E

s freut mich, Ihnen, liebe Charlotte, sagen zu können, daß sich unser Reiseplan so geändert hat, daß wir über Kassel gehen werden. Unser Plan ist, am 31. von hier abzureisen, und hiernach können wir am 2. April in Kassel sein. Eine Nacht bleiben wir dort auf jeden Fall, ob den folgenden Tag und also zwei Nächte, weiß ich noch nicht. Überhaupt ist kein Plan gewiß, wenn man mit mehreren reist.

Ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Es wird freilich nur auf eine oder zwei Stunden sein können, aber es ist immer schön, sich wiederzusehen. Komme ich früh genug an, so komme ich noch denselben Abend zu Ihnen; ist es zu spät, so komme ich den folgenden Tag, wenn es auch vielleicht erst am Abend sein sollte; komme ich früh genug und bleibe doch den folgenden Tag, so sehe ich Sie beide Tage, Ich glaube nicht, daß mich eine Antwort auf diesen Brief noch hier finden kann, sonst wäre es mir sehr lieb, wenn Sie mir noch einige Zeilen herschrieben.

Leben Sie herzlich wohl!

 

 

Unterwegs.

 

I

ch glaubte gestern noch bis 5 Uhr noch einmal zu Ihnen zu kommen, aber es kam mir etwas dazwischen. Hätten Sie näher gewohnt, hätte ich Sie dennoch, auf eine halbe Stunde gesehen. So war es unmöglich. Sie in Ihrem Hause gesehen zu haben, hat mir große Freude gemacht und hat mir einen sehr angenehmen Eindruck hinterlassen. Ich schreibe Ihnen, liebe Charlotte, gewiß bald aus Paris und hoffe auch dort einen Brief von Ihnen zu finden.

 

 

Paris, den 23. April 1828.

 

I

ch habe bei meiner Ankunft hier, liebe Charlotte, Ihren Brief vom 26. v. M. gefunden und darin Ihre Sorgfalt erkannt, mir Ihre Wohnung zu bezeichnen. Noch lebhafter als für diese Sorgfalt aber danke ich Ihnen für den lebendigen Ausdruck der Freude, der in Ihrem Briefe herrscht. Ich bin hernach Zeuge dieser Freude selbst gewesen, und Ihre Freude, die dieser Brief ausdrückt, hat mir dieselbe noch lebhafter zurückgerufen. Sie ist mir ein neuer, sehr angenehmer Beweis Ihrer Gesinnungen gewesen, oder vielmehr ich habe, da mir bisher nur immer Ihre Briefe diese Gesinnungen aussprachen, sie nun in ihrer lebendigen, noch unendlich mehr erfreuenden Äußerung gesehen. Es ist mir sehr viel wert, selbst bei Ihnen gewesen zu sein, es hat mir einen anschaulichen Begriff Ihres Lebens gegeben, noch außer der Freude, Sie wiedergesehen zu haben. Das Leben, wie Sie es sich dort eingerichtet haben, ist sehr hübsch und spricht für den Geist und die Weise, die Sie hineinlegen. Sie genießen einer freundlichen und heiteren Einsamkeit, und alles in Ihrem kleinen Hause, aber garnicht so kleinen Garten, spricht einen gleich beim Hereinkommen so an, daß einem wohl darin wird. Und doch habe ich beides nur bei rauhem Wetter und ohne Frühlings- und Sommerschmuck gesehen. Wie viel muß der Garten durch beides gewinnen, wo Sie dann im vollen, dichten Grün wohnen. Ich kann mir Sie jetzt in allen Momenten denken, da ich alle die Plage gesehen habe, worin Sie Ihr Leben zubringen, und ich finde es eine sehr hübsche Einrichtung, daß Sie das geräumige und freundliche Zimmer unten, in dem wir waren, von Ihrer Arbeit abgesondert halten und es nur besuchen, wenn Sie mit jemand sind oder frei allein sein wollen. Eine Stube nimmt immer für den, der sie bewohnt, die Farbe dessen an, was gewöhnlich darin vorgeht, und man sollte mehr darauf denken, sich einen Ort aufzubewahren, der einen bloß an das erinnern kann, was man frei von anderer Beschäftigung oder Zerstreuung darin gedacht oder empfunden hat. Wie man dann nur die Wände erblickt, erscheinen dieselben Gedanken und Empfindungen wieder, an die sich andere anreihen. Es ist ebenso auf dem Lande mit Spaziergängen. Mir wenigstens geht es immer so, daß ich nach kurzem Aufenthalt in einer Gegend sie mir zu verschiedenen Gedanken und Gefühlen bestimme, und je länger man sie in dieser Bestimmung braucht, desto mehr erwachen diese Gefühle und Gedanken mit ihnen. Aber auch oben, wo Sie arbeiten, sind ihre Zimmer hübsch und bequem, wenn auch klein. Diese Kleinheit kann auch nichts Drückendes da haben, wo man gleich in einen freien und großen Garten hinaus kann. In der Stadt wäre das viel anders. Ihre ganze Einrichtung, in der sichtbar so viel Verstand, Ordnung und Genügsamkeit herrscht, hinterläßt darum einen noch viel angenehmeren und erfreulicheren Eindruck, weil es sichtbar ist, daß Sie sich dieses Dasein selbst geschaffen haben und es erhalten; ich hoffe auch gewiß, daß Ihre besonnenen Einrichtungen ferner von glücklichem Erfolg sein werden, ob zugleich die Idee immer bei mir wiederkehrt, daß Sie ein weniger angestrengtes Leben bei Ihnen zusagender größeren Muße genießen möchten. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, welchen lebhaften und aufrichtigen Anteil ich an der Erfüllung dieses Wunsches nehmen würde. – – – –

Unsere Reise ist zwar recht glücklich gewesen, insofern als sich kein sonderlich unangenehmer Zufall beigemischt hat. Aber wir sind von Kassel aus viel langsamer gereist als bis dahin. Worüber wir uns sehr zu beklagen gehabt haben, war das Wetter. Unterwegs, namentlich zwischen Kassel und Frankfurt, war es wahrhaft winterhaft. Auf einer langen Reise mit Frauen und Kindern ist das beschwerlich. In Frankfurt hielten wir uns drei Tage auf, diese Verzögerung war aber nicht willkürlich diesmal, sondern nötig. Teils war es meiner Frau und den Kindern notwendig auszuruhen, teils waren Reparaturen am Wagen vorzunehmen. Der längere Aufenthalt in Frankfurt war mir verdrießlich, weil er immer so viele Tage dem hiesigen entriß, sonst hatte ich ihn nicht ungern, denn ich habe Frankfurt immer geliebt, und es gibt wirklich nur sehr wenige Städte in Deutschland, welche die Vergleichung damit ertragen können. Es zeichnet sich hauptsächlich durch zwei Vorzüge aus. Einmal hat es so äußerst hübsche Umgebungen. Ich rede hier nicht bloß von den schön angelegten Pflanzungen, die die Stadt umgeben, sondern von der Gegend selbst. Das Taunus-Gebirge gewährt von mehreren Punkten einen höchst reizenden Anblick, und der Fluß kommt dazu. Ich bin immer mit großer Freude dort spazieren gegangen. Dann aber bringt auch die Stadt den Eindruck hervor, daß die Bewohner fast im allgemeinen eines großen oder wenigstens hinreichenden Wohlstandes genießen. Der wahre, große Reichtum, der sich daselbst befindet, ist nicht so, wie oft an andern größeren Orten, von Armut und schreiendem Elend begleitet. Das gehört aber sehr dazu, wenn einem an einem Orte wohl werden soll. Man fühlt an jedem immer, bis auf einen gewissen Punkt, mit der ganzen Volkszahl, und es ist einem nicht behaglich, wenn man in dieser Not und Armut in zu großem Kontrast mit dem Wohlstande antrifft.

Von Frankfurt bis Saarbrück aus haben wir wieder größere Strecken Weges zurückgelegt und sind am vierten Tage noch vor der hier gewöhnlichen Stunde des Mittagessens, die allgemein sechs Uhr ist, angekommen. Das Reisen durch Frankreich ist nicht mit großen Annehmlichkeiten verbunden. Die Wege sind jetzt zum Teil schlecht und sehr schlecht, im ganzen mittelmäßig und nirgends recht gut. Gute Wirtshäuser findet man nur in den größten Provinzialstädten, wie Lyon usw. Der Anblick des Landes und der Bewohner hat von der Seite, von der wir kamen, garnichts Anziehendes und Fesselndes. Die Gegenden sind vielmehr höchst gewöhnlich und bieten nicht einmal große Fruchtbarkeit oder Stärke der Vegetation dar. Was mir aber immer am meisten in Frankreich mißfallen hat, ist der Anblick der Dörfer gewesen. Sie lassen sich garnicht mit unseren deutschen vergleichen. Sie bestehen entweder aus wenigen Häusern, die auf einmal, ohne daß man es erwartet, an einer, oft an beiden Seiten des Weges einander gegenüberstehen, und die von keinem Baume, von keinem Garten umgeben oder angekündigt sind, oder sie gleichen unseren kleinen Marktflecken und haben nicht das mindeste Ländliche. Die Bewohner sind nicht anders. Sie haben entweder ein sehr ärmliches oder städtisches Ansehen. Vorzüglich sind die Frauen und Mädchen garnicht hübsch und anziehend. Allerdings trägt aber auch ihr Anzug dazu bei, sie weniger anmutig erscheinen zu lassen, vor allem die schweren und ungeschickten Holzschuhe. Dieser wenig reizende Anblick des Landvolkes und seiner Wohnungen nimmt der Annehmlichkeit des Reisens in Frankreich sehr viel, und wird von allen Reisenden bemerkt.

Hier in Paris hingegen befinde ich mich sehr wohl. Ich führe hier ein meinem gewöhnlichen ganz entgegengesetztes Leben. Ich gehe den ganzen Tag herum oder fahre, und bin im eigentlichsten Verstande nur eine Stunde nach dem Aufstehen, einige vor dem Schlafengehen und bisweilen, obgleich auch selten, den Mittag zu Hause. Da ich so verschiedene Male, zum erstenmal schon 1789, hier war, so habe ich sehr viele Bekanntschaften, und es fehlt nicht, daß sich nicht immer neue dazu gesellen. Dann sind auch eine Menge Dinge zu besehen, und so vergeht der Tag, wie lang er scheinen mag. Es wird Ihnen wunderbar vorkommen, daß mir ein Leben nicht eher zuwider ist, von dem ich zu Hause aus Wahl gerade das Gegenteil führe, allein ich habe in den verschiedenen Perioden meines Alters so verschieden gelebt, daß ich das jetzige Leben nicht weniger neu nennen kann. Es ist auch überhaupt nicht meine Art, so an einer Weise zu hängen. Mir ist ziemlich jede lieb, in die ich geworfen werde oder selbst übergehe, und ich befinde mich immer körperlich und geistig gleich wohl dabei.

Paris hat sich in den dreizehn Jahren, daß ich es nicht gesehen habe, ungemein verschönert. Es sind viele einzelne schöne neue Gebäude, ja ganze Straßen und Quartiere entstanden. Der Wohlstand, der Luxus, die Volksmenge hat zugenommen, die Bewegung, die schon immer so groß war, ist dadurch größer geworden. Auch in Wissenschaften und Künsten ist das Leben und alles Interessante gestiegen. Eine solche Stadt ist mit keiner bei uns zu vergleichen. Auch die größten deutschen haben dagegen etwas Kleinstädtisches. Wenn man einmal nicht auf dem Lande wohnt, ist allerdings eine solche Stadt jeder anderen vorzuziehen.

Ich hoffe jetzt, bald einen Brief von Ihnen, liebe Charlotte, zu bekommen. Mit der innigsten und aufrichtigsten Teilnahme Ihr H.

 

 

London, den 20. Mai 1828.

 

W

ir sind gestern nachmittag hier angekommen, liebe Charlotte, und sind alle vollkommen wohl. Ich hoffe, Sie haben meinen Brief vom 23. April aus Paris richtig empfangen; ich habe seitdem den Ihrigen, am 8. geschlossenen erhalten und danke Ihnen herzlich dafür.

Seit ich Ihnen aus Paris schrieb, ist es uns recht gut ergangen. Wir haben Paris den 15. d. M. verlassen und sind am 19. von Calais gerade nach London übergeschifft. Man macht die Überfahrt jetzt in Dampfbooten, es gibt selbst für Reisende keine anderen mehr. Es ist auch eine sehr bequeme Manier. Die Schiffe sind groß, haben außer der Anstalt für den Dampf auch Segel, die sie, wenn der Wind günstig ist, auch gebrauchen, und man kommt meistenteils, wie es unser Fall war, in weniger als zwölf Stunden von Calais bis London über. Es war das schönste Wetter, was man denken kann. Die ersten Stunden war die See, da der Wind lebhaft ging, ziemlich hoch, und das Schiff schwankte sehr. Die meisten Personen wurden krank, und viele legten sich zu Bett. Ich habe nie eine unangenehme Empfindung auf dem Wasser, sondern bin immer auf dem Verdeck geblieben und habe mich des wundervoll schönen Anblicks des Meeres erfreut. Vorzüglich groß und schön war der Sonnenaufgang, der mich umsomehr anzog, als ich ihn wirklich noch nie auf dem Meere gesehen hatte. Wir segelten nämlich schon um drei Uhr morgens ab. Hier wohnen wir bei meinem Schwiegersohn und sind also sehr angenehm im Schoße unserer Familie. London überrascht immer aufs neue durch seine Größe, seine Volkszahl und die daraus entstehende merkwürdige Bewegung. Es hat weniger schöne freie Ansichten als Paris, das durch die großen öffentlichen und vielen Privatgärten hier und da ein ordentlich ländliches Ansehen hat. Aber es erregt als Stadt, als an einem Orte zusammengeflossene und sich in beständiger Mannigfaltigkeit und doch im höchsten Wohlsein regende Volksmasse, eine größere Bewunderung.

Wir werden nahe an zwei Monate hier bleiben und dann unsere Rückreise antreten. Allerdings war es und ist es eine große, und unter den Umständen, wie wir sie machten, anstrengende Reise. Aber den Hauptzweck haben wir erfüllt, meine Tochter mit den Kindern an den Ort ihrer Bestimmung gebracht. Das übrige wird ja auch gut gehen.

Es tut mir leid, daß Sie diesen Brief mit einiger Verspätung erhalten werden. Ich kann ihn nicht anders als über Berlin gehen lassen, es ist zu weitläufig, Ihnen das zu erklären, es ist aber so. Schreiben Sie mir auf die gewöhnliche Weise. Ihr H.

 

 

London, Juni 1828.

 

Z

u Ihrer gänzlichen Beruhigung noch etwas über meinen Gesundheitszustand. Ich begreife nicht recht, was Sie, liebe Charlotte, deshalb besorgt gemacht hat. Daß ich älter geworden bin, seit wir uns in Frankfurt sahen, liegt in der Natur und dürfte Sie nicht wundern. Ich bin bis auf diesen Tag auf der ganzen Reise durch meinen Körper an nichts gehindert worden. Mein Körper fügt sich ohne irgendeine Unbequemlichkeit in alle abweichenden Lebensweisen. Man ißt hier nie vor halb acht Uhr zu Mittag, es wird aber oft auch acht und bisweilen neun Uhr. Ich frühstücke, da man hier im Hause spät aufsteht, um halb zehn Uhr, und nur Kaffee, ohne dazu zu essen, und dazwischen und dem Mittagessen nehme ich nichts. Sie brauchen also gewiß nicht besorgt meinetwegen zu sein.

Unser Aufenthalt hier nähert sich seinem Ende. Wir schiffen uns zwischen dem 10. und 15. Juli wieder ein. Es tut mir sehr leid, nicht länger bleiben zu können, aber mehrere zusammentreffende Umstände, vor allem unsere Badereise und die Notwendigkeit, den 15. August in Gastein zu sein, erlauben es nicht. Sonst fehlt es hier nicht an interessanten Gegenständen, um eine viel längere Zeit sich angenehm zu beschäftigen. Es gibt eine große Menge der schönsten und merkwürdigsten Kunstsachen hier, ein unglaublicher Reichtum von Statuen und Gemälden, auch in Privathäusern, die einzeln auszusuchen viel Zeit fordern. In Paris ist das viel leichter, da man alles an wenig Orten beisammen findet. Außerdem ist auch sehr viel für Wissenschaften und Sprachen zu tun, vorzüglich für die letzteren, da hier aus allen Weltteilen Menschen zusammenkommen. Endlich ist jetzt gerade die Zeit der meisten Gesellschaften, so daß man ohne Ende mittags und abends ausgebeten ist.

 

 

Den 16. Juli.

 

I

ch reise übermorgen von hier ab und gehe wieder über Paris, wo ich mich aber nur acht Tage aufhalten werde. Dann gehe ich nach Gastein und mache vielleicht nur noch einen Aufenthalt in München, wenn der König gerade dort sein sollte, da ich diesen wieder zu sehen wünsche. Ich bin mit meinem Aufenthalte hier sehr zufrieden und nehme wenigstens die Beruhigung mit hinweg, liebe Charlotte, ihn so gut benutzt zu haben, wie es unter den Umständen nur immer möglich war. Ich habe keine Sache ganz versäumt, und diejenigen, welche ein besonderes Interesse für mich hatten, habe ich vollkommen erschöpft. Auch sind wir alle vollkommen wohl. Die Gesundheit meiner Frau hat sich sogar verbessert. Sie ist garnicht in Gesellschaft gegangen, da man hier immer erst um halb acht Uhr und oft später zu Mittag ißt und also die Abend-Gesellschaften nicht vor elf Uhr angehen. Aber sie hat alles gesehen, was Interesse für sie hatte. Das Parlament geht jetzt zu Ende, und die Leute fangen schon an, aufs Land zu gehen, wo sie nun bis zum März künftigen Jahres bleiben. Denn man richtet sich hier nicht nach der Jahreszeit, sondern einzig nach den öffentlichen Geschäften. Auch macht die Jagd, daß jeder gern den ganzen späten Herbst über auf dem Lande bleibt. London wird dann sehr leer, und es gibt dann fast keine Gesellschaften mehr. Die keine Landsitze haben, schämen sich dessen ordentlich und verhängen wohl gar ihre Fenster gegen die Straße, um die Leute glauben zu machen, daß sie auf dem Lande sind. Das Landleben ist aber größtenteils nur ein Verpflanzen der Gesellschaft von der Stadt aufs Land. Dort hat jeder Besitzer eine Menge von Besuchen und macht Einladungen auf mehrere Tage. Auch sind die Engländer auf dem Lande offener und mitteilender als im Getümmel der Geschäfte und den Zerstreuungen der Stadt.

