Warum konnten wir nicht so bleiben, wie wir in der Jugend waren, so wie John und Victor und Harriet und Jennifer, die immer noch jung und schön waren ? Warum mußten wir diese Unwürdigkeit des Alterns erleiden ?

»Armes Kind«, tröstete meine Großmutter und wischte mir die Tränen ab. »Es geht dir gar nicht gut. Komm, reiben wir die Beine mit Butter ein..«

Sie wollte mich zum Heizofen ziehen, aber ich ging nicht mit ihr.

»Keine Angst, Kind. Ich hab ihn schon runtergedreht.«

»Nein - mir ist warm genug. Ich setz mich hier aufs Sofa.« Ich setzte mich in die äußerste Ecke, so weit wie möglich vom Gas entfernt, und sah geistesabwesend zu, wie meine Großmutter meine verbrannten Beine mit ihrem alten Hausmittel behandelte. Mir war nach Weinen zumute. Nach jenem törichten Moment, als ich versucht hatte, Victor zu berühren, mit ihm zu sprechen, hatte ich die ganze Nacht auf ihre Rückkehr gewartet. Aber sie waren nicht gekommen.

»Bist du sicher, daß es dir nicht zuviel wird?« fragte Elsie und musterte mein Gesicht mit Besorgnis. »Mama hat schon recht, du siehst gar nicht gut aus. Du bist sehr blaß, Andrea.«

»Ach, es geht schon.« Meine Beine schmerzten mörderisch. Die Hitze im Zimmer setzte mir zu. Der Schlafmangel der vergangenen Nacht begann sich bemerkbar zu machen.

Was hätte ich Elsie da anderes sagen sollen, als »ach, es geht schon«

»Du kannst morgen ins Krankenhaus fahren. Heute nicht«, entschied Großmutter.

Ich ließ mir das einen Moment durch den Kopf gehen. Das heißt, ich dachte nicht eigentlich darüber nach, ich versuchte vielmehr zu erspüren, was das Haus von mir wollte.

Doch da es mir nichts mitteilte, beschloß ich, den Versuch zu machen. Wenn es mich am Besuch im Krankenhaus hindern wollte, würde es das tun. »Ich möchte aber gern heute hinfahren, Großmutter. Großvater wird denken, ich wäre wieder abgereist, ohne mich von ihm zu verabschieden.«

»Laß sie doch, Mama«, sagte Elsie. »Eine kurze Autofahrt und dann eine Stunde im Krankenhaus. Das kann ihr nicht schaden. Aber hetz dich heute nicht so ab, bevor wir gehen, Andrea.« Brav ließ ich mich wieder einpacken wie zu einer Reise an den Nordpol, dann gingen wir los. An der Haustür zögerte ich flüchtig. Dann setzte ich den Fuß über die Schwelle und wußte, daß ich heute meinen Großvater sehen würde.

Ich war nicht zum Reden aufgelegt, aber Elsie redete dafür um so mehr, während sie mir auf der Fahrt sämtliche Sehenswürdigkeiten Warringtons zeigte: Das Stahlwerk und das Rathaus, das neue Mark's and Spencer's und den alten Woolworth, wo »deine Mutter und ich während des Krieges gearbeitet haben«. Ich nickte höflich lächelnd, obwohl mir ihr unablässiges Geschwätz auf die Nerven ging. Für meine lebenden Verwandten konnte ich nicht viel mehr aufbringen, als bemühte Toleranz; ich wollte mit den toten Zusammensein.

Mein Großvater lag wieder regungslos im Bett und war nicht ansprechbar. Das hielt Elsie und Edouard nicht davon ab, die gewohnten einseitigen Gespräche mit ihm zu führen.

Ich begnügte mich damit, an seinem Bett zu sitzen und die magere alte Hand zu halten. Es brachte mir sonderbarerweise einen gewissen Frieden.

Zu Hause empfing uns Großmutter mit einem liebevoll zubereiteten Mittagessen, aber ich hatte kaum Appetit. Während ich der Form halber ein paar Bissen zu mir nahm, informierte Elsie ihre Mutter über die letzten Neuigkeiten von Warrington: wer heiraten wollte, wer schwanger war, wer in Scheidung lag. Warrington war wie jede andere Kleinstadt

- Geheimnisse gab es nicht. Aber ich, dachte ich mit einem heimlichen Lächeln, ich habe ein Geheimnis.

Während ich meine redselige Tante beobachtete, erwog ich flüchtig, ihr von meinen Erlebnissen in diesem Haus zu erzählen. Aber ich schlug mir den Gedanken gleich wieder aus dem Kopf, da ich erkannte, daß das zu nichts führen würde. Elsie würde meine Erzählungen abtun und auf ihre robuste, pragmatische Art darauf bestehen, daß ich mir das alles nur eingebildet hatte. Außerdem hatte ich immer noch Angst, daß es die fragile Verbindung zur Vergangenheit zerstören würde, wenn ich einem anderen Menschen von meinen Erfahrungen berichtete.

»Ich hab übrigens gute Nachrichten«, sagte Elsie plötzlich. »Ich hab ganz vergessen, es dir zu sagen, Mama. Ann hat heute morgen aus Amsterdam angerufen. Sie kommt am Sonntag auch nach Morecambe Bay zu Albert.«

»Ach, wie schön!« Großmutter strahlte mich an. »Für dich wird es bestimmt nett, deine jüngeren Verwandten kennenzulernen, Andrea. «

»Ja, ich glaube, es wird dir guttun, zur Abwechslung mal mit Leuten in deinem Alter zusammenzusein«, pflichtete Elsie ihr bei. Ich senkte hastig die Lider. Wie alt war Victor gestern abend gewesen? Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig ? Und John ein wenig jünger.

»Es wird dir gefallen bei Albert. Er hat ein sehr hübsches Häuschen, und das Kleine...«

Während sie erzählte, dachte ich, es wäre sicher nett hinzufahren, aber was, wenn das Haus mich nicht ließ ? Elsie und William brachen bald nach dem Essen wieder auf.

Großmutter brachte sie hinaus. Ich blieb am Tisch sitzen. Beide Schienbeine taten mir so höllisch weh, als hätte ich mir den schlimmsten Sonnenbrand geholt. Ich hörte die drei draußen miteinander sprechen, dann wurde die Tür zugeschlagen, Großmutter sperrte ab und kam wieder ins Zimmer. »Du denkst wohl an deinen Großvater, hm?« fragte sie, als sie mich noch immer am Tisch sitzen und zum Fenster hinausstarren sah.

Ich drehte ein wenig den Kopf. »Ja«, sagte ich, aber in Wirklichkeit hatte ich an ›die anderen‹ gedacht.

Der endlose Nachmittag ging in einen endlosen Abend über. Meine Beine brannten jetzt so unerträglich, daß sie keinerlei Berührung vertragen konnten. Ich hatte die Hosenbeine meiner Jeans bis zu den Knien hinaufgerollt und mich soweit wie möglich vom Feuer weggesetzt. Großmutter strickte zufrieden vor sich hin.

Als ich Harriet in meinem Sessel sitzen sah, weit vorgebeugt und eifrig mit irgend etwas beschäftigt, das auf ihrem Schoß lag, warf ich einen Blick zu meiner Großmutter und stellte fest, daß sie eingeschlafen war. Friedlich schlummerte sie in ihrem Sessel. Vor ihr brannte ein helles Feuer, an den Wänden mit der bunten Tapete brannten die Gaslampen, auf zierlichen Tischchen stand Nippes, und sie war ihrer Umgebung überhaupt nicht gewahr.

Aber wenn sie nun plötzlich erwachte, würde das alles dann verschwinden ?

Ich neigte mich vor, um sehen zu können, was Harriet tat. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß liegen, mehrere Bögen Papier und einen Briefumschlag. In der Hand hielt sie eine Feder. Offenbar war sie dabei, einen Brief zu schreiben.

Ich beugte mich noch weiter vor, um genauer sehen zu können, aber aufzustehen wagte ich nicht. Ja, sie schrieb einen Brief. An Victor vielleicht ? dachte ich, aber dann fiel mir der Brief ein, den sie an dem Abend, als Mr. Cameron die Familienaufnahme gemacht hatte, heimlich in ihrer Rocktasche hatte verschwinden lassen. Hatte Harriet vielleicht einen heimlichen Freund, mit dem sie korrespondierte ?

Ihr Verhalten gab mir die Antwort. Immer wieder sah sie auf die Uhr, viel zu oft blickte sie argwöhnisch über die Schulter, und sie schrieb mit einer Hast, die verriet, daß sie etwas Verbotenes tat und fürchtete, dabei ertappt zu werden. Ein heimlicher Liebhaber vielleicht, dachte ich...

Köstliche Düfte wehten mir plötzlich in die Nase. Würziger Bratengeruch einer Ente, die am Spieß bruzzelte; das milchige Aroma von Reisbrei, der auf dem Ofen köchelte; Gerüche nach Fleischsoße, buttrigem Gemüse und frischem Brot. Ich blickte zur Küchentür hinüber. Großmutter und ich hatten nichts auf dem Herd stehen, wir waren längst fertig mit dem Essen. Es mußte also das Abendessen der Familie Townsend sein, das das Haus mit diesen appetitlichen Düften erfüllte. Es mußte Mrs. Townsend sein, die da nebenan in der Küche stand und das Abendessen bereitete. Und ich konnte die Gerüche wahrnehmen!

Auch das ein Geheimnis. Wie war es möglich? Aber ebenso gut konnte ich fragen, wie war es möglich, daß ich sie sehen und hören konnte. Alle meine Sinne bis auf einen waren miteinbezogen in diese Begegnungen mit der Vergangenheit, und ich fragte mich, ob irgendwann der Moment kommen würde, da ich auch berühren und fühlen konnte...

Aber jetzt wollte ich es nicht versuchen. Ich wollte Harriet nicht durch eine unbedachte Handlung vertreiben. Nein, ich würde ganz still auf meinem Platz sitzen bleiben, während sie ihren Brief schrieb.

Ein neuer Gedanke kam mir. Mit Victor hatte ich in der vergangenen Nacht gesprochen. Ich hatte ihn zweimal angesprochen, und beim ersten Mal - beim ersten Mal war er nicht verschwunden. Er hatte einfach mit Jennifer weitergesprochen. Erst beim zweiten Mal, als ich aufgesprungen war und ihn berühren wollte, erst da hatte sich die Szene aufgelöst.

Sollte es dann vielleicht möglich sein, mit ihnen Verbindung aufzunehmen? War es vielleicht einfach so, daß er mich nicht gehört hatte, weil er so stark auf Jennifer konzentriert gewesen war, als er sprach? Ich konnte es noch einmal versuchen. Ich würde mich nicht von der Stelle rühren. Ich würde nur sprechen. Ich würde ganz ruhig, beiläufig, unaufdringlich etwas zu Harriet sagen.

Sie schrieb sehr eifrig. In der Stille des Zimmers waren nur das Knistern des Feuers und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims zu hören. Der Uhr von gestern. Vielleicht, vielleicht würde sie mich hören, wenn ich sie ansprach. Ich wünschte mir, daß sie mich hören würde.

Ich war ein wenig enttäuscht, daß Victor nicht hier war, obwohl ich seine Anwesenheit gar nicht erwarten konnte, da er ja gesagt hatte, er werde nach Schottland gehen und niemals in dieses Haus zurückkehren. Hieß das, daß ich ihn nie wiedersehen würde? Ich bezweifelte es. Schon bald würde das Schicksal ihn wieder in dieses Haus zurückführen. Ich wußte, daß er zurückkommen würde, ich wußte nur nicht, wann.

Sollte ich sie jetzt ansprechen ? Sollte ich es wagen ? Ich leckte mir die Lippen. Mein Mund war trocken. So sanft wie möglich sagte ich: »Harriet.« Sie sah nicht auf. Ich versuchte es ein wenig lauter. »Harriet.« Noch immer keine Reaktion. »Harriet, kannst du mich hören

Als sie endlich den Kopf hob, stockte mir der Atem, aber dann erkannte ich, daß es nur eine Bewegung der Nachdenklichkeit war. Sie überlegte sich bloß die nächsten Worte für ihren Brief.

Meine Bemühungen waren vergeblich gewesen. Harriet würde mich niemals hören können. Verrückt, sich so etwas einzubilden.

Dennoch versuchte ich es ein letztes Mal. »Harriet, bitte hör doch!«

Rein zufällig blickte ich zu meiner Großmutter hinüber. Sie starrte mich mit aufgerissenen Augen an.

Ich stieß einen Schrei aus und griff mir an den Hals. »Großmutter ! Hast du mich erschreckt!«

»Mit wem hast du geredet?« fragte sie und sah mich dabei ganz merkwürdig an.

Mein Blick schweifte zum anderen Sessel. Er war leer. Die Gasheizung stand wieder im Kamin. »Mit niemand, Großmutter. Ich dachte, du schläfst.«

»Ich habe dich mit jemandem reden hören. Ich hab's gesehen. Du hast Harriet gesagt.«

»Nein, Großmutter, ich hab nur...« Ich wußte nicht weiter und breitete hilflos die Hände aus. »Wahrscheinlich hab ich einfach laut gedacht.«

Großmutter drehte den Kopf und betrachtete lange den leeren Sessel vor dem Kamin.

Ihr Gesicht war eine Maske der Unergründlichkeit, still und ausdruckslos. Lange blickte sie den Sessel an, dann sagte sie langsam und betont: »Hast du hier im Haus irgendwas gesehen, Andrea?«

Ihre Worte erschreckten mich. Unsere Blicke trafen sich und hielten einander fest, und ich fragte mich, was weiß sie ? Schließlich wandte ich mich ab und sagte: »Ich habe nur laut gedacht, Großmutter. Meine beste Freundin in Los Angeles heißt Harriet. Immer wenn ich Probleme habe, spreche ich mit ihr.« Ich lachte nervös. »Lieber Gott, Großmutter, ist es dir noch nie passiert, daß du Selbstgespräche geführt hast?« Die Härte in ihrem Gesicht wich Besorgnis. »Armes Kind, dir geht's gar nicht gut hier, nicht? Die Umstellung von Amerika nach hier ist wahrscheinlich viel zu schnell gegangen. Ich hab mal im Manchester Guardian einen Bericht über etwas gelesen, das die Wissenschaftler Biorhythmus nennen. Das ist es, was dir zu schaffen macht. Du bist ganz aus dem Rhythmus.

Und es ist dir bestimmt auf den Magen geschlagen, hm ?«

»Ich -«

»Aber keine Angst, dafür hab ich genau das Richtige. Du wirst sehen, wie es wirkt.«

Sie stemmte sich ächzend aus dem Sessel und humpelte auf ihren Stock gestützt zum Büffet - diese unerschöpfliche Schatzgrube -, griff hinein und brachte eine unbeschriftete Flasche mit einer weißen Flüssigkeit zum Vorschein.

»Bei mir hilft das jedes Mal«, erklärte sie, während sie in die Küche hinüberging. Als sie zurückkam, hielt sie einen großen Löffel in der Hand, in den sie einen guten Schuß der dicklichen weißen Flüssigkeit goß.

»Hier, Kind.« Sie stieß mir den Löffel förmlich unter die Nase. »Was ist das denn ?«

»Medizin. Der Arzt hat sie mir verschrieben. Ich hatte fürchterliche Verstopfung. Aber das Zeug hat gewirkt wie der Teufel. Und seitdem hab ich überhaupt keine Schwierigkeiten mehr.«

»Aber, Großmutter, ich hab ja gar keine -«

»Komm schon, Kind, nimm die Medizin.« Lächelnd stieß sie mir wieder den Löffel unter die Nase. Der Geruch war widerlich. Ich schloß die Augen, öffnete den Mund wie ein folgsames Kind und schluckte die ganze Ladung in einem. Beinahe hätte ich alles wieder erbrochen.

»Oh, Großmutter -« Ich drückte die Hand auf den Mund. »Das schmeckt ja scheußlich.«

»Aber es wirkt, paß nur auf.«

Ich schnitt eine Grimasse. Der Nachgeschmack war abscheulich, kalkig und bitter mit einer Spur von irgend etwas Undefinierbarem.

»Ich finde, du gehörst mit deinen Brandwunden an den Beinen und deiner Verstopfung eher ins Krankenhaus als dein Großvater«, bemerkte Großmutter, während sie die Medizinflasche zuschraubte und wieder ins Büffet stellte. »So«, sagte sie, unverkennbar zufrieden mit dem Erreichten, »jetzt gehen wir am besten zu Bett, sonst nicken wir wieder hier in unseren Sesseln ein. Möchtest du heute oben schlafen, Kind, für den Fall, daß du nachts schnell raus mußt? Ich kann dir zwei Wärmflaschen ins Bett legen.«

Aber ich wollte nicht nach oben. Die Szene mit dem alten Kleiderschrank war mir noch in allzu lebhafter Erinnerung. »Ich schlafe lieber hier, Großmutter. Bis zum Bad hinauf schaffe ich es schon, wenn ich wirklich raus muß.«

»Na schön, Kind, wie du willst. Dann gute Nacht.« Sie küßte mich auf beide Wangen und drückte mich überraschend kräftig an sich. Dann ging sie und schloß die Tür hinter sich.

Als ich sie die Treppe hinaufhumpeln hörte, stand ich auf und stellte das Gas ab.

Ich war überrascht, als ich erwachte. Überrascht und ein wenig beunruhigt. Ich konnte mich nicht erinnern, mich entkleidet und mein Nachthemd angezogen zu haben, und ich konnte mich nicht erinnern, unter die Decken auf dem Sofa geschlüpft zu sein. Als ich plötzlich aus dem Schlaf fuhr und mit weit offenen Augen in die Dunkelheit starrte, wußte ich im ersten Moment nicht, wo ich war. Ich warf die Decken ab, die schmerzhaft auf meine Beine drückten, und setzte mich auf. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Klänge von ›Für Elise‹, und da wußte ich, was mich aus dem Schlaf gerissen hatte.

