschwinden. Da sind sie natürlich prompt zu mir gekommen, haben mich bedroht und ihr Geld verlangt. Ich mußte sie mit einer Lüge abspeisen. Ich versprach ihnen, sie würden es gleich morgen bekommen. O ja, du kannst es mir glauben, das habe ich Victor zu verdanken. Er wollte mich für seinen eigenen Ruin büßen lassen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß ich davonkommen sollte. Er allein kann es gewesen sein, denn niemand sonst wußte von meinen Plänen. Nur dir und ihm habe ich davon erzählt, und ich glaube doch nicht, daß meine eigene Frau mir die Meute auf den Hals hetzen würde - oder?« Jennifer antwortete nicht. Sie hörte in diesem Moment eine andere Stimme, Victors Stimme. Sie sah sich mit ihm im Salon. Er hatte eben die Hände von den Tasten des Klaviers genommen und sagte: »Er braucht einen Schock. Er muß gezwungen werden-«

Und sie erinnerte sich ihrer eigenen Worte - »Versprich mir, daß du John in Ruhe läßt« - Victors Antwort: »Wenn es dein Wunsch ist, verspreche ich es.«

John lächelte so siegessicher wie ein Kartenspieler, der weiß, daß er die Partie gewinnen wird. »Deine Augen sagen etwas anderes als dein Mund. Ich sehe es in deinem Gesicht, Jenny, daß von deiner Liebe zu Victor nichts übriggeblieben ist.« Doch was er in Wirklichkeit sah, war die tiefe Abscheu, die sie dieser Familie und dieser Stadt entgegenbrachte für das, was sie Victor angetan hatten. Sie hatten ihn verurteilt und verdammt, ohne ihm überhaupt eine Chance zur Verteidigung zu geben. Wenn du jemandem die Schuld an all diesem Unglück geben willst, sagten ihre Augen, dann gib sie Harriet, die sich in diese

Situation gebracht hat und dann alles noch Megan O'Hanrahan erzählen mußte. Was John Townsend im Gesicht seiner Frau sah, war bittere Ernüchterung. »Du solltest jetzt besser gehen, John.«

»Ja, Liebes, ich gehe. Aber glaub mir, ich komme zurück. Bald schon. Und mit Geld in der Tasche. Du wirst sehen.« Ich entdeckte einen Unterton beinahe freudiger Erregung in seiner Stimme und ein Blitzen von Abenteuerlust in seinen Augen. John Townsend hatte es endlich geschafft, der Fuchtel seines Vaters zu entkommen. Er riskierte dabei vielleicht Kopf und Kragen, und er ging in Schande, aber er tat endlich das, worum er Victor immer beneidet hatte: Er ging fort aus diesem Haus. »Dann wird es uns gutgehen, und wir werden in unserem eigenen Haus leben. Ich engagiere dir ein Dienstmädchen und lasse ein Telefon installieren.

Was sagst du dazu, Jenny, Liebes, ein Telefon !«

»Es ist spät John.«

Ohne ein weiteres Wort nahm er die Reisetasche, küßte Jennifer kurz und heftig und eilte aus dem Zimmer. Sie blieb reglos stehen, und wir hörten, wie er leise die Zimmertür hinter sich zuzog und wenig später die Haustür. Als sie gewiß war, daß er fort war, als im Haus Grabesstille eingekehrt und nur noch das feine Ticken der Uhr zu hören war, stieß Jennifer ein herzzerreißendes Schluchzen aus und stürzte zu Boden. Als ihre Hand meinen Fuß berührte, verschwand sie.

Gegen halb zehn erwachte Großmutter aus ihrem Schlummer. Mit Hilfe ihres Stocks stemmte sie sich aus dem Sessel und humpelte hinaus, um nach oben in ihr Zimmer zu gehen.

Ich hörte, wie sie im Bad heißes Wasser in die Wärmflaschen laufen ließ und dann in ihr Zimmer tappte. Ich hörte das Quietschen der Sprungfedern, als sie sich in ihr Bett sinken ließ.

Danach strich ein wispernder Wind durch das Haus, und es war, als seufzten die Wände. Ich wartete ungeduldig auf meine nächste Begegnung.

Sie erfolgte wenige Minuten später.

Während ich noch über das Unglück nachdachte, das die Familie Townsend damals heimgesucht hatte, hörte ich im Salon Geräusche. Langsam, unsicher ging ich hinüber. Noch vor wenigen Tagen hatte ich nur heitere Szenen miterlebt, ganz normale Familienszenen, in denen sich die Townsends wie jede andere Familie gezeigt hatten. Aber dann war eine Wendung erfolgt. Die Episoden, deren Zeugin ich wurde, waren immer beängstigender geworden. Sie hatten jetzt etwas Makabres, Untertöne von Blut und Schande und Vernichtung.

Was würde ich diesmal erleben ? Wie weit würde diese Familie in ihrem Hang zur Selbstzerstörung noch gehen ?

Harriet war im Salon. Sie lag auf dem großen Sofa, den Kopf in die Arme gedrückt, und schluchzte. Ich blieb an der Tür stehen, nicht ohne Mitgefühl mit diesem Kind, das so ahnungslos in die Welt der Erwachsenen hineingestolpert war. Ich hätte gern gewußt, was für einen Tag man schrieb, in welchem Jahr wir uns befanden. Wieviel Zeit war seit der Abtreibung vergangen ? Was war in der Zwischenzeit geschehen ? Wo war Victor ? Was war nach seinem Sturz aus ihm geworden ? Und war Scan O'Hanrahan verschwunden ? War John schon zurück, die Taschen voller Geld vielleicht ? Oder hatte sich etwas Neues ereignet, das mir jetzt offenbart werden sollte ?

»O Gott, o Gott, o Gott«, schluchzte Harriet unaufhörlich. »Es ist alles meine Schuld.

Ich hab's ihm gesagt. Ich hab's ihm selbst gesagt. Ich hätte den Mund halten sollen. Ich brauchte es ihm nicht zu sagen.«

Sie marterte sich mit Selbstvorwürfen.

Das Feuer im Kamin war fast ganz heruntergebrannt, und das Zimmer wirkte düster.

Harriet lag da, als hätte sie sich in einem heftigen Anfall von Verzweiflung niedergeworfen.

»Natürlich ist er jetzt böse und bitter. Ich hätte es ihm nicht sagen sollen. Er ist böse, und darum hat er es getan. Ich kann's ihm nicht einmal übelnehmen. Ich kann nur mir selbst die Schuld geben. Ja,

ich bin selbst schuld daran, weil ich so dumm war. So unglaublich dumm.«

Den Rest verstand ich nicht. Sie schluchzte in ihre Arme und brabbelte immer weiter.

Nur ab und zu, wenn sie sich besonders heftig erregte und laut wurde, konnte ich verstehen, was sie sagte. »Ach, hätte ich doch nur den Mund gehalten. Dann hätte er das nicht getan.

Jetzt kann ich nie wieder unter Menschen gehen.« Sprach sie immer noch von Scan ? Oder meinte sie Victor ? Als Harriet sich schließlich aufsetzte und sich die Augen wischte, wich ich entsetzt und erschrocken zurück. Sie sah aus, als hätte man ihr den Kopf geschoren. Sie stand auf und ging zu dem goldgerahmten Spiegel, der über dem Kamin hing. Voller Abscheu musterte sie sich darin. »Du kannst es ihm nicht übelnehmen«, murmelte sie wieder, während sie ihr verschwollenes Gesicht unter dem kurzgeschnittenen Haar betrachtete. »Er ist böse auf dich, und das ist kein Wunder. Er wußte nicht, wie er seinen Zorn und seine Wut sonst an dir auslassen sollte. Du hättest dich gleich umbringen sollen, dann wären jetzt alle froh und glücklich. Ihm wäre die Schande erspart geblieben. Mutter wäre nicht krank geworden, und John wäre nicht davongelaufen. Ja, ja, schau dich nur an! Wer kann ihm einen Vorwurf machen ?«

Es war kaum Bitterkeit in ihrer Stimme. Sie sprach eher in einem kindlich flehenden Ton, wie das Opfer, das seinen Folterknecht anbettelt, es zu verschonen.

Sie sah schrecklich aus. Von dem schönen kastanienbraunen Haar, das voll und lockig ihr Gesicht umrahmt hatte und das einzig wirklich Reizvolle an ihr gewesen war, waren nur noch millimeterkurze, ungleichmäßig geschnittene Büschel übrig, die stachlig von ihrem Kopf abstanden. An manchen Stellen war das Haar so kurz, daß die nackte Kopfhaut durchschimmerte. Mit dem verschwollenen Gesicht, den rotgeränderten Augen und dem borstig wirkenden Haar sah Harriet beinahe aus wie der kleine Affe eines Drehorgelmanns.

Ich bedauerte den Vergleich augenblicklich. Ich sah ja, wie gequält und unglücklich sie war, und sie tat mir in der Seele leid. Ich fragte mich, wer sie so grausam zugerichtet hatte und warum. »Ich hab's verdient«, flüstert sie weinend vor dem Spiegel. »Ich hab's verdient. Er hatte alles Recht dazu, nach dem, was ich ihm angetan habe. O Gott - er hatte das Recht dazu.« Nicht fähig, den eigenen Anblick länger zu ertragen, rannte Harriet vom Spiegel zum Sofa zurück, warf sich erneut darauf nieder und begann wieder zu schluchzen.

Ich dachte an das unschuldige und sensible Kind, das sie gewesen war, und hatte nur den Wunsch, sie zu trösten, ihr irgendwie zu helfen. Ohne Überlegung sagte ich: »Harriet, was ist denn geschehen?« Und sie riß den Kopf in die Höhe und starrte mich an.

15

Nun war es also endlich soweit! Das, was ich gehofft und gefürchtet hatte, war eingetreten: Die Verbindung zur Vergangenheit war hergestellt.

War dies der Grund, weshalb ich in diesen Ablauf der Ereignisse hineingezogen worden war? War dies der Zweck, den ich zu erfüllen hatte? Es war, als hätten sich plötzlich die Wolken gelichtet und die Sonne träte hervor.

Bei meinen Worten hatte Harriet zu weinen aufgehört und aufgeblickt. Ihr Gesicht war erschrocken gewesen, als hätte sie sich ertappt gefühlt. Und doch hatte sie mich anscheinend nicht wirklich gesehen. Sie hatte mit zusammengekniffenen Augen in meine Richtung geblickt, als versuchte sie, etwas zu erkennen, und dann hatte ihr Gesicht sich entspannt. Was war ich in diesem Moment für sie gewesen? Eine optische Täuschung, durch einen Lichtreflex hervorgerufen? Ein Schatten an der Wand? Was hatte Harriet gesehen, als sie den Kopf gehoben und zu mir herübergeblickt hatte?

Viel konnte es nicht gewesen sein. Nachdem sie einen Moment lang wie fragend den Kopf zur Seite geneigt hatte, hatte sie ihn wieder auf ihre Arme gesenkt und weitergeweint.

Doch es blieb die Tatsache bestehen, daß sie mich gehört hatte. Ich hatte ihren Namen gerufen, und sie hatte mich gehört. Und dann hatte sie etwas gesehen - drüben, an der offenen Tür. Meiner Meinung nach konnte das nur eines bedeuten: daß das Zeitfenster größer wurde; daß nun auch der letzte der Sinne - der Tastsinn - miteinbezogen wurde und die Möglichkeit der Berührung gegeben war.

Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und ließ die Ereignisse der anderthalb Wochen, die ich nun in Großmutters Haus lebte, in mir Revue passieren. Ich erinnerte mich meiner ersten ›Begegnungen‹. ›Für Elise‹ vor dem Hintergrund der Dudelsäcke. Victor am Fenster.

Es ergab eindeutig ein Muster. Erst das Gehör. Dann das Gesicht. Dann der Geruch. Dann vage körperliche Empfindungen wie zum Beispiel Kälte oder ein Gefühl der Nähe, wenn einer von ihnen an mir vorüberging. Und heute abend schließlich hatte Jennifers Hand meinen Fuß berührt. Wir kamen in Kontakt.

Und mit dem Kontakt würde die Verbindung kommen. Hatte nicht Victor sich einmal umgedreht, als ich ihn beim Namen gerufen hatte? Und jetzt Harriet. Harriet hatte augenblicklich reagiert, als ich sie angesprochen hatte.

Es war also soweit. Für mich gab es jetzt keinen Zweifel mehr daran, daß ich bald in der Lage sein würde, mit ihnen zu sprechen, mich ihnen bemerkbar zu machen, ihnen sichtbar zu werden. Darauf also hatte alles hingeführt, auf diesen letzten Moment, da ich wirklich zu ihnen gehören würde.

Aber wozu? Aus welchem Grund? Sollte ich in diesem Drama der Vergangenheit eine aktive Rolle spielen? War ich dazu bestimmt, irgendwie einzugreifen?

Das mußte es sein. Eine andere Erklärung fiel mir nicht ein. Aus irgendeinem Grund war ich auserkoren worden, im Familiendrama der Townsends eine Rolle zu übernehmen.

Während ich mich mit Fragen herumschlug, auf die ich bei mir keine Antworten finden konnte, rannte ich im Wohnzimmer umher wie in Raserei. Ich war enttäuscht über meinen Mangel an Wissen und Verständnis, zornig, daß ich nicht klar und deutlich erkennen konnte, worauf alles hinauslief.

Ich ging in die Küche, schenkte mir ein großes Glas von Großmutters Kirschlikör ein und kippte es hinunter. Es war nur ein leichter Likör, der mir nicht die erwünschte Entspannung brachte, aber es war immerhin etwas.

Als ich die Küchentür hinter mir schloß und die Polsterrolle wieder an ihren Platz schob, schoß mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf, bei dem mir glühend heiß wurde.

Wenn es mir soeben

gelungen war, die Kluft zu Harriet zu überbrücken, und wenn diese Kluft, wie ich fest glaubte, mit der Zeit schrumpfen würde, bedeutete das dann nicht, daß ich bald auch mit Victor Townsend würde Kontakt aufnehmen können?

Ich ließ mich erregt aufs Sofa fallen. Mich Victor zeigen! Mit. ihm sprechen!

Unvorstellbar!

Aber wieso unvorstellbar, da ich doch genau diese Vorstellung im Fall von Harriet und Jennifer ohne Schwierigkeiten akzeptieren konnte? Wieso war da eine Verbindung zu ihm für mich undenkbar?

Weil es nicht sein darf, kam die angsterfüllte Antwort aus meinem Innern. Du darfst dich ihm nicht zeigen. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Ich hatte die Berührung von Jennifers Hand an meinem Fuß gespürt. Ich hatte Harriet angesprochen und war gehört worden. Wie würde der nächste Schritt aussehen? Würde ich plötzlich mitten unter ihnen sichtbare Gestalt annehmen, mit Victor sprechen, seine Berührung fühlen.

»Es ist jetzt schon zwei Monate her«, sagte jemand ganz in meiner Nähe.

Ich hob mit einem Ruck den Kopf. Jennifer und Harriet saßen in den Sesseln vor dem Feuer.

»Wir hätten doch wenigstens einen Brief bekommen müssen oder irgendein anderes Lebenszeichen«, sagte Harriet. »John ist jetzt genau zwei Monate fort.«

Jennifer war so verändert, daß ich erschrak. Ihre strahlende Schönheit war von einer tiefen Schwermut überschattet, die ihr Gesicht bleich machte und zu beiden Seiten ihres Mundes tiefe Linien eingegraben hatte. Ihre Schultern waren gebeugt, als trüge sie eine schwere Last, und ihr Haar war nachlässig frisiert. Sie wirkte um Jahre gealtert, und doch waren seit Johns Flucht erst zwei Monate vergangen.

Harriet, die an einem Taschentuch stickte, trug ein Spitzenhäubchen auf dem Kopf, das ihr kurz geschnittenes Haar ganz verbarg. Die beiden jungen Frauen wirkten niedergeschlagen und unfroh.

»Vielleicht«, meinte Jennifer, deren schmale Hände untätig auf den Sessellehnen lagen, »ist er an einem Ort, von wo er keine Briefe absenden kann. Oder vielleicht ist er auch sehr weit weg, und die Briefe, die er geschrieben hat, sind verlorengegangen.«

»Er hätte telegrafieren können.«

»Wer weiß, wo er ist, Harriet. Vielleicht befindet er sich schon auf der Rückreise und möchte uns überraschen.« Harriet schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie Victor das tun konnte. Wie er seinem eigenen Bruder so etwas antun konnte.«

»Keiner von uns ist ganz ohne Tadel, Harriet.« Ich versuchte, mich ihren Gedanken und Gefühlen zu öffnen, um das Unausgesprochene zu erfahren. Aber das einzige, was ich empfing, war eine einfache Botschaft von Jennifer: Ich habe Victor seit fast drei Monaten nicht mehr gesehen. Das also war der Grund für ihre Veränderung, für den apathischen Blick, mit dem sie ins Feuer starrte. Es war so still im Zimmer, daß jeder Nadelstich Harriets in dem straff gespannten Leinen des Taschentuchs zu hören war.

Ich wünschte mir, ich hätte in diesem Augenblick mit Jennifer sprechen können, mit ihr allein, ohne Harriet. Ich hätte ihr so gern gesagt, daß Victor zurückkommen würde, daß ihre gemeinsame Zeit noch nicht um war.

Im Geist hörte ich Großmutters Worte: Victor kam eines Abends betrunken nach Hause und zwang sie.

Ja, dachte ich traurig, deine Zeit mit Victor ist noch nicht um. »Ich glaube, Victor ist völlig verbittert, seit er den Posten in Edinburgh ausgeschlagen hat«, bemerkte Harriet. »Er war ja wie verwandelt, als er nach Hause kam, nicht wahr? Und er ist nie mehr der alte geworden. Das ist jetzt zwei Jahre her, aber ich erinnere mich an den Abend, als wäre es gestern gewesen. Wie schockiert er war, als er von deiner Heirat mit John hörte! Und wie er Hals über

Kopf hinausstürmte und sich im Horse's Head einmietete. Ich habe nie verstanden, warum er Vater nachgegeben hat und hierher zurückgekommen ist. Es war doch abgemacht, daß er den Posten in Schottland übernehmen würde. Und dann tauchte er plötzlich hier auf.«

»Manchmal ändert man eben seine Pläne.«

»Ja, das ist wahr. Und vielleicht hat John auch seine Pläne geändert. Was ist, wenn er nicht mehr nach Hause kommt? Was wirst du dann tun?«

Jennifer zuckte die Achseln. Es war unwichtig. Ohne Victor war alles unwichtig.

Der ätzende Unterton in Harriets Stimme beunruhigte mich. In den drei Monaten, seit sie ihr Kind verloren hatte, schien Harriet bitter und hart geworden zu sein. Die abwertende Art, wie sie von Victor gesprochen hatte, gab mir Anlaß zu der Frage, ob nicht er derjenige gewesen war, der ihr zur Strafe das schöne Haar abgeschnitten hatte. Ich hatte noch die Worte im Ohr, die sie im Salon zu sich selbst gesprochen hatte. »Er hat dich bestraft, weil du es gesagt hast. Sein gutes Ansehen ist ruiniert. Er wußte nicht, wie er sonst seinen Zorn und seine Wut an dir auslassen sollte.«

Ich schüttelte die Erinnerung ab. Mochten die anderen ihn verdammen, ich konnte nicht glauben, daß Victor der schlechte und gemeine Mensch war, als den seine Nachkommen ihn hinstellten. Wie Großmutter ihn beschimpft hatte! Ihm allein hatte sie die Schuld an der Tragädie dieser Familie gegeben. Aber Victor war so sehr Opfer wie die anderen und gewiß nicht der allein Verantwortliche.

Mein Kopf begann zu schmerzen. Ich rieb mir die Augen und kämpfte gegen das Gefühl, daß an dem, was alle behaupteten, vielleicht doch etwas Wahres sein könnte.

Großmutter hatte ihre Geschichten nur aus zweiter und dritter Hand, aber hier sprachen die, welche ihm am nächsten gewesen waren. Was war in diesen letzten drei Monaten wirklich geschehen?

Als ich meine Hände von den Augen nahm, sah ich, daß Jennifer und Harriet mich verlassen hatten. Ich war wieder allein in dem tristen kleinen Wohnzimmer, mein Kopf schmerzte zum Zerspringen, und mein ganzer Körper schrie nach Schlaf. Ich blickte trostlos auf das regenasse Fenster. Wie lange würde ich noch die Gefangene dieses Hauses und seiner Vergangenheit bleiben?

Zuerst glaubte ich, das Dröhnen sei in meinem Kopf, aber als ich die Augen öffnete und das wäßrig graue Morgenlicht durch die Scheiben sickern sah, erkannte ich, daß es von Großmutter kam, die oben mit ihrem Stock auf den Boden klopfte. Ich stand aus dem Sofa auf und versuchte, mich aus den Nebeln des Schlafs zu befreien. Als ich auf die Uhr sah, stellte ich fest, daß es fast acht war. Ich hatte anscheinend den größten Teil der Nacht geschlafen, aber ich fühlte mich wie gerädert. Ich war so schlapp und kraftlos, daß ich die Treppe hinaufkeuchte wie eine uralte Frau. Wie schaffte Großmutter das nur? Als ich in ihr Zimmer kam, saß sie schon aufrecht in ihren Kissen, und sie war es, nicht ich, die rief: »O mein Gott, du siehst ja schrecklich aus!«

»Wie fühlst du dich heute morgen, Großmutter?«

»Die Arthritis hat mich immer noch in ihren Fängen, Kind. Aber der Regen kann ja nicht ewig anhalten. Im Radio haben sie wenigstens gesagt, daß es heute abend besser wird.

Dann bekommen wir vielleicht ein bißchen Sonne. Elsie und William werden sicher vorbeikommen, wenn der Regen nachläßt. Dein Großvater hat ja jetzt schon ein paar Tage keinen Besuch mehr gehabt. Wir dürfen ihn nicht beunruhigen.«

»Kannst du nicht aufstehen, Großmutter?«

»Andrea, was ist mit deinen Augen?«

»Ich weiß nicht. Warum?«

»Schau dich doch nur mal an.« Ich ging zum Toilettentisch und warf einen scharfen Blick in den Spiegel. Meine Augen waren so rot und verschwollen, als hätte ich einen Boxkampf hinter mir.