Dem Gottesdienste habe ich hier mit meiner Frau einigemal beigewohnt, er ist mir aber weniger erbaulich erschienen als bei uns. Es werden wohl zwei volle Stunden, ehe die Predigt angeht, mit Ablesen von Stücken aus der Bibel, Hersagen des Glaubens usw. zugebracht. Bei diesem Ablesen wiederholen diejenigen, welche dem Altar am nächsten sind, vorzüglich die Kinder, welche in der Religion unterrichtet werden, die letzten Worte jedes Verses. Dieses hat natürlich etwas sehr Einförmiges und ist auf die Länge wahrhaft ermüdend. Gesang der Gemeinde ist sehr wenig und ebensowenig Orgelspiel, nur kurz und bald wieder abbrechend fallen Gesang und Orgel ein. Die Predigt ist ebenfalls kurz, etwa eine halbe Stunde. Die wir hörten, war äußerst kalt und durchaus nicht, was man erbaulich nennen kann. Wie man mir sagt, ist dies der Ton und die Art der meisten Prediger hier. Dann hat noch das Äußere etwas sehr Störendes. Nur eine Reihe Bänke, etwa der vierte Teil der Kirche, ist für jedermann frei. Die anderen sind verschlossen, gehören aber nicht einzelnen Personen, wie bei uns eigentümlich, wenigstens nicht alle. Nun stehen, wenigstens bis die Predigt angeht, zwei Frauen mitten in der Kirche, mit dem Gesicht gegen die Tür gewandt. Diese weisen jedem, der kommt und es wünscht, einen Platz in verschlossenen Bänken an und empfangen dann, wenn sie die Leute wieder herauslassen, ein kleines Geschenk. Ob sie dies ganz behalten oder etwas davon abgeben, weiß ich nicht. Immer aber ist es widrig, den größten Teil des Gottesdienstes über zwei Personen ohne alle Aufmerksamkeit darauf und mit etwas ganz Weltlichem beschäftigt zu sehen. Freilich ist das Herumgehen mit dem Klingelbeutel bei uns etwas noch mehr Störendes. Indes ist es auch in mehreren Kirchen, wenigstens im Preußischen, abgeschafft.

Etwas ganz Neues für mich waren die Zusammenkünfte der Quäker. Ich hatte, wie ich sonst hier war, sie zu sehen versäumt. Jetzt bin ich in einer gewesen. Der Saal war vor einigen Jahren angebaut, sehr bequem und reinlich, aber ohne alle, auch die geringste Verzierung oder Ausschmückung. Das Licht fiel von oben ein, und weiter hatte der Saal keine Fenster. Die Versammlung war sehr zahlreich, die Männer auf einer Seite, die Frauen auf der anderen. Die Quäker haben, wie Sie gewiß wissen, keine Prediger. Wer Mut und inneren Beruf in sich fühlt zu reden, der steht auf und tut es. Sonst herrscht in der Versammlung eine Totenstille. Wer spricht, tut das entweder von der Stelle aus, wo er ist, oder geht auf einen etwas erhöhten Platz, auf dem aber mehrere zugleich stehen können und der garnicht einer Kanzel gleicht. Als wir darin waren, war es die zwei Stunden, die die Versammlung dauerte, fast ohne alle Unterbrechung still. Indes sprach doch ein Mann und zwei Frauen. Sie sagten nur einzelne, aber selbst, und wie es schien, im Augenblick gemachte Gebete, von ganz kurzen Betrachtungen begleitet. Was sie aber sprachen, war in sich sehr gut, von vielen Sprüchen aus der Bibel begleitet und mit großer Innigkeit und Herzlichkeit vorgetragen. Erst am Ende meines Briefes sage ich Ihnen, liebe Charlotte, meinen herzlichsten Dank für den Ihrigen, den ich zu seiner Zeit richtig empfangen habe, und der wie alle so viel Freundschaftliches, Gutes und Liebes enthält. Sie können unausgesetzt fest überzeugt sein, daß diese Gesinnungen für mich den größten Wert haben und immer behalten werden.

Leben Sie nun herzlich wohl und erhalten mir Ihre liebevollen Gesinnungen, ich verbleibe mit denselben Ihnen wohlbekannten unveränderlich Ihr H.

 

 

Salzburg, den 14. August 1828.

 

I

ch schreibe Ihnen wieder aus Deutschland, liebe Charlotte, und aus der Gegend, die man wohl die schönste von Deutschland nennen kann. Wenigstens kenne ich keine, die man als schöner rühmen könnte. Die Lage ist wirklich prachtvoll, eine lachende, fruchtbare Ebene, von der man überall die Ansicht majestätischer Gebirge hat und in der selbst einige wie hingeschleuderte Felsenpartien liegen. Diese sind wirklich merkwürdig, und ich sah nirgends sonst ähnliche dieser Art. Es sind nicht einzelne Felsstücke bloß, noch weniger einzelne gipfelige Berge, sondern hohe, lange und verhältnismäßig schmale Felsmassen, die auf ihrer Oberfläche eine mit fruchtbarer Erde bedeckte, mit Gärten und Häusern geschmückte Ebene bilden.

Unsere Reise von London bis hierher war sehr glücklich, nur hat das Wetter uns garnicht begünstigt. Bloß einzelne heitere und sonnige Tage, sonst meistenteils Sturm und Regen. Kam ein schöner Tag, so war er gleich von so schwüler Hitze und so stechender Sonne, daß sich ein Gewitter zusammenzog und wieder Kühle und Regen herbeiführte. In London, Paris und Deutschland war dasselbe unerfreuliche Wetter. Indes ist das nun vorüber, und meine Wünsche gehen nur dahin, daß es besser mit dem Wetter während des Gasteiner Badeaufenthalts sei. In der Mitte hoher Gebirge und auf einem so hohen Standpunkte, wo das Haus, in dem man wohnt, wenigstens so hoch als der Gipfel des Brocken liegt, sind milde Sonne und liebliche warme Luft mehr als bloß angenehme Zugaben zum Dasein. Unsere Überfahrt von London nach Calais war wieder sehr glücklich, nur ging die See sehr hoch, und so machte das Schwanken des Schiffs viele Kranke. Ich litt keinen Augenblick, sondern ergötzte mich eher am Schaukeln. In Paris verlebte ich noch eine sehr angenehme Woche. Ich würde recht gern einmal ein ganzes Jahr dort zubringen, und da meine Frau den Aufenthalt dort auch liebt, so richte ich es vielleicht einmal so ein. Der Weg durch das südliche Deutschland über Straßburg ist sehr schön und bequem, und wenn wir fortfahren, Gastein zu besuchen, so ließe es sich sehr gut machen, nach dem geendigten Badeaufenthalte eines Jahres nach Paris zu gehen und zu dem des folgenden Jahres von da zurückzukehren. Doch kommt zwischen solche Pläne leicht vieles – und so ist es bis jetzt mehr Idee als Plan. In Straßburg ist eine sehr hübsche Mischung von französischer und deutscher Art. Die Natur ist deutsch in Gegend und Menschen. Das wird man gewahr, wie man den Elsaß von dem schönen Bergrücken von Zabern übersieht. Es ist einer der schönsten Anblicke, die man haben kann. Lieblich geformte Hügel und Berge, schön mit Gebüsch und Wald bekränzt, und auf den Gipfeln mehrere Gemäuer alter Burgen, ganz wie man sie so oft in Deutschland sieht, wie sie aber Frankreich gänzlich fremd sind. Die Physiognomien bieten auch ganz deutsche Gesichtszüge dar, und ebenso ist auch das Benehmen der Menschen im ganzen. Damit ist nun das französische Wesen verbunden und gleichsam darauf gepfropft. Ich finde diese Mischung interessant und angenehm zugleich. Von einer anderen Seite betrachtet, könnte man auch vielleicht anders darüber urteilen, und gerade über die Vermischung das Verdammungsurteil aussprechen. Denn es ist freilich nun weder echte Deutschheit, noch wahres französisches Wesen in ihnen. Das fühlt sich am meisten in der Sprache. Sie sind wohl aus dem einen heraus, aber nicht völlig ins andere hinein gekommen. Nach dem Elsaß und wohl noch mehr ist Schwaben ein liebliches Land, in den Gegenden wie den Menschen. Wenn die Schwaben wie zu einem Sprichwort in Deutschland geworden sind, so ist das einer Art Naivetät zuzuschreiben, die der spöttisch Urteilende leicht von einer lächerlichen Seite als Einfalt darstellen kann. Mehr und bös ist's auch wohl mit dem Spottnamen nicht gemeint. An sich sind die Schwaben vielleicht die lebhafteste, leicht beweglichste und phantasiereichste unter den deutschen Völkerschaften.

Es freut mich, daß Sie sich fortwährend gern mit dem Sternenhimmel beschäftigen, wie ich es beklage, daß mein Auge nicht mehr dafür ausreicht. Ich gebe sehr ungern einen Genuß auf, der mich so oft gestärkt und erhoben hat, und eines Glases bediene ich mich nicht gern. Schreiben Sie mir, liebe Charlotte, den 2. September nach Bad Gastein über Salzburg, nachher nach Berlin.

Leben Sie recht wohl, mit dem lebhaftesten Anteil der Ihrige. H.

 

 

Bad Gastein, den 14. September.

 

E

in einfach ruhig zufriedenes Stilleben, wie Sie es genießen und sich nach Ihrer Neigung geschaffen haben, ist eigentlich das Höchste, was der Mensch besitzen kann. Es ist meiner innersten Empfindung nach nicht nur dem nach außenhin mannigfach bewegten Leben vorzuziehen, sondern auch wirklicher innerer, aber nur augenblicklich erscheinender Freude wenigstens gleichzusetzen. Die Stille und Ruhe gönnen dem inneren Sein eine tiefere Macht und ein freieres Walten, und es ist immer, meiner aus langer Erfahrung geschöpften Überzeugung nach, besser, wenn das Innere nach außen, als wenn umgekehrt das Äußere nach innen strömt. Es scheint zwar wohl, als könnte sich das Innere nur von außenher bereichern und befruchten; allein dies ist ein trügerischer Schein. Was nicht im Menschen ist, kommt auch nicht von außen in ihn hinein; was von außen in ihn eingeht, ist nichts als ein zufälliger Anhalt, an dem sich das Innere, aber immer aus seiner nur ihm angehörenden eigentümlichen Fülle entwickelt. So wie ein tiefer und reicher Gehalt inwendig vorhanden ist, so kommt es niemals so viel auf den äußeren Anlaß der Entwicklung an. Jeder, auch der kleinste, ist hinreichend, da hingegen bei mangelndem inneren Gehalt auch der reichlichste äußere Zufluß wenig oder nichts hervorbringen würde. Ich habe dies oft in Absicht von wissenschaftlichen Kunstkenntnissen gesehen. Bei Männern ist weniger zu bemerken, da sie diese Kenntnisse sehr oft wieder nur zu äußeren Zwecken anwenden und man weiter nun nichts gewahr wird, oder danach fragt, wie dieselben auf ihr Inneres gewirkt haben. Aber bei Frauen ist das anders, und da sind mir mehrere vorgekommen, die wirklich recht viele und in gewisser Art sogar gelehrte Kenntnisse hatten, aber in ihrem Geist und Gemüte, also in ihrem ganzen Innern darum nicht mehr gebildet, wenigstens nicht mehr bereichert waren, als wenn ihnen das alles gefehlt hätte. So sehr kommt es darauf an, daß das Innere dem äußeren Objekt, welches es in sich aufnimmt, auch selbständig entgegenwirke....

Wir reisen den 17. d. M. von hier, halten uns aber, wenn nichts dazwischen kommt, noch einige Tage in Franken auf. Es ist daher wahrscheinlich, daß wir erst im Anfang Oktober nach Berlin und Tegel zurückkommen. Schreiben Sie mir nach Berlin wie gewöhnlich. So werden alsdann die sechs Monate abgelaufen sein, wo ich einen so wechselnden Aufenthalt gehabt habe. Leben Sie recht wohl und rechnen Sie fortdauernd mit Gewißheit auf meine unveränderliche Teilnahme. Ganz der Ihrige. H.

 

 

Tegel, den 16. Oktober 1828.

 

E

s mag wohl ein Jahr her sein, daß ich Ihnen, liebe Charlotte, nicht von hier aus schrieb. Ich freue mich aber desto mehr, es heute zu tun, und danke Ihnen recht herzlich, daß Sie mich in Ihrem lieben Brief, den ich hier fand, so herzlich beglückwünschen zu der Heimkehr in die schöne, liebliche Heimat. Ja, liebe Charlotte, Sie haben recht, darin eine eigene Freude zu sehen, und es erhöht in der Tat die meinige, daß Sie dieselbe so liebevoll mitempfinden.

Es freut mich sehr, daß fortwährend die Sterne Ihnen eine wohltuende, erheiternde Beschäftigung gewähren, um so mehr, da Sie mir sagen, daß Sie doch oft in einer mehr als wehmütigen Stimmung sich befinden.

Am Himmel werden Sie sich bald orientieren, da Sie einen schönen und weiten Horizont von allen Seiten haben und in Ihren Beobachtungen fortfahren. Außer dem Buche von Bode, das ich Ihnen einmal empfohlen habe, kann ich Ihnen für das Erkennen der Sterne einen Rat geben, der Ihnen gewiß nützlich sein wird. Man muß nämlich den Himmel nach einer gewissen Methode durchgehen und sich große Abteilungen machen. Zuerst müssen Sie suchen, die Sterne recht genau und fest zu erkennen, die bei uns niemals untergehen und nur vor der Helligkeit des Tages verschwinden, sonst aber ihren ganzen täglichen Kreis vor unseren Augen vollenden würden. Sie stehen bekanntlich nur, wie Sie wissen, im Norden und drehen sich um den Polarstern und die beiden Bären herum und sind leicht zu erkennen, da man sie an jedem sternenhellen Abend sieht, und sie zu denselben Stunden in allen Jahreszeiten dieselbe Stelle haben. Zu diesen gehört auch die Capella, deren Sie erwähnen. Zweitens müssen Sie die zwölf Sternbilder des Tierkreises aufsuchen. Man sieht in jeder Jahreszeit immer nur sechs auf einmal am Himmel. Bliebe man eine ganze Nacht auf, so gehen natürlich einige unter und andere kommen herauf. Allein einige werden dann immer vom Tage überholt. Wenn man nur eins recht fest kennt, sind die andern sehr leicht zu finden, da sie wie in einem großen Gürtel um den Himmel herumliegen, man also die Richtung, in der man suchen muß, nicht verfehlen kann, wenn man sich vorher mit der Ordnung und Folgenreihe, vor- und rückwärts, recht bekannt gemacht hat. Die im Winter, im Januar und Dezember, so zwischen sieben und neun Uhr erscheinen, sind schöner als diejenigen, die man zu gleicher Zeit im Sommer sieht. Der Löwe ist ein sehr schönes Gestirn, ist aber jetzt erst in späten Stunden sichtbar. Die Planeten erscheinen immer nur in demselben Gürtel und können diejenigen, die noch nicht recht geübt sind, manchmal sehr irre machen. Allein man lernt sie doch auch bald unterscheiden; kennt man einmal recht fest die nie untergehenden nördlichen Gestirne und die Tierkreiszeichen, so ist es dann leicht, sich für die noch übrigen Gestirne zurechtzufinden. Denn nun macht man sich mit denen bekannt, die zwischen dem Tierkreis und den nie untergehenden Gestirnen, und dann mit denen, die zwischen dem Tierkreis und dem südlichen Horizont auf- und untergehen. Bodes Anleitung zur Kenntnis des gestirnten Himmels hat das Angenehme, daß sie Karten für jeden Monat enthält, auf denen man natürlich die Sterne leichter findet, da jede Karte genau so ist, als der Himmel zu einer dabei angegebenen Stunde an dem Tage, oder wenigstens in dem Monat gerade ist.

Sie sagen sehr richtig, daß das Betrachten des gestirnten Himmels von der Erde abzieht und die Seele mit höheren Ahnungen, Sehnen und Hoffen erfülle, tröste und erhebe. Das tut es im höchsten Grade. Wenn man diese unendliche, unzählige Menge von Gestirnen betrachtet und bedenkt, so scheint es zwar ein ordentlich schaudernder Gedanke, daß eine so ungeheure Menge im Weltall herumschwimmt. Der Mensch fühlt sich darin gleichsam wie erdrückt. Allein die Ordnung und Harmonie, in denen alle Bewegungen vor sich gehen und alle Zeiten hindurch vor sich gegangen sind, ist ein wohltätiges, tröstendes Zeichen einer höheren Macht, einer geistigen Herrschaft, die wieder beruhigt und die Besorgnis tröstend aufhebt. Mit unveränderlicher Teilnahme Ihr H.