Es war stockfinster im Zimmer. Ich stand auf und tastete mich von Möbelstück zu Möbelstück zum Fenster vor, um die Vorhänge aufzuziehen. Aber die Nacht draußen war so schwarz und undurchdringlich wie die Nacht drinnen. Kein Mond, kein Stern war am wolkenverhangenen Himmel zu sehen. Vorsichtig tappte ich durch das Zimmer zurück zur Tür. Ich wollte wissen, wer da Klavier spielte. Ich fand den Lichtschalter und knipste ihn an.

Ich fuhr schreckhaft zusammen, als ich Harriet und Jennifer am Kamin stehen sah. Aber gleich wurde ich ruhig und wurde mir mit Verwunderung bewußt, daß diese ungebetenen Besuche aus der Vergangenheit mir keine Angst mehr machten. Nicht allzuviel Zeit schien in ihrer Epoche vergangen zu sein. Die beiden hatten sich kaum verändert. Ich schätzte sie auf ungefähr siebzehn Jahre, zwei offenkundig modebewußte junge Frauen. Sie trugen beide zu ihren schmalen langen Röcken hochgeschlossene weiße Blusen und kurze Jäckchen, deren Ärmel an den Schultern gekraust waren. Beide blickten sie gespannt zur Tür, an der ich immer noch stand.

Das Klavierspiel, fiel mir plötzlich auf, hatte aufgehört. Die beiden jungen Mädchen wirkten unruhig, über irgend etwas besorgt. Harriet sah immer wieder auf ihre Armbanduhr, während sie sich wiederholt aufgeregt die farblosen Lippen leckte. Sie war sehr zierlich, doch ihr Gesicht hatte mit dem Erwachsenwerden nicht an Reiz gewonnen. Die Augenbrauen waren ein wenig zu buschig, die untere Gesichtshälfte eine Spur zu breit, die Nase unverhältnismäßig klein. Und auch sie hatte die Townsend-Furche, die ihrem Gesicht weniger einen Zug der Eigenwilligkeit als der Schärfe verlieh. Neben Jennifer, deren Schönheit sich wie die einer Rose von Tag zu Tag mehr zu entfalten schien, wirkte Harriet Townsend wie eine graue Maus. Fast konnte sie einem leidtun. Ich konnte den Blick nicht von Jennifer wenden. Wie an jenem ersten Abend, als Großmutter mir ihr Foto gezeigt hatte, war ich fasziniert von diesem jungen Mädchen und betrachtete sie unverwandt mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid. Ich konnte sie nicht als geisterhafte Erscheinung aus der Vergangenheit begreifen, denn meine Sinne sagten mir, daß ich hier einem lebendigen Menschen gegenüberstand, einer Frau von ungemein intensiver Ausstrahlung. Ihre braunen Augen zeigten Erregung; ruhelos wie ein Schmetterling flog ihr Blick durch das Zimmer. Und ihre Hände waren keine Sekunde still.

Endlich, nach qualvoller Wartezeit, wandte sich Harriet ihrer Freundin zu und flüsterte: »Ich höre sie kommen.«

Die furchtsame Erregung der beiden jungen Frauen teilte sich mir mit. Mit klopfendem Herzen trat ich von der Tür weg und drückte mich an die Wand, als die beiden Männer eintraten. Draußen schien es zu regnen. John war naß und klopfte sich die Regentropfen von den Hosenbeinen, nachdem er eingetreten war. Er lief zum Feuer, hielt die Hände darüber und machte mit halblauter Stimme eine Bemerkung, die ich nicht verstand.

Meine Aufmerksamkeit galt aber auch weniger John als seinem Begleiter, Victor, der so nahe bei mir stand, daß ich die Feuchtigkeit seiner Kleider riechen und die Nässe seines Haars sehen konnte. Ich sah auf den ersten Blick, daß er völlig verändert war. Er schien um Jahre gealtert. Mit seinen fünf- oder sechsundzwanzig Jahren sah er aus wie ein Mann, der zuviel vom Leben gesehen hat, um noch für jugendliche Unbekümmertheit Raum zu haben. Fast alle Weichheit war aus seinen Zügen gewichen. Das glattrasierte Gesicht war kantig und angespannt, als berge es in sich ein grausames Geheimnis. Die Augen lagen tiefer in den Höhlen als früher, so als wollte er lieber nach innen sehen als nach außen, und sie schienen mir wie umschattet von der Erinnerung an das Elend und das Gift eines Londoner Krankenhauses. Das lockige schwarze Haar war länger, reichte ihm fast bis auf die Schultern, notdürftig gebürstet nur, als interessiere ihn äußere Wirkung nicht mehr. Er wirkte sehr streng und distanziert, wie er da stand, so reglos, daß er kaum zu atmen schien. Und ich fragte mich, was diese tiefgreifende Veränderung bewirkt hatte.

Er und Jennifer sahen einander an, und ich gewahrt in ihrem Blick die Bestürzung über seine Verwandlung.

Was hatte Victor in den Londoner Krankenhäusern gesehen ? Wie oft hatte ihn der eisige Hauch des Todes gestreift, hatte er schrecklichen Verlust erlebt, die bittere Enttäuschung ertragen müssen, daß er, dessen Aufgabe es war, Leben zu retten, am Ende nur ohnmächtig geschehen lassen mußte ? Victors Gesicht war gezeichnet. Sein Wissen und seine Reife, so ungewöhnlich für einen so jungen Menschen, zeigten sich im ernsten Schwung seiner Lippen, die das

Lächeln verlernt zu haben schienen. Sein Gesicht hatte etwas Schwermütiges, unter dem sich Bitterkeit verbarg. Victor Townsend hatte einen Patienten zuviel verloren.

Harriet, die auf ihren Bruder hatte zugehen wollen, war stehengeblieben, als sie den Blick bemerkte, der zwischen ihm und Jennifer getauscht wurde. Ihre Arme waren halb ausgestreckt, ihr Mund geöffnet. Sie stand wie zur Salzsäule erstarrt. Als hätte sie eben einen Blick auf das Haupt der Gorgone geworfen. Während John sich am Feuer die kalten Hände rieb und sich die Nässe von den Stiefeln stampfte, ohne der Szene hinter ihm gewahr zu sein, hielt Victor noch immer Jennifers Blick fest. Im Feuerschein wirkte sein Gesicht wie gemeißelt, wie eine Studie in Chiaroscuro.

In diesen Sekunden, während ich ihn so intensiv betrachtete und die Mauer zu durchdringen suchte, die er um sich hochgezogen hatte, spürte ich, wie etwas in mir sich zu regen begann... »Mr. Townsend«, sagte Jennifer endlich leise. »Willkommen zu Hause.« Sie blieb am Kamin stehen, als hätte sie Angst, sich zu bewegen.

»Danke«, antwortete er. Seine Stimme war tiefer, als ich sie in Erinnerung hatte.

Auch er rührte sich nicht von der Stelle, als fürchtete er, durch eine Bewegung das Traumhafte dieses Augenblicks zu zerstören. Er verzehrte Jennifer mit seinen Blicken, einem Menschen gleich, der völlig ausgehungert ist oder lange keine Wärme gekannt hat oder sich danach sehnt, ein Zuhause zu finden, ohne den Weg dorthin zu wissen.

Jetzt erst wurde John auf die Stille im Zimmer aufmerksam und drehte sich herum.

»Was denn?« rief er. »Keine Fanfaren? Warum so ernst? Das ist doch ein freudiger Anlaß.

Der verlorene Sohn ist heimgekehrt.«

Ich hörte Bitterkeit unter der gezwungenen Fröhlichkeit und hätte gern gewußt, ob auch die anderen sie wahrnahmen. »Ach, Victor!« rief Harriet jetzt, lief zu ihm hin und warf ihm die Arme um den Hals. »Du bist wieder da! Du bist nach Hause gekommen. Ich fürchtete schon, es wäre nur ein Traum.« Er schüttelte den Kopf und sah sie an, als wäre er aus tiefem Schlaf erwacht. »Ja, Harriet, ich bin wieder da.«

»Und bleibst du ? Bitte, sag, daß du bleibst.« Harriet drückte ihren Kopf an seine Brust, und Victor sah über sie hinweg zu Jennifer, als er sagte: »Ja, ich bleibe.«

»Ach, wie schön!« rief Harriet. »Als Vater es mir sagte, habe ich ihm nicht geglaubt.«

Sie trat einen Schritt zurück und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Er zeigte mir deinen Brief, in dem du schriebst, du hättest den Posten in Edinburgh aufgegeben, um hierher zurückzukommen, und trotzdem glaubte ich es nicht. Ich habe so darum gebetet, daß du wieder heimkommen würdest, und nun sind meine Gebete erhört worden.«

Sie drehte sich herum. »John, wo ist der Sherry, den du versprochen hast?«

»Ach ja!« Er schnalzte mit den Fingern. »Im Salon.«

»Und Gläser. Ich hole die Gläser. Heute abend feiern wir.« Schon eilte Harriet, von Lavendeldüften umhüllt, zur Tür hinaus, und John folgte ihr. Eine kleine Weile waren Victor und Jennifer allein.

Immer noch sahen sie einander stumm an, als genüge jedem fürs erste der Anblick des anderen, um die Sehnsucht zu stillen. Dann sagte Jennifer zaghaft: »Ich war so überrascht, Mr. Townsend, als Harriet mir die Neuigkeit erzählte. Es kam so plötzlich und unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich denken sollte.« Victor lächelte ein wenig unbehaglich. »Und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Denn nachdem ich Ihnen das erstemal begegnet war, kamen mir an meinem Entschluß, nach Schottland zu gehen, die ersten Zweifel.«

Sie griff sich ans Herz. »Wieso ? Was habe ich -«

»Seit dem Abend unserer ersten Begegnung vor fünf Monaten spüre ich eine Unruhe in mir, die sich nicht zurückdrängen läßt, und ich weiß jetzt, daß ich in Schottland unglücklich geworden

wäre. Jennifer, wenn Sie wüßten, wie groß meine Angst war, daß Sie nicht mehr hier sein könnten, wenn ich zurückkomme. Dann wäre alles umsonst gewesen.«

Jennifer wurde sehr bleich, Qual und Erschrecken spiegelten sich in ihrem Gesicht.

Doch ehe sie etwas sagen konnte, erschienen lohn und Harriet wieder im Zimmer. Sie hatten ein Tablett mit Gläsern und eine Flasche Sherry mitgebracht, und nachdem John eingeschenkt und die Gläser herumgereicht hatte, brachte er einen Toast aus.

Auf unseren Bruder, Dr. Victor Townsend, auf sein Glück und einen Erfolg hier bei uns.«

Alle vier leerten ihre Gläser und John schenkte neu ein. Die Augen leicht zusammengekniffen gegen den Feuerschein und den Blick . i u f ihr Glas gerichtet, fragte Jennifer: »Wo werden Sie Ihre Praxis eröffnen, Mr. Townsend?«

Victor trat von der Tür weg und ging durch das Zimmer, um sich /u den drei anderen zu gesellen. »Warum nennen Sie mich immer i loch beim Nachnamen, Jennifer ? Wir sind doch Freunde. Da können wir uns ruhig bei den Vornamen nennen.«

Wie recht du hast, Victor«, stimmte John zu und hob wiederum sein Glas zum Toast.

»Schließlich gehört Jennifer ja jetzt zur Familie, da sie deine Schwägerin ist.«

Zum erstenmal seit seinem Eintreten sah Victor seinen Bruder an. »Pardon?«

»Aber du mußt doch meinen Brief bekommen haben! Soll das heißen, daß du es nicht weißt?« John legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Und ich habe mich schon gewundert, warum du mir am Bahnhof nicht gratuliert hast. Jennifer und ich haben vor zwei Monaten geheiratet.«

Es war, als steckte ich in Victors Haut. Die Nachricht traf mich mit ungeheurer Wucht, das Zimmer schien zu schwanken, die Stimmen der anderen hörte ich wie aus weiter Ferne.

Ich sah das Blitzen der Gläser im roten Licht des Feuers und glaubte wie er, unter dem grausamen Schlag zusammenbrechen zu müssen. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, daß ein Mensch so tiefen Schmerz und so bittere Enttäuschung empfinden konnte. Ich erinnerte mich an die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in den Sälen der Krankenhäuser, an Blut und Krankheit, an sinnloses Leiden, an die unterernährten Kinder und die notleidenden Mütter, an die, welche sich in die Krankenhäuser schleppten und auf ihren Stufen starben, weil sie nicht wußten, wohin, und weil die Ärzte drinnen sie nicht heilen konnten. Ich dachte an die einsamen Abende in dem schäbigen kleinen Zimmer, in dem ich bis spät in die Nacht hinein aufgesessen und an Jennifer gedacht hatte. Wie ist es möglich, fragte ich mich, eine Frau mit solcher Leidenschaft zu lieben, ohne sie überhaupt zu kennen.

Ich dachte an die inneren Kämpfe, das qualvolle Ringen um die Entscheidung zwischen der wissenschaftlichen Karriere mit ihrer Verlockung beruflichen Erfolgs und dem brennenden Verlangen, Jennifer Adams wiederzusehen und sie zu lieben...

Ein eisiger Hauch wehte durch meine Seele, in der nun nichts war als Finsternis und Schmerz, Bitterkeit und Niedergeschlagenheit. »Ach, Victor«, hörten wir Harriets hohe, erschreckte Stimme, »du hast den Brief nicht bekommen ? Wir haben ihn vor zwei Monaten abgesandt. Hast du wirklich keine Ahnung gehabt?« Wir sahen Harriet an und versuchten, uns zu erinnern, wie man sich in einer solchen Situation verhält, was sich schickt, und Victor schaffte es zu sagen: »Nein, ich habe keinen Brief bekommen... Ich hatte keine Ahnung.«

Er brachte es fertig, den Blick zu heben und Jennifer anzusehen. Er brachte es fertig, ruhig und gefaßt zu sagen: »Verzeiht mir also bitte, daß meine Glückwünsche so spät kommen.« Ein trostloses Bild stieg vor uns auf und ließ sich nicht vertreiben: das Bild eines Mannes, der sich lächerlich gemacht hat, indem er der Frau, die soeben seinen Bruder geheiratet hat, seine Liebe erklärte. Und im Hintergrund, fern und grau, die Mauern des Kö-

niglichen Krankenhauses von Edinburgh, dessen Tore nun für immer verschlossen bleiben würden...

»Ich habe den Brief nie erhalten«, wiederholte er mit mühsam beherrschter Stimme.

»Die Postverteilung hat am College nie besonders gut geklappt. Aber verzeiht, ich habe nicht mit euch auf euer Glück getrunken.«

Victor hob sein Glas, neigte den Kopf in den Nacken und leerte das Glas mit einem Zug. Dann sah er wieder Jennifer an. Noch härter wirkte jetzt sein Gesicht, als hätte er eine neue Mauer hochgezogen, um seine Gefühle in Schach halten zu können. Er tat mir in der Seele leid. Victor stand in der Mitte des Zimmers, größer als die drei anderen, und doch schien er an Statur verloren zu haben. Seine Schultern waren gekrümmt, seine Arme hingen schlaff zu seinen beiden Seiten herunter. Nur er und ich wußten, was in diesem Augenblick in seiner Seele vorging; nur er und ich spürten die Bitterkeit und den Groll. Seinen Geschwistern zeigte er die Maske, die diese sehen wollten, und verbarg sich hinter ihr. »Nochmals - meinen Glückwunsch«, sagte er. »Das scheint mir ein sehr schneller Entschluß gewesen zu sein. Denn vor fünf Monaten, als ich das letzte Mal hier war, wart ihr doch noch nicht einmal verlobt, nicht wahr?« Sein Ton war leicht und ungezwungen. »Richtig, Victor, damals waren wir noch nicht verlobt. Aber wir haben es kurz danach nachgeholt.«John hielt Victor, der zur Sherryflasche gegriffen hatte, sein Glas hin. »Mach es doch gleich ganz voll, ja? - Danke. Du siehst also, Victor, du bist nicht der einzige Überraschungskünstler in der Familie.«

Johns Lächeln, als er das sagte, gefiel mir nicht. Seine Stimme hatte einen metallischen Unterton. Es war klar, daß er auf Victor eifersüchtig war und glaubte, einen Sieg über ihn davongetragen zu haben.

»Victor«, sagte Jennifer, mit kräftigerer Stimme jetzt, »wir glaubten, Sie würden nie zurückkehren. Wir hatten keine Ahnung.« Seine Augen verrieten nichts von seinen Gefühlen, als er sie ansah. »Ich wußte es ja bis vor vierzehn Tagen selbst nicht. Ich habe mich ganz impulsiv entschieden.«

»Das sieht dir gar nicht ähnlich, Victor«, warf John ein.

»Ach, wenn wir es nur gewußt hätten«, sagte Jennifer und versuchte, ihm mit Blicken mitzuteilen, was sie nicht in Worte zu fassen wagte.

»Was wäre dann gewesen?« Victor leerte sein Glas. »Hättet ihr dann die Trauung bis zu meiner Ankunft aufgeschoben ? Wie aufmerksam von euch. Und wie rücksichtslos von mir, daß ich euch nicht viel früher von meinen Plänen Mitteilung gemacht habe. Aber das konnte ich eben nicht.«

»Aber Victor, laß doch! Hauptsache, du bist zurück!« Harriet faßte seine Hand und drückte sie. Das Strahlen ihrer Augen verriet mir, wie sehr sie ihren großen Bruder vergötterte. Doch von seinen Gefühlen schien sie nichts zu ahnen. »Vater hat sich so gefreut, als dein Brief kam. Du hättest ihn sehen sollen. Er hat richtig gelächelt, Victor. Und er ist jetzt so stolz auf dich. Dein hervorragendes Examen -«

»Danke, Schwesterchen«, sagte er trotz aller Bitterkeit mit Wärme in der Stimme. »Es tut gut zu wissen, daß ich willkommen bin.«

»Und Mutter hat die ganze Nacht geweint, nachdem sie deinen Brief gelesen hatte. Sie konnte sich gar nicht fassen. Sie ist fortgegangen, um eine Gans zu besorgen, Victor. Heute abend gibt es dir zu Ehren ein richtiges Festessen.«

Während Harriet in einem fort plapperte und John sich mit einem frischen Glas Sherry ans Feuer setzte, tauschten Victor und Jennifer einen letzten Blick.