»Und wie blaß du bist. Du siehst richtig ausgelaugt aus. Ja, völlig ausgelaugt. Als hätte dir jemand das ganze Blut aus den Adern gesogen. Wie fühlst du dich denn?«

»Ach, ganz gut. Nur müde bin ich.«

»Ich glaube, für dich ist es das Beste, wenn du bald wieder nach Hause fliegst. Wenn dieses schlechte Wetter vorbei ist, gehst du ins Reisebüro und buchst einen Flug.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Das klingt, als wolltest du mich loswerden.«

»Unsinn! Aber ich mache mir Sorgen um dich, Kind.« Meine Großmutter sah mich so ernst und durchdringend an, daß ich mich abwenden mußte. Tief im Innern spürte ich die Veränderung, die sich vollzog. Ich wußte, daß mir etwas fehlte, aber ich hatte zu große Angst, es mir einzugestehen. Wenn ich es einfach ignorieren, darüber hinweggehen, so tun konnte, als wäre es nicht da... Doch Großmutters tiefe Besorgnis machte mir auf unangenehme Weise bewußt, daß mit mir etwas nicht in Ordnung war. »Ich mache dir eine Tasse Tee, Großmutter.

Und Toast dazu?«

»Ach, das ist lieb von dir. Obwohl es mir weiß Gott nicht recht ist, mich von dir bedienen zu lassen. Aber wer hätte gedacht, daß solches Regenwetter kommt, hm? Laß dir Zeit, Kind, und sag's mir, wenn das Wetter besser wird. Du weißt, sobald es ein bißchen heller wird, werden Elsie und William kommen.« Ich spürte ihren scharfen Blick im Rücken, als ich zur Tür hinausging. Im Flur, wo sie mich nicht mehr sehen konnte, lehnte ich mich an die Wand und holte mehrmals tief Atem. Ich fühlte mich so schwach wie kurz vor einem Zusammenbruch. Es war eine Kleinigkeit, den Tee zu kochen und den Toast zu machen, solange ich nur durch den Mund atmete und darauf achtete, daß der Geruch nicht in meine Nase drang. Wenn das doch geschah, bekam ich sofort heftigen Brechreiz und mußte schleunigst aus der Küche stürzen. Als ich schließlich mit einem einigermaßen appetitlich gerichteten Tablett zu meiner Großmutter ins Zimmer trat, sah sie sich ihr Frühstück erfreut an und fragte: »Wo ist denn deins?«

»Unten, Großmutter. Ich esse gleich unten, wenn du nichts dagegen hast.«

»Natürlich. Sieh zu, daß du runterkommst und setz dich an die Heizung. Dreh sie ruhig ganz auf. Ach, warum ziehst du nicht eine Wolljacke von mir über.«

»Im Wohnzimmer ist es ja warm.«

»Weißt du, du bist furchtbar mager geworden. Was soll denn deine Mutter sagen, wenn sie dich sieht? Sie wird sich fragen, was wir hier mit dir angestellt haben. Ehrlich, du bist so klapprig wie ein Skelett.«

Ich nickte nur und dachte, gestern hast du mich mit einer Leiche verglichen. Vielleicht werde ich wirklich langsam eine. Als ich wieder unten im Wohnzimmer war, ließ ich mich in einen der beiden Sessel fallen und rührte mich nicht mehr von der Stelle. Ich war wirklich wie tot. Ich konnte nur auf die Entfaltung der nächsten Episode warten, meine kostbaren Momente mit der Vergangenheit. So unglücklich und tragisch sie waren, ich sehnte mich nur nach ihnen. Sie waren meine Wirklichkeit. Aber warum raubten sie mir Schlaf und Appetit? War das notwendig? Wie lange konnte ich das durchhalten, ohne tatsächlich zusammenzubrechen?

Wenn Elsie heute abend oder morgen vorbeikam, würde sie bestimmt erschrecken - ich war ja selbst erschrocken, als ich mich im Spiegel gesehen hatte - und versuchen, mich zu sich nach Hause zu holen.

Würde ich gehen dürfen? Oder hielten sie mich hier fest, um mich langsam zu töten, damit ich eine der Ihren werden würde?

Am Nachmittag war ich wieder in der Vergangenheit. Ich war eingeschlafen, aber ich fand weder Frieden noch Ruhe in diesem Schlaf. Schreckliche Träume quälten mich, und eine tödliche Kälte hüllte mich langsam ein, drang durch meine Haut und meine Knochen bis ins Mark. Zitternd vor Kälte hatte ich mich den ganzen Nachmittag herumgewälzt und war, als ich erwachte und Jennifer allein am Kamin sitzen sah, noch matter und erschöpfter als zuvor.

Sie war dabei, einen Brief zu schreiben. Ich rutschte bis an die äußerste Kante des Sofas und beugte mich, die Ellbogen auf die Knie gestützt, so weit vor, wie ich konnte. Nun konnte ich lesen, was sie schrieb.

»Juli 1894 Liebster Victor, ich schreibe diesen Brief in der Hoffnung, daß er von einem hilfreichen Menschen befördert wird, der weiß, wo Du Dich aufhältst, und daß er Dich so über kurz oder lang erreicht. Ich habe Dir mittlerweile drei Briefe geschrieben, die alle ohne Antwort geblieben sind. Vielleicht hast Du sie nicht erhalten. Vielleicht möchtest Du mir nicht antworten. Ich werde dennoch versuchen, an der Hoffnung festzuhalten, daß Du am Leben und bei guter Gesundheit bist und mir antworten könntest, wenn Du nur wolltest.

Vier Monate sind vergangen, seit ich Dich das letzte Mal gesehen habe. Wie gut ich mich an den Tag erinnere. Ich sehe noch Mr. Johnson vor mir, wie er dich von der Kanzel herab verdammte, während Du stolz und aufrecht in der Kirche saßest und mit keiner Miene verrietst, wie sehr die Verletzungen schmerzten. Und als ich Dich später am selben Nachmittag beschwor, Dein Schweigen zu brechen und Dich zu verteidigen, sagtest du nicht ein einziges Wort zu mir, sondern gingst daran, deine Koffer zu packen. Ich werde niemals verstehen, warum Du es schweigend hinnahmst, daß diese Stadt Dich an den Pranger stellte, obwohl doch Menschen dawaren, die an Dich glaubten. Ich weiß nicht, ob Du getan hast, was man Dir vorwirft, und ich würde mir niemals anmaßen, ein Urteil über Dich zu fällen. Aber ich weiß eines - an dem Tag, an dem Du aus Warrington fortgingst, ist etwas in mir gestorben.

Ich möchte, daß Du zurückkommst, Victor. Oder daß Du mich zu Dir kommen läßt, ganz gleich, wo Du bist. Warum willst Du nicht begreifen, daß es Menschen gibt, die Dich lieben und Deine Abwesenheit nicht ertragen können?

John ist nicht zurückgekehrt und hat auch niemals geschrieben. Ich fürchte, ich werde nie wieder von ihm hören. Wo immer Dein Bruder auch sein mag, vielleicht ist er dort glücklicher. Ich frage mich, ob Du es auch bist.«

Jennifer hörte plötzlich zu schreiben auf, packte das Blatt mit einer raschen, zornigen Bewegung, zerknüllte es in ihrer Hand und warf es ins Feuer. Dann schlug sie beide Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen.

Ich war ihr so nahe, daß ich den Duft ihres Rosenwassers riechen konnte. Ihre schmalen Schultern zitterten, Sie dauerte mich so sehr, daß ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Ich besaß das Wissen, das sie trösten konnte; ich wußte, daß Victor zurückkehren würde. Aber wie konnte ich ihr das mitteilen?

Ich versuchte es wieder.

Ich holte tief Atem, um mir Mut zu machen, und sagte dann in ruhigem Ton:

»Jennifer.«

Mit einem Ruck hob sie den Kopf und kniff die Augen zusammen, als versuche sie, mich zu sehen.

»Jenny«, sagte ich, ohne mich von der Stelle zu rühren. Mein Herz klopfte wie rasend.

Jetzt war es soweit! Das war der Moment des Durchbruchs. »Jenny, du brauchst nicht zu weinen. Er wird zurückkommen. Victor wird zurückkommen.« Sie hielt einen Moment den Atem an. »Wer - wer bist du?« Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden vor Anstrengung und Spannung. »Eine Freundin.«

»Du kommst mir bekannt vor...«

»Er kommt zurück, Jenny...« Doch noch während ich mit Jennifer sprach, verschwand sie mir aus den Augen. Ich glitt von der Couch und blieb wie betäubt auf dem Boden liegen.

Das Zimmer drehte sich in schwankenden Kreisen um mich, der Boden hob sich, und die Zimmerdecke senkte sich herab. Die Wände kamen mir entgegen und wichen wieder zurück.

Ich krallte meine Finger in den dünnen Teppich, um nicht ins Leere zu stürzen. Ich spürte, wie der Boden unter mir sich öffnete, und ein Gefühl überkam mich, als treibe ich im freien Raum.

Als das Zimmer wieder ruhig wurde und ich wieder festen Boden unter mir fühlte, stand ich stöhnend auf. Ich war so matt, daß diese einfache Handlung meine ganze Kraft und Konzentration in Anspruch nahm, und als ich mich endlich hochgerappelt hatte, schaffte ich es nicht, aufrecht stehenzubleiben. Ich taumelte so stark, daß ich mich sofort wieder in das Sofa fallen ließ.

Mein ganzer Körper war schweißgebadet. Das T-Shirt lag naß auf meiner Haut, mein feuchtes Haar klebte mir im Nacken. Und ich fühlte mich am ganzen Körper krank und elend.

Ich hatte, wenn auch nur einen flüchtigen Moment lang, die Zeitbrücke überschritten.

Jennifer hatte mich gesehen, hatte zu mir gesprochen. Sie mußte mich einen Augenblick lang in aller Deutlichkeit wahrgenommen haben, denn sie hatte ja geglaubt, mich zu kennen. Lag es an der Familienähnlichkeit? Oder hatte es einen anderen Grund? Langsam wurde mir die Tragweite dessen, was geschehen war, voll bewußt. Ich hatte die Kluft zwischen den Zeiten überwunden. Einen Herzschlag lang war ich in der Welt des Jahres 1894

gewesen.

Ich wußte jetzt mit Gewißheit, daß meine nächste Begegnung länger dauern, intensiver sein würde. Ich würde mit ihnen sprechen, sie berühren - und was noch? Und mit wem?

Victor? Wäre ich nicht körperlich so geschwächt gewesen, so wäre ich vielleicht auf den Gedanken gekommen, mich zu fürchten. So aber, erschöpft und ausgelaugt wie ich war, konnte ich nur immer über das Phänomen nachdenken, dem ich mich jetzt gegenübersah. Es gab jetzt für mich keinen Zweifel mehr daran, daß meine Reisen in die Vergangenheit einen ganz bestimmten Sinn hatten. Es hatte seinen guten Grund, daß ich in die Vergangenheit geholt wurde.

Aber was für ein Grund war das?

Ich streckte mich auf der Couch aus und ließ in der linden Wärme des Zimmern meine Haut und meine Kleider trocknen. Nebelhaft noch begann sich eine Vorstellung in meinem Hirn zu bilden. Es hatte etwas mit Veränderung zu tun.

Schon einmal hatte ich die Zeitkluft überwunden und hatte den Ablauf der Ereignisse im Jahr 1894 unterbrochen. Ich hatte Jennifer aus ihrer Traurigkeit gerissen und ihr gesagt, daß Victor zurückkehren würde.

Was würde ich das nächste Mal tun? Was würde ich zu dem nächsten toten Townsend sagen, mit dem ich zusammentreffen würde?

Natürlich. Das war es. Das war der Sinn. Das war der Zweck, den ich zu erfüllen hatte.

Ich konnte zurückgehen in der Zeit und die Geschichte verändern.