 

 

Berlin, den 16. November 1828.

 

S

ie klagen auch darüber, liebe Charlotte, daß es oft ist, als könne man im Schreiben garnicht fort; Augen, Hand und Feder sind wie im Bündnis gegen alles Gelingen der Handschrift. Man gibt sich Mühe, nimmt sich vor, recht langsam zu schreiben, damit es nur deutlich werde, aber alle Vorsätze scheitern, und es ist närrisch, daß man dann immer kleiner und kleiner schreibt. Mir geht es oft so, als ob ich gar keine großen Buchstaben machen könnte, und ich denke dann, wieviel Nachsicht Sie und alle haben müssen, die mich lesen wollen. Wirklich war Ihr letzter Brief auch weniger hübsch und gut, als Sie sonst tun, geschrieben. Die Handschrift war nicht undeutlich, aber man sah ihr die Beschwerde an.

Aber mit mehr Bedauern habe ich gesehen, daß Sie sehr bekümmert und sorgenvoll waren. In solchen Gemütszuständen, liebe Freundin, muß man immer die äußeren Veranlassungen scheiden von der inneren Anlage des Gemüts zu Heiterkeit und Ruhe, oder zu Besorgnis und Schmerz. Das Innere ist immer das Mächtigste. Auch wahres, selbst erschütterndes Unglück wird leichter und schwerer aufgenommen, je nachdem die Seele schon von lichteren und düsteren Ideen erfüllt ist. Bei Ihnen scheint mir das gerade jetzt noch mehr der Fall, und da bitte ich Sie inständig, dem entgegen zu arbeiten. Ich rechne es schon zu diesen dunklen Stimmungen, daß Sie, ohne doch krank zu sein, bald zu sterben glauben. Sie sagen zwar, und gewiß mit voller Wahrheit, daß Ihnen gerade die Todesgedanken freudige und Ihrer Neigung zusagende sind, und niemand kann dies besser begreifen als ich. Ich habe nie die mindeste Furcht vor dem Tode gehabt, er wäre mir in jedem Augenblick willkommen. Ich sehe ihn als das an, was er ist, die natürliche Entwickelung des Lebens, einen der Punkte, wo das unter gewissen endlichen Bedingungen geläuterte und schon gehobene menschliche Dasein in andere, befriedigendere und erhellendere gelangen soll. Was menschlich ist, in dem Ausbildungsgange des Lebens liegt, was alle Menschen miteinander teilen, das kann der irgend Weise nicht fürchten, er muß es vielmehr begünstigen und lieben, gleichsam mit Wißbegierde, so lange die Besinnung ihm beiwohnt, auf den Übergang achten, versuchen, wie lange er das fliehende Hier noch zu halten vermag. Ich hörte bisweilen sagen, der Tod müsse gewiß von einem wohltätigen und angenehmen Gefühl begleitet sein, und das ist mir selbst, wenn auch manchmal das Gegenteil stattzufinden scheint, glaublich. Die Schmerzen pflegen zu weichen, alle Unruhe sich zu legen, und fast immer haben Tote, ehe die Züge entstellt und verzogen werden, etwas Ruhiges, Friedliches, selbst oft etwas Erhebendes und Verklärtes. Bei alledem muß man es doch eine düstere Gemütsstimmung nennen, wenn man sich dem Tode nahe glaubt. Der Tod ist immer ein Ausscheiden aus aller bekannten Heimat, ein Gehen ins Neue und Fremde. So trafen äußere unerwünschte Umstände schon bei Ihnen auf ein wenigstens sehr ernst bewegtes Gemüt. Suchen Sie, teure Charlotte, denn auch hier da die Heilmittel, wo Sie sie schon oft fanden, in Ihrem Innern, in Ihrem Gottvertrauen, was Sie nie im Stich ließ. Es wird Sie aufs neue retten, und Trost und Hilfe erscheinen, wenn Sie sie auch noch nicht sehen. Immer schütten Sie Ihr beklommenes Herz mir aus, immer werden Sie dieselbe Teilnahme in mir finden, die keiner Veränderung fähig ist. Ganz der Ihrige. H.

 

 

Den 16. Dezember 1828.

 

E

s wird mich sehr freuen, eine Fortsetzung Ihrer Lebenserzählung zu bekommen. Sie wissen, daß ich auch an Ihrem vergangenen Leben einen warmen und innigen Anteil nehme, und daß außerdem schon jede recht individuelle Schilderung für mich einen hohen Reiz hat, der mich anzieht und verweilen läßt. Ich fühle aber sehr gut, daß eine solche Schilderung aufzusetzen und aus den Händen zu geben, eine große und schwer zu überwindende Schwierigkeit hat. Es kommen doch im Leben der Menschen immer Dinge vor, die gerade in den besten und feingesinntesten Gemütern eine gewisse Scheu, sie auszusprechen, hervorbringen. Ich meine damit garnicht solche, die man sich gleichsam zu gestehen scheute, weil man fürchtet, deshalb ungünstig beurteilt zu werden. O nein, es gibt Dinge, die garnicht dieser, sondern ganz entgegengesetzter Natur sind, und deren man sich eher rühmen könnte, die aberdoch ein gewisses Zartgefühl über die Lippen gehen zu lassen und gar durch die Feder dem Papier anzuvertrauen verbietet oder schwer macht. Es kommen auch Dinge vor, die andere in ein nachteiliges Licht stellen, und die man also, wie sehr es auch ihre Urheber verdient haben möchten, ungern ans Licht bringt. So wie man aber von dem Grundsatz abgeht, bei einer Lebenserzählung nur bloß und einfach die Erinnerungen seines Gedächtnisses abzuschreiben und gänzlich darauf Verzicht zu leisten, zu beurteilen, was wohl gesagt werden kann, und was verschwiegen oder verhüllt werden muß, so ist der Reiz einer wahren Naturschilderung dahin. Es ist nicht die einfache, nicht die vollständige, und mithin nicht die wahre Geschichte. Es ist keine Erzählung der Vergangenheit, sondern eine aus dem Standpunkt des späteren Lebens gemachte Beschreibung derselben. Man glaubt wohl, die moralische und geistige Wahrheit, um die es eigentlich zu tun sei, verliere nichts, wenn man zwar hier und da eine Tatsache nur halb oder allgemein erzählt, allein ganz treu und wahr die Wirkung schildert, die diese Tatsache auf die Empfindung und das Gemüt hervorgebracht habe. Wenn z. B. jemanden ein verletzendes Wort gesagt worden sei, so komme es nicht darauf an, dies selbst zu wiederholen. Man könne es vielmehr ganz füglich verschweigen, wenn man nur den Eindruck des Wortes auf den, der es hören mußte, beschreibt. Dies ist aber durchaus falsch. Denn es hört nun aller Maßstab der ganzen Szene auf, den der Art und dem Grade nach bloß das Wort selbst, einfach ausgesprochen, geben kann. Ich sage Ihnen das so ausführlich, weil ich mit Ihnen recht offenherzig und nicht bloß obenhin über die Fortsetzung Ihrer Lebenserzählung sprechen möchte. Ich kann Ihnen nicht raten, dieselbe weiter als zu dem Punkte fortzusetzen, wo Sie sicher sind, alles und jedes, wie es Ihnen Ihr Gedächtnis gibt, ohne die mindeste und leiseste Retizenz niederzuschreiben. Dies war in dem Teile, den Sie mir bis jetzt schickten, nicht nur möglich, sondern Ihnen nach Ihrem Charakter selbst leicht, und ich bin sicher, daß Sie in diesem so gehandelt haben. Sie konnten es, ohne irgendein eigenes oder fremdes Gefühl zu verletzen. Es ist möglich, daß dies auch ferner der Fall sei, allein ich kann mir auch sehr gut das Gegenteil denken. Dann würde ich es ganz natürlich finden, daß Sie den Schmerz der Erinnerung scheuen und vernarbte Wunden nicht aufreißen wollen; mir aber würde durch den Gedanken eines solchen mir gebrachten Opfers alle Freude genommen, die mir bisher durch den Empfang jedes Ihrer Hefte geworden. Wenn von Biographie die Rede ist, habe ich nun einmal den Begriff nur von historischer Wahrheit, von dem ich, bei dem großen und innigen Anteil, den ich an Ihnen nehme, auch mit dem besten Willen nicht abgehen könnte. An sich aber halte ich es für gut und heilsam, sein eigenes Leben so buchstäblich durchzugehen, und das Zartgefühl, das Retizenzen hervorbringt, für ein falsches, obgleich unendlich natürliches und daher verzeihliches. Indes mißtraue ich hier meinem eigenen Gefühle, da ich bei weitem mehr ein glückliches Leben, in einer ganz genügenden Lage, geführt habe; man könnte dann leicht dahin kommen, den unrichtigen Maßstab an andere zu legen, wovor ich mich immer gehütet habe. Noch einmal also, liebe Charlotte, wiederhole ich das schon oft Gesagte, folgen Sie Ihrem Gefühl; leidet dies nicht bei der Arbeit, so rechnen Sie immer mit Gewißheit darauf, daß Sie mir eine große Freude dadurch machen, aber nur auch unter der Bedingung, daß Sie ganz und ohne alle Retizenz wahr schreiben können. Sie können zu mir auch, wie man im Sprichwort sagt, wie in ein Grab sprechen. Ihre Hefte liegen wohlverwahrt in meinem Pult und können nach meinem Tode nur ins Feuer, ungelesen, gehen. In meiner Lage habe ich Gelegenheiten, dies zu veranstalten, die durch keinen Zufall irgendeiner Art vereitelt oder umgangen werden können. Ich halte es für Pflicht, Sie über diesen Punkt auch fest zu beruhigen, es ist schon Pflicht der Dankbarkeit für die vertrauensvolle, innige, rücksichtslose Hingabe, die Sie mir seit einer langen Reihe von Jahren bewiesen und offen gezeigt haben.

Das Jahr ist am Abscheiden, und wie ich gern verweile bei so viel schönen Genüssen, die es gewährte, worunter ich auch Ihr Wiedersehen rechne, so scheide ich nicht ohne sehr trübe Ahnung dessen, was das kommende bringen kann – und ich erkenne mit wehem Gefühl, daß es ähnlich in Ihrem Gemüte ist. Möge die Vorsehung von Ihnen, gute Charlotte, neue Prüfung abwenden! Das ist mein herzlicher Wunsch.

Seit unserer Rückkunft ist meine Frau bedeutend an mehreren zusammenkommenden Übeln krank; es ist wenigstens kein Zeitpunkt der Besserung mit Wahrscheinlichkeit vorauszusehen. Dies stört meine innere Lage in diesem Winter sehr.

Ich bitte Sie, mir den 30. d. M zu schreiben. Leben Sie recht wohl und rechnen Sie immer auf meine Ihnen bekannten Gesinnungen der Zuneigung und lebhaften Teilnahme. Ganz der Ihrige. H.

 

 

Berlin, März 1829.

 

I

hr Brief hat mich in einer Zeit gefunden, die ich zu den traurigsten meines Lebens rechnen kann. Mit meiner Frau geht es zwar etwas leidlicher, allein der Zustand ist von einem Tage zum andern immer mehr von der Art, daß er über den endlichen Ausgang keinen Zweifel übrig läßt.

In solchen Momenten, die zu den ernstesten des Lebens gehören, bedarf man es, sich in sich zurückzuziehen und die Fassung da zu suchen, wo die Quelle aller Stärke und aller inneren Ausgleichung mit dem Schicksal ist.

 

 

Berlin, den 31. März 1829.

 

I

ch kann Ihnen, liebe Charlotte, heute nur wenige Zeilen schreiben. Ich habe den tiefen Schmerz erfahren, dem ich, wie Ihnen mein letzter Brief sagte, entgegensah. Meine Frau ist am 26. d. M. früh gestorben und gestern in Tegel beerdigt worden. Sie hatte ein viermonatiges Krankenlager erduldet und viel gelitten, wenn sie auch von heftigen Schmerzen ziemlich befreit blieb. Ihr klarer, heiterer, dem Tode und dem Leben eigentlich gleich zugekehrter Sinn war ihr unverrückt geblieben. Ihre letzten Stunden waren ruhig, sanft und durchaus schmerzlos. Sie behielt bis zum letzten Atemzug ihre volle Besinnung und sprach noch wenige Augenblicke vor ihrem Verscheiden mit fester, unbewegter Stimme mit uns, ihren beiden älteren Töchtern und mir. Ihre Worte waren eben so einfach, als der Ton ruhig, in dem sie sie sprach. Je näher der Augenblick des Todes kam, je ruhiger und friedlicher wurden ihre Züge. Auch nicht das leiseste Zucken der Lippen entstellte sie. Ihr Tod war ein allmähliches übergehen in einen tiefen Schlaf.

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Später.

 

I

ch habe einen ganz unerwarteten, neuen und sehr bitteren Verlust erlitten. Ein sehr genauer Freund von uns, der alle Abende seit Jahren, wenn wir in der Stadt waren, bei uns zubrachte und auf dem Lande oft bei uns war, ist nach einer sehr kurzen Krankheit gestorben. Er hatte noch mit mir am Grabe meiner Frau gestanden, und gestern war ich bei seinem Leichenbegängnisse. Sein Verlust betrübt mich sehr und ich werde ihn schmerzlich vermissen.

 

 

Berlin, den 18. Mai 1829.

 

U

nsere Briefe, liebe Charlotte, haben sich gekreuzt. Mein Brief wird Ihnen gezeigt haben, daß ich ihrem Wunsch, Nachricht von mir zu erhalten, zuvorgekommen bin. Und weil Sie es gern sehen, sage ich Ihnen zuerst, daß meine Gesundheit ganz gut ist. Im höheren Alter, wie ich mich darin befinde, hat man immer hie und da eine kleine Unbequemlichkeit und nach langen Wintern leicht Rheumatismen. An solchen Kleinigkeiten leide ich natürlich auch bisweilen, allein das geht vorüber. Wenn meine Briefe nichts von Krankheit sagen, können Sie mit Sicherheit annehmen, daß ich gesund bin. Von meinem Befinden und überhaupt von mir zu reden, ist mir im hohen Grade zuwider. Mich freut eine liebevolle Teilnahme, wenn ich, wie bei Ihnen, liebe Charlotte, überzeugt bin, daß sie aus aufrichtiger und wahrhaft teilnehmender Brust, aus innig teilnehmendem Herzen entspringt. Aber sie würde mir peinlich werden, wenn ich sie gewissermaßen in Anspruch nehmen, sie an einzelnen Beispielen wahrnehmen müßte. Sie ist mir ein schöner Genuß, wenn ich sie mit überhaupt als in den Gesinnungen liegend denke, die Sie mir seit so langer Zeit mit so großer Treue schenken, und auf deren Beständigkeit ich immer mit Sicherheit rechnen kann.

Ich schrieb Ihnen neulich von dem Tode eines vertrauten Freundes, in dem ich sehr viel verloren habe. Jetzt blühen nun schon Frühlingsblumen auf seinem Grabe, wie auf dem meiner Frau. So geht die Natur ihren ewigen Gang fort und kümmert sich nicht um des in ihrer Mitte vergänglichen Menschen. Mag auch das Schmerzhafteste und Zerreißendste begegnen, mag es sogar eine unmittelbare Folge ihrer eigenen, gewöhnlichen Umwandlungen oder ihrer außerordentlichen Revolutionen sein, sie verfolgt ihre Bahn mit eiserner Gleichgültigkeit, mit scheinbarer Gefühllosigkeit.