10

Der Abend wird mir ewig als ein Alptraum im Gedächtnis bleiben. Victor war in der Erwartung heimgekehrt, Jennifer ungebunden vorzufinden, und hatte die Träume mitgebracht, die er um seine Liebe zu ihr gesponnen hatte. Nachdem er von ihrer Heirat mit John erfahren hatte, war es ihm nicht möglich, auch nur eine Nacht in dem Haus zu verbringen, in das er sie als seine Frau zu holen gehofft hatte. Er erklärte darum seinen Geschwistern, er hätte ein Zimmer im Gasthaus Horse's Head gemietet. John, Harriet und Jennifer, die von der brennenden Scham über seine Torheit, von seiner Enttäuschung und seiner Bitterkeit nichts ahnten, glaubten ihm, als er sagte, er müsse gehen und dafür sorgen, daß sein Gepäck vom Bahnhof zum Gasthaus gebracht werde. Sie baten ihn alle drei, damit bis nach dem Abendessen zu warten, doch Victor ließ sich nicht erweichen. Er wolle das letzte Tageslicht nutzen, erklärte er, und die Tatsache, daß es im Moment gerade nicht so stark regne.

Ich allein wußte, daß Victor, der energischen Schritts in den Flur hinausging und sich seinen Umhang über die Schultern warf, in den strömenden Regen hinaus mußte, um sich eine Unterkunft zu besorgen, daß er keine Bleibe hatte, daß kein warmes Zimmer mit einem freundlichen Feuer am Ende eines kurzen Wegs auf ihn wartete. Ich allein wußte, warum er gerade jetzt in den peitschenden Regen hinausstürmen und sich den tobenden Elementen preisgeben mußte. Er war zu zornig und zu aufgewühlt, um noch eine Minute länger in diesem kleinen Zimmer zu sitzen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

John erbot sich, ihm einen Wagen zu rufen, aber Victor lehnte ab. Harriet ermahnte ihn, rechtzeitig zum Abendessen zurückzukommen. Jennifer tat gar nichts, stand nur stumm, wie benommen am Kamin, während Victor seinen Hut aufsetzte und zur Haustür ging. Die Hand schon auf dem Knauf, warf er einen letzten Blick zurück, bei dem mir eiskalt wurde. Er war wie eine finstere Vorahnung dessen, was kommen würde.

Im Lauf von vier Jahren hatte Victor Townsend Pessimismus und Mißtrauen gelernt.

Seine Erfahrungen hatten ihn zu einem Mann geformt, dem es längst nicht mehr einfiel, den Silberstreif am Horizont zu suchen, und an diesem Abend hatte er den letzten Schlag empfangen. Um einer Frau willen, die er kaum kannte, hatte er in blinder Leidenschaft alles aufgegeben, was ihm wichtig gewesen war. Und nun stand er mit leeren Händen da. Nichts war ihm geblieben als bitterer Selbstvorwurf.

Nachdem Victor gegangen war, verließen mich auch die anderen, und ich war wieder allein in dem kalten, dunklen Haus. Tausend Gedanken bestürmten mich, während ich über das tragische Schicksal meines Urgroßvaters nachdachte. Am meisten jedoch beschäftigte mich die Frage, wie es kam, daß Victor eine so starke Wirkung auf mich ausübte und daß ich innerlich so verbunden mit ihm war.

Während ich Victor nach seinem Eintritt ins Zimmer betrachtet, ihn mit den Augen verzehrt hatte wie er Jennifer, hatte ich gespürt, wie in mir sich etwas regte, und ich meine das nicht im übertragenen Sinn. Ich spürte tatsächlich eine Bewegung in meinem Körper, tief unten in der reichen, geheimen Gegend, in der, nehme ich an, wahre Leidenschaft geboren wird. Dort und nicht in meinem Herzen wurde ich zuerst von diesem rätselhaften, uner-reichbaren Mann ergriffen; dort erwachte zum erstenmal etwas, das wohl immer schon dort geschlummert hatte, dessen Existenz ich nur bisher nicht wahrgenommen hatte. Erst nachdem dieser Urfunke entzündet worden war, sprach auch mein Herz wie in zärtlicher, gefühlvoller Antwort.

Ich hatte dort gestanden und Victor angesehen, der mir so nahe gewesen war, daß ich nur die Hand hätte zu heben brauchen, um ihn zu berühren, und hatte begonnen, ihn zu lieben.

Es war ein Phänomen, das ich nicht begreifen konnte. Ich mochte fragen und forschen soviel ich wollte, ich kam der Erklärung nicht näher. Wie konnte ich körperliche, sinnliche Liebe zu einem Mann empfinden, der nahezu hundert Jahre tot war

? Kam es daher, daß er für mich in jenen Momenten, da das Zeitfenster sich auftat, ein lebender, atmender Mensch war, so real wie Edouard oder William ?

Wieso war ich so tief ergriffen von ihm und fühlte mich mit solcher Macht zu ihm hingezogen? Lag es daran, daß ich auf eine nicht zu erklärende Weise gezwungen wurde, alles zu fühlen, was er fühlte, seine geheimsten Freuden und Leiden mit ihm zu teilen ? Es konnte keine Antworten geben, denn diese Fragen selbst entsprangen ja einer Situation, die außerhalb der Bereiche von Logik und Verstand lagen. So wenig sich diese Blicke in die Vergangenheit mit den Mitteln menschlicher Vernunft erklären ließen, so wenig erklärbar war meine gefühlsmäßige Verschmelzung mit Victor. Ich hatte die Ausflüge in die Vergangenheit akzeptiert und eingesehen, daß ich sie weder verstehen noch verhindern konnte. Ebenso würde ich jetzt diese Liebe akzeptieren müssen. Aber das fiel mir schwer. Diese starke Gemütsbewegung machte mir angst. Ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte.

Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich je Ähnliches empfunden hatte, und fand nichts.

Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich in dieser kalten, stillen Stunde kurz vor Morgengrauen der erschreckenden Wahrheit ins Gesicht: Ich hatte nie geliebt. Nicht einmal Doug hatte ich geliebt.

Ich lag im dunklen Wohnzimmer im Haus meiner Großmutter, allein mit mir selbst und der Erinnerung an das, was sich hier vor fast einem Jahrhundert zugetragen hatte, und blickte zum ersten Mal in mich hinein. Einfach war es nicht, da ich den Blick nach innen bisher stets mit Erfolg vermieden hatte. Ich hatte mich in einem Leben bequemer Freundschaften, seichter Zerstreuungen und oberflächlicher Gefühle eingerichtet. Ich hatte viele Freunde und Liebhaber gehabt, aber nur einer dieser Männer hatte einen Eindruck hinterlassen - Doug, dem ich so unrecht getan hatte. Die anderen verschmolzen in meiner Erinnerung zu einer grauen gesichtslosen Masse. Immer war ich vor den tiefen Gefühlen davongelaufen und hatte die Verantwortung einer verbindlichen Beziehung gescheut, und jetzt sah ich mich mit Ereignissen und Gefühlen konfrontiert, über die ich keine Kontrolle hatte. Das war das Schlüsselwort! Kontrolle. In der Vergangenheit hatte ich stets alles unter Kontrolle gehabt. Ich hatte die Regeln aufgestellt, nach denen gespielt wurde. Sie dienten der Abwehr und dem Schutz vor Schmerz und Verletzung. Aber sie hatten auch keine himmelhochjauchzende Freude oder Begeisterung zugelassen. In dem Bemühen, mir Schmerz zu ersparen, hatte ich mich auch der Freuden beraubt. Aber ich hatte diesen Preis angemessen gefunden.

Diesmal jedoch war ich nicht in Kontrolle. Ich war dem Taumel meiner Gefühle ausgesetzt, ohne etwas dagegen tun zu können. Wie glatt und ruhig mein Leben gewesen war, wie vorhersehbar und leicht zu überblicken. Und wie leer!

Ich fing wieder an zu weinen. Ich weinte um Victor und ich weinte um mich selbst und das, was ich versäumt hatte. Ein Leben auf Sparflamme. Ungefährlich und unendlich langweilig. Welch eine Ironie, dachte ich unter Tränen, daß es Toter bedurft hatte, mich zum Leben zu erwecken. Was ist denn ein Mensch ohne Gefühle ? Was bleibt denn nach Abzug von Liebe und Haß und Eifersucht und dem ganzen Reichtum der Emotionen, die die Lebendigkeit eines Menschen ausmachen ? Eine leere Hülle. Und genau das war ich gewesen, als ich zum ersten Mal das Haus meiner Großmutter betreten hatte - eine leere Hülle. Ich hatte einzig für mich gelebt, in einer so eng abgesteckten Welt, daß für andere kaum Raum darin gewesen war. Selbst jene Freundschaften, die ich gepflegt und so hoch geschätzt hatte, hatten mir nichts abverlangt.

Während draußen ein grauer Tag heraufdämmerte, wandten meine Gedanken sich meinem Bruder Richard zu, der, in der Kindheit mein engster Freund und Vertrauter, mir heute ein Fremder war. Ich hatte zugelassen, daß Zeit und räumliche Entfernung eine tiefe Kluft zwischen uns aufgerissen hatten. Hin und wieder ein flüchtiger Gedanke, zu Weihnachten eine Karte, einmal im Jahr vielleicht ein Brief - das war alles, was von der innigen Beziehung zwischen meinem Bruder und mir geblieben war. Wie anders waren wir als Victor und Harriet!

Ich sah Harriet vor mir, wie sie über Victors Umzug nach London geweint, mit welchem Jubel sie seine Rückkehr begrüßt hatte, und Erinnerungen überfluteten mich plötzlich, als wäre ein Damm gebrochen. Richard und ich als Kinder: Stets hatte er mich beschützt und verteidigt, mich Neues gelehrt, mich stundenlang mit abenteuerlichen und geheimnisvollen Geschichten unterhalten. Ich lag da und ließ mich von den lange verschütteten Erinnerungen, die Wehmut und Bedauern mitbrachten, in die Welt meiner Kindheit zurücktragen.

Der Weihnachtsmorgen, wenn wir unsere Geschenke geöffnet hatten. Richard, der Unerschrockene, der eine Spinne tötete, die sich in mein Bett verirrt hatte; der mir bei meinen Hausaufgaben half; der sein letzten Stück Schokolade mit mir teilte. Er war mein Held gewesen. Ich war so stolz auf ihn gewesen wie Harriet auf ihren Bruder Victor. Und was war davon geblieben? Wieso hatte ich diese alltäglichen kleinen Begebenheiten vergessen, an die ich mich nun plötzlich mit soviel Liebe und Wehmut erinnerte ?

Es verlangte mich danach, mit ihm zu sprechen so wie damals, als ich im vorletzten Jahr der Highschool gewesen war und Richard zur Luftwaffe eingezogen worden war. Wir hatten den ganzen Abend in meinem Zimmer auf meinem Bett gesessen und geredet. Richard hatte mir erklärt, daß er fort müsse und ich von nun an ohne ihn zurechtkommen müsse. Er hatte damals sehr erwachsen auf mich gewirkt. Er hatte versucht, mir eine Vorstellung davon zu geben, was mich in der Zukunft erwartete, und mich vor den Stolpersteinen gewarnt. Er hatte Worte gebraucht, die mir fremd waren, Bilder gezeichnet, die ich nicht recht verstand.

Später, als ich erwachsen geworden und Richard nach Australien gegangen war, hatte ich erkannt, daß er mir in allem die Wahrheit gesagt hatte und seine Ratschläge und Hinweise wohlüberlegt gewesen waren.

Mir wurde klar, daß Richard mich niemals verlassen hatte, sondern immer an meiner Seite gestanden hatte, selbst in jenen Zeiten, als ich mich völlig alleingelassen gefühlt hatte.

Seine Liebe hatte mich immer begleitet, geradeso wie die Worte, die er mir mitgegeben hatte.

Ich jedoch hatte ihm die Schuld an meiner Einsamkeit gegeben, hatte es ihm übelgenommen, daß er fortgegangen war, und hatte mich innerlich von ihm distanziert. Ich hatte es ihm zum Vorwurf gemacht, daß er nicht bei mir geblieben war und mein Leben für mich gelebt hatte.

Wie unfair!

Ich ließ es mir von Großmutter nicht ausreden, mit Elsie und Ed ins Krankenhaus zu fahren. Ich spürte, daß das Haus mich nicht zurückhalten würde. Ich wollte meinen Großvater unbedingt sehen und versuchen, eine Möglichkeit zu finden, ihm mitzuteilen, was ich über seinen Vater wußte. Ich konnte meinen Großvater nicht sterben lassen, ohne ihn darüber aufzuklären, daß er seinen Vater völlig falsch gesehen hatte, sein Leben lang einer schrecklichen Lüge aufgesessen war. Er mußte wissen, daß Victor Townsend ein nobler und charaktervoller Mann gewesen war, der unsere Liebe verdiente.

So sah ich es am Nachmittag meines siebten Tages im Haus meiner Großmutter, als ich noch unter der Wirkung des letzten ›Besuchs‹ stand. Später erst wurde ich Zeugin von Ereignissen, die die Schauergeschichten, mit denen mein Großvater gelebt hatte, zu bestätigen schienen, mein Vertrauen erschütterten und quälende Zweifel in mir weckten. Ich sollte bald erfahren, daß der Victor Townsend, den ich bisher kennengelernt hatte, nicht derselbe Mann war, dem ich später begegnete. Bald sollte sich alles verändern.

Bald sollte das Grauen, das in dem Haus in der George Street wohnte, sich zeigen.

Mein Großvater schlief während unseres ganzen Besuchs. Während Elsie und Ed wie immer auf ihn einredeten und so taten, als könne er sie hören und jeden Moment reagieren, überlegte ich, wie ich mich ihm mitteilen sollte. Vielleicht war es ja doch so, daß er hörte und verstand. Zumindest konnte ich versuchen, mit ihm zu sprechen. Aber nicht im Beisein von Elsie und Ed. Was ich meinem Großvater zu sagen hatte, mußte ich ihm allein sagen. Die Frage war nur, wie ich meine Verwandten loswerden sollte. Durchsichtig und ausgezehrt lag er in den Kissen, Victors Sohn, der sich sein Leben lang seines Vaters geschämt, ihn gehaßt und sein Erbe gefürchtet hatte. Das mußte ich ändern.

Aber es ergab sich keine Gelegenheit. Als die Besuchszeit um war, klappte Ed die Stühle wieder zusammen und stellte sie zu dem Stapel in der Ecke, während Elsie schon an der Tür stand und sich mit einer Schwester unterhielt. Ich blickte auf meinen Großvater hinunter und überlegte verzweifelt, wie ich einen Moment des Alleinseins mit ihm herbeiführen könnte.

Als wir ein paar Minuten später durch den langen Korridor gingen, blieb ich plötzlich stehen. »Ich habe meine Handschuhe liegenlassen«, rief ich. »Ich lauf nur schnell zurück und hol sie.« Und schon machte ich kehrt.

»Ed kann sie dir doch holen, Kind. Komm, wir setzen uns schon in den Wagen.«

»Ach wo! Geht ihr nur voraus und heizt das Auto für mich an.« Ich rannte los, ehe sie weiteren Protest erheben konnte. Im Saal zurück, ging ich zuerst zum Fenster. Elsie stieg gerade in den Wagen und schlug die Tür hinter sich zu. Ich kehrte zum Bett meines Großvaters zurück. Es war ungewöhnlich ruhig im Saal. Die meisten Besucher waren gegangen, Schwestern und Pfleger gönnten sich eine Pause, ehe sie mit der Essensverteilung begannen.

Ich setzte mich auf die Bettkante und suchte nach den richtigen Worten. Unsicher neigte ich mich zu meinem Großvater hinunter und flüsterte, den Mund dicht an seinem Ohr:

»Großvater, ich bin's, Andrea. Kannst du mich hören ? Ich bin extra aus Los Angeles zu dir gekommen. Großvater, kannst du mich hören?«

Ich blickte auf seine Brust. Der Rhythmus seines Atems änderte sich nicht. In seinem Gesicht regte sich nichts, die Lider lagen wie leblos über seinen Augen. Dennoch fuhr ich zu sprechen fort.

»Großvater, du hast dich in deinem Vater getäuscht. Er war nicht der schlechte Mensch, für den du ihn dein Leben lang gehalten hast. Das waren Lügen. Victor Townsend war ein guter Mensch. Großvater...«

Ich konnte nicht weitersprechen. Hastig sah ich mich im Saal um und ging nochmals zum Fenster. Elsie stieg gerade aus dem Wagen.

Ich lief zu meinem Großvater zurück. »Großvater, hoffentlich kannst du mich hören.

Ich sage dir die Wahrheit. Ich weiß die Wahrheit über deinen Vater. Er war kein Mensch, dessen man sich schämen muß. Bitte, Großvater, hör mich! Victor Townsend war ein guter, liebevoller Mensch, der anderen helfen wollte. Großvater -«

Als ich draußen im Korridor die kräftige Stimme meiner Tante hörte, rutschte ich hastig vom Bett auf den Boden und tat so, als suchte ich eifrig meine Handschuhe. »Andrea«, sagte Elsie und kam um das Bett herum. »Ach, hier sind sie endlich!« rief ich und hielt die Handschuhe hoch, die ich aus meiner Tasche genommen hatte. »Sie sind mir wahrscheinlich vom Schoß gerutscht und unters Bett gefallen. Na, wenigstens sind sie wieder da.«

»Vielleicht sollte ich sie dir an eine lange Schnur nähen, die du um den Hals tragen kannst. Dann verlierst du sie nicht so leicht.«

Lachend hakte ich mich bei ihr ein. »Wenn mein Kopf nicht festgewachsen wäre...«, sagte ich, und wir gingen hinaus. Ich wollte noch einen letzten Blick auf meinen Großvater werfen, aber die zufallende Tür versperrte mir die Sicht.

