Ein dünnes Blutgerinnsel floß über sein Gesicht. Er berührte das Blut mit einem Finger und hielt ihn hoch.

»Schuldig. Schuldig, schuldig, schuldig!«

Dann sackte er langsam in sich zusammen. Langsam glitt er zu Boden und blieb dort sitzen, ohne ein Wort zu sagen, ohne meine Gegenwart zu beachten. Ich stand auf, packte das Buch und schlich mich auf Zehenspitzen an ihm vorüber.

31. KAPITEL

Ich wollte keinen Menschen sehen. Wie ein Dieb schlich ich mich die Treppe hinunter und verließ das Haus durch die Hintertür. Das Tagebuch steckte ich sorgsam in die Innentasche meines dicken Mantels und marschierte los, weg von dem Haus. Ich wählte eine Route, die ich gut kannte, eine der längsten, freiesten und vertrautesten, die ich zurücklegen konnte, ohne darüber nachzudenken. Ich wanderte durch den Wald, die Hügel hinauf, wo der Wind mich beinahe umblies und wo sich mir an diesem kalten, stürmischen Tag eine Aussicht bot, daß ich fast glaubte, die Beacons in Wales zu erkennen.

Immer weiter marschierte ich, ohne mich umzusehen.

Als es dunkel wurde, kam ich zu einem Pub. Von dort aus rief ich auf Stead an und sagte Claud, er solle mich nicht zum Abendessen erwarten; ich versprach, später alles zu erklären. Ich bestellte eine Lasagne und ein warmes, schaumiges Bier, als Nachtisch einen sauren Rhabarber-kuchen mit Vanillesoße und schwarzen Kaffee. Die Frau hinter dem Tresen zeigte mir eine Landkarte, und ich wanderte auf der Landstraße unter dem gleißenden Licht des Vollmonds nach Stead zurück. Als ich meine Stiefel auf dem Kies der Auffahrt knirschen hörte, waren alle Lichter schon erloschen. Ich ging geradewegs in mein Zimmer und fiel sofort in einen tiefen Schlaf, das Tagebuch unter dem Kopfkissen.

Es war schon nach neun, als ich am nächsten Morgen herunterkam. Ich sah Fred und Lynn, die vor dem Haus ihr Gepäck in den Wagen packten. Claud reparierte ein Regalbrett in der Küche. Ich fragte ihn, wo Alan war, und er sagte mir, Theo und Alan seien in die Stadt gefahren.

Vermutlich zum Einkaufen. Er deutete zum Backofen, in dem Eier, Tomaten und Speck auf mich warteten. Ich verschlang alles und spülte es mit Tee und Orangensaft hinunter. Dann fragte ich Claud, ob er mir den Vormittag über seinen Wagen borgen könnte. Ja, antwortete er, wollte aber wissen, ob ich ihm vielleicht etwas zu sagen hätte. Noch nicht, vertröstete ich ihn. Ich trank den letzten Schluck Tee, nahm Clauds Schlüssel und ging zum Wagen. Unterwegs verabschiedete ich mich mit einer Umarmung von Fred und Lynn.

Im Polizeirevier von Kirklow fragte ich nach Helen Auster. Sie war nicht da.

»Kann ich mit ihrer Vertretung sprechen?«

Ich betrachtete die Plakate, bis ein untersetzter junger Mann erschien und sich als Detective Sergeant Braswell vorstellte. Ich zeigte ihm das Tagebuch und Natalies Brief und erklärte in wenigen Sätzen, wo ich beides gefunden hatte. Er machte ein ziemlich entsetztes Gesicht und begleitete mich durch das Revier zur Kriminalabteilung, die angenehm modern und zweckmäßig wirkte. Als ich eintrat, verstummte das Gespräch, und alle blickten mich neugierig an. Braswell führte mich durch den Raum zu einem Vernehmungszimmer, wo er mich fragte, ob er das Tagebuch einen Moment haben könne. Nach kurzer Zeit kam er mit zwei anderen Männern zurück; der jüngere von ihnen trug einen blauen Plastikstuhl, den er in eine Ecke des Raums stellte. Der andere, offensichtlich ein leitender Beamter, war schlank, hatte ein rotbackiges Gesicht und braune, glanzlose Haare, offensichtlich mühsam glattge-kämmt. Er trat auf mich zu und schüttelte mir die Hand.