Diese Erscheinung hat, wenn man eben vom Schmerz über ein schon geschehenes Unglück oder von Furcht vor einem drohenden ergriffen ist, etwas wieder schmerzlich Ergreifendes, die innere Trauer Vermehrendes, etwas, das schaudern und starren macht. Aber so wie der Blick sich weiter wendet, so wie die Seele sich zu allgemeinen Betrachtungen sammelt, so wie also der Mensch zu der Besonnenheit und Ergebung zurückkehrt, die seiner wahrhaft würdig sind, dann ist gerade dieser ewige, wie an ihr Gesetz gefesselte Gang der Natur etwas unendlich Tröstendes und Beruhigendes. Es gibt dann doch auch hier schon etwas Festes, »einen ruhenden Pol in der Flucht der Erscheinungen«, wie es einmal in einem Schillerschen Gedichte sehr schön heißt. Der Mensch gehört zu einer großen, nie durch einzelnes gestörten noch störbaren Ordnung der Dinge, und da diese gewiß zu etwas Höherem und endlich zu einem Endpunkte führt, in dem alle Zweifel sich lösen, alle Schwierigkeiten sich ausgleichen, alle früher oft verwirrt und im Widerspruch klingenden Töne sich in einen mächtigen Einklang vereinigen, so muß auch er mit eben dieser Ordnung zu dem gleichen Punkte gelangen. Der Charakter, den die Natur an sich trägt, ist auch immer ein so zarter, kein auch die feinste Empfindung verletzender. Die Heiterkeit, die Freude, der Glanz, den sie über sich verbreitet, die Pracht und Herrlichkeit, in die sie sich kleidet, haben nie etwas Anmaßendes oder Zurückstoßendes. Wer auch noch so tief in Kummer oder Gram versenkt ist, überläßt sich doch gern den Gefühlen, welche die tausendfältigen Blüten des sich verjüngenden Jahres, das fröhliche Zwitschern der Vögel, das prachtvolle Glänzen aller Gegenstände in vollen Strahlen der immer mehr Stärke gewinnenden Sonne erwecken. Der Schmerz nimmt die Farbe der Wehmut an, in welcher eine gewisse Süßigkeit und Heiterkeit selbst ihm garnicht fremd sind. Sieht man endlich die Natur nicht wirklich als das All, als das die Geister- und Körperwelt vereinigende Ganze an, nimmt man sie nur als den Inbegriff der dem Schöpfer dienenden Materie und ihrer Kräfte, so gehört nicht der Mensch, sondern nur der Staub seiner irdischen Hülle ihr an. Er selbst, sein höheres und eigentümliches Wesen, tritt aus ihren Schranken heraus und gesellt sich einer höheren Ordnung der Dinge bei. Sie sehen hieraus ungefähr, wie mich der zwar langsam erscheinende, aber schöne Frühling ergreift, wie ich ihn genieße; wie er sich mit meinen innersten Empfindungen mischt. Es gibt Ihnen zugleich ein Bild meines Innern selbst. Mein Leben kann keine wahrhaft freudigen Eindrücke, nur wehmütige und traurige in diesem Augenblick erfahren, und wenn ich in diesem Augenblick sage, so tue ich das nur, weil ich nie gern etwas von der Zukunft sage, weil ich von aller Affektation immer frei gewesen bin, und, wenn eine wahrhaft fröhliche Stimmung in mich zurückkehrte, ich gar kein Hehl haben würde, es zu sagen, und kein Bedenken, mich ihr zu überlassen. Eigentlich glaube ich aber allerdings, daß meine jetzige Stimmung auch meine künftige sein wird. Ich habe nie begriffen, wie die Zeit einen Schmerz um einen Verlust soll verringern können. Das Entbehren dauert durch alle Zeit fort, und die Linderung könnte nur darin liegen, daß sich die Erinnerung an den Verlust schwächte, oder man sich gar im Gefühl des Alleinstehens enge an ein anderes Wesen anschlösse, was, hoffe ich, mir ewig fern bleiben wird, wie es jeder edeln Seele fern bleibt. Es ist mir aber auch sehr recht, daß es in mir bleibe so wie es ist. Ich habe für mich nie das Glück in freudigen, das Unglück nie in schmerzhaften Empfindungen gesucht, das, was die Menschen gewöhnlich Glück oder Unglück nennen, nie so angesehen, als hätte ich ein Recht zu klagen, wenn statt des Genusses des ersteren das letztere mich beträfe. Ich bin eine lange Reihe von Jahren an der Seite meiner Frau unendlich glücklich gewesen, größtenteils allein und ganz durch sie, und wenigstens so, daß sie und der Gedanke an sie sich in alles das mischte, was mich wahrhaft beglückte. Dies ganze Glück hat der Gang der Natur, die Fügung des Himmels mir entzogen, und auf immer und ohne Möglichkeit der Rückkehr entzogen. Aber die Erinnerung an die Verstorbene, das, was sie und das Leben mit ihr in mir gereift hat, kann mir kein Schicksal, ohne mich selbst zu zerstören, entreißen. Es gibt glücklicherweise etwas, das der Mensch festhalten kann, wenn er will, und über das kein Schicksal eine Macht hat. Kann ich mit dieser Erinnerung ungestört in Abgeschiedenheit und Einsamkeit fortleben, so klage ich nicht und bin nicht unglücklich. Denn man kann großen und tiefen Schmerz haben und sich doch darum nicht unglücklich fühlen, da man diesen Schmerz so mit dem eigensten Wesen verbunden empfindet, daß man ihn nicht trennen möchte von sich, sondern gerade, indem man ihn innerlich nährt und hegt, seine wahre Bestimmung erfüllt. Die Vergangenheit und die Erinnerung haben eine unendliche Kraft, und wenn auch schmerzliche Sehnsucht daraus quillt, sich ihnen hinzugeben, so liegt darin doch ein unaussprechlich süßer Genuß. Man schließt sich in Gedanken mit dem Gegenstande ab, den man geliebt hat und der nicht mehr ist, man kann sich in Freiheit und Ruhe überall nach außen hinwenden, hilfreich und tätig sein, aber für sich fordert man nichts, da man alles hat, alles in sich schließt, was die Brust noch zu fühlen vermag. Wenn man das verliert, was einem eigentlich das Prinzip des gedankenreichsten und schönsten Teils seiner selbst gewesen ist, so geht immer für einen eine neue Epoche des Lebens an. Das bis dahin Gelebte ist geschlossen, man kann es als ein Ganzes überschauen, in seinem Gemüt durch Erinnerung festhalten und mit ihm fortleben; Wünsche aber für die Zukunft hat man nicht mehr, und da man durch diese Erinnerung eine beständige geistige Nähe gewissermaßen genießt, in allen seinen Kräften sich gehoben empfindet, behält auch das Leben, das ja die Bedingung aller dieser Empfindungen ist, noch seinen Reiz. Ich empfinde keine Freude der Natur schwächer als sonst, nur die Menschen meide ich, weil die Einsamkeit mir inneres Bedürfnis ist.

 

 

Tegel, den 12. Juni 1829.

 

I

ch danke Ihnen sehr, liebe Freundin, für Ihren letzten Brief, den ich mit großem und gewohntem Anteil gelesen habe. Ich danke Ihnen besonders für das, was Sie in Rücksicht auf mich und meine Gefühle sagen. Sie sehen aus meinen Briefen, daß ich ruhig und besonnen bin. Ich lebe, und das kann nur mit jedem Jahr ausschließlicher zunehmen, im Andenken der Vergangenheit, mit dem Glück, das die Gegenwart nicht mehr gibt. In diesem Andenken bin ich reich, und insofern zufrieden, als ich fühle, daß dies gerade das Glück ist, das dieser Periode meines Lebens entspricht. Außer diesem Andenken suche ich nichts, sehe mich nicht in diesem Leben nach Ersatz, Trost, Beruhigung um. Ich fordere nichts und bedarf von dieser Seite nichts. Gegen meine Kinder bin ich wie sonst. Es hat sich nichts in meinen Gefühlen für sie geändert, als daß ich Mitleid mit ihrem Schmerz über den gleichen Verlust empfinde. Mich enger an sie anschließen, mehr für sie sorgen, kann ich nicht, da ich das immer so viel getan, als ich vermochte. Alle übrigen Verhältnisse bleiben mir gerade dasselbe, was sie mir gewesen sind, und ich bin gewiß nicht weniger teilnehmend, hilfreich, aufgelegt mit Rat und Tat beizustehen als früher. So, liebe Charlotte, müssen Sie sich mein Inneres denken, und Sie sehen, daß Sie auf keine Weise besorgt um mich zu sein brauchen. Was ich erfahren, liegt im natürlichen Laufe der Dinge. Die zusammen die Lebensbahn gehen, müssen sich an einem Punkt scheiden; es ist glücklicher, wenn die Zwischenzeit sehr kurz ist, in der sie einander folgen. Allein aller Verlust von Jahren ist kurz gegen die Ewigkeit. In mir geht nichts anderes vor, als daß mein Inneres sich ungekünstelt, unabsichtlich, ohne durch Vorsätze oder Maximen geleitet zu sein, bloß sich seinem Gefühl überlassend, mit der Lebens- oder Schicksalsperiode, wie Sie es nennen wollen, ins Gleichgewicht setze, in die ich unglücklicherweise früher getreten bin, als es der gewöhnliche Gang des Lebens erwarten ließ. An einem solchen Gleichgewicht darf es dem Menschen, meiner Empfindung nach, nie fehlen, das Streben danach sollte ihm wenigstens immer eigen sein. Es ist dies gar keine Klugheitsregel, kein Bemühen, sich heftige Empfindungen zu ersparen. Das Setzen ins Gleichgewicht wird oft nur dadurch erreicht, daß man viel Schmerz, physischen und moralischen, in sein Dasein mit aufnimmt, aber es besteht darin die wahre Demütigung unter die Fügung des Geschickes, die ich in mir immer als die erste und höchste Pflicht des Menschen betrachte. Gehe ich nun in meine gegenwärtige Lebensepoche zurück, so kann in ihr ein gewisses Anschließen an Personen und an die Welt nicht mehr liegen, aber das wohltätig aus sich Hinausgehen, die Geneigtheit, Anteil zu nehmen und in jeder möglichen Art zu geben, sind gewissermaßen in dem Grade größer, als man minder geneigt zum Empfangen, wenigstens die Seele garnicht gerade darauf gerichtet ist.

Es freut mich sehr, daß Sie nicht aufhören, sich mit den Sternen gern und anhaltend zu beschäftigen. Der Himmel und der Eindruck, den er auf das Gemüt durch seinen bloßen Anblick macht, ist so verschieden von der Erde in allen Gefühlen und Vorstellungen, daß, wer nur an der Natur des Erdbodens Gefallen findet, die Hälfte, und gerade die wichtigste Hälfte der ganzen Naturansicht entbehrt. Ich sage darum nicht, daß sich der Schöpfer größer, weiser oder gütiger am Firmament offenbart als auf der Oberfläche der Erde. Seine Macht, Weisheit und Güte leuchten aus jedem Wesen ebenso wie aus dem größten Weltkörper hervor. Allein der Himmel erweckt unmittelbar im Gemüt reinere, erhabenere, tiefer eindringende und uneigennützigere, weniger sinnliche Gefühle. Leben Sie recht wohl. Ich bleibe mit der unveränderlichsten Teilnahme und Freundschaft der Ihrige. H.

 

 

Tegel, Juli 1829.

 

D

aß ein Unglück das andere, aber auch ein Glück das andere nach sich zieht, ist zu einer sprichwörtlichen Redensart geworden, so daß ihm wohl eine gewisse Wahrheit zugrunde liegen muß, wenigstens eine hinreichende, um die Erscheinung zu einer Volkserfahrung in Masse zu machen. Eine genaue Untersuchung hält die Sache schwerlich aus. Gewiß kommen Glück und Unglück eben so oft einzeln. Durch ein sehr und tief das Gemüt ergreifendes Schicksal wird nur die Aufmerksamkeit mehr auf ähnliche Ereignisse gespannt, was ich für einen Hauptgrund halte. Wäre es anders und jene Gesellung gleicher und gleicher Schicksale wirklich in der Natur und der Natur der Sache gegründet, so müßte eine geheime Verbindung zwischen der inneren menschlichen Gemütsstimmung und dem äußeren menschlichen Geschicke bestehen und obwalten, eine schmerzliche Stimmung ein schmerzliches Geschick, eine freudige ein freudiges herbeiführen. Insofern ein weltlicher, menschlich zu begreifender, wenn auch in allen seinen einzelnen Fäden nicht zu erklärender Zusammenhang zwischen jenem Inneren und Äußeren möglich ist, glaube ich vollkommen daran, daß so eins das andere herbeiführt. Allein wo das, nach menschlicher Art zu reden, nicht einzusehen ist, da zweifle ich, daß der Schmerz wie durch eine geheimnisvolle Kraft, gleichsam wie ein geistiger Magnet, Stoff neuer Schmerzen an sich ziehe. Auch zerfällt die Sache in sich, da ja sonst auf ein einmal eingetretenes Unglück kaum je eine freudige Begebenheit folgen könnte, was doch durch die Erfahrung widerlegt wird. In gutgearteten Seelen ist ein wahrer Schmerz, was auch seine Ursache sein möge, immer ewig, und wenn man behauptet, daß die Zeit oder andere Umstände ihn minderten, so sind das Worte, die nur für die schwächliche Empfindung Geltung haben, die der gehörigen Kraft, das einmal Empfundene dauernd festzuhalten, ermangelt. Die glücklichsten Begebenheiten ändern darin nichts. Auch können in dem wunderbaren menschlichen Gemüt Schmerz und Empfindung eines in anderer Hinsicht glücklichen Daseins gleichzeitig nebeneinander fortleben. Der Schmerz um verlorene Kinder in glücklich, lange nachher fortgeführten Ehen ist ein lebendiges, sich oft erneuerndes Beispiel davon. Auch muß es so sein. Der Mensch muß beständig sein und das Schicksal wechselnd erscheinen. Denn in sich hat auch das Schicksal seine, wenngleich von uns nicht eingesehene und nicht erkannte Beständigkeit.

 

 

Bad Gastein, den 20. August 1829.

 

I

ch bin überzeugt, daß Sie mir, nach Ihrer gewöhnlichen Güte und Freundschaft und nach Ihrer so oft erprobten Pünktlichkeit, genau an dem Tage geschrieben haben, an dem ich Sie bat, Ihren Brief auf die Post zu geben. Dennoch habe ich noch keinen erhalten. Es liegt dies an dem so sehr langsamen Postenlauf. Bis Salzburg gehen die Briefe vermutlich ohne so großen Aufenthalt und bringen nur die der Weite des Wegs angemessene Zeit zu. Allein von da geht die Post nur zweimal wöchentlich hierher. Hat nun ein Brief das Unglück, gerade den Tag nach dem Abgange anzukommen, so bleibt er unbarmherzigerweise liegen. Es hat mir sehr leid getan zu denken, daß Sie auf diese Weise sehr lange ohne Brief von mir sein werden. Mein letzter war, soviel ich mich erinnere, vom 29. Juli, er muß also in den ersten Tagen dieses Monats in Ihren Händen gewesen sein. Der heutige aber kann erst kurz vor Ende August Sie erreichen.

Ich bin seit Sonntag, den 16. d. M., wieder in den bekannten Bergen und bewohne dieselben Zimmer wie in den vorigen Jahren. Es ist mir das ganz besonders lieb und eine angenehme Überraschung, welche mir der Zufall bereitet hat. Das Wetter war seit meiner Ankunft hier sehr günstig, nur einen Tag regnete es ununterbrochen mehrmals. Auf den noch garnicht weit entfernten, nur etwas höheren Bergen liegt freilich Schnee. Aber er glänzt freundlich im warmen Sonnenschein, und es hat auch etwas Erfreuliches, den Wechsel des Jahres so mit einem Blick zu übersehen. Die Sonne ist, wo sie trifft, sehr heiß und ordentlich brennend, da die Strahlen auch von den Felsen zurückprallen. Aber vor der Hitze darf man hier niemals bange sein. Die ganze Gegend ist schattig, die vielen großen und kleinen Wasserfälle wehen einem überall eine frische Kühlung zu, und man muß die Sonne, und wenn es nur irgend kühl ist, die warmen Stellen mit Mühe aufsuchen. Hat man aber eine gewisse, doch nur sehr mäßige Höhe erreicht, so befindet man sich in einem ganz ebenen, freien, sonnenbeschienenen, nur von sehr hohen Bergen umgebenen Tale. Dies ist mein gewöhnlicher Nachmittags-Spaziergang. Kurz vor Tisch pflege ich, doch nur bei heiterem und freundlichem Wetter, einen kürzeren auf die Gloriette zu machen. Ich habe Ihnen so oft von Gastein aus geschrieben, daß ich dieses Ortes gewiß schon gedacht und Ihnen die Lage geschildert habe. Ich will Sie daher nicht mit einer Wiederholung ermüden. Es ist dort eine höchst überraschende, theatralische, dekorationsartig malerische Aussicht, die aber des hellen Glanzes der Sonnenstrahlen auf den schneeweißen Wasserfall bedarf. Bei dunklem Wetter ist es ohne Anmut.

Ich bin in acht Tagen, also da die Entfernung doch von 110 Meilen ist, nicht gerade langsam hierher gereist.

Eine solche Reise hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Lesen eines geschichtlichen Buches. Wie in diesem eine Reihe von Zeiten, so durchläuft man reisend eine Reihe von Gegenden. In Absicht auf den Menschen, der doch in aller Weltbetrachtung immer der wichtigste, am meisten den Ernst und die Anstrengung der Beobachtung in Anspruch nehmende Gegenstand ist, trifft bei beiden Fällen der Umstand ein, daß der einzelne in einer gewissen Masse verschwindet, die individuelle Existenz keinen Wert zu haben scheint gegen die Bestimmung des größeren und kleineren Ganzen, zu dem sie gehört. Dagegen fühlt nun doch der Betrachter, der Lesende oder Reisende, ganz vorzugsweise sein Ich. Er kann auch mit größter Anspruchlosigkeit es sich nicht ableugnen, daß dies für ihn der Mittelpunkt aller Bestrebungen sein muß. Ich meine nicht, um sich äußere Güter, Genuß und Glück zu verschaffen, aber womit gerade oft das freiwillige Aufgeben alles Genusses und Glückes verbunden sein kann, um das Heil seiner Seele zu besorgen. Ich bediene mich mit Absicht dieses Ausdrucks, um keine Art auszuschließen, die der Mensch bei seiner geistigen Veredlung wählen kann. Denn er kann durch immer reichere und reinere Entwicklung seiner Ideen, durch immer angestrengtere Bearbeitung seines Charakters, sich zu einer höheren Stufe der Geistigkeit erheben, oder zu der gleichen auf dem kürzeren Wege stiller Gottseligkeit gelangen.