»Was macht dein Bauch heute?« fragte Großmutter, als wir später beim Abendessen saßen.

Es gab dicke Schinkenbrötchen und warme Milch, und wir sahen beide in den Garten hinaus, wo die ersten Regentropfen fielen. Ich fieberte schon meiner nächsten Begegnung mit den Townsends entgegen und hatte Mühe, mich auf ein Gespräch mit Großmutter zu konzentrieren. Mein Verlangen, in die Vergangenheit zu schauen und am Leben der Townsends teilzuhaben, wurde immer stärker, während die reale Welt zunehmend an Wichtigkeit verlor. Ich wollte John und Harriet, Victor und Jennifer sehen. Selbst wenn ich niemals zu ihnen gehören konnte, selbst wenn ich immer an der Peripherie ihrer Welt bleiben mußte - das war es, was ich wollte, nicht das reale Leben. Meine lebenden Verwandten waren mir nur ein Hemmnis. Solange sie da waren, erschienen die Toten nicht. Erst wenn Großmutter zu Bett ging oder in ihrem Sessel einnickte, würde ich die Townsends wiedersehen, und ich wünschte, ich könnte mich irgendwie von Großmutters lästiger Anwesenheit befreien.

»Was macht dein Bauch ?« fragte Großmutter wieder. »Hm?« Ich trank den letzten Schluck Milch und wandte den Blick vom Fenster. »Oh, alles in Ordnung, Großmutter.«

»Möchtest du noch einen Löffel von der Medizin ?«

»Nein! Oh - nein, danke. Sie hat schon gewirkt.« Medizin - Medizin - dieses klebrige weiße Zeug. Wann hatte ich es genommen ? War das erst gestern abend gewesen ? Waren erst vierundzwanzig Stunden vergangen, seit ich mich aus einer leeren Hülle in ein lebendiges Wesen verwandelt hatte? Eine Frau, die fühlte und liebte. Ja, ich liebte Victor Townsend. Und ich begehrte ihn.

Dieser Gedanke, der mich ganz plötzlich ansprang, erstaunte mich. Aber ja, es war wahr. Ich liebte diesen Mann nicht nur, ich begehrte ihn auch. Ich brauchte nur an ihn zu denken, seine Nähe, sein Gesicht, seinen Körper, und ich hatte das Gefühl, dahinzuschmelzen.

Aber ich würde ihn niemals berühren können. Obwohl er mir in Fleisch und Blut erschien, konnte ich ihn so, wie ich ihn kennen wollte, nur in Träumen und Phantasien kennen.

Ich ertappte mich bei der Vorstellung, wie es wäre, von ihm geküßt zu werden...

Einen Moment stockte mir der Atem. Ich setzte die Teetasse, die ich eben zum Mund führen wollte, wieder ab und starrte meine Großmutter an, als wäre sie es, die diese Vorstellung geäußert hätte.

Ich liebte meinen eigenen Urgroßvater! Verrückt! Er war seit mindestens achtzig Jahren tot. Er existierte nicht. Der Mann, den ich sah, wenn ich Victor Townsend anzusehen glaubte, war ein Trugbild, hervorgerufen durch einen unerklärlichen Zusammenprall der Zeiten. Im Grund liebte ich eine Fotografie oder einen Mann, den meine Phantasie mir vorgaukelte. Und an Phantasien fehlte es mir nicht. Den ganzen Tag hatte ich an Victor gedacht. Vielerlei Gedanken hatte ich mir über ihn gemacht, aber am brennendsten beschäftigte mich immer wieder die Frage, wie es sein mußte, von einem so feurigen Mann geliebt zu werden.

Ich führte die Tasse zum Mund und trank den süßen Tee. Warum nur gab Großmutter immer soviel Zucker in den Tee ? Er verdarb das ganze Aroma.

Ich konnte der Wahrheit nicht ausweichen. Ich liebte meinen eigenen Urgroßvater.

Und es war eine Liebe, die nie Erfüllung finden würde. Ich konnte nicht hoffen, daß er mich je sehen oder berühren würde. Der Victor Townswend, den ich sah, und der, welcher mich in meiner Phantasie in den Armen hielt, hatten nur eines gemeinsam: Sie waren beide tot.

»Sind deine Beine jetzt ein bißchen besser? Soll ich sie dir noch mal einreihen ? Mit Creme.«

Ich starrte meine Großmutter an. Sie hatte keine Ahnung, was mich so intensiv beschäftigte, warum ich den ganzen Tag so schweigsam gewesen war. Am liebsten hätte ich ihr in diesem Moment alles erzählt; was ich meinem Großvater gesagt hatte, daß Victor Townsend ein guter Mensch gewesen war, daß ich ihn gesehen hatte, daß er in irgendeiner Form noch immer unter diesem Dach existierte. Aber ich konnte es nicht. Großmutter hätte mich nicht verstanden. Und vielleicht hätte ich Victor auf immer verloren, wenn ich ihr von ihm gesprochen hätte. Daran wollte ich am liebsten gar nicht denken. An das Ende. Das letzte Kapitel der Geschichte. Ich wünschte mir, die Begegnungen mit Victor würden ewig weitergehen, geradeso wie er und Jennifer nun ewig lebten und fort und fort jene Abende des Jahres 1890 erlebten. Niemals wollte ich dieses Haus verlassen, niemals nach Los Angeles zurückkehren, weil ich dann den Schatz verlieren würde, den ich hier gefunden hatte.

Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich lebendig. »Sie tun noch ziemlich weh, Großmutter.«

»Dann komm, Kind, ich creme sie dir ein.«

Wir gingen zu unseren Sesseln vor dem Kamin, und ich wünschte, ich könnte das Gasfeuer herunterdrehen. Aus irgendeinem Grund wurde mein Körper immer empfindlicher gegen Wärme und schien der Kälte zu bedürfen, die mich anfangs so abgeschreckt hatte. Als Großmutter am Morgen ins Zimmer gekommen war und mich angekleidet auf dem Sofa hatte liegen sehen, hatte sie ärgerlich gerufen: »Das Gas ist ja schon wieder aus! Es ist eiskalt hier.

Andrea, frierst du denn nicht?«

Ich hatte tatsächlich nicht gefroren, obwohl ich nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet gewesen und die Temperatur im Haus nicht über zehn Grad gewesen war. Später, als sie den Gasofen voll aufgedreht hatte, war ich vor Hitze fast umgekommen. Während ich jetzt vor den niedrigen Flammen saß und mit hochgeschobenen Hosenbeinen darauf wartete, von Großmutter eingesalbt zu werden, fühlte ich mich wie erstickt von der Wärme und wünschte nur, ich könnte den verflixten Heizofen ausmachen. Während Großmutter vorsichtig und behutsam die Creme auf meine roten Beine auftrug, sah ich zum Fenster hinaus. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Ein Gewitter war aufgezogen. Regen prasselte an die Fenster, Blitze erhellten flüchtig die Finsternis mit geisterhaftem Licht, Donnerschläge krachten wie Böller-schüsse.

Ich genoß die Stimmung und starrte fasziniert zum Fenster hinaus. Als meine Großmutter eine Weile später erklärte, sie wolle hinaufgehen und sich hinlegen, weil ihr die Arthritis bei diesem feuchten Wetter so sehr zu schaffen mache, konnte ich kaum meine Erleichterung und freudige Erregung verbergen. Bald würde ich Victor wiedersehen.

11

Ich saß auf dem Sofa und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Regens, als mir plötzlich bewußt wurde, daß die Uhr auf dem Kaminsims nicht mehr tickte. Es war gerade Mitternacht. Und schon begann das Zimmer um mich herum, sich zu verändern. Es ging sachte und allmählich vor sich, wie die Überblendung von einer Filmszene in eine andere, und es wurde kühler im Raum. Das bunte Blumenmuster der beiden Sessel begann sich zu verwi-schen, dann zeigte sich der warme Schimmer grünen Samts, und ich hatte die Sessel vor mir, die im Jahr 1890 genau an diesem Platz gestanden hatten - fast neu, die Bezüge kaum abgenutzt, die Polsterung noch fest und stabil.

In einem der Sessel saß Harriet. Sie schien wieder einen ihrer geheimen Briefe zu schreiben. Die Feder flog schnell über das Papier, das sie auf ihrem Schoß hielt. Wie beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte, blickte sie immer wieder zur Uhr, hob ab und zu lauschend den Kopf, als hätte sie draußen etwas gehört, und schrieb dann hastig weiter.

Ich hätte gern gewußt, wer der Empfänger dieser Briefe war, warum Harriet sie in solcher Hast schrieb, warum sie Angst hatte, beim Schreiben ertappt zu werden. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte ihr über die Schulter geblickt, aber das wagte ich nicht. Ich fürchtete, eine Bewegung von mir könnte diesen zerbrechlichen Moment auslöschen. Darum blieb ich reglos auf dem Sofa sitzen und begnügte mich damit, Harriet zu betrachten. Es war still im Zimmer, nur das Kratzen der Feder auf dem Papier war zu hören und von draußen, jenseits der geschlossenen Vorhänge, das Rauschen des Regens. Im offenen Kamin verglühten die letzten Reste des abendlichen Feuers. Ein Blick auf die viktorianische Uhr auf dem Kaminsims zeigte mir, daß es auch in Harriets Zeit Mitternacht war. Es war anzunehmen, daß der Rest der Familie bereits zu Bett gegangen war. Harriets Eltern schliefen wahrscheinlich im hinteren Schlafzimmer, John und seine junge Frau hatten vermutlich das Vorderzimmer bezogen. Das hieß, daß Harriet sich mit einem Provisorium entweder in diesem Zimmer oder im Salon begnügen mußte, bis das junge Paar in sein eigenes Heim umzog. Es würde, dachte ich, gewiß nicht mehr lang dauern, bis John und Jennifer ihren eigenen Hausstand gründeten. Als mir einfiel, daß zu dieser Vermutung eigentlich kein Anlaß bestand, da John und Jennifer ja noch hier lebten, wurde mir klar, daß ich irgendwie Harriets Gedanken empfangen mußte. Vielleicht schrieb sie darüber gerade in ihrem Brief, beschwerte sich vielleicht über diesen Zustand - so jedenfalls war der Eindruck, den ich erhielt. Ich konnte zwar nicht gerade ihre Gedanken lesen, doch ihre Stimmung teilte sich mir deutlich mit. Genauso war es mir ja schon mit Victor und seinem Vater und später auch mit Jennifer ergangen.

Ich beobachtete Harriet gespannt, und während ihre Feder noch wie gejagt über das Papier flog, begann sie langsam vor meinen Augen zu verblassen, bis sie und die grünen Samtsessel verschwunden waren und wieder die alten ausgesessenen Sessel mit den geblümten Schonbezügen vor mir standen. Ich war enttäuscht über die Kürze der Szene und noch enttäuschter, Victor nicht gesehen zu haben. Aber er lebte ja nun nicht mehr in diesem Haus und besuchte es vermutlich nur selten. Aber wo war er ? Hatte er sich irgendwo eine Wohnung genommen oder ein Zimmer, oder lebte er immer noch im Gasthaus Horse's Head?

Nichts an Harriets kurzem Auftritt hatte mir einen Hinweis darauf gegeben, wieviel Zeit seit Victors Heimkehr verstrichen war. Ich hatte keine Ahnung, was sich inzwischen ereignet hatte, ob er sich überhaupt noch in Warrington aufhielt. Noch eine andere Frage beschäftigte mich. Wozu war Harriet mir soeben gezeigt worden ? Welchen Sinn hatte es, wenn überhaupt einen, mich Zeugin dieser flüchtigen Szene werden zu lassen ? Ich kam nicht dazu, gründlicher über diese Frage nachzudenken;

im nächsten Augenblick hörte ich einen schrecklichen Schrei. Ich sprang auf. Der Schrei hatte mich so überrascht, daß ich nicht wußte, aus welcher Richtung er gekommen war.

Dann polterte es laut, als wäre ein Möbelstück umgestürzt. Ich sah zur Zimmerdecke hinauf.

Die Geräusche kamen von oben. Ich hörte Füßescharren und Stampfen, als würde da oben ein Kampf ausgetragen. Es krachte und polterte, und wieder schallte ein Schrei durch das Haus.

Der Schrei einer Frau. Ohne weitere Überlegung stürzte ich aus dem Wohnzimmer in den Flur. Ich blickte in die Schwärze des Treppenschachts hinauf und horchte angespannt.

Wieder drangen von oben die Geräusche eines Handgemenges zu mir herunter. Ich hörte das gedämpfte Klatschen eines Schlags, danach wieder ein Krachen. Und wieder schrie die Frau auf, mit einer Stimme, die schrill war vor Angst.

Ich verlor keine Zeit. Obwohl ich nicht die Hand vor den Augen sehen konnte, rannte ich stolpernd die Treppe hinauf. Zweimal fiel ich, die letzten paar Stufen kroch ich auf allen vieren hinauf. Oben angekommen, richtete ich mich auf und lehnte mich keuchend an die Wand.

Die Finsternis und die Stille waren bedrohlich. Ich tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, fand ihn und drückte ihn herunter. Aber es geschah nichts. Es blieb stockfinster.

Wie eine Besessene fummelte ich am Schalter herum und suchte gleichzeitig mit fassungslosem Blick an der dunklen Decke nach der Lampe. Ich sah nichts, und das Licht ging nicht an. Ich war von undurchdringlicher Schwärze umgeben, die mir angst machte, so daß ich mich schutzsuchend an die Wand drückte. Während ich so stand, zu geängstigt, um einen Schritt vorwärts zu wagen, hörte ich wieder die Geräusche eines Kampfes, lauter jetzt.

Irgendwo am Ende des Flurs, vielleicht im vorderen Schlafzimmer, rangen ein Mann und eine Frau miteinander - dumpfe Schläge, Poltern, eine wütende Männerstimme, und immer wieder die Schreie und das Wimmern der Frau.

Die Finsternis war so dicht, daß ich das Gefühl hatte, am Eingang einer unermeßlich großen Höhle zu stehen. Obwohl mir vor Angst eiskalt war, trieb es mich jetzt vorwärts. Ich mußte sehen, was sich dort hinten abspielte. Ein fremder Wille ergriff Besitz von mir und lenkte meine Schritte. Wie eine Schlafwandlerin tappte ich durch den finsteren Flur, den schrecklichen Geräuschen entgegen. Dicht vor der Tür zum Vorderzimmer blieb ich stehen und hob den Arm. Meine Hand berührte das harte, kalte Holz der Tür. Die Stimmen aus dem Zimmer waren jetzt deutlich vernehmbar. »Nein, bitte nicht«, wimmerte Harriet. »Bitte, es tut mir leid... tu's nicht...«

Ich drückte die Augen zu und preßte beide Hände auf die Ohren, aber sie konnten mich vor der erregten Stimme des Mannes nicht schützen. »Du heiratest keinen Papisten!«

donnerte er. »Du wirst es nicht wagen, gegen meinen Willen zu handeln.« Angstvoll und verwirrt sah ich mich in der Dunkelheit um und versuchte zu begreifen, was vorging. Harriets Stimme konnte ich klar erkennen, doch die Männerstimme konnte ich nicht identifizieren. Sie konnte Harriets Vater gehören. Oder John. Oder - Victor.

»Aber ich liebe ihn«, stieß Harriet weinend hervor. Wieder klatschte ein Schlag, wieder schrie Harriet auf. Die Spannung war kaum zu ertragen, und dennoch konnte ich mich nicht vom Fleck rühren. Es war, als wäre ich dazu verdammt, ihren Streit mitanzuhören, ohne eingreifen zu können. »Du wirst diesen Sean O'Hanrahan nicht wiedersehen, und damit Schluß. Wir haben dir den Umgang mit diesen Leuten verboten. Wehe, ich erwische dich noch einmal dabei, daß du diesem Burschen Briefe schreibst! Bei Gott, du wirst wünschen, du wärst tot!«

Ich hörte ein Geräusch, als würde etwas über den Boden geschleift. Ich hörte schwere Schritte und das Keuchen heftiger Anstrengung. Harriet wimmerte und weinte zum Gotterbarmen. Aber ich hörte keine Schläge mehr, kein Poltern, keine Schreie. Dann wurde es einen Moment ganz still. Danach klappte eine Tür zu, ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloß. Plötzlich öffnete sich die Tür zum Vorderzimmer unter meiner Hand, und kalter Wind blies mir ins Gesicht. Das Zimmer war wie damals, als ich Harriet schluchzend auf dem Bett hatte liegen sehen, von einem gespenstischen Licht erfüllt. Diesmal jedoch strahlte das Licht nicht auf das Bett, sondern auf den Kleiderschrank, einem Leitlicht in dunkler Nacht gleich. Ich blickte mit weit aufgerissenen Augen in das Licht, von einem Grauen erfaßt, das ich nun schon kannte. Ich wollte nicht in das Zimmer hineingehen. Ich wollte nur kehrtmachen und davonlaufen, die Treppe hinunterstürzen und schreiend in die Nacht fliehen. Die lauernden Schatten im Zimmer, der grabeskühle Luftzug - das alles hatte etwas Unirdisches. Auf der anderen Seite der Tür wartete das Grauen, und ich wurde hineingezogen. Wie in einer Trance und dennoch hellwach ging ich Schritt für Schritt zum Kleiderschrank, und als ich vor ihm stehenblieb, sah ich, wie neu er war, wie glänzend poliert das Holz, wie klar erkennbar seine Maserung. Es war der Kleiderschrank einer längst vergangenen Zeit, und in ihm hingen nicht, das wußte ich, meine alten Blue Jeans und T-Shirts, sondern das grausige Werk eines Tyrannen, der lang unter der Erde lag.

Ich hatte keine Macht über meine Hand, als diese sich zur Schranktür bewegte. Mein ganzer Körper war in Schweiß gebadet, der mir eiskalt über die Haut rann. Mein Atem war flach und hechelnd; ich spürte das Flattern meines Herzens. Solches Grauen hatte ich nie erlebt. In diesem Kleiderschrank wartete etwas auf mich. Aus irgendeinem Grund senkte ich den Blick zu meinen Füßen und gewahrte auf dem leuchtenden Teppich des Jahres 1891

einige hellrote Tropfen frischen Bluts. In einem dünnen Rinnsal führten sie zum Schrank, und der letzte Tropfen haftete an seinem Sockel, wie im letzten Moment gefallen, bevor die Tür zugeschlagen worden war.