»Ich bin Detective Superintendent Wilks. Ich leite die Ermittlungen«, erklärte er. »Detective Constable Turnbull kennen Sie ja schon.«

Ich nickte dem jungen Mann zu, der sich in der Ecke niedergelassen hatte. Wir nahmen alle Platz, während Wilks fortfuhr.

»Superintendent Braswell wird mit der Unterstützung von Constable Turnbull alle notwendigen Fragen stellen.

Ich wollte nur bei einem kurzen einleitenden Gespräch dabeisein, wenn es Ihnen recht ist. Kann ich Ihnen irgend etwas bringen lassen? Tee? Kaffee?«

Turnbull wurde beauftragt, vier Tassen Tee zu besorgen.

»Wo ist Detective Sergeant Auster?« fragte ich.

»Im Urlaub«, antwortete Wilks.

»Mitten im Verlauf der Ermittlungen?«

»Sergeant Auster arbeitet nicht mehr an dem Fall«, erklärte Wilks. »Auf ihre eigene Bitte hin.«

»Oh.«

»Nun, Mrs. Martello, können Sie uns etwas über dieses Tagebuch erzählen?«

In allen Einzelheiten berichtete ich, wie ich Alans Arbeitszimmer durchsucht und das Tagebuch mit dem Brief gefunden hatte.

»Ja«, sagte Wilks und hob den Brief hoch, der inzwischen in einer Klarsichthülle steckte. »Und es besteht kein Zweifel, daß es sich um die Handschrift von Natalie Martello handelt?«

»Keinerlei Zweifel. Zu Hause gibt es noch eine Menge anderer Dinge in ihrer Handschrift, falls Sie es überprüfen möchten.«

»Gut. Sie sagen, Alan Martello hat Sie dabei entdeckt.

Was geschah dann?«

Ich beschrieb die schreckliche Szene, so ruhig ich konnte, Alans Hände an meinem Hals, den Zusammenbruch, das »Schuldig, schuldig, schuldig«.

»Warum haben Sie Alan Martellos Arbeitszimmer durchsucht, Mrs. Martello?«

»Wie bitte?«

»Oberflächlich gesehen scheint es seltsam, wenn jemand seinen Schwiegervater verdächtigt, die eigene Tochter ermordet zu haben. Warum haben Sie ihn verdächtigt?«

Ich holte tief Luft. Vor diesem Teil hatte ich mich gefürchtet.

Doch ich erzählte die ganze Geschichte meiner Therapie bei Alex, wenn auch mit glühenden Wangen. Ich hatte erwartet, die Polizisten würden mitleidig lächeln und vielsagende Blicke wechseln, aber Wilks Stirn blieb die ganze Zeit konzentriert gerunzelt, und er unterbrach mich nur, um ein paar sachdienliche Fragen zu stellen: Unter welchen Umständen fand die Therapie statt, wie häufig wurden die Sitzungen abgehalten? Als ich geendet hatte, herrschte eine Weile Schweigen. Wilks sprach als erster.

»Nun, Mrs. Martello, lassen Sie uns etwas klarstellen: Sie behaupten also, Augenzeugin des Mordes gewesen zu sein?«

»Ja.«

»Sind Sie bereit, eine entsprechende Aussage zu machen?«

»Ja.«

»Und eventuell vor Gericht als Zeugin der Anklage aufzutreten?«

»Ja.«

»Gut.«

Wilks stand auf und steckte die Hände in die Hosen-taschen. Ich sah zu den anderen drei Polizisten.

»Ich hatte Angst, Sie würden mich auslachen«, sagte ich leise.

»Warum sollten wir?« fragte Wilks.