Wenn man die Welt weltlich betrachtet, so tritt vor zwei sich aufdrängenden gewaltigen Massen das Individuum ganz in den Schatten zurück oder wird vielmehr in einem großen Strome fortgerissen. Dieser Eindruck entsteht nämlich, wenn man den Zusammenhang der Weltbegebenheiten und wenn man den Wechsel des sich auf der Erde ewig erneuernden Lebens ins Auge faßt. Was ist der einzelne in dem Strome der Weltbegebenheiten? Er verschwindet darin nicht bloß wie ein Atom gegen eine unermeßliche, alles mit sich fortreißende Kraft, sondern auch in einem höheren, edleren Sinne. Denn dieser Strom wälzt sich doch nicht, einem blinden Zufall hingegeben, gedankenlos fort, er eilt doch einem Ziele zu, und sein Gang wird von allmächtiger und allweiser Hand geführt. Allein der einzelne erlebt das Ziel nicht, das erreicht werden soll, er genießt, wie ihn der Zufall, worunter ich nur hier eine in ihren Gründen nicht erforschbare Fügung verstehe, in die Welt wirft, einen größeren oder kleineren Teil des schon in der Tat erreichten Zweckes, wird dem noch zu erreichenden oft hingeopfert und muß das ihm dabei angewiesene Werk oft plötzlich und in der Mitte der Arbeit verlassen. Er ist also nur Werkzeug und scheint nicht einmal ein wichtiges, da, wenn der Lauf der Natur ihn hinwegrafft, er immer auf der Stelle ersetzt wird, weil es ganz widersinnig zu denken wäre, daß die große Absicht der Gottheit mit den Weltbegebenheiten durch Schicksale schwacher einzelner auch nur um eine Minute könnte verspätet werden. In den Weltbegebenheiten handelt es sich um ein Ziel, es wird eine Idee verfolgt, man kann es sich wenigstens, ja man muß es sich so denken. Im Laufe der körperlichen Natur ist das anders. Man kann da nichts anderes sagen, als daß Kräfte entstehen und so lange auslaufen, als ihr Vermögen dauert. So lange man bei einzelnen stehen bleibt, scheint darin ein Mensch gar sehr von anderen verschieden, verschieden an Tätigkeit, Gesundheit und Lebensdauer. Sieht man aber auf eine Masse von Geschlechtern, so gleicht sich das alles aus. In jedem Jahrhundert erneuert sich das Menschengeschlecht etwa dreimal, von jedem Lebensalter stirbt in einer gewissen Reihe von Jahren eine gleiche Zahl. Kurz, es ist deutlich zu sehen, daß eine nur auf die Masse, auf das ganze Geschlecht, nicht auf den einzelnen berechnete Einrichtung vorherrscht. Wie man sich auch sagen und wie fest und tief man empfinden mag, daß darin einzig und ausschließlich allweise und allgütige Leitung waltet, so widerstrebt doch nichts so sehr der Empfindung des einzelnen, zumal wenn sie eben schmerzlich bewegt ist, als dies gleichsam rücksichtslose Zurückwerfen des fühlenden Individuums auf eine nur wie Naturleben betrachtete Masse. Darum fand man es so empörend, wie einmal kurz nach der französischen Revolution kalt berechnet wurde, daß die Zahl aller vor den Gerichtshöfen gefallenen Opfer nur immer einen ganz geringen Teil der Bevölkerung Frankreichs ausmache. Dazu kommt noch, daß in dieser Betrachtung der Mensch sich mit allem übrigen Leben, auch dem am meisten untergeordneten, vermischt. Sein Geschlecht vergeht und erneuert sich nicht anders als die Geschlechter der Tiere und Pflanzen, die ihn umgeben. Diese Betrachtungen, die ich die weltlichen nannte, verschlingen also das individuelle Dasein, und da man ihre innere Wahrheit nicht absprechen kann, so würden sie das Gemüt in öde und hilflose Trauer versenken, wenn nicht die innere Überzeugung tröstlich aufrichtete, daß Gott beides, den Lauf der Begebenheiten und den der Natur, immer so richtet, daß, die Existenz überirdischer Zukunft mitgerechnet, das Glück und das Dasein des einzelnen darin nicht nur nicht untergeht, sondern im Gegenteil wächst und gedeiht. Die wahre Beruhigung, der wahre Trost, oder vielmehr das Gefühl, daß man gar keines Trostes bedarf, entstehen erst, wenn man die weltlichen Betrachtungen ganz verläßt und zur Beschauung der Natur und der Welt von der Seite des Schöpfers übergeht. Der Schöpfer konnte den Menschen nur zu seinem individuellen Glück ins Leben setzen, er konnte ihn weder dem blinden Wechsel eines nach allgemeinen Gesetzen fortschreitenden Lebensorganismus hingeben, noch einem idealischen Zwecke eines lange vor ihm entstandenen und weit über ihn hinaus fortdauernden Ganzen opfern, dessen Grenzen und Gestalt er niemals zu überschauen imstande ist. Jeder einzelne zum Eintritt ins Leben Geschaffene sollte glücklich sein, glücklich nämlich in dem tieferen und geistigen Sinne, wo das Glück ein inneres Glück, gegründet auf Pflichterfüllung und Liebe ist. In diesem Sinne regiert und leitet die Gottheit ihn und würdigt ihn ihrer Obhut. In ihm, in dem einzelnen liegt der Zweck und die ganze Wichtigkeit des Lebens, und mit diesem Zwecke wird der Lauf der Natur und der Begebenheiten in Einklang gebracht. Nirgends ist diese Vatersorge Gottes für jedes einzelne Glück so schön, so wahrhaft beruhigend ausgedrückt als im Christentum und im Neuen Testament. Es enthält die einfachsten, aber auch rührendsten und das Herz am tiefsten ergreifenden Äußerungen darüber. Ich bitte Sie, liebe Charlotte, mir jetzt nicht eher wieder zu schreiben, als ich es Ihnen anzeigen werde. Es könnte nichts helfen, wenn ein Brief von Ihnen während meiner Abwesenheit in Tegel ankäme.

Leben Sie herzlich wohl, ich bleibe mit unveränderter Freundschaft und Teilnahme der Ihrige. H.

 

 

Regensburg, den 10. September 1829.

 

S

ie sehen, liebe Charlotte, schon an der Überschrift dieses Briefes, daß ich auf der Rückreise von Gastein begriffen bin und ein bedeutendes Stück des Weges zurückgelegt habe. Ich reise aber sehr langsam und mache sehr kleine Tagereisen, weil es mein Grundsatz ist, daß man unmittelbar nach einer Badekur sich besonders in acht nehmen muß, um nicht mutwillig wieder die gute Wirkung zu zerstören. Man kann sich viel eher anstrengen, wenn man erst in das Bad reist. Das Bad muß dann auch das wiedergutmachen, – ich glaube, daß ich noch im Reste des Jahres eine heilsame Nachwirkung davon erfahren werde.

Im höchsten Grade hat es mich geschmerzt, liebe Charlotte, aus Ihrem Briefe zu ersehen, daß Sie von einer plötzlichen Augenschwäche befallen worden sind, und diese mit Schmerzen verbunden ist. Beinahe möchte ich aber das Letzte tröstlich nennen. Soviel ich weiß, sind Schmerzen immer nur mit vorübergehenden Augenkrankheiten verbunden, niemals mit denen, die zu den beiden gefährlichsten, dem grauen und schwarzen Star führen. Mit meinen Augen steht es schlimmer und besser als mit den Ihrigen. Schmerzen habe ich garnicht, bisher niemals, ich mag sie anstrengen oder nicht. Überhaupt habe ich von dem, was man Anstrengung bei Augen nennt, keinen rechten Begriff. Die meinigen sind nicht um ein Haar besser, wenn ich auch wie in Gastein wochenlang nicht viel lese und schreibe, es namentlich nie bei Licht tue, und sie werden nicht schlimmer, wenn ich viel und auch bei Licht arbeite. Mit der Zeit wird sich das vielleicht ändern, aber bis jetzt ist es so, wie ich Ihnen da sage. Allein auf dem rechten Auge habe ich einen schon sehr ausgebildeten grauen Star. Es leistet mir beim Lesen oder Schreiben gar keine Hilfe mehr, und wenn das andere ebenso wäre, so könnte mir mein Gesicht zu nichts mehr dienen, als ganz nahe Gegenstände allenfalls zu erkennen. Dies Übel ist seit vielen Jahren langsam entstanden, nimmt aber seit einigen schneller zu. Was ich mit dem Gesicht ausrichte, tue ich mit dem linken Auge, aber auch das ist schwach und wird es immer mehr. Ich kann auf die Dauer nichts ohne Brille weder lesen noch schreiben, und die Brille, die mir sonst sehr scharf schien, reicht jetzt kaum mehr hin. Wenn ich, wie ich weder wünsche noch glaube, noch lange, ich meine noch acht oder zehn Jahre, leben sollte, so darf ich mir kaum schmeicheln, daß mich meine Augen bis zum Grabe begleiten werden. Eher ist es möglich, daß ich sie, oder doch eins, durch eine Operation wieder erhalte. Ich habe mich sehr oft mit dem Gedanken beschäftigt, daß ich blind werden und bleiben könnte. Denn die Operation gelingt nicht immer. Ich glaube jetzt in mir so vorbereitet zu sein, daß mich dies Ereignis nicht außer Fassung bringen würde. Ich würde es, glaube ich, mit der Ergebung ertragen, mit der der Mensch alles Menschliche dulden muß. Ich würde so viel von meiner Tätigkeit retten, als ich nicht schlechterdings aufgeben müßte, und wenn der Mensch tätig sein kann, ist um sein Glück schon geringere Sorge. Aber die Vorstellung eines Unglücks ist noch immer etwas ganz anderes als das Unglück selbst, wenn es mit der furchtbaren Gewißheit seiner Gegenwart eintritt, und für das größte Unglück, das mich an meiner Person treffen könnte, halte ich Blindheit allerdings. Es ist aber sehr möglich, daß alle jetzige Fassung und Vorbereitung mächtig erschüttert werden und mich ganz verlassen könnte, wenn es käme, daß einmal der Tag erschiene, der mir kein Licht mehr brächte. Man muß auf nichts so wenig vertrauen, und an nichts so unablässig arbeiten, als an seiner Seelenstärke und seiner Selbstbeherrschung, die beide die einzigen sicheren Grundlagen des irdischen Glücks sind. Der Himmel scheint aber den Blinden zum Ersatz eine eigene Fassung und milde Duldsamkeit in die Seele zu flößen.

 

 

Tegel, den 30. September 1829.

 

I

ch habe vor ein paar Tagen, liebe Charlotte, Ihren am 25. September beendigten Brief empfangen und sage Ihnen meinen herzlichsten Dank dafür. Es hat mich sehr gefreut zu sehen, daß es mit Ihren Augen bedeutend besser geht, und daß Sie einfache Mittel gefunden haben, die Ihnen wohltätig sind. Meinetwegen bitte ich Sie recht sehr, nicht besorgt zu sein. Ich selbst bin es nicht. Was in der Natur der Dinge liegt und das Schicksal herbeiführt, darüber wäre es töricht und unmännlich zugleich, seine Ruhe und sein inneres Gleichgewicht zu verlieren. So lange ich meine natürlichen Seelenkräfte behalte, wird mir das nicht begegnen. Ich werde einsehen, daß körperliche Organe durch den Gebrauch schwächer werden und anderen Zufällen unterworfen sind, und es wird mir nicht einkommen zu erwarten, daß die Vorsehung diesen natürlichen Lauf der Dinge für mich hemmen sollte. Wäre es einmal anders in mir, so wäre das ein trauriges Zeichen, daß mir nicht die Kraft mehr beiwohnte, die jeder vernünftige Mann besitzen muß.

Sie bemerken sehr richtig, daß man viele Fälle hat, wo ein anfangender grauer Star auf einem gewissen Punkt stehen bleibt, ohne je zu eigentlicher Blindheit zu führen, und das ist schon eine große Wohltat. Denn man muß in diesen immer sehr traurigen Zuständen doch noch immer unterscheiden, was es mehr und was es weniger ist, und die eigentliche Blindheit enthält eigentlich ein doppeltes Leiden, erstlich, daß man unfähig wird, eine Menge von Dingen zu tun, zu denen das Gesicht unentbehrlich ist, und dann, daß man, des Lichtes beraubt, in Finsternis versetzt ist. Dies Letzte halte ich bei weitem für das Schlimmste. Denn die bloße Empfindung des Lichts, auch von dem Wahrnehmen aller Gegenstände gänzlich abstrahiert, hat etwas unendlich Wohltätiges und Erfreuliches und gehört in vieler Beziehung auch zu dem heiteren und fruchtbringenden inneren geistigen Leben. Das Licht ist wenigstens unter allen uns bekannten Materien die am wenigsten körperliche. Es hängt, ohne daß man selbst sagen kann, wie das zugeht, mit dem Leben selbst zusammen, und Leben, Licht und Luft sind wie verwandte, immer zusammengedachte, das irdische Dasein erst recht möglich machende Dinge. Wunderbar ist es auch, daß die Finsternis selbst den Reiz, den sie offenbar hat, verlieren muß, wenn sie zur beständigen Begleiterin des Lebens wird. Jedoch ist es nicht zu leugnen, daß die Finsternis der Nacht eine süße Ruhe gegen das Licht des Tages gewährt. Allein die angenehme Empfindung beruht nur darauf, daß der Tag vorangegangen ist, und daß man sicher ist, daß er nachfolgen wird. Nur der Wechsel ist wohltätig. Unaufhörliches Tageslicht ermüdet. Das fühlt man schon, wenn man im Sommer nördliche Länder bereist, wo die Dämmerung die ganze Nacht hindurch währt. Ich wenigstens habe das nie angenehm gefunden. Allein die ewige Finsternis muß etwas viel Traurigeres haben, als daß man den Begriff durch bloße Ermüdung erschöpfend ausdrücken könnte. Es ist wohl eine Stille, aber auch eine zurückstoßende Öde. Man wird durch den Mangel äußerer Zerstreuung in sich zurückgedrängt und kann doch viel weniger durch sich selbst handeln und tätig sein. Weit das Unangenehmste würde für mich das Aufhören der Mitteilung durch Briefe sein, die nicht bloß und lediglich Geschäfte beträfen. Denn wer könnte es aushalten, anderen vertrauliche Briefe zu diktieren oder sich vorlesen zu lassen? Der Briefwechsel beruht seinem Wesen nach ganz und gar auf gänzlich unmittelbarer Mitteilung, und ich würde jeden gleich abschneiden, wenn ich, was ich nicht hoffe, jemals das Unglück hätte, wirklich zu erblinden. Überhaupt ist es wunderbar, daß, meinem jetzigen Gefühl nach, ein solcher Zustand mich mehr von der Gesellschaft anderer abziehen als ihr zuführen würde. Ich kann es mir selbst nicht ganz erklären, da es natürlich scheint, die Zeit alsdann doppelt gern mit Gespräch auszufüllen. Es kommt vielleicht daher, daß ich, ohne selbst sagen zu können, warum, sehr ungern mit Blinden zusammen bin. Da ich fühle, daß dies eine gewissermaßen ungerechte Empfindung ist, so überwinde ich mich da, wo die Gelegenheit vorkommt, aber der Zwang, den ich mir antue, hebt die Widrigkeit des Gefühls nicht auf. Der Anblick kranker, auch nur glanzlos starrer, selbst verbundener Augen wirkt körperlich auf mich. Ich kann machen, daß ich der Empfindung nicht Raum gebe, aber ich kann nicht hindern, daß sie nicht entstehe und fortdauere. Schon ein Schirm vor den Augen anderer, besonders bei Frauen, ist mir unangenehm. Auch die Gewohnheit ändert darin nichts. Ich bin jahrelang wöchentlich mit Blinden zusammen gewesen, der Eindruck blieb aber immer derselbe. Daß ich nun, selbst blind, nicht mit andern sein möchte, ist nur eine Rückwirkung desselben Gefühls, wenn sie auch nicht dasselbe empfinden als ich, so kann ich doch nicht hindern, daß ich mich nicht außer mich selbst versetze und mich, andern gegenüber, mir selbst vorstelle. Leben Sie herzlich wohl. Ich wünsche sehr, daß es mit Ihren Augen besser gehen möge. Mit unwandelbaren Gesinnungen der Ihrige. H.

 

 

Tegel, den 24. Dezember 1829.