Schon hatte ich den ersten kleinen Schritt in dieser Richtung getan. Ich hatte Jennifer getröstet und ihr gesagt, daß sie Victor wiedersehen würde. Hätte ich es nicht getan, so hätte sie weiter getrauert und geweint, wäre todunglücklich gewesen, bis zu dem Tag seiner Rückkehr. So aber, dessen war ich sicher, saß sie jetzt, in diesem Moment, an einem Juliabend des Jahres 1894 in ihrem Wohnzimmer und machte sich Gedanken über die Prophezeiung, die sie aus dem Mund einer geisterhaften Erscheinung gehört hatte. Und zweifellos hatte sie jetzt wieder einen Funken Hoffnung, der ihr versagt geblieben war, hätte ich nicht eingegriffen.

Was also würde dann als Nächstes kommen? Was würde ich bei der nächsten Begegnung mit einem Mitglied der Familie Townsend sagen oder tun?

Eines fiel mir auf und irritierte mich: Ich hatte keine Entscheidungsfreiheit darüber, ob und wann ich rückwärts reisen wollte; ich konnte nicht einmal aus eigener freier Wahl dieses Haus verlassen. Dennoch war es mir überlassen, mit meinen Vorfahren Verbindung aufzunehmen oder nicht. Ich war nicht gezwungen worden, jene Worte zu Jennifer zu sprechen. Ich hatte sie aus freiem Willen gesprochen. Die Entscheidung, einzugreifen oder nicht, lag offenbar ganz bei mir.

Aber welchen Zweck, welche Aufgabe sollte ich dann erfüllen? Warum war ich auserkoren worden, in die Vergangenheit zurückzukehren, wenn es dann ganz mir überlassen blieb, ob ich in die Ereignisse eintrat oder an ihrer Peripherie verharrte? Und wozu eingreifen? Warum sollte mir überhaupt der Gedanke kommen einzugreifen?

Das hatte doch nur einen Sinn, wenn es einem guten Zweck diente.

Plötzlich hatte ich die Antwort.

Ich hob den Kopf und blickte zum Fenster gegenüber, ich sah den Regen, der immer noch in Bächen an den Scheiben herabströmte, und ich dachte, es liegt in meiner Macht, das Schicksal dieser Familie zu ändern.

Plötzlich erschien mir alles ganz einfach, gar nicht mehr rätselhaft. Das Geheimnis war endlich gelüftet. Ich wußte, wozu ich in das Haus in der George Street gekommen war.

Ich wußte, wozu ich auserwählt worden war und worin meine Bestimmung lag.

»Solange Victor Townsend lebte, machte er den Menschen in diesem Haus das Leben zur Hölle.«

Das hatte meine Großmutter an meinem zweiten Tag in diesem Haus zu mir gesagt.

Sie hatte von »unsäglichen Scheußlichkeiten« gesprochen, Victor als einen Teufel bezeichnet, der mit dem Satan in Verbindung stand. Mir war jetzt alles klar. Von seinem Bruder und den Bürgern des Städtchens zu Unrecht verdächtigt und verdammt, war Victor Townsend in Zorn und Bitterkeit fortgegangen. Sein Leben war verpfuscht. Er hatte seine berufliche Karriere aufgegeben, er hatte Jennifer verloren, er war aufs Schlimmste verleumdet und aus seiner Heimat vertrieben worden.

Während ich auf dem Sofa saß und ins Leere starrte, sah ich ihn vor mir, wie er nach Hause zurückkehrte, ein völlig anderer. Ich sah ihn getrieben von finsterer Rachgier, die einen grausamen, brutalen Menschen aus ihn gemacht hatte, für den nur noch eines zählte - es denen heimzuzahlen, die ihn mit Füßen getreten oder tödlich verletzt hatten.

War es so gewesen? War Victor nach Monaten des Alleinseins und der Einsamkeit, in denen der Gedanke an Rache allmählich sein Herz vergiftet hatte, mit dem Ziel zurückgekehrt, die zu vernichten, die er einst geliebt hatte?

War an Großmutters Geschichten vielleicht doch etwas Wahres?

Die Stunden verrannen träge. Ich saß in unveränderter Haltung auf dem Sofa, gelähmt von meiner körperlichen Schwäche und niedergedrückt von meinen Gedanken, die unablässig um dasselbe kreisten.

Es lag, sagte ich mir, in meiner Macht, wenn nicht Harriet, so doch wenigstens Jennifer vor der Rache des außer sich geratenen Victor Townsend zu bewahren. Wenn er wirklich so zurückkehren sollte, wie ich es mir vorstellte, würde es mir dann möglich sein, einzugreifen und Jennifer vor dem Schicksal zu retten, das ihr zugedacht war?

Konnte ich die Geschichte verändern?

Und wenn ich es tat, was würde dann aus mir werden? Jennifer war meine Urgroßmutter. Sie war von Victor vergewaltigt worden, und aus diesem Akt der Gewalt war Robert hervorgegangen, ihr Sohn, mein Großvater. Was aber würde geschehen, wenn es mir tatsächlich gegeben war, einzugreifen und die Gewalttat zu verhindern? Das würde doch heißen, daß mein Großvater nie geboren werden würde.

Und würde das nicht in letzter Konsequenz bedeuten, daß auch ich aufhören würde zu existieren?

Es konnte nur so sein, daß die Wahl, die mir gewährt wurde, mit Selbstaufgabe verbunden war. Ich mußte entscheiden, was ich tun wollte: Untätig zusehen, wie Victor sich an seiner Familie und der Frau, die er geliebt hatte, rächte, oder eingreifen und das verhindern.

Und wenn ich es verhinderte, kam das für mich einem Selbstmord gleich.

Mir war, als befände ich mich in einem Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gab.

Immer tiefer trieben mich mein Denken und Forschen in mich selbst hinein, ich stieß auf Winkel meiner Seele, in die noch nie Licht gekommen war, ich begegnete Seiten von mir, die ich nie kennengelernt hatte.

Und dazwischen fragte ich mich immer wieder: Ist es möglich, daß ich mich in Victor täusche?

Was wird geschehen, wenn ich mich täusche und einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begehe, indem ich die Vereinigung von Jennifer und Victor verhindere, zwei guten und reinen Menschen, und so in meiner Tölpelhaftigkeit meinen eigenen Tod herbeiführe? Mein Großvater, meine Mutter, Elsie und William, meine Cousinen und mein Vetter, mein Bruder und ich selbst - alle in einem Wimpernschlag ausgelöscht. Ich brauchte nur einzugreifen und Victors Verbrechen zu verhindern. Aber kann man die Geschichte wirklich verändern? Oder waren alle meine Überlegungen nur die Wahnvorstellungen eines Menschen, der seit Tagen nicht gegessen und geschlafen hat und sich am Rande des nervlichen und körperlichen Zusammenbruchs befindet? Woher sollte ich das mit Sicherheit wissen?

Das Klopfen von oben weckte mich. Ich lag auf dem Boden in der Mitte des Wohnzimmers. Ich brauchte einen Moment, um die Orientierung zu finden, und als ich mich aus meiner Benommenheit befreit hatte und das Klopfen aus dem oberen Stockwerk hörte, fragte ich mich, ob es von Großmutter kam, die mich brauchte, oder von einem Besucher aus der Vergangenheit. Mit Mühe stand ich auf und torkelte zur Tür.

Im Flur war es dunkel. Die Treppe schwang sich in eine Finsternis hinauf, die mir schwärzer und undurchdringlicher erschien als je zuvor. Die Stille war beinahe greifbar. Sie beengte mich und machte mir das Atmen schwer. Bei jedem Schritt aufwärts mußte ich keuchend um Atem ringen; mein Körper rebellierte gegen die Kraft, die ihn vorwärts trieb.

Und bei jedem Schritt dachte ich, wenn ich recht habe und Victor nur zurückkommt, um grausame Rache zu nehmen, werde ich dann dabeistehen und zusehen können, wie er die Menschen quält, die ich lieben gelernt habe, oder werde ich den Mut haben, einzugreifen und das Unglück abzuwenden und damit mich selbst auszulöschen? Als ich das Ende der Treppe erreicht hatte, lehnte ich mich schwer atmend an die Wand. Die Luft erschien mir dünn und eisig hier oben, als wäre ich in polare Zonen hinaufgeklettert, und während ich dastand und meine Kräfte sammelte, dachte ich weiter: Und wenn ich es schaffe einzugreifen, wie wird es vor sich gehen? Ich habe erfahren, daß ich nun feste Form für diese Menschen angenommen habe und mit ihnen sprechen kann. Bei der nächsten Begegnung werde ich ihnen noch realer erscheinen. Wie also werde ich die Wahnsinnstaten Victors verhindern? Wird allein schon mein Anblick, wenn ich ihm plötzlich erscheine, ihn abschrecken? Werde ich ihn lange genug zurückhalten können, um Jennifer Gelegenheit zu lassen, sich zu retten? Wie werde ich es anstellen?

Ich drehte mich um und spähte durch den dunklen Korridor. Das Klopfen kam natürlich aus dem Vorderzimmer. Im Schlafzimmer meiner Großmutter war alles still.

Ehe ich den unvermeidlichen Weg antrat, dachte ich, und was ist, wenn ich mich täusche? Was ist, wenn Victor als Geschlagener nach Hause kommt, der nichts sucht als Trost und Liebe? Was ist, wenn ich einen Akt der Liebe verhindere? Wenn ich die falsche Entscheidung treffen sollte?

Tausend Fragen und keine Antwort. Ich konnte nur den Flur hinuntergehen, in das Schlafzimmer treten und dem Schicksal fürs erste seinen Lauf lassen.

16

Wieder war das Zimmer erfüllt von dem gespenstischen dunstigen Licht, das eine unsichtbare Quelle verströmte und das kalt wirkte. Als ich über die Schwelle trat, spürte ich jemanden neben mir. Es war Jennifer. Sie war mit mir eingetreten, schien jedoch meine Anwesenheit nicht zu bemerken. Ihr Blick war auf den Kleiderschrank gerichtet, und genau wie ich blieb sie einen Moment zögernd stehen.

Die Szene war mir schrecklich vertraut. Ich war schon früher hier gewesen. Das Zimmer umfing mich mit der gleichen Aura lauernder Schrecknisse und höllischer Bilder.

Vielleicht war es nur Einbildung, aber diesmal hingen die Schatten in seltsamen Winkeln in dem Raum, so daß er verzerrt wirkte, wie gekippt. Ich hatte den flüchtigen Eindruck, ein Gespensterkabinett zu betreten. Ein kalter Luftzug traf mich - uns -, der von allen Seiten zu kommen schien und mich bis ins Innerste auskühlte. Das geisterhafte Licht schluckte alle Farben im Raum; was blieb, waren Kontraste in Schwarz, Weiß und Grau. Bedrückend wie in einem Alptraum.

Jennifer und ich setzten uns in Bewegung. Ihr Gesicht war ungewohnt starr, während sie zuerst hierhin und dann dorthin blickte, um schließlich den Blick wieder auf den Kleiderschrank zu richten. Sie schien hierhergekommen zu sein, um etwas zu suchen, aber ich fühlte, daß sie schon ahnte, schon fürchtete, daß sie es im Kleiderschrank finden würde.

Wir wurden beide wie magisch zu ihm hingezogen, während unsere Blicke auf dem polierten Holz ruhten, auf der geschwungenen Maserung, den glänzenden Messingbeschlägen. Es kann sein, daß Jennifer sich im Zimmer umsah, während sie vorwärtsschritt; ich tat es nicht. Ich hatte eine Todesangst vor dem, was ich in den Schatten erblicken könnte. Ein solches Grauen packte mich, daß ich am liebsten laut geschrien hätte.