»Ich dachte, Sie glauben mir vielleicht nicht, daß ich mich daran erinnere, Alan gesehen zu haben.«

»Sie hatten ja offensichtlich selbst gewisse Zweifel daran.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Wilks zuckte die Achseln. »Sie sind mit Ihrem Verdacht nicht sofort zu uns gekommen. Statt dessen haben Sie eigene Ermittlungen angestellt, in deren Verlauf sowohl Sie als auch Alan Martello mit Beweismaterial herumhan-tiert haben.«

»Das klingt nicht, als wären Sie mir sonderlich dankbar.«

»Ich möchte nicht undankbar erscheinen, aber die Sache hätte auch anders ausgehen können. Sie hätten ebenfalls zu Schaden kommen können.«

»Was geschieht jetzt?«

»Wenn Sie dazu bereit sind, und das hoffe ich, werden die Detectives Braswell und Turnbull eine umfassende Aussage von Ihnen aufnehmen, was wahrscheinlich ein paar Stunden dauert. Ich sollte noch hinzufügen, daß Sie das Recht haben, sich mit einem Rechtsanwalt zu beraten, ehe Sie etwas sagen. Wir können Ihnen gern ein paar Namen nennen.«

»Schon in Ordnung. Und was werden Sie dann unternehmen? Werden Sie Alan zum Verhör herbringen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Wilks lächelte, doch in seinem Gesicht erkannte ich eine Spur von Verwirrung.

»Weil er schon da ist.«

»Wie um alles in der Welt haben Sie ihn so schnell geholt?«

»Er ist selbst gekommen. Er hat gesagt, er wolle eine Aussage machen. Um neun Uhr zwölf hat er das Revier betreten, und fünfundzwanzig Minuten später hat Alan Edward Dugdale Martello unaufgefordert ein Geständnis abgelegt, seine Tochter Natalie ermordet zu haben.«

»Wie bitte?«

»Er ist jetzt in einer Zelle im Untergeschoß, während die Anklage vorbereitet wird.«

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. »Hat er … Hat er gesagt, na ja, hat er gesagt, warum und wie er sie getötet hat?«

»Nein.«

»Werden Sie ihn anklagen?«

»Natürlich muß man auch die Möglichkeit eines falschen Geständnisses in Erwägung ziehen. Es gibt böse Zungen, die die Polizei schon des öfteren beschuldigt haben, solche Dinge zu provozieren. Wie dem auch sei – ganz unter uns« – Wilks sah mich mit hochgezogenen Brauen an –,

»nachdem ich nun Ihren Bericht gehört und das Tagebuch sowie den Brief gesehen habe, neige ich durchaus zu einer Anklageerhebung. Aber warten wir, bis wir Ihre vollständige Aussage aufgenommen haben, in Ordnung? Guy und Kevin werden Ihnen helfen, falls es Probleme geben sollte.

Dann bis nachher.«

Detective Turnbull kramte eine Weile in einer Pappschachtel herum und holte dann einen großen Doppel-Kassettenrecorder hervor. Während er geräuschvoll einige Kassettenschachteln durchwühlte, legte Detective Braswell ein Durchschlagpapier in einen dicken Formularblock. Als er meinen Blick bemerkte, lächelte er.

»Sie glauben vielleicht, Sie hätten das Schlimmste schon hinter sich. Aber Sie haben die ganzen Formulare nicht gesehen, die wir mit Ihnen noch durchgehen müssen.«

32. KAPITEL

Am Abend des Tages, an dem Alan sein Geständnis abgelegt hatte, rief mich um neun Uhr ein Reporter der Daily Mail an. Die Zeitung hatte über eine sogenannte

»Quelle« erfahren, daß Alan Martello eine Anklage wegen Mordes an seiner schwangeren Tochter drohte. Fünfundzwanzig Jahre nach der Tat, und zwar weil ich mich plötzlich daran erinnert hatte, Zeugin des Verbrechens gewesen zu sein. Ob ich bereit wäre, der Zeitung ein Interview zu geben? Ich war so perplex, daß ich mich erst einmal hinsetzen mußte, bis ich meine Stimme wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Wenn Alan angeklagt wurde, sagte ich, dann meines Wissens aufgrund seines Geständnisses. Aber der Mann ließ nicht locker und wollte wissen, ob es denn wahr sei, daß ich den Mord mit eigenen Augen gesehen hatte.