Hatte man Harriet in diesen Schrank eingesperrt? Oder war es nicht Harriet, die in diesem Schrank saß, sondern jemand anderer ? Oder - etwas anderes ?

Der unheimliche Sog des Schranks, den ich schon in meiner ersten Nacht in diesem Zimmer gespürt hatte, ließ nicht nach. Ich zitterte am ganzen Körper, ich hatte völlig die Herrschaft über mich selbst verloren. Ich mußte den Arm heben und die Schranktür öffnen.

Ich mußte sehen, was sich darin verbarg. Und während meine Hand sich gegen meinen Willen hob - als stünde ich unter dem Zwang einer fremden Macht —, während Übelkeit in mir aufstieg und mich fast erstickte, dachte ich gleichzeitig, ich werde gezwungen, dieses Ding zu befreien. Obwohl meine Hand unkontrollierbar zitterte, gelang es mir, den Schlüssel zu umfassen, der in dem kleinen Messingschloß steckte, und ich sah, wie weiß meine Finger waren, die ihn fest umspannten. Dann drehte meine Hand, so sehr ich mich dagegen zu wehren versuchte, langsam den Schlüssel nach rechts, bis ich ein metallisches Knacken hörte.

Langsam schwang die Schranktür auf.

Mir war so schwach und übel, daß ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Eine kalte, feuchte Hand berührte mein Gesicht und spürte dort den kalten Schweiß. Meine Hand, die jemand anderem zu gehören, die völlig körperlos zu sein schien, strich mir über Stirn und Nacken. Der Schrank mit der sich Zentimeter um Zentimeter öffnenden Tür begann vor meinem Blicken zu schwanken und drohte zu kippen; der Boden unter meinen Füßen hob und senkte sich in Wellenbewegungen, und das geisterhafte Licht begann jetzt zu verblassen.

Noch während die fransigen Ränder der Dunkelheit näherrückten, um mich einzuhüllen, gewahrte ich hinter der Schranktür etwas Weißes, dann fiel die Finsternis wie ein schwarzer Sack über meine Augen.

Als ich zu mir kam, lag ich im Vorderzimmer auf dem Boden. Am Kopf hatte ich eine schmerzende Beule. Benommen öffnete ich die Augen und sah, daß die Lampe im Flur brannte. Sie verströmte genug Licht, um das Zimmer aus dem Dunkel zu heben. Seitlich von mir stand groß und massig der alte Kleiderschrank. Eine Tür war offen. Ich konnte meine Jeans und T-Shirts erkennen, die auf den Bügeln hingen. Der Teppich unter mir war alt und fadenscheinig und roch muffig.

Ich wußte nicht, wie lange ich hier gelegen hatte, aber als ich mich aufrichtete, merkte ich, daß meine Glieder völlig steif waren. Mit schmerzendem Kopf und schmerzendem Rücken schleppte ich mich aus dem Zimmer in den Flur. An der Treppe blieb ich stehen und lauschte. Aus Großmutters Zimmer kam kein Laut. Ich war froh, daß ich sie nicht geweckt hatte. Ich ließ das obere Licht brennen und kroch langsam die Treppe hinunter. Mit großer Erleichterung rettete ich mich in die helle Vertrautheit des Wohnzimmers.

Ich wußte, wo im Büffet Großmutter ihre Kopfschmerztabletten aufbewahrte, und holte mir drei heraus. In der Küche ließ ich mir ein Glas Wasser einlaufen, nahm die Tabletten und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Ich sperrte die Küchentür wieder ab, schob die Polsterrolle vor die Ritze und setzte mich auf die Couch. Der Uhr zufolge hatte mein nächtliches Abenteuer drei Stunden gedauert. Das hieß, daß ich mindestens zwei davon bewußtlos gewesen war.

Und was war eigentlich geschehen ? Ich versuchte, mich des Dialogs zu erinnern, wenn man es als solchen bezeichnen konnte, den ich im Vorderzimmer gehört hatte. Einer der Männer der Townsend-Familie hatte Harriet auf brutale Weise terrorisiert. Und warum? Weil sie einen Mann liebte, der der Familie nicht paßte ?

Ich neigte mich vornüber und legte meinen Kopf in meine Hände. Wie grausam, einen Menschen zu lieben, dessen Liebe einem für immer verwehrt bleiben mußte! Sie tat mir entsetzlich leid. Sachte wiegte ich mich hin und her, während draußen der Regen gegen die Scheiben trommelte, und beklagte Harriets Schicksal. So ein unschuldiges Ding, dachte ich, so kindlich und naiv. Was würde aus ihr werden ? Was wartete noch an Schmerz und Unglück auf sie ? Erst Victor und jetzt Harriet. War es möglich, daß in der Tat Schreckliches sich in diesem Haus zugetragen hatte, daß Großmutter recht hatte ? War dies vielleicht der Beginn des Schreckens, ein Vorgeschmack gewissermaßen auf das, was noch kommen würde ?

Ich streckte mich vorsichtig auf dem Sofa aus, den Kopf auf die Seite gelagert und starrte in die Dunkelheit. Es war genau wie in der vergangenen Nacht: Gedankenströme stürzten auf mich ein, und Schlaf blieb mir verwehrt. Das Haus in der George Street hatte mich in seiner Gewalt und würde mich erst loslassen, wenn es mit mir fertig war. Ihm hilflos ausgeliefert, lag ich auf dem Sofa in qualvoller Erwartung der nächsten Erscheinung aus der Vergangenheit.

Irgendwann mußte ich dennoch eingeschlafen sein. Am Morgen weckte mich meine Großmutter, die ins Zimmer kam, die Vorhänge aufzog und sich laut über den strömenden Regen aufregte. Wie am vergangenen Morgen war ich im Nachthemd, und meine Sachen lagen ordentlich gefaltet auf einem Stuhl. »Du scheinst sehr gut geschlafen zu haben, Kind«, bemerkte Großmutter mit müder Stimme. »Ich hab jedenfalls die ganze Nacht keinen Mucks von dir gehört, obwohl ich vor Schmerzen kaum ein Auge zugetan hab. Bei diesem verflixten Regen setzt mir die Arthritis immer teuflisch zu.«

Ich setzte mich langsam auf. Die Beule an meinem Hinterkopf pochte schmerzhaft.

»Sind deine Beine ein bißchen besser ?« Großmutter ging im Zimmer umher, als wollte sie es für den Tag wecken. Sie zog die Vorhänge auf, öffnete die Küchentür, legte die Sets auf den kleinen Eßtisch und sah schließlich nach dem Heizofen. »Er ist ja schon wieder aus!« rief sie entrüstet. »Was ist denn nur

los mit dem verdammten Ding ? Ich muß den Gasmann holen, der soll sich den Ofen mal ansehen. Das ist noch nie passiert, daß er immer wieder ausgeht.«

Ohne etwas zu sagen, nahm ich meine Sachen und ging zur Tür. Als ich sie aufzog, um hinauszugehen, hörte ich meine Großmutter sagen: »Der Besuch im Krankenhaus fällt heute aus. Der Regen spült einen ja von der Straße.«

Zu benommen, um etwas zu entgegnen, trat ich in den Flur und stieg die Treppe hinauf. Im Badezimmer, wo es so kalt war, daß meine Lippen, wie ich im Spiegel sah, sich blau verfärbten, wusch ich mich von oben bis unten mit eisigem Wasser und frottierte mich langsam trocken. Die Kälte machte mir überhaupt nichts mehr aus. Ich hatte mich an sie gewöhnt.

Als ich im Bad fertig war, blieb ich draußen vor der Tür stehen und blickte durch den dämmrigen Flur zur Tür des vorderen Schlafzimmers. Erinnerungen an das Grauen der Nacht überfielen mich, und ich schlang fröstelnd beide Arme fest um meinen Oberkörper.

Auf bleiernen Füßen tappte ich durch den Korridor nach hinten. Von unten, wie aus unerreichbarer Ferne, hörte ich Großmutter vergnügt vor sich hin trällern. Sie lebte in einer anderen Zeit. Vor der Tür des Schlafzimmers angekommen, blieb ich stehen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und mein Mund war trocken. Den Blick auf die Tür gerichtet, lauschte ich angespannt. Auf der anderen Seite war alles still. Schließlich drehte ich entschlossen den Türknauf und stieß die Tür auf.

Das Zimmer zeigte sich mir in beruhigender Alltäglichkeit. Trotz des starken Regens fiel durch das Fenster hinter den halbgeöffneten Vorhängen genug graues Morgenlicht herein, um es in nüchterner Klarheit auszuleuchten. Da lag mein Koffer, da standen das Bett und der kleine Nachttisch, unter meinen Füßen lag der fadenscheinige Teppich, und da war der schäbige alte Kleiderschrank. Zu ihm ging ich hin und blieb vor der offenen Tür stehen.

Meine Blue Jeans hingen da und meine T-Shirts. Auf dem Boden lagen ein paar Flusen, Zeugnis dafür, daß der Schrank jahrelang leergestanden hatte. Und das war alles. Kein Hinweis darauf, was eines späten Abends im Jahr 1891 in diesen Schrank eingesperrt worden war und wie lange es dort eingeschlossen geblieben war. Ich hatte es plötzlich eilig, aus dem Zimmer hinauszukommen, die Gesellschaft meiner Großmutter zu suchen. Ich warf meine Sachen kurzerhand aufs Bett, lief hinaus und schlug krachend die Tür hinter mir zu.

Als ich unten ankam, sah ich, daß die Tür zum alten Salon offenstand. Wie angewurzelt blieb ich stehen und starrte auf die offene Tür. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Und in welchem Jahr befinden wir uns jetzt? fragte ich mich in angstvoller Verwirrung.

Unschlüssigkeit lahmte mich. Ich sehnte mich nach der vertrauten, schäbigen Gemütlichkeit des Wohnzimmers, aber ich wußte, wenn im Salon die Vergangenheit wieder zum Leben erwacht war, mußte ich mich ihr stellen. Ich hörte ein Geräusch und erschrak fast zu Tode. Dann aber holte ich tief Atem und ging zögernd ein paar Schritte in den dunklen Salon hinein. Irgend jemand - oder etwas - bewegte sich hier drinnen. Wieder blieb ich stehen, versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen, und sah, vage und undeutlich, eine Gestalt. Alle meine Sinne aufs äußerste angespannt, versuchte ich, die Atmosphäre um mich herum aufzunehmen, um erkennen zu können, in welcher Zeit ich mich befand.

Ein weißes Gesicht tauchte plötzlich vor mir auf. Ich schrie unterdrückt auf und wich einen Schritt zurück.

»Viel zu kalt hier drinnen für dich, Kind«, sagte meine Großmutter, schob mich vor sich her aus dem Zimmer und machte die Tür zu. »Geh lieber ins Wohnzimmer, wo es warm ist. Komm.«

»Was hast du da drinnen getan, Großmutter?« Gekrümmt humpelte sie vor mir her.

»Ach, ich hab nur ein bißchen aufgeräumt. Komm, der Tee ist fertig.«

Während Großmutter in der Küche verschwand, setzte ich mich auf meinen gewohnten Platz am kleinen Eßtisch, den sie schon für uns gedeckt hatte. Da standen eine große Kanne mit dampfendem Tee, eine Schale Butter, mehrere Gläser Marmelade, die Zuckerdose und ein Krug warme Milch. Schon beim Anblick all dieser Dinge wurde mir übel.

Hastig drehte ich den Kopf zum Fenster.

Der kleine Hintergarten war im strömenden Regen kaum zu erkennen. Die Backsteinmauer mit der verrosteten Pforte war nur eine verschwommene Kulisse vor den Gießbächen, die an den Fensterscheiben herunterrannen. Nur undeutlich konnte ich die dürren Rosenbüsche sehen, die sich im peitschenden Wind neigten. Eine abschreckende, kalte Welt war das dort draußen. »So, Kind, hier sind die Brötchen. Noch richtig schön warm.« Der schwere Geruch der Buttermilchbrötchen war mir widerlich. Hastig wandte ich mich wieder ab. Ich konnte an diesem Morgen nichts essen. Selbst der Tee lockte mich nicht. »Was ist los, Kind ? Fühlst du dich nicht wohl ?«

»Du hast wahrscheinlich doch recht gehabt, Großmutter, ich habe anscheinend die Grippe erwischt. Ich fühle mich ziemlich flau.« Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch und blickte, das Kinn auf die gefalteten Hände gelegt, wieder in den Regen hinaus. Was um alles in der Welt, war gestern nacht in dem Schrank gewesen ?

»Ja, du bist auch sehr blaß. Trink wenigstens deinen Tee, Kind. Der tut dir bestimmt gut.« Sie drückte mir die Tasse in die Hand. »Komm, Kind, trink.«

Ich trank ihr zuliebe ein wenig Tee, aber es kostete mich Anstrengung, ihn hinunterzuwürgen. Mein Magen rebellierte bei dem Gedanken an Essen oder Trinken. Und während ich zum Fenster hinausstarrte in den Regen, dachte ich, so regnet es auch in meiner Seele.

Schweigend saßen wir uns gegenüber. Großmutter bestrich sich ein Brötchen mit Butter und aß es bedächtig. Ich lauschte dem Ticken der Uhr und dem unerträglich langsamen Verstreichen der Zeit.

Ein Klopfen an der Haustür schreckte mich auf. Großmutter stand mühsam auf und humpelte aus dem Zimmer. Ich hörte die Stimmen Elsies und Eds.

»Mistwetter!« schimpfte Elsie, als sie hereinkam und sich schüttelte wie ein Hund.

Nachdem sie sich aus ihren dicken Sachen geschält und die Gummistiefel ausgezogen hatte, stellte sie sich mit dem Rücken vor den Kamin und lupfte ihren Rock. »Hallo, Andrea«, sagte sie zu mir. »Wie geht's dir denn heute morgen?«

»Hallo, Elsie -«

»Herrgott noch mal, bist du blaß! Hast du nicht gut geschlafen ? Ist es dir hier nachts zu kalt ? Schau dich doch an, du hast ja kaum was auf dem Leib.«

Ich blickte auf mein T-Shirt hinunter, dann zu Elsie hinüber, die über ihrem Rolli noch einen dicken Wollpullover trug. Dennoch fror sie und rieb sich fröstelnd die Hände. »Nein, mir ist nicht kalt.«

»Der Heizofen geht dauernd aus«, bemerkte Großmutter, die hinter Ed ins Zimmer kam. »Ich muß den Gasmann kommen lassen. Hier, trinkt eine Tasse Tee. Ich hab genug da.

Ach, Andrea, du hast deinen ja kaum angerührt.«

»Das ist schon die zweite Tasse, Großmutter«, log ich. »Ich hab mir noch mal eingeschenkt, als du rausgegangen bist.« Sie tätschelte mir die Hand. »Das ist gut.«

»Sie sieht wirklich nicht gut aus, Mama«, bemerkte Elsie, als sie sich zu uns an den Tisch setzte, während Ed, nachdem er sich Tee eingeschenkt hatte, zum Kamin hinüberging.

Ich beobachtete ihn verstohlen. Ich hatte Angst, er würde das Gas höher drehen. »Ach, aber mir geht's wirklich ganz gut. Kann ich heute mit euch ins Krankenhaus fahren?«

»Bestimmt nicht. Wir wissen selbst noch nicht, ob wir überhaupt hinfahren. Dieser Regen ist schrecklich! - Kann ich ein Brötchen

haben, Mama? Danke. Die Straßen sind wie leergefegt. Der Regen prasselt nur so.

Schaut doch.«

Großmutter und ich wandten uns zum Fenster. »Ich komm mir vor wie in einem Goldfischglas«, erklärte Großmutter. »Wie sieht's denn mit morgen aus? Glaubst du, wir können fahren?«

»Wenn das so weitergeht, wird's vielleicht nichts werden.« Ich hob fragend den Kopf.

»Fahren? Wohin denn?«

»Na, zu Albert. Du weißt doch.«

»Ist morgen Sonntag?«

»Logischerweise, da heute Samstag ist.«

Das hieß, daß ich schon eine volle Woche hier war. Eine ganze Woche war vergangen, und mir war es kaum bewußt geworden. Einerseits kam es mir vor, als wäre ich gerade erst angekommen, andererseits, als wäre ich schon seit Jahren hier. »Ann kommt extra aus Amsterdam. Sie möchte Andrea so gern kennenlernen.«

Großmutter stand auf und ging zum Büffet, um das gerahmte Foto ihrer drei anderen Enkel zu holen - Albert, Christine und Ann. Sie setzte sich wieder zu uns und hielt mir die Aufnahme hin. »Das war vor zwei Jahren«, sagte sie, »als...« Ich blendete ihre Stimme aus, und das Bild verschwamm vor meinem Blick. Diese Menschen interessierten mich nicht. Ich hatte nichts mit ihnen gemeinsam, verspürte keinerlei Verlangen, sie kennenzulernen. Die anderen waren es, meine Vorfahren, zu denen ich mir Kontakt wünschte.

Abgerissene Worte drangen zu mir durch, während Großmutter und Elsie auf mich einredeten. Etwas von einem Häuschen an der Irischen See; von breiten Stranden; von Piers mit Restaurants und Tanzlokalen; von abendlicher Festbeleuchtung. Ich sah die beiden an und fragte mich, wie ich einen ganzen Tag in ihrer Gesellschaft aushaken sollte, wie ich es fertigbringen sollte, dieses Haus zu verlassen, an die Westküste zu fahren, um einen Haufen Leute kennenzulernen, die mich nicht interessierten, wie ich mit ihnen schwatzen und essen und so tun sollte, als amüsiere ich mich blendend.

»Ach, übrigens, Mama, ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht. Ein schönes Stück Fisch, Kartoffeln und einen Kopf Kohl. Damit du was im Haus hast. - Hm, sonst noch was ?