Doch meine Füße bewegten sich unerbittlich vorwärts, im Gleichschritt mit Jennifers. Dann standen wir vor dem Schrank. Wir standen da und starrten ihn an und spürten, wie sich uns die Haare im Nacken sträubten. Wir hatten beide das heftige Verlangen, kehrtzumachen und zu fliehen, aber wir konnten es nicht. Wir mußten wissen, was in dem Schrank war.

Ich sah, wie unsere Hände sich hoben und zum Schrank griffen. Jennifers, lang und bleich, berührte den kleinen Messingknopf. Meine eigene Hand hing nur ausgestreckt in der Luft, bloße Nachahmung ihres Handelns. Wir zögerten immer noch, bedrängt von der unheimlichen Aura des Zimmers, schaudernd vor böser Vorahnung.

Dann ergriff Jennifer den kleinen Messingknauf und begann, ihn zu drehen.

Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden. Auf dem Boden zu unseren Füßen war eine Spur von Blutstropfen, die zum Schrank führte, und dort, an seinem Sockel, glänzte dunkel ein frischer Fleck, aus dem Inneren hervorgequollen. Starr vor Angst und dennoch unfähig einzuhalten, zog Jennifer langsam die Schranktür auf.

Wir schrien beide. Wir schrien gleichzeitig, beinahe im Gleichklang. Wir schlugen die Hände auf unsere Münder, um die Schreie zu ersticken. Ich spürte, daß Jennifers Herz so rasend hämmerte wie meines, daß plötzliche Schwäche sie überwältigte, und sie glaubte, sie würde zuammenbrechen. Aber das verging. Wir faßten uns, wenn auch zu Tode erschrocken von dem, was wir sahen. Es war Harriet.

Sie lag zusammengekrümmt in der Ecke des Kleiderschranks und starrte aus blicklosen Augen zu uns auf. Ihr Gesicht trug einen Ausdruck, der eine Mischung aus Scham, hilflosem Erstaunen und Hinnahme war. Mit Jennifer zusammen kniete ich nieder, aber obwohl wir uns

über Harriet neigten, brachten wir es nicht über uns, sie zu berühren. Wir wußten schon, daß Harriet tot war. Wir blickten sie an, zu entsetzt und verwirrt, um eine Bewegung zu machen, und wurden starr und kalt unter der Wirkung des Schocks. In Harriets Brust steckte ein Messer, ein langes Brotmesser, das ihrem Körper grausame und unnötige Verletzungen beigebracht hatte. Das Blut floß nicht mehr, es begann schon in kleinen Lachen um ihre Hände und Füße und in ihrem Schoß zu gerinnen. Mit der linken Hand umklammerte sie einen Brief: »Für Jenny«, stand auf dem Umschlag.

Eine unendlich lange Zeit blieben wir so, über den verstümmelten Körper Harriets geneigt, und sahen ganz ohne Gefühl die vielen Wunden und Verletzungen und dachten, es hätte nicht schlimmer sein können, wenn ein Schlächter sie unter dem Messer gehabt hätte.

Harriet schien noch eine ganze Weile mit ihren Wunden gelebt zu haben, ehe sie endlich hatte sterben dürfen. Als Gefühl und Empfinden langsam wiederkehrten, griff Jennifer nach Harriets Hand. Nicht vorsichtig oder zaghaft, sondern mit Traurigkeit und Liebe. Sie umfaßte den Brief und zog ihn Harriet aus den Fingern. Mit einem Gefühl tiefer Resignation schob sie ihn in ihre Rocktasche und stand auf.

Auch ich stand auf, aber als Jennifer sich abwandte und ging, blieb ich stehen und starrte in den Schrank, bis er leer war und ich nichts weiter sah als ein paar Staubflusen.

Als ich irgendwann später erwachte, ohne die geringste Ahnung, wie spät es war, lag ich auf dem Bett. Ich war voll bekleidet und lag auf den Decken und konnte mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen war. Langsam richtete ich mich auf und sah mich im Zimmer um. Es war wieder 1894.

Die Türen des Kleiderschranks standen offen, einige von Jennifers Kleidern hingen darin. Im Kamin brannte ein Feuer, und davor saß Jennifer, still und allein, in dem burgunderroten Samtsessel.

Muß ich jetzt für immer hierbleiben? fragte ich mich beunruhigt. Hat sich das Zeitfenster hinter mir geschlossen, als ich die Kluft überwand? Werde ich niemals wieder in meine eigene Zeit zurückkehren?

Auf den Ellbogen gestützt, blieb ich auf dem Bett liegen und beobachtete Jennifer. Ihr Gesicht war gezeichnet von den Nachwirkungen ihres grausigen Funds. Es war bleich und schmal, die Augen von dunklen Ringen umschattet. Jennifer sah aus wie eine Frau, die alle Hoffnung aufgegeben hat. In ihrem Blick, der in die Flammen gerichtet war, blitzte kaum noch ein Lebensfunke. Sie hatte kapituliert und sich in sich selbst zurückgezogen. Ich hörte die Schritte draußen erst, als Jennifer sich plötzlich lauschend aufrichtete und das Gesicht der Tür zuwandte. Aber dann horchte ich so gespannt wie sie. Die Schritte schallten dumpf durch den Korridor und wurden merklich lauter. Wie gebannt starrte ich zur Tür.

Und dann kam Victor Townsend herein.

Jennifer und ich schrien gleichzeitig auf. Doch während sie aus ihrem Sessel sprang, rührte ich mich nicht von der Stelle. Victor Townsend sah wieder aus wie damals, als er aus London zurückgekehrt war, das Gesicht eine strenge, unbewegte Maske, die kein Geheimnis preisgab, die Augen Spiegel von Enttäuschung und grausamer Ernüchterung. Reglos blieb er an der Tür stehen, den Blick mit einem Ausdruck von Schmerz und Resignation auf Jennifer gerichtet, die vor ihrem Sessel stehengeblieben war. Sie sah ihn so ungläubig an, als hielte sie ihn für ein Gespenst. Schließlich sagte Victor: »Ich habe unten geklopft, und als niemand aufmachte, bin ich einfach hereingekommen. Ich hatte von der Straße das Licht hier im Zimmer gesehen und nahm an, es sei jemand da. Jennifer...«

Sie konnte nicht sprechen. Ihr Körper neigte sich ihm ein wenig zu, sie hob die Hände, aber noch immer konnte sie kein Wort sagen. Es war, als stünde sie jemandem gegenüber, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt war.

»Ich habe deine Briefe bekommen«, sagte er zögernd, als suchte er nach den richtigen Worten. »Aber ich konnte sie nicht beantworten, Jennifer. Ich habe die Beerdigung verpaßt, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete sie, immer noch wie in einem Traum. »Und John...« Victor schien unsicher. »Hast du von ihm gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie haben ihn gefunden, Jenny«, sagte Victor mit tonloser Stimme. »Im Mersey. Er konnte den Buchmachern nicht entkommen. Es tut mir leid.«

Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. »Es mußte wohl so kommen«, sagte sie leise. »Im Grunde habe ich es wahrscheinlich nicht anders erwartet.«

»Jenny«, sagte er stockend. »Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen.«

Jennifer begann zu zittern. »Lebewohl?« Ihre Stimme war nur ein Hauch.

»Ach Gott, Jenny, wie mich das quält. Du siehst krank aus. Du bist zu dünn. Geh fort aus diesem Haus, Jenny. Geh fort von dieser Familie, ehe du umkommst.«

»Warum bist du gekommen, wenn du mir nur Lebewohl sagen willst?«

»Jennifer, ich habe mich dir ferngehalten, um dich vor meinem schlimmen Ruf zu schützen. Du bist so unschuldig in das alles hineingerissen worden. Und sieh dich an, was es aus dir gemacht hat. Ich hoffte, du würdest mich mit der Zeit vergessen, wie an einen Toten an mich denken.«

»Niemals, Victor!« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Aber es muß so sein. Ich bin sofort gekommen, als ich von Harriet hörte. Ich wollte bei der Beerdigung dabeisein. Aber ich bin zu spät gekommen. Wo sind meine Eltern, Jenny?« Sie befeuchtete ihre spröden Lippen.

»Sie sind nach Wales gereist. Deine Mutter hat den schrecklichen Schock nicht ertragen können. Sie hatte einen Zusammenbruch, Victor. Sie kann nicht mehr gehen. Und dein Vater gibt sich die Schuld an Harriets Tod... Sie mußten einfach eine Weile weg von hier, weißt du.«

»Und du hast sie nicht begleitet?«

»Ich - konnte nicht. Ich habe -«

»Du hast auf Johns Rückkehr gewartet.«

»Nein, Victor. Ich habe auf dich gewartet.« Ihre Stimme gewann jetzt an Kraft. »Die Hoffnung, daß John zurückkehren würde, hatte ich längst aufgegeben. Ich hoffe, er hat da, wo er jetzt ist, seinen Frieden gefunden. Aber dich habe ich nie verloren gegeben, Victor. Ich habe nur von der Hoffnung gelebt, daß du zurückkehren würdest. Wie hätte ich nach Wales reisen können, da du ja jederzeit zurückkommen konntest? Wie es nun auch geschehen ist...«

Sie schwiegen beide und sahen sich nur an. Und beide konnten sie nicht genug voneinander bekommen.

Ich stand langsam vom Bett auf. Ich schwang die Beine zu Boden und stellte mich vorsichtig auf die Füße. Ohne zu überlegen, ging ich zu Jennifer und blieb an ihrer Seite. Jetzt sahen wir beide den Mann an, den wir liebten. »Du hast gesagt, du seist gekommen, um mir Lebewohl zu sagen«, bemerkte Jennifer leise.

»Ja, ich werde jetzt für immer von hier fortgehen. England kann nicht mehr meine Heimat sein. Ich bin ein Mann ohne Ehre. Ich habe kein Recht darauf, unter anständigen Menschen zu leben. Vielleicht werde ich in Frankreich -«

»Bleib, Victor.« Nicht leidenschaftlich und nicht flehend. Einfach: »Bleib.«

Und ich sah, wie es ihn ergriff.

Er schien schwankend zu werden in seinem Entschluß und sagte unsicher: »Ich bin nicht gekommen, um mit dir allein zu sein. Ich wollte meine Mutter besuchen, um ihr, wenn möglich, ein wenig Trost zu spenden.« Jetzt, da sie zwei ihrer Kinder verloren hat, dachte er bitter. »Ich hatte gehofft, dich nur in ihrem Beisein zu sehen. Aber nicht - nicht so.«

»Und warum nicht so?«

»Weil ich dich nur unglücklich machen kann.«

»Wie alle anderen?« Er nickte.

»Dann...« Jennifer griff in ihre Rocktasche und zog einen Brief heraus. Am Umschlag erkannte ich, daß es das Schreiben war, das Harriet ihr hinterlassen hatte. Und ich sah mit Trauer, daß es das gleiche etwas kitschige Briefpapier war, auf dem sie ihre heimlichen Briefe an Scan O'Hanrahan geschrieben hatte. »Lies das«, sagte sie und hielt ihm den Brief hin.

Victor betrachtete den Umschlag. »Was ist das?«

»Bitte lies es.«

Er überlegte einen Moment, dann kam er langsam zu uns. So weit wie möglich von uns entfernt blieb er stehen und nahm den Brief. Als er den Bogen aus dem Umschlag zog und entfaltete, sah ich Harriets feine Handschrift mit eigenen Augen. Ich las den Brief mit ihm.