Einen Augenblick konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Sollte ich lügen? Oder war es besser, wenn ich mich kooperativ zeigte? Mir fiel mein letzter Auftritt in der Öffentlichkeit ein, als ich versucht hatte, mein Wohnheim zu verteidigen, das doch dem Allgemeinwohl dienen sollte. Jetzt wußte ich, was ich zu tun hatte. Ich riet dem Reporter, er solle sich am besten direkt an die Polizei wenden. Dann kam mir eine Idee. Da die Anklage wahrscheinlich unmittelbar bevorstand, war die Angelegenheit anhängig. Obwohl das meinem Gesprächspartner offenbar ganz und gar nicht schmeckte, gab er sich damit zufrieden.

Kaum hatte er aufgelegt, wählte ich Alex Dermot-Browns Nummer und erzählte ihm von dem Gespräch.

Entgegen meinen Erwartungen äußerte er sich weder mitfühlend noch schockiert, sondern fing an zu lachen.

»Wirklich?« fragte er nur.

»Ist das nicht furchtbar?« beharrte ich.

Alex schien nicht sonderlich beeindruckt und meinte nur, das sei doch zu erwarten gewesen. Ich hätte damit rechnen müssen, als ich mich entschloß, gegen Alan vorzugehen. Irgendwie war ich unzufrieden mit seiner Reaktion. Aber seine Stimme klang nett, als er fortfuhr:

»Gut, daß Sie sich melden, ich wollte Sie nämlich anrufen.

Haben Sie morgen nachmittag schon was vor?«

»Nein, jedenfalls nichts Wichtiges. Worum geht es denn? Soll ich zu einer Extrasitzung zu Ihnen kommen?«

»Nein, ich möchte Sie entführen. Um halb zwölf stehe ich vor Ihrer Tür.«

»Aus welchem Anlaß?«

»Das erkläre ich Ihnen unterwegs. Bis morgen.«

Ich spielte mit dem Gedanken, Alex zurückzurufen und ihm zu sagen, ich hätte keine Zeit, aber dann ließ ich es doch bleiben. Außerdem war ich neugierig.

Um einschlafen zu können, schluckte ich ein paar Tabletten, was zur Folge hatte, daß ich am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen aufwachte. Mein Frühstück bestand aus ein paar Aspirin, schwarzem Kaffee und einer Grapefruit. Anschließend duschte ich und zog mich an. Da ich das Ziel unseres Ausflugs nicht kannte, entschied ich mich für neutrale Garderobe. Ich zog einen dunklen, halblangen Rock an und dazu einen hellgrauen Pullover und eine dezente Kette, ein Hauch Lippenstift und Lidstrich, flache Schuhe. Falls ich aussah wie eine geistesgestörte Patientin, dann doch zumindest wie eine, die man getrost zurück in die Gemeinschaft entlassen konnte. Als ich fertig war, zeigte die Uhr erst halb elf.

Nervös versuchte ich, die verbleibende Stunde irgendwie totzuschlagen, rauchte, hörte Musik und las unkontrolliert in einem Roman. Ich hätte in den Garten gehen und ein paar Pflanzen setzen sollen, aber ich fürchtete, ich würde draußen nicht hören, wenn jemand an der Haustür war.

Schließlich klopfte es. Völlig unerwarteterweise trug Alex einen Anzug. Er hatte sich rasiert, und sein Haar war ordentlich gekämmt.