Ach, du lieber Gott, beinahe hätte ich's vergessen!« rief Elsie und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Ruth hat heute morgen angerufen.« Ich drehte mich herum. »Meine Mutter?«

»Ja. Ganz überraschend. Es war in aller Herrgottsfrühe. Ihr Fuß verheilt gut, und sie möchte wissen, wie es Andrea geht und —«

»Und?« fragte Großmutter.

»Na ja, sie wollte wissen, wann Andrea wieder nach Hause kommt.«

»Nach Hause?« wiederholte ich schwach.

»Aber so was!« rief meine Großmutter. »Sie hat ja noch nicht mal die ganze Familie kennengelernt. Und ihr Großvater hat auch kaum was von ihr mitbekommen. Und jetzt geht's ihr gerade gar nicht gut.« Sie wandte sich mir zu. »Was meinst du denn, Kind?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann noch nicht abreisen, Großmutter. «

»Natürlich nicht«, stimmte sie liebevoll zu. »Da bist du über den ganzen Ozean geflogen und sollst schon nach einer Woche wieder heim? Unsinn. Das wäre ja gar kein richtiger Besuch. Du hast ja noch nicht mal das Haus gesehen, wo du nach deiner Geburt gewohnt und die ersten zwei Jahre deines Lebens verbracht hast. Und deinen Großvater hast du auch noch gar nicht richtig kennengelernt, hm? Nein, du mußt schon noch ein Weilchen bleiben, Kind.«

Es wurde plötzlich sehr heiß im Zimmer, und ich hatte Mühe zu atmen. Auf dem Flug von Los Angeles hierher hatte ich kaum an etwas anderes gedacht als an meine baldige Heimkehr in die Staaten. Und in den ersten Tagen meines Aufenthalts in dem entsetzlich kalten Haus hatte ich beinahe unablässig den Tag herbeigesehnt, an dem ich nach Los Angeles zurückkehren würde. Aber jetzt... jetzt war alles anders. Ich wollte nicht weg. Ich konnte nicht weg.

»Was hast du meiner Mutter gesagt ?« fragte ich Elsie. »Ich hab ihr erzählt, daß wir morgen zu Albert fahren wollen, damit du alle kennenlernen kannst. Das fand sie natürlich schön. Und dann hab ich ihr Vaters Zustand beschrieben, und daß er dich immer mit deiner Mutter verwechselt. Aber die Schwester hat gesagt, daß er bald wieder zu Bewußtsein kommen wird. Er wacht schon jetzt oft auf, aber meistens erst spät am Abend. Und wenn er wieder ganz da ist, dann kannst du richtig mit ihm reden. Ach, ich weiß noch, wie er dich immer auf seinem Knie hat reiten lassen, Andrea, aber daran kannst du dich natürlich nicht mehr erinnern ...«

Meine Gedanken schweiften ab, und ich war froh, als Ed aufstand und sagte: »Ich glaube, wir sollten jetzt fahren, Elsie. Aus dem Besuch im Krankenhaus wird heute leider nichts werden. Der Regen und der Sturm würden uns in unserem kleinen Auto von der Straße fegen. Wir können wahrscheinlich froh sein, wenn wir gut nach Hause kommen.«

»Recht hast du. Ich hab deine Mutter von dir gegrüßt, Andrea, und ihr gesagt, daß es dir gutgeht.« Elsie schlüpfte in ihre Gummistiefel und packte sich in ihre warmen Sachen.

»Bleib sitzen, Mama. Andrea kann hinter uns absperren.« Ich brachte Elsie und Ed hinaus. An der Tür warf Elsie einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, daß Großmutter sie nicht hören konnte, und sagte mit gesenkter Stimme: »Es ist dieses verdammte Haus, nicht?«

»Was?« sagte ich erschrocken.

»Es ist so widerlich kalt. Der läppische kleine Gasofen reicht dir doch bestimmt nicht, hm ? Du kannst nachts wahrscheinlich vor Kälte nicht schlafen. Man braucht dich ja nur anzusehen. Du bist weiß wie die Wand. Willst du nicht für den Rest deines Besuchs zu uns ziehen?«

Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Nein! Nein, Elsie, ich kann Großmutter doch nicht einfach allein lassen. Sie hat ja keinen Menschen.« Wie verlogen ich war! Vor ein paar Tagen noch hätte ich das Angebot ohne Überlegung angenommen. Zentralheizung, Farbfernsehen, helle Lichter und überall dicke Teppiche. Jetzt entsetzte mich der Gedanke, das Haus verlassen zu müssen. Aber nicht meiner Großmutter wegen. »Andrea hat recht«, pflichtete Ed mir bei. »Deine Mutter fühlt sich einsam ohne ihren Mann. Andrea tut ihr gut.«

»Ja, sicher, aber schau dir das Kind doch an. Ihr tut es hier offensichtlich gar nicht gut.«

»Vielen Dank, Elsie, aber ich möchte wirklich lieber bleiben.«

»Na gut. Aber wenn du's dir anders überlegst, dann brauchst du es uns nur zu sagen.

Du bist jederzeit willkommen. Und wenn der Regen bis heute abend nachläßt, kommen wir vorbei und nehmen dich mit ins Krankenhaus. In Ordnung?«

»Ja, danke.«

Als Ed die Tür öffnete und der regennasse Wind ins Haus fuhr, sagte Elsie hastig: »Ob wir morgen zu Albert fahren, müssen wir noch sehen. Bis dann.«

Ich hatte Mühe, die Tür hinter ihnen zu schließen. Sobald ich sie abgesperrt hatte, schob ich die Polsterrolle wieder an ihren Platz und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Einige Zeit später, ich war in meinem Sessel eingeschlafen, hatte ich den ersten erotischen Traum.

12

Der Traum war schon seiner Natur nach sehr aufwühlend. Die einzelnen Szenen folgten keiner festen Ordnung und erzählten keine Geschichte. Ihr ganzer Sinn lag in ihrer sexuellen Symbolik. Ich spürte Victors Wärme, die Zärtlichkeit seines Mundes, ich nahm seinen Geruch wahr und erlebte die Verschmelzung mit seinem Körper. Einmal kam er aus einer Wolke zu mir, die Arme ausgestreckt, um mich zu umschlingen; oder er winkte mir vom Ende einer langen dunklen Straße. Manchmal streckten wir sehnend die Arme nacheinander aus, und unsere Fingerspitzen berührten sich, oder wir lagen in einer Wiese im hohen Gras und liebten uns unter blauem Himmel und warmem Sonnenschein. Nichts ergab einen Sinn.

Ich versuchte vergebens, ihn zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte - er sprach kein Wort.

Wir kamen zusammen, und wir trennten uns wieder, wir spürten, und wir fühlten, aber zu einem Verstehen kam es nicht. Die Bilder flogen an mir vorüber wie von einem Wirbelwind getrieben, und sie waren voller Lust und Begierde. Es war, als wäre meine Seele ein im Käfig eingesperrter Vogel, der in dem verzweifelten Bemühen, die Freiheit zu gewinnen, wie rasend herumflatterte. Mein Schlaf brachte mir keine Ruhe und keinen Frieden, sondern lieferte mich einzig dem ungestümen Freiheitsdrang meiner angeketteten Leidenschaften aus.

Ich war schweißgebadet, als ich erwachte. Solche Begierde hatte ich nie gekannt, hatte nie erlebt, daß ein Mann solche Macht über mich hatte. Das brennende Verlangen, mich Victor Townsend hinzugeben, raubte mir alle Selbstkontrolle, raubte mir die Identität.

Ich stöhnte und erschrak. Mit einem raschen Blick auf meine Großmutter, die zum Glück noch fest schlief, stand ich unsicher auf und ging schwankend zum Fenster. Der Regen draußen war noch stärker geworden. Er kam in wahren Sturzbächen herab und erfüllte die Luft mit seinem Tosen. Ich drückte die Stirn an die kalte Fensterscheibe und versuchte, zu mir zu kommen. Wieso fühlte ich plötzlich auf eine Weise, wie ich nie gefühlt hatte? Was für einen Zauber übte Victor Townsend über mich aus?

»Ist er weg?« sagte jemand hinter mir. Ich fuhr herum.

Harriet trat gerade ins Zimmer und schloß leise die Tür. John, der gespannt am Kamin stand, fragte noch einmal: »Ist er weg?«

»Ja, er ist weg.«

»Du hast ihm nicht gesagt, daß ich hier bin?«

»Nein, John.«

Harriet ging durch das Zimmer zu ihrem Bruder, und ich sah mit Bestürzung, wie sehr sie sich verändert hatte. Der Schmelz der Jugend und die Kindlichkeit, die ihrem reizlosen Gesicht eine gewisse Ausstrahlung verliehen hatten, waren wie ausgelöscht. Geblieben waren die plumpen Gesichtszüge in ihrer ganzen Nacktheit. Sie wirkte gedämpft und bedrückt, und die unsichtbare Last, die sie trug, schien sie stumpf und teilnahmslos gemacht zu haben. Und doch schien kaum Zeit vergangen zu sein, seit ich sie zuletzt gesehen hatte; sie trug die gleiche Kleidung wie damals. John hatte sich nicht verändert, er war derselbe geblieben - ein etwas wäßriger Abklatsch Victors, mit hellerem Haar und helleren Augen und Gesichtszügen, die weicher und weniger scharf umrissen waren. Er schien mir sehr erregt. »Wann kommt Vater nach Hause?«

»Frühestens in einer Stunde.«

»Gut, gut.« In Gedanken versunken rieb er sich die Hände. »John ? Was hat das alles zu bedeuten ? Wer war dieser Mann ?«

»Hm ? Wie ? Oh -« John wedelte wegwerfend mit der Hand. »Ach, niemand. Ein Mann eben.«

»Aber er war schon einmal hier. Als du nicht zu Hause warst. Wer ist er? Er gefällt mir nicht.«

»Das geht dich gar nichts an«, fuhr John sie plötzlich an, so daß sie erschrocken zurückfuhr. Augenblicklich zerknirscht, zwang sich John zu einem Lächeln und sagte beschwichtigend: »Sagen wir einfach, er ist ein Geschäftsfreund.«

Harriet nickte nur und wandte sich von ihrem Bruder ab. Die Hände ineinander gekrampft, tiefe Unruhe auf dem Gesicht, ging sie um den moosgrünen Sessel herum. Aber nicht der Fremde an der Tür, sondern etwas anderes quälte Johns Schwester. Mit großer Sorgfalt, das sah ich von meinem Platz aus, wählte sie ihre nächsten Worte.

»John, ich habe Victor heute getroffen.«

John blickte nicht auf. Er starrte ins Feuer und war mit seinen Gedanken ganz woanders.

»Ich habe ihn auf dem Anger getroffen. Er sagte, er hätte sehr viel zu tun. Er hat eine Menge Patienten. Deshalb kommt er nie her. Ich habe ihn zum Abendessen eingeladen. Ich habe ihm gesagt, wie sehr Vater sich freuen würde, wenn er käme. Aber ich glaube, er wird nicht kommen. Willst du ihn nicht einmal auffordern ?« John hob den Kopf. »Wie ? Was sagst du ? - Ach so, Victor. Ich war in seiner Praxis. Gar nicht übel. Sie schicken viele aus dem Krankenhaus zu ihm. Er steht sich gut mit den Ärzten dort. Ich hab ihn schon eingeladen, Harriet, aber er scheint keinen großen Wert darauf zu legen, uns zu besuchen. Wegen Vater ist es nicht, das weiß ich. Sie haben sich ausgesöhnt.«

»Was ist es dann ?«

John zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«

»John, ich finde, Victor sollte nach Hause kommen. Für immer, meine ich.«

»Ja...« Er kehrte ihr den Rücken und versank wieder in Nachdenklichkeit.

»Ich finde es nicht richtig«, fuhr Harriet fort, »daß er in einem Zimmer im Horse's Head wohnt. Er braucht ein richtiges Zuhause. Du und Jenny wohnt jetzt schon ein Jahr hier.

Findest du nicht, es ist Zeit, daß ihr auszieht? Wenn ihr ein eigenes Haus habt, kann ich das obere Zimmer haben, und Victor kann nach Hause kommen.«

Mit raschelndem Rock schritt sie im Zimmer auf und ab. »John, ich möchte etwas mit dir besprechen -«

»Ich weiß schon, worum es geht«, sagte er gereizt und drehte sich ärgerlich um. »Du möchtest wissen, was aus meinem Geld geworden ist. Na schön, wenn du es unbedingt wissen mußt, der Mann, der eben hier war, ist ein Buchmacher. Mein Buchmacher, und er war hier, weil ich ein paar Schulden bei ihm habe. Bist du nun zufrieden?«

»Ach, John...«

»Ja, ja, ach John! Ich hätte bestens dagestanden, wenn ich nicht das Pech gehabt hätte, auf ein paar richtige Nieten zu setzen. Ich hätte schon letzte Woche ein Haus kaufen können.

Und sag Vater ja nichts, der würde mir höchstens die Hölle heiß machen.«

»Ach, John, das ist mir doch gleich. Bleib hier wohnen, wenn du willst. Bleib meinetwegen für immer hier. Es ist mir gleich, daß du spielst.«

»Ich setz hin und wieder mal auf ein paar Pferde - das kann man doch nicht Spielen nennen.«

»Ich wollte über etwas anderes mit dir sprechen, John.« Sie lief zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich brauche deine Hilfe-«

Aber John schüttelte den Kopf. »Es geht natürlich wieder um diesen Kartoffelfresser Sean O'Hanrahan, stimmt's?« sagte er mit finsterer Miene. »Ich will nichts davon hören.

Wenn man mit solchen Leuten verkehrt, kommt man nur in Teufels Küche. Ich hab dir gesagt, du sollst dich von ihm fernhalten, und das ist mein letztes Wort.«

»Aber ich liebe ihn!«

»Du bist ja von allen guten Geistern verlassen! Das Thema ist längst erledigt, Harriet, und ich möchte diesen Namen nicht mehr in diesem Haus hören. Wenn ich dich noch einmal dabei ertappen sollte, daß du mit diesem Kerl sprichst, werde ich -«

»Du bist nicht besser als Vater!« rief sie. »Ihr seid alle gegen mich. Mit Victor kann ich auch nicht sprechen. Er ist ganz anders als früher. Er ist richtig launisch geworden, und wenn ich mit ihm reden will, merke ich genau, daß er an was ganz andres denkt. Es ist ein Jahr her, John, ein ganzes Jahr, daß Victor das letzte Mal in diesem Haus war. Und dir scheint das völlig gleichgültig zu sein. Und ich bin dir auch gleichgültig.« John wandte sich nur schweigend von ihr ab. »Und du!« fuhr sie fort, in einem Ton, der an ein verwirrtes Kind erinnerte. »Seit du verheiratet bist, kenne ich dich nicht mehr. Wenn du nicht mit Jenny zusammen bist, dann bist du auf der Rennbahn. Du hast überhaupt keine Zeit mehr für mich -

genau wie Victor und Vater und Mutter. Siehst du denn nicht, daß ich deine Hilfe brauche, John?«

Merkwürdigerweise löste sich die Szene an dieser Stelle auf, noch während Harriet mit Kinderstimme um Hilfe flehte. Aber ich war froh, daß es ein Ende hatte. Mir war so schwach geworden, meine Beine so zittrig, daß ich gefürchtet hatte, ich würde zusammenbrechen, noch ehe John und Harriet miteinander fertig waren. Nur mit Mühe schaffte ich es zu dem Stuhl am Eßtisch, ließ mich darauf niederfallen und hielt mir mit beiden Händen den Kopf. Einige Minuten später regte sich meine Großmutter in ihrem Sessel und öffnete die Augen. »Ach, du lieber Gott«, murmelte sie. »Bin ich schon wieder eingenickt! Ach, tun mir meine Gelenke weh. Das ist der Regen. Ich schaff's nie die Treppe hinauf.« Ächzend beugte sie sich im Sessel vor, ergriff ihren Stock und stand schwerfällig auf. Während sie langsam zu mir herüberhumpelte, sah ich wieder, wie alt sie war; wie schrecklich alt. »Ich kann heute abend nicht kochen, Kind. Ich hab solche Schmerzen in den Gelenken. Kannst du dir selbst was machen?«

»Aber natürlich. Möchtest du denn gar nichts essen, Großmutter?«

»Ich hab keinen Appetit. Der Regen macht mich ganz fertig. Ich geh jetzt nach oben und lese noch ein bißchen, ehe ich schlafe. An solchen Abenden, wenn das Wetter so schlimm ist, leg ich mich immer oben hin, da gibt die Arthritis am ehesten Ruhe. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich jetzt raufgehe, Kind?«

»Großmutter -«

»Ja, Schatz ?« Sie war schon auf dem Weg zur Tür. Ich hatte mich ihr anvertrauen wollen, aber nun war der Impuls schon vorbei. So gern ich meiner Großmutter alles erzählt hätte, was ich in diesem Haus gesehen hatte, die Furcht, es für immer zu verlieren, hielt mich davon ab.

»Ach, nichts«, sagte ich deshalb. »Hoffentlich schläfst du gut, Großmutter. Und gute Besserung.«

»Danke, Kind. Gute Nacht. Brot und Marmelade stehen in der Küche. Und Tee kochen kannst du ja.«

Sie ging zur Tür hinaus, und wenig später hörte ich ihre schweren Schritte auf der Treppe. Als sich die Tür kaum eine Minute später wieder öffnete, glaubte ich, meine Großmutter wäre umgekehrt. Aber dann sah ich, daß es Jennifer war, die ins Zimmer trat. Und als ich Victor erblickte, der ihr folgte, hätte ich beinahe aufgeschrien.