 

S

o spät im Jahre, liebe Charlotte, habe ich Ihnen noch nie von hier aus geschrieben. Ich war seit langen Jahren immer in der Stadt um diese Zeit. Nur in früheren, glücklicheren Epochen meines Lebens brachte ich auch den Winter auf dem Lande zu. Was ich damals im heiteren Zusammensein tat, wiederhole ich jetzt allein. Das ist der Gang des menschlichen Schicksals. Es ist heute hier, und da so kleine Entfernungen keinen Unterschied machen, gewiß auch bei Ihnen ein äußerst kalter Tag. Doch war ich aus. Ich gehe alle Tage gerade so spazieren, daß ich die Sonne untergehen sehe. Ich versäume den Moment nicht gern, und die halbe Stunde vor- und nachher sind mir im Sommer und Winter die liebsten des Tages. Der Mond wartet dann oft schon, wenn die Sonne ihn nicht mehr überstrahlt, seinen Glanz wieder zu gewinnen. Heute ging die Sonne so in Nebel gehüllt unter, daß man statt ihrer Scheibe nur einen mattgelben Duft sah. Wenn ich immer betrachtende Ruhe liebte und mich ihr auch oft da hingab, wo ich mich im Gedränge von Menschen und Gewühl von Geschäften befand, so versenkt mich meine jetzige Einsamkeit noch mehr darin. Ich habe zu nichts anderem Neigung. Meine wissenschaftlichen Beschäftigungen sind damit verwandt, und ich fühle mit jedem Tage mehr, wie das reine und besonnene Nachdenken über sich selbst das Innere zusammenschließt und den Frieden gibt, der gewiß immer das Werk Gottes ist, den aber doch, gerade nach Gottes deutlich zu erkennen gegebenem Willen, der Mensch nicht wie eine äußere Gabe von ihm erwarten, sondern durch die eigene Anstrengung seines Willens aus sich selbst schöpfen soll. Ich bin in jeder Epoche meines Lebens sehr gefaßt auf den Augenblick gewesen, der uns wieder daraus abruft. Ich bin es jetzt mehr wie je, wo ich dessen beraubt, was mir in jedem Augenblicke Genuß und die heiterste Freude gab, nun auf den kalten Ernst des Lebens zurückgewiesen bin. Ich glaube auch mit ziemlicher Gewißheit vorauszusehen, daß ich die mir vielleicht noch bestimmten Jahre wie die jetzt verflossenen Monate zubringen werde. Nur sehr bedeutende Dinge könnten mich zu einer Umänderung bringen. Bei kleineren würde ich's schon zu machen wissen, daß die Umänderung nur scheinbar wäre. Ich sehe daher mein Leben jetzt von der Seite an, daß es ein Vollenden, ein Abschließen der Vergangenheit ist. Es ist aber in meiner Art zu empfinden gegründet, daß mich dies nicht zur Beschäftigung mit dem Tode und dem Jenseits, sondern gerade zu den Gedanken, die auf das Leben gerichtet sind, bringt. Ich halte das auch nicht für eine Eigenheit in mir, sondern ich glaube, es müßte überhaupt so sein. Wenn man an den Tod zu denken empfiehlt, so ist das eigentlich nur gegen den Leichtsinn gerichtet, der das Leben wie eine immer dauernde Gabe ansieht. Davon ist ein in sich gesammeltes Gemüt schon von selbst frei, übrigens aber weiß ich nicht, ob anhaltende Beschäftigung mit dem Tode und dem, was ihm folgen wird, der Seele heilsam sei. Zwar möchte ich nicht darüber absprechen, da es mehr Sache des Gefühls als der Untersuchung durch bloße Vernunftgründe ist. Ich glaube es aber nicht. Die aus dem Vertrauen auf eine Allgüte und Allgerechtigkeit entspringende Zuversicht, daß der Tod nur die Auflösung eines unvollkommenen, seinen Zweck nicht in sich tragenden Zustandes und der Übergang zu einem besseren und höheren ist, muß dem Menschen so gegenwärtig sein, daß nichts sie auch nur einen Augenblick verdunkeln kann. Sie ist die Grundlage der inneren Ruhe und der höchsten Bestrebungen und eine unversiegbare Quelle des Trostes im Unglück. Aber das Ausmalen des möglichen Zustandes, das Leben mit der Phantasie darin, zieht nur vom Leben ab und setzt nur scheinbar etwas Besseres an die Stelle, da allerdings die Gegenstände erhabener sind, nach denen man trachtet, man sie aber doch so, wie man es da versucht, nicht zu fassen vermag. Gott hat auch deutlich gezeigt, daß er eine solche Beschäftigung nicht wohlgefällig ansieht, denn er hat den künftigen Zustand in einen undurchdringlichen Schleier gehüllt und jeden einzelnen in gänzlicher Unwissenheit gelassen, wann der Augenblick ihn ereilen wird, – ein sicheres Zeichen, daß das Lebende dem Leben angehören und darauf gerichtet sein soll. Wozu mich also die Gewißheit, sich in dem letzten Lebensabschnitt zu befinden, mahnt, ist ein auf das Leben gerichtetes Bestreben, das Bestreben, das Leben abzurunden, ein inneres Ganzes daraus zu machen. In den Stand gesetzt zu sein, dies zu tun dadurch, daß man nicht mitten aus dem Treiben des Lebens hinweggerissen wird, sondern einen Zeitraum der Muße und Ruhe behält, ist eine Wohltat der Vorsehung, die man nicht ungenützt vorübergehen lassen muß. Ich meine damit nicht, daß man noch etwas tun, etwas vollenden solle. Was ich im Sinne habe, kann jeder in jeder Lage. Ich meine, an seinem Inneren arbeiten, seine Empfindungen in vollkommene Harmonie bringen, sich selbständiger und unabhängiger von äußeren Einflüssen zu machen, sich so zu gestalten, wie man sich in den ruhigsten und klarsten Geistesmomenten gestaltet sehen möchte. Dazu geht jedem, wieviel er auch an sich getan haben möge, viel ab, daran ist längere Dauer, als vielleicht die Dauer des Lebens verstatten wird. Dies aber nenne ich den eigentlichen Lebenszweck, dieser aber gibt auch dem Leben immer noch Wert, und wenn mich irgendein Unglück, wie es jeden, wie glücklich er scheine, betreffen kann, dahin bringen sollte, das Leben nicht mehr zu diesem Zwecke zu schätzen, so würde ich mich selbst mißbilligen und die Gesinnung in mir ausrotten. Allein auch über einen solchen Lebenszweck kann man nicht unfruchtbar mit seinen Gedanken brüten. Er muß nur die der Seele gegebene Richtung sein, nur das, wie sich die Gelegenheit darbietet, urteilende, billigende, zurechtweisende Prinzip. Das Leben ist zugleich eine äußere Beschäftigung, eine wirkliche Arbeit in allen Ständen und allen Lagen. Es ist nicht gerade diese Beschäftigung, diese Arbeit selbst, die einen großen Wert besitzt, aber es ist ein Faden, an den sich das Bessere, die Gedanken und Empfindungen anknüpfen, oder das, woneben sie hinlaufen. Es ist der Ballast, ohne den das Schiff auf den Wellen des Lebens keine sichere Haltung hat. So sehe ich auch im Grunde hauptsächlich nur meine wissenschaftlichen Beschäftigungen an. Sie sind vorzugsweise dazu gemacht, weil sie an sich mit Ideen in Verbindung stehen. Ich bin hierüber ausführlich gewesen, um Ihnen einen Begriff zu geben, was ich meine Einsamkeit und meine Freude daran nenne. Sie ist ursprünglich keine freiwillige, sondern eine durch das Schicksal herbeigeführte. Der von zweien Zurückgebliebene ist allein, und es ist dann eine natürliche und zu billigende Empfindung, daß man auch fortwährend allein bleiben will. Dann aber begünstigt auch die Einsamkeit jenes Nachdenken über sich selbst, jene Arbeit an sich, jenes Abrunden und Schließen des Lebens, von dem ich eben sprach. Endlich kommen die Studien hinzu, denen man auch ihre Stelle gönnen muß. Darum gehe ich nur sehr selten zu meinen Kindern in die Stadt und freue mich, wenn sie hierher kommen. Die Leute bedauern erst meine Abwesenheit, das ist die Höflichkeit; dann finden sie dies Zurückziehen in meinem Alter und in meiner Lage natürlich, das ist die Wahrheit. Überdruß am Leben, Stumpfheit an seinen Freuden, Wunsch, daß es enden möge, haben an meiner Einsamkeit keinen Teil.

Ich habe Ihnen, liebe Charlotte, zwei Briefe geschrieben, die bei Abgang des Ihrigen noch nicht angekommen waren. Ich hoffe eine Antwort auf diese zu erhalten. Ich bitte Sie, wenn Sie können, mir noch in diesem Jahre zu schreiben. Zu dem, welches wir neu beginnen, nehmen Sie meine herzlichsten Wünsche. Möge der Himmel Ihnen wieder Heiterkeit und Ruhe verleihen! Was ich dazu beitragen kann, will ich mit herzlicher Freude tun, wo und wie es mir möglich ist. Leben Sie nun recht wohl! Gedenken Sie meiner mit freundschaftlicher Liebe und rechnen Sie mit Zuversicht auf meine aufrichtige, unveränderliche Teilnahme an allem, was Sie betrifft. Ihr H.

 

 

Tegel, den 26. Januar 1830.

 

S

ie müssen, liebe Charlotte, zwei Briefe von mir bekommen haben, die noch unbeantwortet sind, einen vom 9. und einen vom 21. Januar. Ihr letzter war nicht auf meine Bitte, sondern aus eigener Bewegung geschrieben, und meinen Brief vom 9. werden Sie vermutlich zu spät empfangen haben, um ihn an dem darin genannten Tage zu beantworten. Da ich aber weiß, daß Ihnen meine Briefe Freude machen, und ich gerade einige Zeit frei habe, so will ich Ihnen schreiben, ohne erst eine Antwort abzuwarten. Vielleicht bekomme ich dieselbe auch noch, ehe ich den Brief schließe, da heute noch eine Gelegenheit aus der Stadt herkommt. Es liegt mir sehr daran, zu wissen, wie es Ihnen geht, und ob Sie die Ruhe und Heiterkeit wiedergewinnen, die ich Ihnen so sehr wünsche. Noch erfreulicher sollte es mir sein, wenn mein Anteil und meine Ratschläge in der Tat wirksam dazu beitrügen. Das Wahre und Eigentliche müssen Sie zwar selbst dazu tun. Denn es bleibt immer ein sehr wahrer Ausspruch, daß das Glück im Menschen selbst liegt. Das Freudige, was ihm der Himmel verleiht, beglückt nur, wenn es auf die rechte Art aufgenommen wird, und das Bittere und Herbe, das das Schicksal ihn erfahren läßt, steht es in seiner Gewalt sehr zu mildern.

Wo es auch gar keinen Trost zuläßt, wie es denn allerdings solche Unglücksfälle gibt, hat Gott noch die Wehmut zu einer Art Vermittlerin zwischen dem Glück und dem Unglück, der Süßigkeit und dem Schmerz geschaffen. Sie macht den Schmerz zu einem Gefühl, das man nicht verlassen mag, an dem man hängt, dem man sich überläßt mit dem Bewußtsein, daß er nicht zerstörend, sondern läuternd, veredelnd in jeder Art und auf jede Weise erhebend wirkt. Es ist ein Großes, wenn der Mensch die Stimmung gewinnt, alles, was ihn betrifft, bloß weil es menschlich ist, weil es einmal im irdischen Geschick liegt, dagegen anzukämpfen, aber zugleich so aufzunehmen, wie es sich in der Bestimmung des Menschen, sich immer reifer und mannigfaltiger zu entwickeln, am besten vereint. Je früher man zu dieser Stimmung gelangt, desto glücklicher ist es. Man kann dann erst sagen, daß man das Leben wirklich erfahren hat. Und um des Lebens willen ist man doch auf der Welt, und nur was man in seinem Gemüt durch das Leben errungen hat, nimmt man mit hinweg. Es ist ein sehr großes Glück, wenn man all sein Denken und Empfinden an einen Gegenstand setzt. Man ist dann auf immer geborgen, man begehrt nichts mehr vom Geschick, nichts mehr von den Menschen, man ist sogar außerstande, etwas anderes von ihnen zu empfangen als die Freude an ihrem Glück. Man fürchtet auch nichts von der Zukunft Man kann nicht ändern, was nicht zu ändern ist; aber das eine, das Hängen an einem Gedanken, einem Gefühl, wenn es auch durch den grausamsten Schlag, der einen Menschen betreffen kann, nur zu dem Hängen an einer Erinnerung würde, das bleibt immer. Wer das stille Hängen an einem Gedanken erreicht hat, besitzt alles, weil er nichts anderes bedarf und verlangt. Noch beruhigender und beglückender ist natürlich ein solches Hängen an einem, wenn das eine nichts Irdisches, sondern das Göttliche selbst ist. Aber auch im Irdischen ist solch ein treues, die ganze Seele einnehmendes Hängen an einem Gefühl immer von selbst auf das gerichtet, was im Irdischen selbst nicht irdisch ist. Denn das bloß Irdische ist nicht fähig, die Seele so auf sich zu heften. Der Probierstein der Echtheit des Gefühls ist nur, daß es von aller Unruhe frei, mit keiner Art des Begehrens gemischt sei, daß es nichts verlange, nichts fordere, keine andere Sehnsucht kenne, als in der Art, wie es ist, fortzudauern. Darum ist das Gefühl für Verstorbene ein so süßes, so reines, so der Sehnsucht hingegebenes Gefühl, das bis ins Unendliche fortwährt, ohne sich je zu zerstören, in deren Wachstum selbst die Seele ohne Unterlaß Kraft gewinnt, sich ihr in einer süßen Wehmut zu überlassen. Sobald das Gefühle für das Göttliche sind, sind es unstreitig die reinsten und von aller irdischen Beimischung am meisten geläuterten. Sie haben zugleich das Eigentümliche, daß sie der Erde nicht entfremden und doch allem Drohenden und Schmerzlichen, was die Erde auch oft hat, den Stachel und den Wermut benehmen. Da der Gedanke an die Verstorbenen mit allem dem zusammenhängt, was sie im Leben umgab, so sind sie, statt vom Leben abzuführen, vielmehr immerfort Verknüpfungsmittel mit demselben; es gibt in jeder Lage noch immer Gegenstände, an welchen man sich die Verstorbenen als teilnehmend und noch mit dem Leben verknüpft denkt. Diese knüpfen auch den Zurückbleibenden noch an das Leben, aber es ist eine Verknüpfung, die dem Leben das Schwere benimmt, da man sich doch nicht mehr ganz als ihm angehörend betrachtet. Wenn die liebsten Gedanken alle jenseits des Lebens sind, wenn das Leben keinen hat, der diesen die Wage halten könnte, so kann, was man sonst im Leben zu fürchten pflegt, einem irgend gegen irdische Schicksale Gewaffneten nicht sonderlich furchtbar erscheinen. Zeit und Ewigkeit verknüpfen sich im Gemüte zu einer Ruhe, die nichts mehr stört. Ich habe mir immer, ehe ich noch die Erfahrung selbst gemacht hatte, gedacht, daß es so sein müßte. Ich habe es nie für möglich gehalten, daß es für einen wahren Verlust auch nur einen scheinbaren Ersatz geben könnte. Jetzt empfinde ich das wirklich, da das Los mich getroffen hat. Ja, ich werde mit großer Freude gewahr, daß sich die wahre und richtige Einwirkung, die solcher Verlust haben muß, mit der Zeit immer vollkommener und richtiger entfaltet, wie die irdische Nacht tiefer wird, je länger sie währt. Die Freude, die man am nächtlichen Dunkel hat, und für die ich immer sehr empfänglich gewesen bin, ist dieser Empfindung ähnlich. Man ist allein und will allein sein, man gewahrt äußerlich nichts, und innerlich regt sich ein doppeltes Leben. Der Tag ist gewesen und der Tag wird wiederkehren.

Es ist ein schrecklicher Winter in diesem Jahr, und noch durchaus keine Aussicht, daß er sich bald milder lösen will. Wenn man die viele Not bedenkt, die er mit sich führt, so ist das sehr beklagenswert. Allein sonst ist mir keiner so leicht geworden. Dies liegt in der Ruhe und Unabhängigkeit der Einsamkeit, worin ich lebe. Ich gehe alle Tage spazieren, allein außerdem verlasse ich die aneinander stoßenden drei Zimmer, die ich allein bewohne, nie, und der Anblick der unberührten Schneeflächen und des unendlichen Glanzes, den die Sonne, deren Auf- und Untergang ich von meinen Fenstern aus sehe, und abends Mond und Venus und die anderen Sterne über die Schneefläche und den gefrorenen See ausstrahlen, ist unbeschreiblich. – Ich bitte Sie, Ihren nächsten Brief am 2. Februar oder, wenn das nicht möglich ist, doch noch in der ersten Woche des Februar abgehen zu lassen. – Leben Sie recht herzlich wohl und bleiben Sie meiner aufrichtigen und innigen Teilnahme versichert. Ganz der Ihrige. H.

 

 

Tegel, den 14. April 1830.

 

I

ch bin sehr besorgt um Sie gewesen, liebe Charlotte. Ihr längeres Stillschweigen hat mich diesmal nicht beunruhigt. Ich war gewiß, daß Sie nicht krank sein konnten. Ich habe Sie so bestimmt gebeten, mir in diesem Fall zu schreiben, daß ich gewiß darauf rechnen konnte, daß Sie es getan haben würden. Ich erriet aber die Ursache Ihres Nichtschreibens und sehe nun aus Ihrem Briefe, daß ich ganz richtig vermutet hatte. Es war eine zu natürliche, Ihrer Empfindungsart zu angemessene Empfindung, als daß sie nicht hätte in Ihnen aufsteigen sollen. Ihr jetziger Brief aber hat mir die größte Freude gemacht, besonders wegen der ruhigen Stimmung, die darin herrschend ist, und die ich, da sie Ihnen notwendig die wohltätigste sein muß, so sehr liebe, um deren Erhaltung ich Sie dringend bitte. Auch Lebenslust und Lebensfreude an den dem Leben bleibenden Genüssen kann erst auf dieser Grundlage im Gemüt emporsprießen. Die Ruhe ist die natürliche Stimmung eines wohlgeregelten, mit sich einigen Herzens. Äußere Ereignisse können sie bedrohen und das ruhigste Gemüt aus den Angeln heben. Ein großes weicht zwar auch da nicht, allein obgleich es Frauen gibt, welche diese Stärke mit der größten und lebendigsten Regsamkeit der Empfindung und der Einbildungskraft verbinden, so kann man das bewundern, aber nicht fordern. In einem Manne aber ist es Pflicht, es läßt sich verlangen, und er verliert gleich bei allen richtig Urteilenden an Achtung, wie hierin in ihm ein Mangel sichtbar wird. – – – –

Meine Gesundheit ist fortwährend gut. Sogar von kleinen Übeln bin ich frei. Das Alter erscheint mit den Jahren allmählich, aber mit einer Krankheit oder einem großen Unglücksfall, den nichts je wieder gut machen kann, plötzlich. Das letzte ist mein Fall gewesen. Hätte ich den Verlust nicht erlitten, den ich erfahren, so möchte es noch mehrere Jahre so fortgedauert haben. Aber durch die große Änderung, welche dieser Verlust in mir hervorbringen mußte, und die mit jedem Tage nur fühlbarer wird, bei der plötzlichen Vereinzelung nach einem achtunddreißigjährigen gemeinschaftlichen Leben, und selbst in der Abwesenheit ununterbrochenen gemeinschaftlichen Denken und Empfinden, war es natürlich, daß die Änderung auch körperlich eintrat. Indes ist das sehr leicht zu ertragen, zumal solange die Gesundheit so unangegriffen wie bei mir jetzt bleibt. Ich kann daher, wenn Sie auch nicht immer darin einstimmen, nur dabei bleiben, daß mir das Alter lieb ist. Es ist ein natürlicher menschlicher Zustand, dem Gott seine eigenen Gefühle geschenkt hat, die ihre eigenen Freuden in sich tragen. Wenn ich durch einen Zauberstab machen könnte, daß ich die mir noch übrigen Jahre mit jugendlicher Kraft und Frischheit verleben, oder so wie jetzt bleiben könnte, so wählte ich das erste gewiß nicht. Die jugendliche Kraft und Frischheit paßt nicht zu greifenden Gefühlen, und diese in einem langen Leben erworbenen und erlangten Gefühle möchte ich doch für nichts auf Erden aufgeben. Was Sie von meiner Stimmung sagen, unterschreibe ich insofern, als sie allerdings eine seltene und den tiefsten und gerührtesten Dank erheischende Gabe des Himmels, nicht menschliches Verdienst ist. Wenigstens rechne ich sie mir nicht zu. Ich verdanke sie größtenteils der, welche auch jetzt die unmittelbare Quelle derselben ist. Denn wenn man einem durchaus reinen und wahrhaft großen Charakter lange zur Seite steht, geht sie wie ein Hauch von ihm auf uns über. Ich würde mir selbst jenes Besitzes unwert erscheinen, wenn ich jetzt anders sein könnte, als innerlich in abgeschlossener Ruhe in der Erinnerung lebend, und äußerlich, wo sich die Gelegenheit darbietet, nützlich und wohltätig beschäftigt.