»Sie sehen sehr schick aus«, begrüßte ich ihn. »Aber das ist doch kein Rendezvous, oder?«

»Um halb zwölf vormittags? Übrigens sehen Sie auch sehr schick aus. Kommen Sie.«

Alex fuhr einen Volvo. Auf der Rückbank war ein Kindersitz befestigt; überall lagen Chipstüten, Kassetten und leere Kassettenhüllen herum. Alex fegte einiges davon vom Beifahrersitz, um Platz für mich zu schaffen. Dann ging es die Kentish Town Road hinunter in Richtung Süden.

»Also, wohin fahren wir denn nun?«

Alex schaltete den Kassettenrecorder ein. Musik von Vivaldi oder einem seiner Zeitgenossen erfüllte das Auto.

Monatelang hatte ich unablässig auf der Lauer gelegen, um irgendein Detail seines Privatlebens zu erhaschen, und nun saß ich plötzlich in seinem Wagen, zwischen seinen Kassetten, Miles Davis und Albinoni, Blur und die Beach Boys – alle von Hand beschriftet. Das schien mir so unwirklich, als säße ich auf einmal neben Neil Young oder einer anderen Berühmtheit. Allerdings schwang das Gefühl des Unerlaubten, Inzestuösen mit.

»Ich halte eine Einführungsrede auf einer Konferenz«, erklärte Alex. »Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht.«

»Weshalb gerade mich? «

»Weil es auf dieser Konferenz um das wiedergewonnene Erinnerungsvermögen geht.«

» Was? « Ich war fassungslos. »Meinen Sie das ernst?«

»Natürlich.«

»Ich verstehe das nicht. Es geht dabei aber doch nicht um mich persönlich, oder?«

Alex lachte. »Nein, Jane, es ist einfach ein Gebiet, das mich interessiert.«

Den Rest der Fahrt starrte ich aus dem Fenster, bis Alex in die Tiefgarage des Clongowes Hotel in Kingsway fuhr.

Wir nahmen den Lift nach oben, durchquerten die Lobby und gingen zum Tagungsraum, vor dem ein Schild stand mit der Aufschrift: »Das wiedergewonnene Erinnerungsvermögen – Opfer und Täter.«

Nachdem Alex uns beide im Tagungsbüro angemeldet hatte, erhielt ich einen Anstecker, auf dem mit Kugelschreiber mein Name stand. Man hatte offensichtlich nicht mit mir gerechnet. In dem großen Saal stand eine Anzahl Tische, wie für ein Examen. Da die meisten besetzt waren, steuerte Alex mit mir einen Platz ganz hinten an.

»Warten Sie hier auf mich«, sagte er. »Ich bin in etwa zwanzig Minuten wieder zurück. Es gibt ein paar Leute, mit denen ich Sie bekannt machen möchte.«

Er winkte mir zu und ging dann zwischen den Tischen nach vorne. Er brauchte eine Weile, da er fast jeden begrüßte, an dem er vorbeikam. Hände wurden geschüttelt, man umarmte sich und klopfte sich gegenseitig auf den Rücken. Eine schöne Frau mit dunklem Teint stöckelte auf ihn zu und schlang die Arme um ihn, wobei sie nur auf einem Fuß stand und den anderen in die Kniekehle des Standbeins legte. Eifersucht stieg in mir auf, aber ich unterdrückte sie sofort. Da ich Alex monatelang ganz für mich allein gehabt hatte, war für mich sein Auftreten in der Öffentlichkeit ein Schock. Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken. Auf dem Schreibtisch vor mir lag ein weißer Kugelschreiber und ein kleiner linierter Block mit der Aufschrift »Mindset« –

Bewußtseinsbildung/Bewußtsein. Außerdem eine Mappe, auf der das Thema der Konferenz stand. Innen steckten zahlreiche Unterlagen, darunter eine Liste mit den Namen und Berufsbezeichnungen der etwa hundert Tagungsteil-nehmer. Ärzte, Psychiater, Sozialarbeiter, Vertreter gemeinnütziger Organisationen und eine Anzahl von Personen – lauter Frauen – mit der Bezeichnung »Über-lebende«. Dazu zählte ich wohl auch.