»Es ist lieb von dir, daß du gekommen bist, Victor«, sagte sie, während sie durch das Zimmer zum Kamin ging. »Ich wäre schon viel früher gekommen, wenn du mich darum gebeten hättest.«

»Wir haben alle gehofft, daß du uns besuchen würdest. Warrington ist so klein, aber du hättest ebensogut in einem anderen Land leben können, so selten haben wir dich zu Gesicht bekommen.« Victor Townsend blieb an der Tür stehen, als hätte er Angst, nä-

herzukommen. Er hatte sich in diesem einen Jahr ein wenig verändert: Sein Haar war länger, und sein eleganter Anzug verriet Wohlhabenheit. Doch das Gesicht war dasselbe geblieben: still und unergründlich.

Jennifer drehte sich um. Das Licht der Flammen umriß ihren anmutigen, schlanken Körper. »Wir haben dich vermißt.«

»Wirklich?«

Sie senkte einen Moment die Lider und hob den Blick dann wieder. »Ja, ich jedenfalls.

Ich habe lange gehofft, du würdest uns besuchen, aber du bist nie gekommen.«

»Ich hatte viel zu tun. Es mangelt mir nicht an Patienten, und sie sind bereit, gut zu zahlen.«

»Du bist für deine niedrigen Honorare bekannt, Victor, und jeder in der Stadt weiß, daß du die Armen auch kostenlos behandelst. Du bist sehr beliebt in Warrington, und mit deinen neuen Methoden und Ideen hast du den schwerfälligen alten Ärzten hier Anregung zum Nachdenken gegeben. Wir sind alle sehr stolz auf dich.«

»Ja, die Praxis geht gut, und die Arbeit hält sich im Rahmen, würde ich sagen.

Knochenbrüche, Mandelentzündungen und alte Damen mit den Vapeurs.«

Jennifer lächelte. »So wie du das sagst, klingt es schrecklich langweilig. «

Victor erwiderte ihr Lächeln; aber es war ein Lächeln, das nicht von innen kam. »Das Leben eines Arztes hat mit Romantik wenig zu tun. Es ist zwar nicht unbedingt langweilig, aber so aufregend, wie die Leute es sich im allgemeinen vorstellen, ist es nicht.«

»Und - sonst, Victor ? Geht es dir gut ?«

Er sah sie einen Moment schweigend an. »Ja, es geht mir gut«, antwortete er dann.

»Und dir, Jenny?«

»O ja, es geht mir gut.« Es klang sehr kontrolliert. Jetzt endlich kam Victor durch das Zimmer und blieb erst dicht vor Jennifer stehen. Mit seinen dunklen Augen sah er sie aufmerksam an. »Wirklich, Jenny?«

»Aber natürlich...«

»Du brauchst mir nichts vorzumachen«, sagte er leise. »Ich bin sein Brüder. Ich kenne ihn sein Leben lang. John und ich haben keine Geheimnisse. Er spielt immer noch, nicht wahr?« Jennifer senkte den Kopf, ohne zu antworten. Victor schob ihr leicht die Hand unter das Kinn und hob ihren Kopf, bis sie ihm wieder in die Augen sah. »Er spielt immer noch, nicht wahr?«

»Ja.«

Victor senkte den Arm und ging zur anderen Seite des Kamins hinüber. Den Ellbogen auf den Sims gestützt, sagte er: »Und es ist schlimmer geworden, stimmt's? - Oh, ich weiß.

Ich kann dir die peinliche Antwort ersparen. Harriet war mehrmals bei mir und hat es mir erzählt. Und jetzt kommen die Gläubiger schon ins Haus, wie ich höre.«

»Kannst du ihm nicht helfen, Victor?«

Wieder blickte Victor sie einen Moment schweigend an, und er mußte das gleiche sehen wie ich - die großen, weichen Rehaugen, die bebenden Lippen, die feingeschwungenen Augenbrauen, die klare Schönheit Jennifers. Ich spürte es, er liebte sie immer noch.

»Hast du mich deshalb hergebeten?«

»Nein!« Bestürzt trat sie einen Schritt näher zu ihm. »Nein, Victor, das darfst du nicht glauben. Ich hätte die Sache niemals angesprochen. Ich habe dich eingeladen, weil ich dich sehen wollte und weil ich fürchtete, du würdest nie wieder zurückkommen. Es ist soviel Zeit vergangen...« Sie vollendete ihren Gedanken nicht. »Du allein konntest mich in dieses Haus zurückholen, Jenny. Harriet hat es viele Male versucht. John hat mich eingeladen, selbst mein Vater hat seinem Herzen einen Stoß gegeben und mich gebeten, nach Hause zu kommen.

Aber ich habe immer nur auf ein Wort von dir gewartet, denn deinetwegen bin ich dem Haus ferngeblieben.«

Die Schwermut, die mir auf ihrer Fotografie aufgefallen war, verdunkelte jetzt flüchtig Jennifers Gesicht, ein Ausdruck offener Verletzlichkeit, der, das fühlte ich, Victor so stark ergriff wie mich. Ich spürte, daß er in diesem Moment gegen den Impuls kämpfte, Jennifer einfach in die Arme zu nehmen. »Ich helfe John, wenn du es wünschst.«

»Ach, Victor -«

»Aber nur um deinetwillen. John ist zu stolz, um mich um Hilfe zu bitten. Und ich bin auch gar nicht sicher, ob ich ihm helfen

würde, wenn er zu mir käme. Aber du, Jenny, du solltest längst in deinem eigenen Heim leben und daran denken, eine Familie zu gründen. Nur um deinetwillen werde ich meinem Bruder helfen.«

Jennifer schüttelte den Kopf. »Du darfst es nicht für mich tun, Victor. Du mußt es tun, weil du es willst. Weil er dein Bruder ist -«

Er lachte kurz auf. »Ja, das ist er. Und damit bist du meine Schwester, richtig? Oder genauer gesagt, meine Schwägerin. Aber das ist praktisch das gleiche«, schloß er bitter.

»Nein, das ist nicht das gleiche.«

Zu meiner Überraschung stürzte Victor plötzlich auf Jennifer zu und faßte sie bei den Armen. Er hielt sie so fest, als wollte er sie schütteln. Schwarzer Sturm verdunkelte sein Gesicht, und seine Augen blitzten vor Zorn, so daß Jennifer erschrocken vor ihm zurückwich.

»Was ist es dann?« sagte er heiser, seiner Stimme kaum mächtig. »Was sind wir, wenn nicht Schwester und Bruder?«

»Victor! Ich -«

»O Gott!« rief er und ließ sie so plötzlich los, wie er sie gepackt hatte. »Was ist nur über mich gekommen ? Die Frau meines eigenen Bruders! Bin ich denn wahnsinnig geworden

»Du kannst es nicht ändern«, sagte sie hastig. Ihre Wangen waren blutrot. »So wenig wie ich.«

Victor starrte sie immer noch zornig an, aber ich wußte, daß sein Zorn nicht ihr galt, sondern sich selbst. Für sie empfand er nur tiefe Liebe und Zärtlichkeit.

»Was soll ich tun ?« sagte er schließlich leise und verzweifelt. »Ein Jahr lang habe ich mit diesem Augenblick gelebt. Ich habe gewußt, daß er eines Tages kommen würde, daß die Stunde kommen würde, in der wir uns endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würden. Und oft habe ich mich gefragt, ob ich es fertigbringen würde, standzuhalten und mein Geheimnis für mich zu behalten. Aber ich sehe jetzt, daß ich es nicht kann. Ich bin ja nur ein Mensch. Zwölf Monate haben meine Liebe zu dir nicht auslöschen können, Jennifer. Zwölf Monate harter Arbeit haben mein Verlangen nach dir nicht mindern können. Bin ich denn zu lebenslanger schrecklicher Strafe verurteilt für ein Verbrechen, das begangen zu haben ich mich nicht erinnern kann?«

»Wenn es so ist«, sagte sie ruhig, »dann ist mir das gleiche Urteil gesprochen worden.«

Victor stand so still, so reglos, daß ich mich schon fragte, ob die Zeit stehengeblieben sei. Aber dann sah ich, daß er atmete, und hörte das schwache Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Und schließlich hörte ich ihn mit tonloser Stimme sagen: »Ich glaubte, nur geträumt zu haben, daß du mich liebst. Ich war niemals sicher. Und als ich es zu ahnen begann, fürchtete ich, meine wilden Hoffnungen verleiteten mich dazu, die Botschaft deiner Blicke falsch zu deuten. Ich war wie der sprichwörtliche Ertrinkende, der nach dem Strohhalm greift. Aber jetzt sehe ich, daß ich mich doch nicht getäuscht habe. Daß du mich liebst. Und jetzt frage ich mich, ob dies nicht härtere Strafe ist, als wenn du mich nicht liebtest.«

»Es ist keine Strafe, Victor -«

»Was dann?« rief er. »Allein das Wissen, daß wir dazu verurteilt sind, so durchs Leben zu gehen - uns zu sehen, vielleicht hin und wieder flüchtig zu berühren, aber niemals lieben zu dürfen...« Als Victor sah, daß Jenny weinte, ging er zu ihr und wischte ihr zärtlich die Tränen vom Gesicht.

»Ich hätte nach Schottland gehen sollen. Noch an dem Abend, als ich mit meinen törichten Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft mit dir hierhergekommen war und erfuhr, daß du John geheiratet hattest, hätte ich Warrington wieder verlassen und mich anderswo niederlassen sollen, an irgendeinem fernen Ort. Dann wäre uns diese Qual erspart geblieben.«

»Ist es denn eine solche Qual, Victor?«

»Zu wissen, daß ich dich niemals werde küssen können, daß du das Bett mit meinem Bruder teilst ? Ja, das ist die reine Qual.«

»Und was ist mit den Augenblicken, die wir für uns haben, wie eben diesen ? Können denn nicht ein Wort oder ein Lächeln genügen ? Ist das nicht besser als gar nichts ? Denk an die Einsamkeit, Victor, wenn wir getrennt wären. Denk an die langen leeren Jahre in einem fremden Land, die dir bestimmt wären, und denk an meine einsamen Nächte mit einem Mann, den ich einmal zu lieben glaubte, um dann erkennen zu müssen, daß es eine Täuschung war. Wäre es wirklich besser für uns, wenn unsere Wege sich trennen würden und wir dennoch in Gedanken immer beim anderen wären? Oder ist es besser, wenn wir uns nehmen, was wir können, und das Beste daraus machen ?«

Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich ab. »Darauf kann ich nicht antworten.

Jetzt, in diesem Moment, möchte ich bei dir sein und niemals fortgehen. Aber wenn ich in meiner Praxis bin und mir die schreckliche Realität unserer Situation vor Augen halte, dann denke ich, wie leicht es wäre, meine Sachen zu packen und zu verschwinden.«

»Leicht?«

»Nein, nicht leicht. Aber besser, bei Gott!« Der ganze Raum erschien erfüllt von den heftigen Gefühlen der beiden. Ich wurde in diesen Sturm hineingerissen wie in einen Strudel.

Ich fühlte das Feuer ihrer Leidenschaft und litt ihren Schmerz. Er zerriß mir fast das Herz. Ich konnte nicht mehr standhalten. »Victor!« schrie ich. Erschrocken drehte er sich um. Und dann waren sie verschwunden.

Die Nacht wurde zur Tortur. Entkräftet vom Schlafmangel, ausgelaugt vom Wechselbad der Gefühle, fiel ich in einen unruhigen Schlaf, der mir keine Erholung brachte.

Wieder wurde ich von erotischen Träumen heimgesucht: Bildern von Victor, lockenden Visionen seiner Zärtlichkeit und seines Feuers. Im Traum war seine Liebe wie ein süßer Dunst, der sich über mich senkte und mich einhüllte. Ich zitterte vor lustvoller Spannung.

Aber niemals kam es zur letzten Erfüllung meiner Begierde. Meine Träume täuschten mich, spielten mit mir und ließen mich schließlich in einem Zustand elender Enttäuschung zurück.

In meinen wachen Momenten betrachtete ich staunend die Wandlung, die sich in mir vollzog.

Es war, als erwache eine Vielzahl neuer Persönlichkeiten in mir, jede mit einem anderen Verlangen, das nach Stillung verlangte. Solche Begierde und Leidenschaft hatte ich nie gekannt. Es war, als wäre jeder einzelne Nerv in meinem Körper mit Elektrizität aufgeladen.

Ich stand in hellen Flammen, und es schien, daß einzig Victor Townsend den Brand löschen konnte.

Dann wieder, wenn ich am Fenster stand und meine fieberheiße Stirn an das kühle Glas drückte, dachte ich über diese seltsamen Träume nach und fragte mich, was sie bedeuten mochten. Es lag auf der Hand, daß ich Victor Townsend liebte und begehrte, doch ich verstand nicht, wieso ich so besessen war von diesem Mann, da doch nie zuvor ein Mann ähnliche Gefühle und Wünsche bei mir hervorgerufen hatte. Ich suchte nach Erklärungen und fand keine.

Um Mitternacht weckten mich Jennifer und Harriet aus leichtem Schlaf. Ich war im Sessel eingenickt und fuhr hoch, als ich das Klappen der Tür hörte. Ich sah Harriet an mir vorüberhuschen und am Kamin stehenbleiben. Auf der Uhr war es elf. Es schien kaum Zeit vergangen zu sein seit der Szene zwischen Jennifer und Victor. Jennifer jedenfalls war unverändert. Harriet war sichtlich erregt. Zitternd, beide Hände auf den Magen gedrückt, stand sie da und warf immer wieder mit nervöser Bewegung den Kopf in den Nacken. »Was ist denn ?« flüsterte Jennifer besorgt. »Sind sie alle schlafen gegangen ? Bist du sicher ? Wo ist John ?«

»Er ist noch aus. Aber wir hören es ja, wenn er kommt. Niemand kann uns hören, Harriet. Sag mir doch bitte, was du hast.«

»Ach, Jenny...« Harriet begann plötzlich zu weinen. »Ich habe solche Angst. Ich weiß nicht, was ich tun soll. O Gott, was soll ich nur tun!«

»Harriet«, sagte Jennifer ruhig und klar. Sie nahm Harriets zuckende Hände und hielt sie in den ihren. »Komm, jetzt sag mir, was dich quält. So schlimm kann es doch gar nicht sein.«

»Doch, doch. Ich - ach, Jenny...«, wimmerte sie. »Versprich mir, daß du keinem Menschen etwas sagst. Du bist die einzige Freundin, die ich habe.«

»Ich verspreche es dir, Harriet. Ich sage nichts.«

»Auch Victor nicht. Vor allem nicht Victor.« Jennifer zog die Brauen hoch. »Gut. Ich sage es keinem Menschen. Also, was ist mit dir ?«

Harriet entriß Jennifer ihre Hände, wandte sich ab und ging ein paar Schritte. »Ich -

ich muß dich etwas fragen. Du mußt mir etwas sagen.«

»Natürlich, wenn ich kann.«

Harriet zögerte unschlüssig. Sie schien nicht zu wissen, wie sie anfangen sollte, suchte nach Worten, setzte zum Sprechen an und brachte doch keinen Ton über die Lippen.

Schließlich drehte sie sich heftig herum und starrte Jennifer ängstlich ins Gesicht. »Jenny«, sagte sie zitternd. Sie senkte den Blick. »Ich muß unbedingt etwas wissen, aber ich - ich glaube, ich kann gar nicht darüber sprechen. Bitte hilf mir.«

Jennifer war zwar nicht älter als Harriet, aber sie war eine verheiratete Frau und reifer als die Freundin. Sie sah, daß Harriet in tiefer Not war und legte ihr tröstend die Hand auf den Arm. »Es gibt nichts auf der Welt«, sagte sie beruhigend, »worüber wir beide nicht miteinander sprechen können, Harriet.« Harriet sah auf. Ihre Wangen waren erhitzt, ihre Augen glänzten wie im Fieber. »Meine Tage...«, flüsterte sie. »Jenny, meine Tage sind nicht gekommen.«

Jennifer brauchte einen Moment, um sich die Bedeutung der Worte klarzumachen, dann hauchte sie: »Ach Gott, Harriet ...«

»Es fällt mir so schwer, darüber zu sprechen«, sagte Harriet mit gepreßter Stimme.

»Du weißt doch, wie es ist. Und besonders mit Mama. Als es das erste Mal passierte, als ich zwölf war -« Harriets Stimme war nur noch ein Flüstern - »war ich zu Tode erschrocken. Ich dachte, ich müßte sterben! Ich hatte keine Ahnung, was mir geschah. Und Mama hat mir überhaupt nicht geholfen. Sie sagte nur, jetzt wäre ich eine Frau, ich sollte aufhören zu weinen, und das würde jetzt regelmäßig jeden Monat kommen. Erklärt hat sie mir überhaupt nichts, Jenny. Sie hat nur gesagt, daß ich in dieser Zeit oft die Unterwäsche wechseln soll und immer Eau de Cologne nehmen soll und daß vor den Männern auf keinen Fall darüber gesprochen werden darf. Jenny, du kennst das ja alles. Mama hat gesagt, ich dürfte mich nie darüber beklagen, ich müßte einfach so tun, als gäbe es das gar nicht. Ach, Jenny, es ist verrückt !«

Harriet umfaßte verzweifelt Jennifers Arm. »Als es das erste Mal kam, erschrak ich zu Tode. Und jetzt hab ich Todesangst, weil es nicht kommt.«

Jennifer sagte nichts, aber ihr Blick war voller Mitleid und Sorge.

»Sag mir, was das bedeutet, Jenny. Ich glaube, ich weiß es, aber ich muß sicher sein.

Du kannst es mir sagen.«

»Wie lange sind deine Tage schon ausgeblieben, Harriet?«

»Ich - ich weiß nicht genau.«

»Bist du sehr spät dran ?«

»Jenny, sie sind zweimal nicht gekommen.«

»Ah ja...« Jennifer blieb völlig ruhig. Ihre Hand lag immer noch auf Harriets Arm, und ihr Gesicht war so unbewegt, als besprächen sie den Speiseplan für den kommenden Tag.

»Harriet, sag mir eines - hast du etwas getan, das dieses - Ausbleiben bewirkt haben könnte?«

»Ich glaube, ja«, antwortete Harriet kaum hörbar. Jennifer schloß einen Moment die Augen. »Jenny, ich wußte es nicht. Niemand hat es mir je gesagt«, stieß Harriet hastig hervor. Ihr Gesicht war verwirrt und bestürzt. Und es war kreidebleich.