»Liebste Jennifer, ich weiß, wenn Du diesen Brief liest, Du, meine einzige wahre Freundin, wirst Du sehr traurig und bekümmert sein, und ich weiß auch, daß ich Dir großen Kummer bereitet habe. Aber es mußte so geschehen. Ich muß Dir sagen, warum. Ich weiß schon seit einiger Zeit, daß ich mein Leben auf diese Weise beenden muß, so, wie Du mich nun gefunden hast, denn ich habe immer geglaubt, daß Vater es so gewollt hätte.

Meine Zeit ist knapp, ich werde Dein Elend nicht verlängern. Als mein Vater mir das Recht verweigerte, Scan O'Hanrahan zu heiraten, ihn einen Papisten und anderes schimpfte, gehorchte ich ihm nicht, sondern ging mit Scan zur alten Abtei hinaus. Du weißt davon. Und als ich guter Hoffnung war, selbst dann glaubte ich immer noch, daß mein geliebter Sean mich heiraten würde. Bis er mir die grausame Wahrheit sagte. Ich war entehrt. Aber schlimmer noch, ich war zurückgewiesen worden. Ich glaube, das war der Moment, liebste Jenny, als alles in mir umschlug. Es war, als hätte eine andere Person von mir Besitz ergriffen und täte mit mir, was sie wollte. Ich sage das nicht, um mich von den Handlungen freizusprechen, die ich begangen habe, sondern um Dir wenigstens eine kleine Erklärung dafür zu geben, warum ich getan habe, was ich tat.

Victor hat keine Abtreibung an mir vorgenommen. Ich habe es mit eigener Hand getan. Ich wollte ihn verletzen. Ich wollte Euch alle verletzen, weil ich glaubte, das würde meinen Schmerz lindern. Ich wollte auch John ruinieren, darum ging ich zu den Buchmachern und erzählte ihnen von seinem Plan, aus Warrington fortzugehen. Ich will jetzt nicht behaupten, daß ich an dem Unglück, das ich herbeiführte, nicht eine gewisse grausame Freude hatte, so schändlich das ist. Ich hatte in meinem Schmerz und meiner Bitterkeit nur einen Gedanken: anderen gleich Schlimmes zuzufügen, wie mir angetan worden war.

Aber als mir in einem klaren Moment bewußt wurde, was ich Victor tatsächlich angetan hatte, gerade dem Menschen, den ich immer mehr als alle anderen geliebt und verehrt habe, traf mich das wie ein Schlag. Ich hatte ihn nicht vernichten wollen, ich hatte ihn nur in Deinen Augen ein wenig schlechtmachen wollen. Ja, Jennifer, auch Dich wollte ich unglücklich machen. Weil Dir Schönheit und Anmut gegeben waren und so vieles, was ich niemals haben würde. Auch Victor, ja. Denn da er mein Bruder ist, ist er mir verwehrt.

Aber als ich sah, was ich angerichtet hatte, daß ich erst ihn und dann John fortgetrieben hatte, daß Mutter meinetwegen den Rest ihres Lebens leidend sein würde, da konnte ich es nicht mehr ertragen. In meinen rachsüchtigen Momenten freute ich mich an dem Werk der Zerstörung, das ich vollbracht hatte. Aber in meinen klaren Momenten quälten mich Schuld und Reue. Und als Vater mir zur Strafe für das, was ich mit Scan getan hatte, das Haar abschnitt, da wußte ich, daß es keinen anderen Ausweg gab, als Euch alle von mir zu befreien, die Euch soviel Kummer und Schmerz bereitet hat.

Verzeih mir, liebste Jennifer, ich habe Dich immer wahrhaft gern gehabt, und es war nur eine dunkle Seite von mir, die eifersüchtig war auf Deine Schönheit und Victors Liebe zu Dir. Verzeih mir, daß Du mich so finden mußtest. Es ging nicht anders. Vater hätte es so gewollt. Gott verzeih mir. Harriet.«

»Du hast das alles gewußt, nicht wahr?« sagte Jennifer, die jetzt sehr nahe bei mir stand.

Victor sah noch lange auf den Brief. Mit einem kaum merklichen Nicken beantwortete er ihre Frage.

»Warum hast du dann nichts gesagt? Dir ist schreckliches Unrecht geschehen, Victor.«

Darauf antwortete er nicht. Er hob nur den Kopf, und ich sah sein Gesicht und die tiefe Traurigkeit in seinem Blick und hätte am liebsten geweint.

Noch einmal las er den Brief durch, dann hielt er ihn mir hin. Als Jennifer die Hand hob, um ihn entgegenzunehmen, hob auch ich den Arm. Und als Victor den Brief in meine Hand legte, war ich nicht erstaunt.

»Niemand sonst hat diesen Brief gelesen«, hörte ich Jennifer sehr nahe an meinem Ohr sagen. Obwohl ich mich nicht vom Fleck bewegt hatte, berührten wir uns beinahe. »Ich fand ihn bei Harriet, als ich sie im Kleiderschrank entdeckte. Ich habe ihn aufgehoben, weil ich hoffte, ihn dir eines Tages zeigen zu können. Es bestand kein Zweifel daran, daß Harriet freiwillig aus dem Leben gegangen war. Es war der Art ihrer Verletzungen zu entnehmen und der Tatsache, daß sie nicht von fremder Hand in den Schrank gebracht worden war, sondern sich diesen Platz selbst gewählt hatte. Das - das sagte jedenfalls die Polizei. Und Dr.

Pendergast bestätigte es. Aber kein Mensch weiß von diesem Brief und seinem Inhalt.«

»Verbrenn ihn«, sagte er kurz.

»Aber warum? Er spricht dich frei, Victor«, entgegnete Jennifer, und ich fügte hinzu:

»Durch ihn wird dein guter Ruf wiederhergestellt. Du kannst frei und stolz nach Warrington zurückkehren. Ich werde ihn nicht verbrennen, Victor.«

Er sah mich mit einer Intensität an, die keiner Worte bedurfte. Als er mir die Hand hinstreckte, übergab ich ihm wortlos den Brief und war nicht überrascht, als er ihn zusammenknüllte und ins Feuer warf. Ich sah, wie er in Flammen aufging und verbrannte.

»Das alles weiß ich, aber meine Unschuld beweisen, hieße meine Schwester verdammen, und das kann ich nicht. Sie kam an jenem Tag zu mir in die Praxis und sagte mir, daß sie guter Hoffnung sei. Ich schlug ihr vor, das Kind auszutragen und zur Welt zu bringen. Ich dachte, du und John würdet es vielleicht nehmen und ihm einen Namen geben. Später merkte ich, daß das Instrument fehlte, und ich wußte instinktiv...«

»Du hast deine einzige Chance der Rehabilitierung verbrannt.« Victor schüttelte den Kopf. »Was kann Gutes davon kommen, wenn ich der Welt jetzt offenlege, was aus meiner Schwester geworden war? Was kann Gutes davon kommen, wenn ich meinen Vater diese letzten Worte lesen lasse, die ihm sagen, daß er an ihrem Tod Schuld trägt? Ich kann aushaken, was mir angetan wurde. Ich kann ins Ausland gehen und einen neuen Anfang machen. Mit der Zeit wird alles in Vergessenheit geraten. Zukünftige Townsends werden nichts davon wissen, was in diesem Haus vorging.« Eine Stimme, die merkwürdige Ähnlichkeit mit meiner eigenen hatte und doch mit Jennifers vermischt war, fragte: »Und wirst du nach England zurückkommen?«

»Das glaube ich nicht. Mein Leben hier ist beendet. Alle meine Hoffnungen sind zerstört, ich habe nichts von dem erreicht, was ich wollte. Es wäre sinnlos, einen neuen Versuch zu machen. Aber in Frankreich oder Deutschland...«

Seine Simme verklang. Ich sah den Konflikt in seinen Augen, die Bitterkeit und die Trauer. Ich streckte ihm meine Hand entgegen. Und als er ebenfalls die Hand hob, und unsere Finger sich berührten, war es ganz natürlich. Jennifer war nicht mehr bei uns. Ich stand allein vor dem offenen Kamin. Der Saum meines langen Kleides berührte raschelnd meine Fesseln.

Ich spürte die Hitze der Flammen auf meinem bloßen Nacken unter dem hochgekämmten Haar. Über die Jahre hinweg, losgelöst von Zeit und Raum berührten sich unsere Finger.

»Niemand sonst hat den Brief gelesen, Victor, Liebster -«, wie gut es tat, seinen Namen auszusprechen! »niemand weiß von ihm, nur du und ich. Die Monate ohne dich waren eine Qual. Ich war in deiner Praxis und dann im Horse's Head, aber niemand konnte mir etwas über deinen Verbleib sagen. Nacht für Nacht habe ich wachgelegen und fürchtete, du wärst tot, stellte mir vor, du wärst allein und elend, suchtest Trost im Gin oder bei anderen Zerstreuungen. Aber jetzt - dich hier vor mir zu sehen! Es ist wie ein Traum!«

»Jenny«, murmelte er und umschloß meine Hand mit seinen Fingern.

Ja, ich bin Jenny, dachte ich. Ich bin Jennifer. Und ich liebe dich schon so lange, begehre dich so leidenschaftlich, daß ich glaubte, sterben zu müssen, wenn diese Gefühle unerfüllt blieben. »Eine Zeitlang dachte ich, ich würde den Verstand verlieren vor Angst und Besorgnis. Es ging alles so schnell. Die schlaflosen Nächte. Ich konnte nichts mehr essen.«

»Du bist zu dünn, Jenny. Und so blaß.«

»Ich hatte die merkwürdigsten Vorstellungen. Ich bildete mir ein, es spuke in diesem Haus, Victor. Ich habe eine junge Frau gesehen ...«

»Ach, Jennifer«, sagte er und trat ganz nahe an mich heran. Seine tiefe Stimme erregte mich, als er sagte: »Ich sollte jetzt gehen, Jennifer.«

Ich hörte, wie ich - nein, wie wir beide zu ihm sagten: »Bitte bleib.«

Und wenn ich in diesem Zeitabschnitt gefangen und die Tür zur Zukunft mir für immer verschlossen sein sollte, wäre das so schlimm?

»Ich werde ewig dir gehören, Victor«, flüsterte ich. Als er mich in seine Arme nahm, und ich seinen Körper an meinem fühlte, durchschossen mich heiße Blitze. Im ersten Moment erstarrte ich, dann aber schmiegte ich mich an ihn, vertraute mich ihm an, als sei dies der Ort, an dem ich zu Hause war. Ja, bei ihm war ich zu Hause. Während Victor mich küßte und ich spürte, wie meine Beine nachzugeben drohten, so daß ich ihn ganz fest halten mußte, erkannte ich, daß dies der Ort war, an den ich immer gehört hatte.

Die strenge Zurückhaltung und Selbstbeherrschung langer Jahre fiel unter seinem leidenschaftlichen Kuß in Trümmer. Er hielt mich so fest, daß ich meinte, wir würden zu einem einzigen Wesen werden.

Alle meine erotischen Träume wurden wahr. Ich hatte die ganze Zeit gewußt, daß es so sein würde mit Victor, daß die Verschmelzung unserer Körper mir die Erfüllung bringen würde, die ich ein Leben lang gesucht hatte. Der Gedanke schoß mir durch den Kopf, daß ich mich zum erstenmal einem Mann hingab, den ich wahrhaft liebte.