Ich wünsche, daß meine Briefe Sie ruhig, heiter stimmen, Ihnen wie eine Erholung, eine Erquickung erscheinen. Leben Sie herzlich wohl und rechnen Sie mit vertrauender Zuversicht auf meine ununterbrochene freundschaftliche Teilnahme. H.

 

 

Tegel, den 6. bis 9. Mai 1830.

 

I

ch sage Ihnen, liebe Charlotte, meinen herzlichen Dank für Ihren am 27. April abgegangenen Brief, den ich richtig empfangen habe. Mit meinem Befinden geht es sehr gut, und ich empfinde weder Folgen des nassen Frühjahrs noch des strengen Winters. Dennoch machen sich die Folgen im allgemeinen sehr fühlbar. Eine Menge von Leuten leiden hier an kaltem Fieber. Ich habe für den Sommer meine Lebensart etwas geändert. Ich stehe jetzt regelmäßig um sechs Uhr auf. Dafür gehe ich aber auch immer vor, spätestens um Mitternacht zu Bett. Die Morgenstunden haben mehr Reiz für mich, und so schreibe ich Ihnen, liebe Freundin, heute in der Frühe. Es ist das erste, womit ich heute den Tag beginne. Auf meinen Schlaf hat weder das frühe noch späte Aufstehen einigen Einfluß. – – Die Nacht hat etwas unglaublich Süßes. Die heiteren Ideen und Bilder, wenn man solche haben kann, wie ich ehemals oft erfahren, nehmen einen sanfteren, schöneren, in der Tat seelenvollen Ton an, dabei ist es, als ob man sie inniger genösse, da in der Stille nichts, nicht einmal das Licht sie stört. Kummervolle und wehmütige Erinnerungen und Eindrücke sind dagegen auch milder und mehr von der Ruhe durchströmt, die jede Trauer leichter und weniger zerreißend macht. Man kann auch dem Kummer ruhiger nachhängen, und ein tiefes Gemüt sucht doch nicht den Kummer zu entfernen, am wenigsten zu zerstreuen, sondern sucht ihn so mit dem ganzen Wesen in Einklang zu bringen, daß er Begleiter des Überrestes des Lebens bleiben kann. Ich kann mich jetzt schon auf die langen Winternächte freuen und habe, was ich hier sage, im vorigen Winter oft erfahren. Bedenkt man auf der anderen Seite wieder, wie freudig und schön das Licht ist, so gerät man in ein dankbares Staunen, welch einen Schatz des Genusses und wahren Glückes die Natur allein in den täglichen Wechsel gelegt hat. Es kommt nur darauf an, ein Gemüt zu haben, ihn zu genießen, und das liegt doch in jedes Menschen eigener Macht. Alle Dinge, die einen umgeben, schließen für den Geist und die Empfindung Stoff zur Betrachtung, zum Genuß und zur Freude in sich, der ganz verschieden und unabhängig ist von ihrer eigentlichen Bestimmung und von ihrem physischen Nutzen; je mehr man sich ihnen hingibt, desto mehr öffnet sich dieser tiefere Sinn, die Bedeutung, die halb ihnen, die sie veranlassen, halb uns, die wir sie finden, angehört. Man darf nur die Wolken ansehen. An sich sind sie nichts als gestaltloser Nebel, als Dunst, Folgen der Feuchtigkeit und Wärme, und wie beleben sie, von der Erde gesehen, den Himmel mit ihren Gestalten und Farben, wie bringen sie so eigene Phantasien und Empfindungen in der Seele hervor.

 

 

Tegel, den 29. Mai 1830.

 

I

ch habe, liebe Charlotte, Ihren Brief vom 16. d. M. vor einigen Tagen empfangen und so wie Sie es vorausgesehen haben, doppelte Freude daran gehabt, weil er in einem so ruhigen und heiteren Tone geschrieben ist. Ich wünsche nichts mehr, als daß Sie in demselben und der ihm entsprechenden Stimmung bleiben mögen, und Sie können es gewiß, wenn Sie sich nicht selbst trübe und irrige Vorstellungen machen, sondern vielmehr der Ruhe nachstreben, welche das Gemüt unabhängig von äußeren Ereignissen macht. Ohne diese nur durch innere Bearbeitung seiner selbst zu erlangende Ruhe bleibt man immer ein Spiel des Schicksals und verliert und gewinnt sein inneres Gleichgewicht, wie die Lage um einen her nur freudvoller oder leidvoller ist. Das gänzliche Unterlassen alles Spazierengehens ist und bleibt doch eine Entbehrung eines großen Vergnügens, wenn sich auch der Körper daran gewöhnt; ich habe das selbst an mir erfahren. Der Mangel der Bewegung hat mir nie geschadet, aber entbehren tut man viel. Man genießt die Natur auf keine andere Weise so schön als bei dem langsamen, zwecklosen Gehen. Denn das gehört namentlich zum Begriff selbst des Spazierengehens, daß man keinen ernsthaften Zweck damit verbindet. Seele und Körper müssen in vollkommener und ungehemmter Freiheit bleiben, man muß kaum einen Grund haben, auf eine oder die andere Seite zu gehen. Alsdann befördert die Bewegung die Idee, und man mag etwas Wichtiges denken oder sich bloß in Träumen und Phantasien gehen lassen, so gewinnt es durch die Bewegung des Gehens besseren Fortgang, und man fühlt sich leichter und heiterer gestimmt. Noch vor kurzem ist es mir geschehen, daß mir durch einen Spaziergang gelang, was sich sehr lange nicht hatte gestalten wollen. Ich hatte oft vergebens an etwas gearbeitet, und plötzlich beim Herumgehen draußen kam es mir ganz von selbst, daß ich beim Nachhausekommen es nur aufzuschreiben brauchte. Ich gehe aber niemals des Morgens aus. Daran tue ich vielleicht Unrecht, aber es hängt bei mir mit so vielen kleinen Gewohnheiten zusammen, daß ich darüber nicht hinauskommen kann. Ich genieße daher nur den Anblick des Grün aus den Fenstern, wo dann die Lichter der Frühsonne im Laube einen wundervoll herrlichen Wechsel des Hellen und Dunkeln gewähren.

Ich habe kürzlich Goethes zweimalige Reise nach Italien oder vielmehr, da es keine eigentliche Reisebeschreibung ist, seine Briefe von daher gelesen. Sie schrieben mir in derselben Zeit von der Jacobischen. Ich habe diese Reise nie gelesen, wohl aber den Reisenden gekannt und sein Buch loben hören. Er studierte mit mir zugleich in Göttingen und ging, wenn ich nicht irre, auch mit Ihrem Bruder um. Er war ein guter Mensch und sehr fleißig, doch vermied ich seinen Umgang, da er für meine Neigung in zu viele Studentengesellschaften verwickelt war. Was Sie mir aus seiner Reise über die Pracht der Kirchen und des Gottesdienstes sagen, ist sehr wahr. Es ist, wie Sie bemerken, und wie es auch mir erscheint, eine lobenswürdige Sitte, daß man jedem Gelegenheit gibt, in jedem Moment, wo er Stimmung dazu hat und fühlt, an einen Ort gehen zu können, wo er Stille und Einsamkeit oder zu seiner Stimmung passende Verrichtungen findet, einen Ort, der ihm schon an und für sich, sobald er ihn betritt, Ehrfurcht und dazu eine gewisse Linderung einflößt. Unsere evangelischen Kirchen werden viel zu sehr als Orte, die zum Predigen bestimmt sind, angesehen, und auf die religiöse Erhebung des Gemüts in Gebet und Nachdenken wird zu wenig gedacht. Die Goetheschen Briefe aus Italien lehren nicht gerade Italien und Rom kennen. Sie sind ganz und garnicht beschreibend. Man muß mit den Gegenständen durch eigene Ansicht oder durch andere Reisen bekannt und bereits vertraut sein, um nur die Bemerkungen darüber ganz zu verstehen. Aber sie malen sehr hübsch und interessant Goethe selbst und zeigen, was Rom und Italien sind, durch den Eindruck, den sie auf Goethe gemacht haben. Insofern gehören sie zu den merkwürdigsten Schilderungen. Dann erkennt man auch daraus, welche unglaubliche Sehnsucht Goethe Jahre hindurch hatte, Italien und vor allem Rom zu sehen.

Ich reise morgen früh ab und gehe zunächst nach Breslau. Leben Sie herzlich wohl und seien Sie meiner unveränderlichen Teilnahme gewiß. Von Herzen Ihr H.

 

 

Tegel, den 7. September 1830.

 

I

hr am 31. v. M. abgegangener Brief hat mir, liebe Charlotte, sehr viel Freude gemacht, weil er in einer ruhigen, wirklich erfreulichen Stimmung geschrieben ist. Ich danke Ihnen sehr dafür. Ich lebe nun wieder ganz in meinen alten Gewohnheiten. Mein Befinden ist sehr erwünscht, und ich wüßte nicht, worüber ich zu klagen hätte. Wenn Sie aber von meiner kräftigen Gesundheit reden, so bedarf es doch einer Einschränkung. Meine Gesundheit ist gut, weil sie mich nicht leiden macht, und vorzüglich, weil ich sie durch die Regelmäßigkeit meines Lebens erhalte und befördere, übrigens sieht man mir das Alter viel mehr an als anderen Menschen von gleichen Jahren, und ich bin auch weniger rüstig, als es meinem und einem weit höheren Alter gemäß ist. Auch abwesend können Sie das an meiner Handschrift sehen, deren Ungleichheit und Mangel an Festigkeit garnicht von den Augen, sondern allein von der Hand herkommt. Das ist allerdings Folge der Jahre, aber daß es so früh und so plötzlich gekommen ist, ist allein Folge des Todes meiner Frau. Wenn man, wie es mein Fall war, so verheiratet war, wie man es einzig sein konnte und sein mußte, so ist die Trennung dieses Bandes nicht der bloß geänderte Zustand, sondern ein durchaus neuer. Ich klage nicht, ich weine nicht, der Tod einer Person, und noch dazu in höheren Jahren, ist ein natürliches, ein menschliches, ein unabänderliches Ereignis; ich suche nicht Hilfe oder Trost – denn der Kummer, der nach Hilfe oder Trost verlangt, ist nicht der höchste und kommt nicht aus dem Tiefsten des Herzens. Ich bin auch garnicht unglücklich, ich bin vielmehr auf die einzige Art glücklich und zufrieden, auf die ich es sein kann, aber ich bin anders als sonst, ich hänge mit dem Menschen und der Welt nur insofern zusammen, als ich Ideen daraus schöpfe, oder als ich durch äußerliches Wirken nützen kann, sonst habe ich keinen anderen Wunsch, als allein zu sein. Jede Störung meiner Einsamkeit, jeder, auch nur Stunden dauernde Besuch ist mir höchst unangenehm, wenn ich auch den Menschen, die mich besuchen, gut bin. Ich tue nichts dazu und suche nichts darin, es hat aber seit einem Jahre sehr zugenommen, und ich schließe daraus, daß es nicht vergehen wird. Sie können denken, daß ich in Berlin, wo ich so lange lebte, unter vielen Bekannten einige Männer und Frauen der engsten Vertraulichkeit habe. Ich pflegte sie wöchentlich, auch öfter zu sehen. Seit dem unglücklichen Verluste habe ich sie kaum drei- oder viermal gesehen. Sie fühlen und begreifen mich, und eine natürliche Diskretion hält sie ab, mich ohne ausdrückliche Einladung zu besuchen. Ich lade aber niemand ein, sondern überlasse das meinen Kindern. Ist jemand bei ihnen, so brauche ich nicht länger dabei zu sein, als ich Lust habe. Ich erzähle Ihnen das, weil Sie gern einen Begriff meines Zustandes haben. Mit meinen Augen geht es aber nicht schlimmer. Besser kann es natürlich auch nicht gehen. Vielmehr, da man in allen Dingen klar sehen muß, sage ich mir, daß die Schwäche mit den Jahren auch zunehmen muß, und daß leicht eine Zeit kommen kann, wo ich das Lesen und Schreiben ganz aufgeben werde. Bei Licht stelle ich es schon sehr ein. Ich sitze oft abends allein zwei bis drei Stunden, ohne scheinbar etwas zu tun. Ich kann aber nicht sagen, daß diese Zeit mir unnütz und noch weniger unangenehm verstriche. Das Träumen in Bildern und Erinnerungen hat etwas sehr Süßes, und strengt man sich an, ernsthafter und in gewisser Folge zu denken, so nützt es für die Arbeit des folgenden Tages. Ich ziehe dies einsame Sitzen einem Gespräch weit vor. Oft indes und in den früheren Abendstunden lasse ich mir vorlesen. – Heute war ein selten schöner Tag, eine milde, angenehme Luft, kein Wind, ein reiner, blauer, schöner Himmel, aber sehr herbstlich ist es bei uns schon, ich weiß nicht, ob auch bei Ihnen. Das Laub ist schon so gelb, und wenn man eine ganze Allee hinunter sieht, bemerkt man auch, daß die Bäume nicht mehr die Blätterfülle wie im Sommer haben. Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit hingeht. Eine Woche, ein Monat sind vorbei, und ehe man sich umsieht, das ganze Jahr. Es scheint garnicht der Mühe wert, eine so alte und allgemein anerkannte Sache noch zu wiederholen. Allein mir ist es wirklich, als wäre mir diese Empfindung nie sonst in gleichem Grade lebendig gewesen. Es mag daher kommen, daß ich die Zeit mehr nach Arbeit als nach sonst einer Ausfüllung messe, und da ist mir immer die Zeit, in der etwas zustande kommen soll, unzureichend zu demjenigen, was man darin erwartet. Kein Tag bringt ganz hervor, was er soll, und aus diesen Lücken der einzelnen Tage entsteht ein großes Defizit im ganzen. Ich habe darum den Winter nicht so ganz ungern, weil man doch, selbst in meiner, das ganze Jahr hindurch sehr ruhigen, mußevollen und freien Lage, immer im Winter mehr und angestrengter arbeitet.

Sie erwähnen der neuesten unruhigen Auftritte. Seit Sie schrieben, haben sich diese sehr vervielfältigt und sind sogar in unsere Nähe gekommen. Es ist schmerzlich mit anzusehen, wie Leidenschaft, wilde Roheit und Übermut den Frieden bedrohen, dessen man so lange genoß. Indes wird sich auch das wieder beruhigen. Die Dinge der Welt sind in ewigem Steigen und Fallen und in unaufhörlichem Wechsel, und dieser Wechsel muß Gottes Wille sein, da er weder der Macht noch der Weisheit die Kraft verliehen hat, ihn aufzuhalten und ihn zum Stillstand zu bringen. Die große Lehre ist auch hier, daß man seine Kräfte in solchen Zeiten doppelt anstrengen muß, um seine Pflicht zu erfüllen und das Rechte zu tun, daß man aber für sein Glück und seine innere Ruhe andere Dinge suchen muß, die ewig unentreißbar sind.

Leben Sie recht wohl, erhalten sie sich heiter und seien Sie meiner aufrichtigen und unveränderlichen Teilnahme versichert. H.

 

 

Tegel, den 6. Oktober 1830.