Vor der ersten Reihe stand ein Tisch mit einem Krug Wasser und vier Gläsern, daneben ein Stehpult. Mit der für ihn typischen charmanten Schüchternheit, die mir bereits so vertraut war, begrüßte Alex noch einen letzten Kollegen und steuerte dann auf das Pult zu. Er klopfte an das Mikrofon, daß es durch den Raum hallte.

»Es ist zwölf Uhr fünfzehn, und ich denke, wir sollten anfangen. Ich möchte Sie zu unserer von Mindset organisierten diesjährigen Konferenz über das wiedergewonnene Erinnerungsvermögen herzlich begrüßen und freue mich, so viele bekannte Gesichter zu sehen. Dies ist Ihre Tagung, und sie ist wie im letzten Jahr so konzipiert, daß Sie sich aktiv daran beteiligen können. Folglich werde ich mich bemühen, meinen Redefluß zu bremsen. Ich bin mir bewußt, daß mein Publikum aus vielen angesehenen Analytikern besteht.«

Höflich verhaltenes Lachen ertönte. Alex hüstelte nervös und nahm einen Schluck Wasser – dabei bemerkte ich mit Schrecken, daß seine Hand zitterte – und fuhr fort.

»Ich möchte mich auf ein paar einführende Worte zur Tagesordnung beschränken. Dann wird Dr. Kit Hennessey einen Überblick über die jüngsten Forschungsarbeiten geben. Anschließend folgt eine kurze Mittagspause. Das Büffet finden Sie, wenn Sie aus dem Saal kommen und sich nach rechts wenden. Nach dem Essen werden in den einzelnen Konferenzräumen hier im Erdgeschoß verschiedene Arbeitsgruppen abgehalten. Einzelheiten entnehmen Sie bitte Ihren Unterlagen. Ich glaube, das ist alles. Nun zu meinem kurzen Beitrag.«

Alex öffnete den schmalen Dokumentenordner, den er bei sich trug, und holte ein paar Blätter heraus. Dieser Alex dort vorne hatte nichts mit dem entspannten, fürsorg-lichen Zuhörer gemein, mit dem ich in den vergangenen Monaten soviel Zeit verbracht hatte. Von Anfang an sprach er leidenschaftlich, klar und polemisch: »Die Tatsache, daß das wiedergewonnene Erinnerungsvermögen nach wie vor totgeschwiegen wird, gehört zu den größten Skandalen unserer Zeit.« Er erläuterte, wie Menschen, insbesondere Frauen, über Generationen hinweg gezwungen wurden, frühe Kindheitstraumata zu verbergen. Wenn sie darüber sprachen, glaubte ihnen niemand, sie wurden verleumdet, ausgestoßen und als krank abgestempelt, viele wurden gezwungen, sich einer Gehirnoperation zu unterziehen. Leider, so führte Alex weiter aus, waren gerade die medizinischen Autoritäten, die solche Mißstände hätten anprangern können – nämlich Psychiater und Analytiker –, ebenso wie die Vertreter von Recht und Gesetz – also Polizei und Juristen –, maßgeblich an diesen Unterdrückungsmaßnahmen beteiligt.

»Gesetz und Wissenschaft«, fuhr er fort, »wurden gegen die Opfer eingesetzt, genauso wie es schon immer mit bestimmten Gruppen geschehen ist, überall dort, wo es den Interessen der Machthaber entgegenkam, die Rechte einer Minderheit zu unterdrücken. Die sogenannte logische Beweisführung wurde als Unterdrückungsinstru-ment eingesetzt. Wir müssen den mißbrauchten Opfern, die den beschwerlichen Weg gegangen sind und ihr Gedächtnis wiedergewonnen haben, zurufen, daß wir ihnen glauben und sie unterstützen.«

Jetzt wußte ich, weshalb Alex mich mitgenommen hatte.