Und später, nach unserem Flug in die Ekstase und der Vereinigung unserer Seelen auf ewige Zeiten, wußte ich auch, wozu ich hier war. Es war alles so klar jetzt. Alles hatte zu diesem einen Moment hingeführt. Die Episoden der vergangenen Tage, das Erleben von Momenten aus der Vergangenheit, das Fragen und Forschen, alles hatte nur dazu gedient, mich auf diesen einen Moment vorzubereiten. Damit ich begreifen würde. Damit ich begreifen würde.

Ich hatte mich getäuscht. Meine Theorien waren weit von der Wahrheit entfernt gewesen. Ich war nicht hierhergeholt und in die Vergangenheit gezwungen worden, um eine imaginäre Tragödie abzuwenden. Ich war auserwählt worden, an diesem Ereignis teilzuhaben, nicht, es zu verhindern. Und der Grund war mir jetzt klar.

Während ich in Victors Armen lag und seinen warmen Atem an meinem Hals spürte, während ich sein Gesicht betrachtete, das ruhig und entspannt war, dachte ich an einen anderen Mann, der in einem Krankenhaus auf der anderen Seite der Stadt im Sterben lag und der die Wahrheit erfahren mußte.

Was auf unsere leidenschaftliche Umarmung folgte, ist mir nur in sehr unklarer Erinnerung. Es schien, als hätten wir die ganze Nacht beieinandergelegen, aber als ich erwachte, sah ich, daß es erst Mitternacht war. Und ich erinnere mich, daß ich wie in Trance die Treppe hinunterstieg und ins Wohnzimmer zurückkehrte, erfüllt einzig von der Euphorie unserer Liebe. Aufruhr und Unruhe, die mich während all dieser Tage im Haus meiner Großmutter umgetrieben hatten, waren verflogen, alle Fragen und Geheimnisse, die mich gequält hatten, waren gelöst. Ich befand mich stattdessen in einem wunderbaren Zustand, da ich wußte, daß ich diese eine Nacht mit dem einzigen Mann verbracht hatte, der mir wahrhaft etwas bedeutete.

Ich vermute, daß ich mich dann auf dem Sofa niedergelegt habe, denn ich scheine geschlafen zu haben, tief und fest wie jemand, dessen Geist von aller Unruhe befreit ist und dessen Körper gewaltige Höhen erklommen hat. Während dieser Stunden des Schlafs hatte ich meinen letzten bemerkenswerten Traum. Victor kam zu mir und blieb bei mir am Sofa stehen, nicht der Mann aus Fleisch und Blut, der er oben im Schlafzimmer für mich gewesen war, eher ein geisterhaftes Wesen, eine Erscheinung. Lächelnd sah er zu mir herunter, und in seinen Augen war Verwunderung. Ich erwiderte seinen Blick ohne Furcht und ohne Überraschung, nur voll Wärme und Dankbarkeit dafür, daß es mir vergönnt worden war, diesen Mann zu kennen. Und in meinem Traum sagte die Erscheinung Victors zu mir: »Wer bist du?«

Ich antwortete: »Deine Urenkelin.« Das schien ihn zu überraschen. »Wie kann das sein?«

Ich erwiderte: »Wie kann es sein, daß du jetzt mit mir sprichst. Träumeich?«

Aber er sagte nur: »Wie kannst du meine Urenkelin sein, wenn ich niemals geheiratet habe und auch keine Kinder hatte?« Ich lachte ein wenig und sagte dann: »Aus deiner einen Nacht mit Jennifer ist ein Sohn hervorgegangen. Sie taufte ihn Robert. Und als er erwachsen wurde, bekam er eine Tochter, meine Mutter. So kommt es, daß du mein Urgroßvater bist.«

Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf, und während ich ihn noch anblickte, hatte ich den Eindruck, daß in seinen Augen etwas aufleuchtete, als hätte sich dort ein Funke der Hoffnung entzündet, der die Schleier von Bitterkeit und Enttäuschung durchdrang. Sein Gesicht schien mir ruhiger zu werden, entspannter und jünger. Er sah wieder so aus wie damals, ehe die Erfahrungen an den Krankenhäusern Londons ihn hatten altern lassen. »Ich hatte einen Sohn«, murmelte er. »Was ist aus dir geworden?« fragte ich ihn.

»Ich ging nach dieser Nacht nach Frankreich. Ich versprach Jennifer, daß ich zu ihr zurückkommen würde. Ich ging nach Frankreich, um ein neues Leben aufzubauen und mich Jennifers würdig zu erweisen, wenn ich sie bat, meine Frau zu werden.«

»Und was geschah?«

»Ich starb ein Jahr später auf einem Schiff bei der Überfahrt über den Kanal. Sie wußte nicht, daß ich auf der Rückreise war. Ich hatte ihr nicht geschrieben, weil ich sie überraschen wollte. Sie muß ihr Leben lang geglaubt haben, ich hätte sie vergessen.«

»Sie starb nicht lange nach dir, Victor. Wahrscheinlich vor Kummer. «

»Und ich erfuhr nie, daß sie ein Kind hatte.«

»Dein Kind«, sagte ich.

»Aber warum bist du hier? Warum sind wir beide hier? Dort, wo ich war, war es grau und häßlich...«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht um die Dinge geradezurücken.«

»Wie hieß mein Sohn?«

»Robert.«

»Robert«, wiederholte er. »Aber er liegt jetzt im Sterben.«

»Wir müssen alle sterben«, sagte Victor.

»Sag mir was. Sag mir, wie das mit der Zeit ist. Wie ist es geschehen? Bist du irgendwo noch am Leben...« Aber mein Urgroßvater hörte mir nicht zu. Er drehte den Kopf und blickte über seine Schulter. Ich sah, wie helles Sonnenlicht sein Gesicht überflutete und ein strahlendes Lächeln es von innen erleuchtete. »Sie ist hier«, murmelte er. »Wir sind wohl alle hier.«

Aber er hörte mich nicht mehr. Victor Townsend wandte sich für immer von mir ab und verschwand in den Dunstschleiern, die das Sofa umgaben. Das letzte Wort, das ich von ihm hörte, war, »Jennifer...«

17

Als ich zu mir kam und die Augen aufschlug, sah ich ein Wohnzimmer, das ich nie zuvor gesehen hatte. Und in meinem verwirrten Zustand fragte ich mich, wo bin ich jetzt?

Aber als ich den Kopf zur Seite drehte und das Sonnenlicht sah, das zum Fenster herein-strömte, wußte ich es.

»Es hat aufgehört zu regnen«, rief meine Großmutter aus der Küche.

Ich setzte mich auf. Der Duft von bruzzelndem Schinken und frisch geröstetem Brot wehte mir in die Nase. Ich hatte einen Bärenhunger.

»Was ist heute für ein Tag, Großmutter?« rief ich. »Mittwoch, Kind.«

Mittwoch! Ich war seit zwölf Tagen hier in diesem Haus. »Mann, hab ich einen Hunger«, sagte ich und sprang auf. Ich fühlte mich herrlich. Mein ganzer Körper war entspannt und frisch.

Großmutter streckte den grauen Kopf ins Wohnzimmer. »Ach, endlich siehst du wieder besser aus, Kind. Das schlechte Wetter ist vorbei. Heute kannst du ins Krankenhaus fahren. Und danach ab ins Reisebüro mit dir, damit du deinen Flug buchen kannst.«

»Tut mir leid, Großmutter«, entgegnete ich, während ich Decken und Kissen und meine Kleider aufsammelte. »So schnell wirst du mich nicht los. Geh doch selbst ins Reisebüro, wenn du willst, aber ich hab noch einige Besuche zu machen.«

Sie sagte noch etwas, aber ich hörte es nicht mehr. Ich rannte schon die Treppe hinauf und ins Bad. Dusche gab es keine in diesem Haus, aber die Wanne tat es auch. Ich ließ sie mit heißem Wasser vollaufen, schrubbte mich gründlich ab, hielt den Kopf unter den Wasserhahn und wusch alle Überreste der vergangenen achtzig Jahre von mir ab.

Ich fühlte mich wie neugeboren.

Nachdem ich mich in der schneidenden Kälte des Vorderzimmers, die ich jetzt unangenehm deutlich spürte, angekleidet hatte, blieb ich noch einen Moment vor dem alten Kleiderschrank stehen. Ich sah hinunter auf seinen staubigen Boden und erinnerte mich, was Jennifer und ich dort in der Düsternis gefunden hatten. Dann schüttelte ich mir die Nässe aus dem Haar, sah zum Bett hinüber und lächelte.

Beim Frühstück aß ich für drei. »Na, dein Appetit ist wieder da, wie ich sehe.«

»Ich fühle mich prächtig, Großmutter.«

»Und Farbe hast du auch wieder. Aha, jetzt hast du dir doch eine von meinen Strickjacken übergezogen, das beruhigt mich.«

»Blieb mir ja nichts anderes übrig. Es ist ganz schön kalt hier drinnen. « Ich lachte sie an und spülte meinen Tee hinunter. Draußen war ein wunderschöner Tag, sonnig, ein leuchtend blauer Himmel, an dem kleine weiße Wölkchen dahintrieben, und sogar Vogelgezwitscher hörte ich. Ich hätte am liebsten gejauchzt vor Wonne.

Wir waren alle neu geboren worden.

»Du hast eben doch eine richtige Grippe gehabt«, sagte Großmutter. »Und jetzt ist sie vorbei. Siehst du, Ärzte sind ganz überflüssig. Der Körper weiß schon, was gut für ihn ist.«

»O ja, Großmutter.« Ich lächelte und dachte an Dr. Victor Townsend und seine wunderbar heilenden Hände. »Deine Arthritis ist auch weg, wie ich sehe.«

»Weg nicht, Kind, nur eingeschlafen bis zum nächsten Regenguß.«

Wir lachten ein wenig und schwatzten viel und waren uns einig, daß die britische Wirtschaft zum Teufel ging. Als kurz nach Mittag Elsie und William an die Tür klopften, ließ ich sie herein und begrüßte beide mit Umarmungen. Sie waren Victors Enkel, und wenn ich mir William genau ansah, konnte ich sogar eine gewisse Ähnlichkeit entdecken.

Nachdem ich mich warm eingepackt hatte, gingen wir in den beißend kalten Tag hinaus. Es mochte hell und sonnig sein, es war dennoch Winter in Warrington, und ich genoß es, zur Abwechslung einmal wieder ein wenig zu frösteln.

Der Zustand meines Großvaters war unverändert. Er lag fast bewegungslos auf dem Rücken und starrte mit leerem Blick zur Zimmerdecke hinauf. Elsie ging sogleich zum gewohnten Ritual über, öffnete Kekspackungen und Saftflaschen, die sie ihm mitgebracht hatte, und erzählte dabei die ganze Zeit von dem fürchterlichen Wetter, dem Regen und dem Sturm, der uns daran gehindert hatte, ins Krankenhaus zu kommen.

Ich saß derweilen stumm auf meinem Stuhl und sah ihn nur an. Er war Victors Sohn.

Er war in jener einen Nacht im Vorderzimmer gezeugt worden, in einer Nacht, in dem nicht nur ihm das Leben geschenkt worden war, sondern auch mir. Ich wußte, mein Leben lang würde ich zurückblicken und wissen, daß ich, ganz gleich, was in den kommenden Jahren geschehen sollte, erfahren hatte, wie es ist, von einem Mann wahrhaft geliebt zu werden. Wir blieben eine Stunde bei meinem Großvater. Ich sprach kaum, dafür schwatzten Elsie und William nach gewohnter Art und taten so, als könnte er sie verstehen.