 

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ch habe, liebe Charlotte, Ihren Brief vom 28. v. M. erhalten und danke Ihnen sehr dafür. Es war hier seit acht bis zehn Tagen außerordentlich schönes Wetter, ich habe es recht genossen und bin die Nachmittage meistenteils ganz draußen gewesen. Ich fahre fort so wohl und gesund zu sein, daß, wenn ich auch auf alles einzelne an mir acht geben wollte, ich nicht wüßte, worüber ich zu klagen hätte. Es ist vielleicht unrecht, das so zu preisen und das Schicksal gleichsam herauszufordern und gewissermaßen das Glück zu berufen. Größtenteils ist das Aberglaube, aber doch nicht ganz. Wenn das Rühmen mit etwas Gutem mit einer vermessenen, inneren Zuversicht oder mit großer und ängstlicher Bangigkeit vor dem Umschlagen verbunden ist, so schlägt es wirklich leicht um. Man nenne es eine Strafe Gottes, oder man glaube, daß es ein für allemal in der sittlichen Weltordnung so eingerichtet sei, daß das sich überhebende wieder gedemütigt werden muß, so ist die Sache nicht abzuleugnen. Die Erfahrung lehrt sie, sie liegt im Glauben aller uns bekannten Zeitalter und Nationen, viele haben sie in denkwürdigen Sprichwörten, auch in Erzählungen, überlieferten und erdichteten, niedergelegt. Auf mich findet das indes keine Anwendung. Ich spreche gegen Sie mein Wohlsein und meine Gesundheit aus, weil ich weiß, daß es Sie freut und Ihnen eine Beruhigung ist und Trost, und weil das Aussprechen die natürliche Regung eines gegen das Schicksal dankbaren Gemüts, ja selbst ein Dank ist, ohne daß man etwas hinzufügt. Ich hege dabei keine Vermessenheit; ich habe, und gerade jetzt, wo viel Äußeres wankend werden kann, das klare Bewußtsein, daß alles, was jetzt die äußere Lage eines Menschen ruhig, sorgenlos, genußreich und selbst beneidenswert macht, sich, ohne daß man es ahnt, umwenden kann; viel leichter noch die Gesundheit in höheren Jahren. Ich habe aber darüber nicht die mindeste Ängstlichkeit. Ich genieße alles dankbar, was von außen kommt, aber ich hänge an nichts. Ich lebe durchaus nicht in Hoffnungen, und da ich nichts von der Zukunft erwarte, so kann sie mich auch nicht täuschen. Ich muß offenherzig gestehen, daß ich, wäre es auch unrecht, nicht an einer Hoffnung jenseits des Grabes hänge. Ich glaube an eine Fortdauer, ich halte ein Wiedersehen für möglich, wenn die gleich starke gegenseitige Empfindung zwei Wesen gleichsam zu einem macht. Aber meine Seele ist nicht gerade darauf gerichtet. Menschliche Vorstellungen möchte ich mir nicht davon machen, und andere sind hier unmöglich. Ich sehe auf den Tod mit absoluter Ruhe, aber weder mit Sehnsucht noch mit Begeisterung. In der Gegenwart suche ich mehr Tätigkeit als Genuß. Im Grunde ist aber dieser Ausdruck unrichtig. Der Genuß entsteht durch die Tätigkeit, beide sind also immer verbunden. Es gibt allerdings auch Genuß, der wie eine reine Himmelsgabe uns zuströmt. Den kann man aber nicht suchen, und es ist beklagenswert, wenn sich die Sehnsucht auf einen solchen heftet. Aber der große Genuß, das große Glück, das wahrhaft durch keine Macht entreißbare, liegt in der Vergangenheit und in der gewissen Betrachtung, daß das große Glück zwar ein großes, schätzenswürdiges Gut, aber daß doch die Bereicherung der Seele durch Freude und Schmerz, die Erhöhung aller edeln Gefühle der wahre und letzte Zweck ist, übrigens alles in der Welt wechselnd und seiner Natur nach vergänglich ist. Durch diese Ansicht versinkt das Leben in der Vergangenheit nicht in ein dumpfes Brüten über vergangene Freuden oder empfundene Leiden, sondern verschlingt sich in die innere Tätigkeit, welche das Gemüt in der Gegenwart beschäftigt. So ist es in mir, und da die Gefühle, auf welchen mein Leben beruht, jetzt alle in die Vergangenheit entrückt sind, auf eine zwar von Wehmut begleitete, aber ein so süßes und so sicheres, von Menschen und Schicksalen so unabhängiges Glück gebende Weise, daß nichts es zu entreißen, ja selbst nur zu schwächen vermag.

Ich bitte Sie, Ihren nächsten Brief am 26. d. M. zur Post zu geben; wenn Sie früher schreiben, ist mir Ihr Brief immer und an jedem Tage willkommen.

Leben Sie herzlich wohl. Mit aufrichtiger und unveränderter Teilnahme der Ihrige. H.

 

 

Tegel, den 6. November 1830.

 

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ch habe, liebe Charlotte, Ihren am 26. v. Mts. abgegangenen Brief vor einigen Tagen empfangen und danke Ihnen herzlich dafür. Er ist in einer so ruhigen Stimmung geschrieben, daß er mir dadurch doppelt erfreulich geworden ist. Denn ich bin überzeugt, daß gerade diese Stimmung auch für Sie die beglückendste ist. Der schöne Herbst ist aber auch recht gemacht, der Seele und dem Gemüt so viel Heiterkeit und eine so lebendige Farbe zu geben, als ein jeder nach seinem inneren Zustande in sich aufzunehmen fähig ist. Ich denke, ich erinnerte mich nie eines so schönen und beständigen Oktobers und beginnenden Novembers. Im vorigen Jahre lag um diese Zeit schon Schnee, der dann auch den ganzen Winter liegen blieb. Jetzt ist die Luft milde wie im Sommer, und kaum daß hier und da ein Regentag das wolkenlose Blau des klaren Himmels unterbricht. Gestern leuchteten schon die Steine sehr hell, als ich vom Spaziergange zurückkam, und auch heute war es noch lange nach Sonnenuntergang sehr schön. Die Monatsrosen sind in der reichsten, üppigsten Blüte. Es ist wirklich etwas Ungewöhnliches in dieser Witterung, als wollte der Himmel der Erde eine Entschädigung für den letzten langen Winter angedeihen lassen. Wie sehr ich mich aber auch freue über das schöne Wetter, so liebe ich doch eigentlich den Herbst nicht. Die Entblätterung der Bäume hat etwas so Trauriges und gibt der Natur, die erst überall Fülle, Reichtum und Üppigkeit ist, den entgegengesetzten Charakter der Dürftigkeit. Die herbstlichen Bäume haben auch für mein Gefühl etwas noch mehr Widerwärtiges als im Winter. Dann ist die Zerstörung wenigstens vorüber, im Herbst aber stellt sie sich noch im Werden selbst dem Auge dar. Die armen Bäume sehen so vom Winde gezaust und mißhandelt aus, daß man Mitleid, wie mit Menschen, mit ihnen haben möchte. Im früheren Herbst lieben viele Leute die mannigfaltigen Farben, welche dann das Laub annimmt. Ich habe das oft rühmen hören. Ich selbst aber habe nie Gefallen daran finden können und hätte diese Farbenpracht gern der Natur geschenkt. Wie viel schöner ist das allgemeine Grün des Sommers, und man hätte sehr unrecht, dieses einförmig zu nennen. Es hat vom Zarten und Hellen an bis zum tiefsten Dunkel so mannigfaltige Nüancen, daß auch der Wechsel und die Schattierungen das Auge erfreuen. Diese Farbennüancen sind aber milde und fein und nicht so grell als die herbstlichen Farben.

Die Versicherungen, die Sie mir geben, daß Sie nicht unruhig, nicht bekümmert sind, haben mich sehr gefreut, und ich glaube Ihnen gern. In dem Sinne, in welchem Unruhe und Unzufriedenheit zu tadeln sind, schreibe ich sie Ihnen auch nicht zu. Daß Sie bewegt und leicht gerührt sind, ist natürlich und schön. Auch Müdigkeit am Leben begreife ich sehr, obgleich ich dies Gefühl nie gehabt habe. Allein selbst ohne unglücklich zu sein, kann das Leben leicht Müdigkeit einflößen, ich möchte sagen, es muß es sogar, sobald es dem Menschen aufhört als ein Fortschreiten in irgendeiner Art zu erscheinen und ihm zu einem Rundgange wird, auf dem nun nichts Neues mehr erscheint. Auf diese Weise fühlt man das Nichtige, was das Leben sogleich hat, als man es mit dem höchsten Geistigen vergleicht, was aber verschwindet, solange man es als eine Stufe zu höherem Fortschreiten ansehen kann.

Ich weiß nicht, liebe Charlotte, ob zu einer geistigen Beschäftigung, wie ich Ihnen riet, es so vieler und so absichtlicher Zurüstungen bedürfe. Wie ich Ihnen zuerst davon schrieb, war wenigstens das mein Gedanke nicht. Zu dieser Beschäftigung gehört gerade Freiheit, und die wird durch so planmäßig angelegte Lektüre gehemmt. Mir scheint eine ganz entgegengesetzte Methode viel einfacher. Wozu soll man gerade wissen und lernen? Es ist viel besser und viel wohltätiger, zu lesen und zu denken. Das Lesen soll nämlich bloß den Stoff zum Denken hergeben, weil man doch einen Gegenstand haben muß, einen Faden nämlich, an dem man die Gedanken aneinander reiht. Hierzu braucht man aber beinahe nur zufällig ein Buch, wie es sich findet, in die Hand zu nehmen, kann es auch wieder weglegen und mit einem anderen vertauschen. Hat man das einige Wochen getan, so müßte es einem an aller geistigen Lebendigkeit und Regsamkeit fehlen, wenn man dann nicht von selbst auf Ideen geriete, die man Lust hätte weiter zu verfolgen, Dinge, über die man mehr zu wissen verlangte; so entsteht dann ein eigen gewähltes Studium, nicht ein durch fremden Rat gegebenes. So, dächte ich, hätte ich es alle Frauen machen sehen, die gern in ihrem Innern ein reges geistiges Leben führten. Sehen Sie nun zu, da wir die Sache jetzt besprochen und von manchen Seiten überlegt haben, welchem Vorschlage Sie folgen wollen. Schon das bloße Nachdenken über die Wahl einer Beschäftigung ist selbst eine Beschäftigung, und die Vorbereitungen gewähren schon einen Teil des Nutzens der Sache selbst. Ich werde Ihnen gern bei allem, soviel ich kann, behilflich sein.

Ich bitte Sie, Ihren nächsten Brief am 23. d. M. auf die Post zu geben. Ich wünsche von Herzen, daß Sie gesund bleiben mögen, und wenigstens nichts Äußeres Ihre Ruhe störe. Erhalten Sie sich dann auch die innere, und seien Sie von meiner unveränderlichen Teilnahme und Freundschaft überzeugt. Ihr H.

 

 

Tegel, den 4. Januar 1831.

 

D

a ich jetzt wenige Briefe selbst schreibe, so fiel es mir auf, als ich die Jahreszahl hinkritzelte, denn wirklich nur Kritzeln kann ich mein jetziges Schreiben nennen, daß ich dies in diesem Jahre zum ersten Male tue. Nehmen Sie also auch, liebe Charlotte, meinen herzlichen Glückwunsch an. Möge nichts Äußeres, Widerwärtiges Ihnen zustoßen, und mögen Sie immer die nötige Stärke haben, sich die innere Ruhe zu erhalten, wenn sie, wie man bei menschlichen Schicksalen nie eine sichere Bürgschaft hat, einmal bedroht würde. Nach der Art, wie die Menschen, vorzüglich die höheren Stände, leben, hat, genau genommen, der Jahreswechsel seine wahre Bedeutung verloren. Im Grunde fängt mit jedem Tag ein neues Jahr an. Nur die Jahreszeiten machen einen wirklichen Abschnitt. Diese aber haben bei uns kaum auf mehr als unsere Annehmlichkeit und Bequemlichkeit Einfluß. Mir ist aber demohngeachtet ein neues Jahr immer eine Epoche, die mich aufs neue in mir selbst sammelt. Ich übergehe, was ich getan habe, etwa noch tun möchte, ich gehe mit meinen Empfindungen zu Rate, mißbillige oder billige, befestige mich in alten, mache neue Vorsätze und bringe so gewöhnlich die elften Tage des Jahres müßig und arbeitslos hin. Ich lächle dann selbst, daß ich die guten Vorsätze mit Müßiggang verbringe, aber es ist nicht sowohl Müßiggang als Muße, und diese ist bisweilen heilsamer als Arbeit. Worauf aber diese periodischen Betrachtungen immer und gleichmäßig zurückkommen, ist die Freude, daß ein Jahr mehr sich an das Leben angeschlossen hat. Es ist dies keine Sehnsucht nach dem Tode, diese habe ich schon darum nicht, weil ja Leben und Tod, unabänderlich miteinander zusammenhängend, nur Entwickelungen desselben Daseins sind, und es also unüberlegt und kindisch sein würde, in demjenigen, was moralisch und physisch seinen Zeitpunkt der Reife haben muß, durch beschränkte Wünsche etwas ändern und verrücken zu wollen. Es ist auch nicht, ja noch viel weniger Überdruß am Leben. Ich habe dieselbe Empfindung in den genußreichsten Zeiten gehabt, und jetzt, da ich gar keiner äußeren Freude mehr empfänglich bin, wenigstens keine suche, aber still in mir und der Erinnerung lebe, kann ich noch weniger dem Leben einen Vorwurf zu machen haben. Aber der Verlauf der Zeit hat in sich für mich etwas Erfreuliches. Die Zeit verläuft doch nicht leer, sie bringt und nimmt und läßt zurück. Man wird durch sie immer reicher, nicht gerade an Genuß, aber an etwas Höherem. Ich meine damit nicht gerade die bloß trockene Erfahrung, nein, es ist eine Erhöhung der Klarheit und der Fülle des Selbstgefühls, man ist mehr das, was man ist, und ist sich klarer bewußt, wie man es ist und wurde. Und das ist doch der Mittelpunkt für des Menschen jetziges und künftiges Dasein, also das Höchste und Wichtigste für ihn. Das wird Ihnen, liebe Charlotte, mehr und besser zeigen, wie ich es meine, wenn ich das Alter der Jugend vorziehe. Mein eigentlicher Wunsch wäre aber, daß ich allein alt würde und alles um mich her jung bliebe. Damit würden dann auch die anderen zufrieden sein und gegen diese Selbstsucht keine Einwendung machen. Ganz im Ernst zu sprechen, obgleich auch das mein Ernst ist, ich meine nur in dem Ernst zu sprechen, den auch andere dafür nehmen würden – so bin ich weit entfernt zu verkennen, daß die Jugend im gewissen und im wahren Sinne eigentlich nicht bloß schöner und anmutiger, sondern auch in sich mehr und etwas Höheres ist als das Alter. Eben weil wenig einzelnes entwickelt ist, wirkt das Ganze mehr als solches; auch entwickelt das Leben nicht immer alle Anlagen, oft nur wenige, da ist dann die Jugend wirklich mehr. Auch liegt da in beiden Geschlechtern ein großer Unterschied. Dem Manne wird es viel leichter, den Schein und selbst die Wirklichkeit zu gewinnen, als sei er im Alter mehr und viel mehr geworden. Man schätzt in ihm viel mehr die Eigenschaften, die wirklich dem Alter mehr angehören, und erläßt ihm die Frische und den Reiz der jüngeren Jahre. Er kann immer Mann bleiben und selbst mehr werden, wenn er auch die körperliche Kraft sehr einbüßt. Bei Frauen ist das nicht ganz der Fall, und die Strenge der Willensherrschaft, die Höhe der freiwilligen Selbstverleugnung, durch die das weibliche Alter sich eine so jugendliche Kraft erhalten kann, haben nur wenige den Mut sich anzueignen. Allein auch in Frauen bewahrt das Alter vieles, was man in ihrer Jugend vergebens suchen würde, und was jeder Mann von Sinn und Gefühl vorzugsweise schätzen wird.

Über Ihre Beschäftigung mit Palästina freue ich mich sehr. Es ist Ihnen gewiß wohltätig, nicht ewig mit derselben Arbeit beschäftigt zu sein und nicht, wenn Sie dieselbe verlassen, sich wieder bloß Selbstbetrachtungen zu überlassen, sondern sich mit einem äußeren, den Geist anziehenden Gegenstand zu beschäftigen. Man kehrt durch einen solchen dennoch mittelbar in sich zurück.

In dem, was Sie über den Unterschied zwischen der neueren Geschichte und dem Altertum sagen, stimme ich Ihnen vollkommen bei. Man befindet sich auf einem ganz anderen Boden im Altertum. Es erging zwar den Menschen in jenen fernen Jahrhunderten auch wie uns jetzt. Aber die Verhältnisse waren natürlicher, einfacher, und wurden, was die Hauptsache ist, frischer aufgenommen, ergriffen, behandelt und umgestaltet. Auch ist die Darstellung würdiger, hinreißender und vor allem poetischer, die Poesie war damals noch wahre Natur, nicht eine Kunst, sie war noch nicht geschieden von der Prosa. Dies poetische Feuer, diese Klarheit anschaulicher Schilderung verbreitet sich nun für uns über das ganze Altertum, das wir nur durch diesen Spiegel kennen. Denn allerdings müssen wir uns sagen, daß wir wohl manches anders und schöner sehen, als es war. Ich will damit nicht geradezu sagen, daß die Art, wie die Dinge erzählt werden, unrichtig sei. Das nicht. Aber das Kolorit ist ein anderes. Wir sehen die Menschen und ihre Taten in anderen Farben. Auch fehlen uns eine Menge kleiner Details, wir sehen nicht alle, oft nur die hervorstechenden, wenn auch nicht mit Fleiß ausgewählten Züge. So wird alles überraschender und kolossaler.

Ich vermute, daß Sie bei dem schönen, gelinden und oft sonnigen Wetter auch täglich Ihren Garten besuchen. Ich lasse keinen Tag ohne Spaziergang vorübergehen. Die Sonne aber entgeht mir bisweilen, da ich mich in meinen Spaziergängen nicht nach ihr richte. Ich gehe immer Sommers und Winters am Nachmittag, und die Sonne versteckt sich hier in diesen Tagen um Mittag in Nebel.

Meine Gesundheit, denn ich sehe, daß ich noch nicht von ihr gesprochen, ist sehr gut. Ich habe bis jetzt in diesem Winter nicht einmal einen Schnupfen gehabt. Ich könnte also nur über Altersschwächen klagen; diese sind aber natürlich, und ich ertrage sie, ohne mich über sie zu wundern.

Ich bitte Sie, liebe Charlotte, Ihren nächsten Brief am 25. d. M. zur Post zu geben. Leben Sie nun recht wohl und rechnen Sie immer auf meine unveränderliche Teilnahme. H.

 

 

Tegel, den 6. April 1831.