Auch ich hatte mich immer für verrückt gehalten und wie eine Außenseiterin gefühlt, gefangen in meinem eigenen Leid. Das also meinte Alex, wenn er sagte, ich müsse an die Öffentlichkeit gehen – die Erkenntnis, daß ich nicht allein mit meinem Problem war und daß andere Leute das gleiche durchgemacht hatten.

Alex hatte seine Einleitung beendet und erkundigte sich, ob noch jemand Fragen hatte. Mehrere Hände hoben sich.

Ein Mann – ein leitender Angestellter des Sozialamts –

dankte Alex für seine Rede, meinte aber, in seinem Bericht sei die politische Dimension vernachlässigt worden. Das Problem bedürfe einer gesetzlichen Regelung.

Weshalb befand sich unter den Zuhörern nicht ein Abgeordneter oder zumindest ein Stadtrat? Alex lächelte und zuckte die Achseln. Das frage er sich auch. Er kenne eine Menge Politiker, die sich dem Problem gegenüber aufgeschlossen zeigten, aber da die Konsequenzen, die sich aus den Erkenntnissen über die wiedergewonnene Erinnerung ergaben, so weitreichend waren und die herkömmlichen medizinischen und rechtlichen Bestimmungen so erdrückend, zeigten sich diese Herrschaften doch äußerst unwillig, in der Öffentlichkeit auch nur den geringsten Vorstoß zu unternehmen.

»Wir müssen die Angelegenheit anders vorantreiben«, erklärte er. »Einige markante Rechtsfälle könnten uns dabei helfen, die Problematik nachhaltig ins Bewußtsein der Menschen zu bringen. Wenn uns das gelingt und wir die Öffentlichkeit dafür sensibilisieren können, schwindet vielleicht auch die Angst vor dem Thema. Wenn die Sache erst mal ins Rollen kommt, werden die Politiker schon aufspringen.«

Die Zuhörer applaudierten. Als der Beifall verebbte, erhob sich eine Frau. Sie war Ende Vierzig, auffallend klein und nachlässig gekleidet. Statt über ihre eigenen Erfahrungen mit Mißhandlung zu berichten, stellte sie sich vor: Thelma Scott, Psychiaterin am St. Andrews Hospital in London. Alex gab durch ein knappes Nicken zu erkennen, daß er wußte, wen er vor sich hatte.

»Ich nehme an, Sie sind jedem von uns bekannt, Dr. Scott.«

»Dr.

Dermot-Brown, ich habe die Themen Ihres Tagungsprogramms durchgelesen«, sagte sie, die Unterlagen unterm Arm.

»›Glauben und fähig machen‹, ›Hört uns zu!‹, ›Hürden in der Rechtsprechung‹, ›Das Dilemma des Arztes‹,

›Schutz des Patienten‹.« Sie hielt inne.

»Und?« fragte Alex etwas gereizt.

»Ist dies ein Diskussions- und Frageforum? Dann vermisse ich Diskussionen über Schwierigkeiten bei der Diagnostik, über mögliche Rehabilitätsprobleme bei Feststellung des wiedergewonnenen Erinnerungsvermögens, über den Schutz der Familien im Fall falscher Schuldzuweisungen.«

»Das ist hier nicht das Thema, Dr. Scott«, entgegnete Alex.

»Schon immer ging es doch um den Schutz der Familie vor wahren Anschuldigungen. Bis jetzt ist das Problem noch nicht aufgetaucht, daß wir jemanden davon abhalten müssen, einen Mißbrauch anzuzeigen. Die Opfer sehen sich so massiv unter Druck gesetzt, daß sie selbst kaum damit fertig werden, geschweige denn öffentliche Erklärungen abgeben, um auf ihre Rechte aufmerksam zu machen.«

»Außerdem fällt mir auf, daß Vertreter einer bestimmten Berufsgruppe fehlen«, fügte Dr. Scott hinzu.