Und während ich auf meinen Großvater hinuntersah, dachte ich, ich bin froh, daß es vorbei ist. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich gewünscht, es würde ewig weitergehen, da hatte ich gefürchtet, Victor zu verlieren und mich wieder der Gegenwart stellen zu müssen.

Aber das alles hat sich jetzt geändert. Ich bin ein Kind der Gegenwart und nicht der Vergangenheit, und Victor gehört dorthin, wo er geboren wurde - in die Vergangenheit. Wir können niemals wieder zusammenkommen.

Und dennoch bin ich froh und würde diese Erfahrung gegen nichts auf der Welt eintauschen. Ich trauere nicht, daß sie vorüber ist. Ich freue mich daran. Denn sie hat mich lebendiger gemacht. Nur eines hatte ich noch zu tun. Als Elsie meinte, es sei Zeit zu gehen, und anfing, ihre Sieben-Sachen einzupacken, sagte ich: »Ich würde gern noch einen Moment bleiben, Elsie. Ich möchte Großvater etwas sagen.« Sie sah mich erstaunt an.

»Würdet ihr mich mit ihm allein lassen? Ja, bitte? Ich muß bald wieder abreisen, und ich glaube nicht, daß ich so schnell wieder nach England komme - weißt du, ich möchte einfach noch ein bißchen mit ihm reden, ehe ich gehe.« Elsie sah William an. »Du meinst, wir sollen rausgehen?«

»Wenn es euch nichts ausmacht.«

»Aber er kann dich doch gar nicht hören -« Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Natürlich kannst du mit ihm reden, Kind, es wird ihm bestimmt guttun. William und ich warten im Auto. Laß dir ruhig Zeit.«

»Danke, Elsie.«

Sie klappten ihre Stühle zusammen, stellten sie in die Ecke und gingen durch die Schwingtür hinaus. Ich wartete am Fenster, bis ich sie aus dem Gebäude kommen und über den Parkplatz zum Auto gehen sah, dann kehrte ich an das Bett meines Großvaters zurück, kniete nieder, so daß mein Kopf mit seinem auf gleicher Höhe war, und sagte dicht an seinem Ohr: »Großvater? Kannst du mich hören? Ich bin's, Andrea.«

Sein Blick blieb weiter an die Zimmerdecke gerichtet, sein Gesicht zeigte keine Regung.

»Großvater«, sagte ich wieder leise und eindringlich. »Ich bin's, Andrea, deine Enkelin. Kannst du mich hören? Ja, ich glaube, du hörst mich. Aber du bist eingesperrt.

Eingesperrt in einem Körper, der sich nicht bewegen kann. Aber du kannst mich hören, nicht wahr?«

Wieder beobachtete ich ihn, das ruhige Gesicht, die blicklosen Augen. Es gab kein Anzeichen dafür, daß er mich gehört hatte. Dennoch fuhr ich zu sprechen fort: »Ich muß dir etwas sagen, Großvater, ehe ich wieder nach Amerika fliege. Es geht um deinen Vater -

Victor. Bitte hör mir genau zu.« Ich weiß nicht, wie lange ich an dem weißen Krankenbett kniete

und zu dem alten Mann sprach. Ich erzählte langsam und genau und berichtete ihm alles, was mir in seinem Haus in der George Street widerfahren war. Ich ließ nichts aus, sondern begann bei meinem ersten Abend, als ich ›Für Elise‹ gehört hatte, und endete bei meinem Traum der vergangenen Nacht und meinem letzten Gespräch mit Victor. Ich beschrieb ihm jede einzelne Episode, jedes Detail, und ließ mir viel Zeit, um sicher zu sein, daß er alles verstand.

Am Ende sagte ich: »Nun weißt du es, Großvater. Deine Mutter hat dich nicht verachtet und gehaßt. Sie hat dich geliebt. Sie hat dich sehr geliebt. Du warst die einzige Freude in ihrem Leben. Sie ist nicht gestorben, weil sie die Erinnerung an die Nacht deiner Zeugung nicht ertragen konnte, wie man dir das erzählt hat; sie ist an gebrochenem Herzen gestorben. Sie glaubte, Victor hätte sie vergessen. Du hast immer geglaubt, sie müsse dich gehaßt haben, Großvater, sie müsse schon deinen Anblick gehaßt haben, weil du sie an einen grauenvollen Moment in ihrem Leben erinnert hast. Aber so war es nicht. Es war genau umgekehrt. Du hast sie an den einzigen Moment überwältigenden Glücks in ihrem Leben erinnert. Großvater, du warst ein Kind der Liebe!« Ich hing an seinem Bettrand und hätte nicht sagen können, ob das, was ich ihm erzählt hatte, irgendeine Wirkung auf ihn hatte. Ich sah immer nur das Gesicht eines gequälten kleinen Jungen vor mir, der bei seiner invaliden Großmutter lebte, die ihn mit Schauergeschichten über seinen Vater großgezogen hatte, weil sie selbst es nicht anders gewußt hatte.

Noch einmal neigte ich mich zu ihm, um ihm noch ein Letztes zu sagen. Ich sagte ihm, seine Mutter und sein Vater seien in jenem anderen Reich, das wir nicht begreifen können und in das er selbst bald eintreten würde, wieder vereint. Und ich sagte ihm, daß sie dort auf ihn warteten.

Danach richtete ich mich auf und wartete, unsicher, ob er irgend etwas von dem, was ich gesagt hatte, aufgenommen hatte. Sein Gesicht blieb unbewegt, seine Augen waren stumpf und leer. Aber dann sah ich, wie sich seine Lippen bewegten. Es sah aus, als wollte er etwas sagen.

Ich beugte mich vor und fragte: »Was ist, Großvater?« Immer noch bewegte er die Lippen und versuchte unter großer Anstrengung ein Wort zu bilden. Während er kämpfte, sah ich, wie eine Träne sich aus seinem Augenwinkel löste und auf das Kopfkissen rollte.

Plötzlich leuchtete in seinen Augen, die auf einen Punkt zwischen dem Bett und der Zimmerdecke gerichtet waren, ein seltsames Licht auf. Ich hatte den Eindruck, daß er etwas sah. Seine Lippen zuckten und sein Kinn bebte, aber das Wort wollte sich nicht formen. »Was willst du sagen, Großvater?«

Er versuchte den Kopf zu heben, den Blick jetzt auf etwas gerichtet, das über seinem Bett zu schweben schien. Dann zuckte etwas wie ein Lächeln über seine Lippen, und er sagte mit ganz normaler Stimme: »Vater!« Da wußte ich, was mein Großvater sah. Er starb im selben Moment. Er starb mit diesem Lächeln auf dem Gesicht.

Meinen Verwandten habe ich nie erzählt, was ich in dem Haus in der George Street erlebt habe. Es war ihnen nicht bestimmt, davon zu wissen. Doch eben diese Erlebnisse brachten mich ihnen näher, ließen mich erkennen, daß meine Tante und mein Onkel, meine Cousinen und mein Vetter genau wie meine Mutter und ich Victor Townsends Erbe in sich trugen. Ich konnte diese Menschen lieben, die für mich zu Beginn meines Aufenthalts nichts weiter gewesen waren als Fremde mit einer merkwürdigen Sprache und seltsamen Gebräuchen.

Am folgenden Sonntag fuhren wir nach Morecambe Bay, und ich lernte meine anderen Verwandten kennen, die jüngere Generation. Ich habe selten einen so schönen vergnügten Tag erlebt. Ich fand es interessant und aufregend, diese Menschen kennenzulernen, Victors Nachkommen wie ich, und es fiel mir nicht schwer, sie liebzugewinnen. Wir hatten ja etwas gemeinsam, das stärker war als rein zufällige Freundschaft und Sympathie.

Am Tag meiner Abreise sagte meine Großmutter zu mir: »Du mußt meinetwegen nicht traurig sein, Kind, jetzt, wo dein Großvater tot ist. Wir haben zweiundsechzig wunderbare Jahre miteinander verbracht, er und ich, und um nichts in der Welt würde ich sie hergeben. Ich hätte mir keinen besseren Mann wünschen können. Soll ich dir mal etwas sagen: Es ist gar nicht schwer, alt zu werden, wenn man an Gott und ein Weiterleben nach dem Tod glaubt. Weißt du, Kind, ich glaube, daß meine dreiundachtzig Jahre auf dieser Erde nur eine Art Anfang von dem waren, was noch vor mir liegt. Ein modernes junges Ding wie du wird das vielleicht für albern halten, aber ich bin fest überzeugt, daß ich deinen Großvater wiedersehen werde, wenn ich gestorben bin. Wir werden wieder zusammenkommen, denn etwas so Einfaches wie der Tod kann uns nicht trennen. Dazu waren wir hier auf Erden viel zu lange zusammen. Wir werden weiter zusammenbleiben, dein Großvater und ich, und ich gehe ohne Angst dem Tod entgegen.«

Bevor ich ging, machte sie mir noch ein Geschenk. Es war die in Leder gebundene Ausgabe des Buches She, die ich mir Wochen zuvor angesehen hatte. Während ich es in der Hand hielt, erinnerte ich mich der pessimistischen Weltanschauung, über die ich nachgedacht hatte, nachdem ich eine bestimmte Passage gelesen hatte - daß die einzige Zukunft, die uns erwartet, Staub und Verfall ist. Da war ich inzwischen ganz anderer Meinung. Ich wußte, daß in diesem Moment Victor und Jennifer irgendwo weiterlebten, und daß meine Großmutter in der Tat nach einer gewissen Zeit wieder mit meinem Großvater vereint werden würde. Ich wußte, daß wir alle am Ende unsere eigene Ewigkeit finden würden.

Und ich wußte jetzt auch, was mir bestimmt war. Geradeso, wie mir gestattet worden war, die Vergangenheit zu ändern, wurde mir jetzt die Möglichkeit gewährt, meine Zukunft zu ändern. Auf keinen Fall wollte ich die Chance vertun, das zu bekommen, was Jennifer und Victor sich ersehnt hatten, aber niemals hatten haben können. Diese Chance wurde mir geboten; ich wollte sie ergreifen, ehe es zu spät war. Ich konnte nur hoffen, daß Doug noch da sein würde, wenn ich zurückkehrte, denn ich hatte ihm soviel zu sagen. Ich hatte gelernt, »ich liebe dich« zu sagen. Erklärungen habe ich keine. Wie das alles geschehen ist, darüber kann man nur Mutmaßungen anstellen. Und warum es geschah ... Nun, auch darüber läßt sich mit Gewißheit nichts sagen, wenn ich auch sicher bin, daß alles lange vorbestimmt war. Mein Großvater lag im Sterben, er mußte die Wahrheit erfahren. Und Victor existierte an einem Ort, der »grau und häßlich« war, wußte nichts 'darüber, was nach seinem Tod geschehen war.

Und auch Jennifer war gestorben, ohne die Wahrheit zu wissen. Ich war die Mittlerin gewesen. Ich möchte gern glauben, daß ich dazu beigetragen habe, die Dinge zurechtzurücken und alles gutzumachen.

Als ich das Haus in der George Street betreten hatte, war ich ein Mensch ohne Vergangenheit und ohne Zukunft gewesen. Als ich ging, war ich mit den Schätzen einer reichen Vergangenheit beladen und trug in mir die Gewißheit, daß eine helle, lebendige Zukunft auf mich wartete.

Ehe ich draußen in Edouards kleinen Renault stieg, drehte ich mich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf das Haus. Mein Blick wanderte zum Vorderzimmer hinauf, wo im Fenster der vertraute weiße Spitzenvorhang hing. Er flatterte leise im Luftzug, als wollte er mir Lebewohl sagen.