»Sean hat gesagt, es wäre nichts dabei. Und ich hatte keine Ahnung, was wir taten. Ich dachte immer, Kinder könnte man nur bekommen, wenn man verheiratet ist, aber doch nicht vorher.

Wir waren draußen bei der Ruine von der alten Abtei. Zuerst war ich erschrocken. Aber dann fand ich es schön. Und dann -«, sie senkte wieder den Blick und murmelte scheu, »dann war ich selig.«

In Jennifer blitzte etwas auf. Neid ? Flüchtig nur und ohne Mißgunst. Ein feiner Stich des Bedauerns, daß sie es mit John niemals so erlebt hatte, sondern immer nur enttäuschend.

Er war nie zärtlich, immer ungeduldig, nahm nie Rücksicht auf ihre Wünsche. Und sogleich meldete sich das schlechte Gewissen, als sie sich erinnerte, wie sie die Augen geschlossen und sich vorgestellt hatte, sie läge mit Victor zusammen und nicht ihrem Mann. Ein so kleiner Betrug nur, der ihr half, die seltenen Angriffe ihres Mannes auf ihren Körper zu ertragen. Zu denken, es wäre Victor, sich vorzustellen, wie es mit ihm wäre: liebevoll, zärtlich und genießerisch ...

»Wie lange ist das her, Harriet, das mit Sean O'Hanrahan ?« fragte sie.

»Ich - äh - es war...« Harriet geriet ins Stocken. »Es war mehr als einmal, Jenny. Aber er hat gesagt, es wäre nichts dabei, wirklich. O Gott, Jenny, was habe ich getan ?«

»Du solltest lieber fragen, was er getan hat, Harriet.«

»Nein! Sprich nicht so von ihm. Ich liebe ihn, und wir werden heiraten. Aber heimlich, damit Vater uns nicht daran hindern kann. Versprich mir, Jenny, daß du Vater nichts sagst.«

»Du kannst dich darauf verlassen, Harriet, aber du solltest mit Victor sprechen.«

»Nein!«

»Er ist Arzt, Harriet. Er kann dir sagen, was du tun sollst. Vielleicht täuschst du dich.

Aber wenn es nicht so ist, dann kann er dir sagen, was zu tun ist.«

»Ich kann mit Victor nicht darüber sprechen. Er würde mich verachten !« Harriet begann wieder zu weinen. Jennifer nahm sie in die Arme und hielt sie fest, ohne ein Wort zu sagen. Harriet weinte und schluchzte, und erst als sie sich wieder einigermaßen gefaßt hatte, löste sie sich aus Jennifers Armen, wischte sich die Augen und sagte stockend: »Du glaubst also, daß es passiert ist ? Daß ich ein Kind in mir habe ?«

»Wenn du etwas mit Sean O'Hanrahan getan hast. Wenn du genau weißt, was du mit ihm getan hast.«

»Verheiratete täten es, hat er gesagt. Er wollte mir zeigen, wie es ist.«

Jennifer nickte ernst und trauerte im stillen um Harriet, der ihre kindliche Unschuld genommen worden war. »Ich hätte nie gedacht, daß es möglich ist. Wirklich nicht. Ich habe fest geglaubt, Kinder bekommt man nur, wenn man verheiratet ist. Aber jetzt ist es geschehen, und jetzt muß ich damit fertigwerden. «

»Harriet!« Jennifer bot ihr beide Hände. »Bitte sprich mit Victor. «

»Niemals!« Harriet wich einen Schritt zurück. »Er würde mich umbringen.«

»Aber nein -«

»Doch, er würde!« schrie Harriet. »Victor würde mich umbringen. Du kennst ihn nicht so gut wie ich. Er ist genau wie Vater.«

»Was willst du denn dann tun?«

»Sean und ich haben vor, nach London zu gehen und uns dort trauen zu lassen.«

»Ach, Harriet.« Jetzt weinte auch Jennifer.

Harriet stand noch einen Moment unschlüssig, starrte Jennifer mit einem Blick an, bei dem uns beiden eiskalt wurde, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte aus dem Zimmer. Ich blickte ihr nach, sah die Tür hinter ihr zufallen und war überrascht, Jennifer noch im Zimmer zu sehen, als ich mich wieder umdrehte. Ich hatte geglaubt, hier würde die Szene enden. Aber es

schien, daß noch mehr kommen sollte. Ich blieb in meinem Sessel sitzen und wartete.

Wie unglaublich, daß die junge Frau, die vor mir stand, seit so vielen Jahren tot sein sollte. Konnte ich nicht das Rascheln ihrer Röcke hören ? Sah ich nicht den Glanz der Tränen in ihren Augen ? Roch ich nicht den zarten Rosenduft, der sie umgab ? Fühlte ich nicht ihre Anwesenheit in diesem Zimmer ? Während ich sie betrachtete und dabei diese Überlegungen anstellte, kam mir plötzlich ein verrückter Gedanke in den Kopf und elektrisierte mich förmlich. Mir fiel ein, wie ich bei der letzten Begegnung mit Victor und Jennifer von den Gefühlen der beiden überwältigt Victors Namen gerufen und er sich umgedreht hatte.

War es möglich, daß er mich gehört hatte ? Ich hatte den kleinen Zwischenfall bisher völlig vergessen, aber jetzt erinnerte ich mich genau. Ich war nicht fähig gewesen, mich länger zurückzuhalten, und hatte laut Victors Namen gerufen. Und er hatte sich erschrocken umgedreht. Konnte das bedeuten... ?

Unverwandt sah ich Jennifer an. Sie blieb viel länger als sonst. Oder vielleicht war auch ich es, die länger blieb. Ganz gleich, mein Rendezvous mit der Vergangenheit dauerte länger an, als ich erwartet hatte, und ich fragte mich, ob das einen besonderen Grund hatte.

Warum konnte ich Jennifer immer noch sehen ? Hatte das einen bestimmten Sinn ? Sie stand hier ganz allein in diesem Zimmer, so wirklich und leibhaftig wie meine Großmutter hier zu stehen pflegte, und sie trocknete sich die Augen mit einem Taschentuch, das sie aus dem Ärmel ihres Kleides hervorgezogen hatte. Sie und ich waren allein hier im Zimmer und doch durch Jahre getrennt. Sie lebte im Jahre 1892. Ich lebte in der Gegenwart. Wieso waren wir immer noch zusammen ?

Eine Ahnung kam mir, die ich zunächst als absurd verwarf. Doch sie drängte sich mir von neuem auf und ließ mich nicht mehr los.

Ich konnte Jennifers Parfüm riechen, das Knistern ihrer Röcke hören, ich konnte sie sehen und ihre Nähe spüren, und ich fragte mich, ob das, was ich gehofft und gefürchtet hatte, nun vielleicht endlich geschehen würde; daß nun der Weg zur Verständigung über die Sprache sich öffnen würde und ich so ganz in das Geschehen einbezogen werden würde. Da alles so real war, sollte es da nicht möglich werden, miteinander zu sprechen ? Hatte sich nicht Victor umgedreht, als ich seinen Namen gerufen hatte ? Aber sie konnte mich ja nicht einmal sehen. Sie stand nur Zentimeter von mir entfernt und nahm mich nicht wahr. Was würde geschehen, wenn ich sie ansprach ? Würde dann eine echte Verbindung, eine beiderseitige Verbindung hergestellt werden ? Ich beschloß, es zu riskieren. Das einzige, was geschehen konnte, war, daß sie verschwand. Und da Harriet schon fort war und nichts weiter sich ereignete, würde sie bald sowieso verschwinden. Ich wollte es versuchen. Ich wollte sie ansprechen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, schluckte alle Befürchtungen hinunter, räusperte mich und sagte laut und klar: »Jennifer !«

13

Meine Großmutter mußte lautlos ins Zimmer gekommen sein. Erst als sie die Vorhänge aufzog, erwachte ich. »Schau dir nur diesen gräßlichen Regen an!« sagte sie mit ärgerlichem Kopf schütteln.

Ich wälzte mich auf die Seite und blinzelte in die von Regenschleiern verhangene Welt vor dem Fenster. Dann drehte ich mich wieder auf den Rücken und blickte zur Zimmerdecke hinauf. Mein Kopf dröhnte.

»Du hast aber lange geschlafen«, stellte meine Großmutter fest, während sie im Zimmer umherhumpelte. »Das ist ein gutes Zeichen. Da hast du wenigstens mal richtig Ruhe bekommen.« Beinahe hätte ich gelächelt. Großmutter hatte keine Ahnung, daß ich erst bei Sonnenaufgang eingeschlafen war, nachdem ich praktisch die ganze Nacht aufgesessen hatte.

»Der Tee ist gleich fertig. Möchtest du heute mal Sirup auf deinen Toast, Kind ? Der gibt dir vielleicht ein bißchen Energie.« Obwohl Großmutter sich bemühte, resolut und kraftvoll zu sprechen, fiel mir auf, wie müde ihre Stimme klang. »Dein Großvater hat immer gern Sirup auf sein Brot gegessen. Hm, und zum Essen mach ich uns den Fisch, den Elsie gestern mitgebracht hat. Nach Morecambe Bay können wir bei diesem Wetter auf keinen Fall fahren.« Ich sah wieder in die graue Düsternis hinaus und fragte mich, wie lange wir in diesem Haus gefangen sein würden. »Großmutter«, sagte ich und setzte mich auf. »Gestern hat kein Mensch Großvater besucht. Wie soll das denn heute werden ?«

»Also, wir fahren bestimmt nicht ins Krankenhaus. Vielleicht fährt dein Onkel William allein hin. Ich kann jedenfalls bei diesem Wetter keinen Fuß vor die Tür setzen. So, und jetzt geh ins Bad und mach dich fertig, damit wir frühstücken können.« Ich rannte die Treppe hinauf, wusch mich in aller Eile und ging ins Vorderzimmer, um mir frische Sachen zu holen. Eine Viertelstunde später saß ich schon wieder unten am Tisch. »Man spürt den verdammten Wind durch sämtliche Fensterritzen, nicht wahr ?« sagte Großmutter, während sie ihren Toast mit Butter bestrich.

Ich betrachtete ihr Gesicht im kalten Morgenlicht, sah die blauen Lippen, die fahle Haut, die geschwollenen Augen. »Du hast nicht gut geschlafen, nicht wahr, Großmutter ?«

»Nein, Kind, weiß Gott nicht. Ich sag dir ja, bei solchem Wetter tun mir sämtliche Gelenke weh. Und dann finde ich einfach keine Ruhe. Heute abend nehme ich mir aber gleich drei Wärmflaschen mit nach oben.«

»Warum schläfst du nicht hier unten, wo es warm ist?«

»Kommt nicht in Frage. Du hast die Wärme nötiger als ich. Im übrigen schlafe ich am liebsten in meinem eigenen Bett. Wenn ich mir eine zweite Jacke anziehe und noch eine Wärmflasche mitnehme, wird es schon gehen.«

»Dein Schlafzimmer muß wirklich eiskalt sein, Großmutter.«

»Elsie sagt immer, im ganzen Haus war's kalt wie in einer Gruft. Also spielt es gar keine Rolle, wo ich schlafe. Aber ich bin's gewöhnt und fühl mich wohl hier, und keine zehn Pferde bringen mich in so eine Sozialwohnung...«

Sie schwatzte weiter, und ich dachte, wenn du wüßtest, wie zutreffend der Vergleich mit einer Gruft ist.

Niemand kam uns besuchen. Regen und Sturm tobten mit solcher Heftigkeit, daß es unmöglich war, auch nur die Haustür zu öffnen. Vom oberen Schlafzimmer aus blickte ich zur Straße hinunter und sah, wie gefährlich bei diesem Unwetter schon eine kurze Autofahrt sein mußte. Mir war klar, daß niemand vorbeikommen würde, solange es anhielt.

Großmutter und ich setzten uns also ins Wohnzimmer an den Kamin, sie mit ihrem Strickzeug, ich mit einem Buch. Aber ich nahm nichts von dem auf, was ich las, meine Gedanken waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt.

Am späten Nachmittag hatte Großmutter so starke Schmerzen in Hüften und Knien, daß sie nicht fähig war, sich in die Küche zu stellen und das versprochene Abendessen zu kochen. Ich machte uns statt dessen eine Dosensuppe heiß, und dazu aßen wir Butterbrot. Mir reichte das vollkommen, da ich noch immer keinen rechten Appetit hatte, aber ich sah, wie enttäuscht Großmutter war, daß sie nicht imstande war, mir etwas Besonderes zu kochen.

Nach unserem bescheidenen Abendessen saßen wir noch ein Stündchen beieinander, ohne viel zu sprechen, dann sagte Großmutter: »Ich glaube, ich gehe jetzt zu Bett, Andrea. Wenn ich noch länger hier sitze, komm ich überhaupt nicht mehr hoch. Bringst du mir die Flaschen, wenn das Wasser warm ist, Kind ?«

»Aber was willst du denn den ganzen Nachmittag tun, Großmutter?«

»Ach, ich mach mir das Radio an und les ein bißchen. Das entspannt mich immer so.

Tut mir leid, daß ich dich ganz allein lasse, Kind, aber ich bin in dem Zustand sowieso keine gute Gesellschaft. Ich bin nur froh, daß es dein Großvater schön warm hat und gute Pflege bekommt. Das ist mir ein großer Trost.« Ausnahmsweise mußte ich Großmutter die Treppe hinaufhelfen. Ich schob von hinten, während sie wie ein Hund auf allen vieren Stufe um Stufe hinaufkroch. Wir kamen nur langsam voran, aber als wir oben waren, sah ich, wie beschwerlich es für sie gewesen wäre, das allein zu schaffen. Sie war aschfahl und konnte kaum atmen.

»Ich bin dreiundachtzig Jahre alt, Kind«, sagte sie, nach Luft schnappend. »Ich habe bessere Tage gesehen.« Beim Auskleiden ließ sie sich nicht von mir helfen, sondern bestand darauf, daß ich ins warme Wohnzimmer hinunterging und wartete, bis das Wasser kochte.

Nachdem ich die drei Wärmflaschen gefüllt hatte, trug ich sie in ihr Zimmer hinauf und half ihr ins Bett. Sie schob sich mehrere dicke Kissen in den Rücken, zog zwei Strickjacken an, legte sich einen gehäkelten Schal um die Schultern und drapierte die Wärmflaschen um ihre Beine. Dann

zog sie das Radio, das auf dem Nachttisch stand, näher zu sich heran.

»So, jetzt hab ich's gemütlich, Kind. Geh du ruhig wieder runter. «

»Wenn du etwas brauchst, Großmutter, dann klopf einfach mit dem Stock auf den Boden. Ich komm dann sofort. Du wirst später sicher Hunger bekommen, und die Wärmflaschen müssen auch frisch gefüllt werden.«

»Ja, Kind. Du bist wirklich ein Segen. Ich bin so froh, daß du hier bist.« Sie legte mir einen Arm um den Hals und zog mich kurz an sich. Als sie sich wieder in die Kissen sinken ließ, sah ich, daß sie Tränen in den Augen hatte. »Was bin ich doch für eine Heulsuse!« rief sie. »Aber du bist deiner Mutter so ähnlich. So, und jetzt ab mit dir, runter; wo's warm ist.«

Ich eilte ins Wohnzimmer hinunter, aber nicht der Wärme wegen, denn die Kälte machte mir schon lang nichts mehr aus, sondern in der Hoffnung, bald wieder in die Vergangenheit entführt zu werden.

Und tatsächlich, als ich die Tür öffnete, sah ich vor mir das Wohnzimmer der Familie Townsend mit seiner bunten Tapete und den grünen Sesseln. In einem der Sessel, vom warm glühenden Feuerschein eingehüllt, saß Jennifer. Sie war allein. Sehr langsam und behutsam trat ich ein und schloß leise die Tür hinter mir, um das feine Gespinst des friedlichen Bildes nicht zu zerstören. Ich trat ein paar Schritte von der Tür weg und blieb an die Wand gelehnt stehen.

Jennifer war mit einer Handarbeit beschäftigt. Ich sah den Stickrahmen in ihrer Hand, die feine rote Seide des Garns, das Blitzen der Nadel, die auf und ab stichelte. Jennifer trug ihr Haar hochgekämmt und mit dünnen Bändern durchflochten. Ihr lavendelfarbenes Kleid war hochgeschlossen und reichte fast bis zu ihren Fußspitzen. Sie wirkte sehr gelassen und sehr weiblich, wie sie am Kamin saß, das zarte Gesicht leicht gerötet von der Glut, und sich konzentriert ihrer Arbeit widmete.

Ich dachte wieder an die Begegnung der vergangenen Nacht und meine wilde Hoffnung, mit ihr Kontakt aufnehmen zu können, indem ich sie ansprach. Aber das war eine Illusion gewesen. Sobald ich ihren Namen gerufen hatte, war sie verschwunden. Aber nun war sie wieder hier, und obwohl ich auf der anderen Seite des Zimmers stand, spürte ich, daß sie an Victor dachte. Aus dem Flur drang das Geräusch fester männlicher Schritte herein, und ich hielt den Atem an. Wir würden ihn wiedersehen! Die Tür wurde aufgestoßen, ein kalter Luftzug blies ins Zimmer, und dann sah ich zu meiner Enttäuschung John Townsend herein-kommen. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb er einen Moment lang stehen. Er schwankte ein wenig und blickte Jennifer, die von ihrer Arbeit aufsah, schweigend an. »Du bist ja völlig durchnäßt«, sagte sie und wollte aufstehen. »Kümmre dich nicht um mich«, brummte John ungeduldig und fuhr sich mit einer Hand über die blutunterlaufenen Augen. Ich konnte den Alkoholdunst in seinem Atem riechen, als er sprach. »Kümmre dich lieber um dich selbst.«

»Was soll das heißen ?«.

»Du!« brüllte er sie plötzlich an und streckte den Arm aus, als wollte er sie mit wackligem Zeigefinger durchbohren. »Du hast mich verraten! Mich, deinen Mann.«