»So?«

»Unter den Teilnehmern befindet sich kein einziger Neurologe. Es wäre doch interessant, etwas über die Funktionsweise des Gedächtnisses zu erfahren.«

Alex seufzte ärgerlich. »Wir wissen nichts über den genauen Ablauf der Tumorentwicklung. Trotzdem wissen wir, daß Zigarettenrauchen das Krebsrisiko erhöht. Mich beeindruckt die derzeitige neurologische Forschung, Thelma, und ich teile Ihre Sorge. Ich wünschte, wir hätten ein wissenschaftliches Modell, das uns über die Funktionen und Störungen des Gedächtnisses Aufschluß gibt, aber unser begrenztes Wissen über die Funktionsweise des Gehirns wird mich nicht daran hindern, meinen Beruf auszuüben und Patienten zu helfen. Gibt es sonst noch Fragen?«

Als die Diskussion versiegte, stellte Alex noch Dr. Hennessey vor, einen großen schlanken Mann mit blondgelockten, langen Haaren, Nickelbrille und einem dicken Papierstapel unter dem Arm. Dann verließ Alex das Podium und kam auf Zehenspitzen zu mir nach hinten.

Unterwegs nickte er wieder dem einen oder anderen Zuhörer zu. Ich empfing ihn mit einem Lächeln.

»Sie haben offenbar nicht alle Zuhörer überzeugt?«

Er verzog das Gesicht. »Vergessen Sie Dr.

Scott«,

murmelte er. »Galilei ist damals vermutlich von Leuten wie Dr. Scott verfolgt worden, allerdings mit dem kleinen Unterschied, daß sie Folterinstrumente bei sich trugen. Es ist reiner Aberglaube, daß Menschen sich von vernünftigen Argumenten überzeugen lassen. Jemand hat mal gesagt, neue wissenschaftliche Erkenntnisse könnten sich nur auf eine Art durchsetzen: Alle Wissenschaftler, die an der veralteten Idee festhalten, müssen erst das Zeitliche segnen. Kommen Sie, gehen wir. Ich möchte Ihnen noch jemanden vorstellen.«

Als wir uns leise hinausschlichen, winkte er einer Frau, die an der Wand lehnte, und sie folgte uns. Der Vorraum war menschenleer.

»Ich möchte zwei meiner Starklientinnen miteinander bekannt machen«, sagte Alex. »Jane, das ist Melanie Foster, Melanie, das ist Jane Martello. Weshalb geht ihr beide nicht nach nebenan und schnappt euch was zu essen, bevor die Meute eingelassen wird?«

Melanie wirkte in ihrem grauen Flanellkostüm so elegant, daß ich mir richtig schäbig vorkam. Sie war höchstens fünf Jahre älter als ich, aber ihr Gesicht war voller kleiner Fältchen. Das graue, dicke Haar war kurz geschnitten. Sie trug eine runde Brille und lächelte etwas unsicher. Ich fand sie sofort sympathisch. Wir sahen einander an, nickten und steuerten auf das Essen zu.

Ein Büffet war aufgebaut. Die Kellner standen in Grüppchen beisammen und warteten auf den Ansturm der Gäste. Ich wollte mir gerade ein wenig Käse und Brot nehmen, als Melanie einen großen Löffel Pasta mit würziger Soße auf meinen Teller lud. Ich kicherte und protestierte nicht.

»Sie sehen so dünn aus«, sagte sie. »Hier.« Neben die Nudeln häufte sie Tomatensalat und grüne Bohnen, bis ich mit gespieltem Entsetzen »Halt!« schrie. »Sie können mich doch nicht allein essen lassen«, meinte Melanie.

Wir trugen unsere Tabletts zu einem Tisch in der Ecke, wo wir nicht zu fürchten brauchten, Gesellschaft zu bekommen. Jetzt war wohl die Reihe an mir, etwas zu sagen.

»Ich sollte wahrscheinlich fragen, woher Sie Alex kennen«, begann ich.

»Ja«, antwortete Melanie in einem sicheren Lehrerin-nenton.

»Aber um es vorwegzunehmen, ich weiß, woher Sie ihn kennen.«

»Wirklich?« fragte ich entsetzt. »Aber sollte das nicht eigentlich geheim sein?«

»Ja, da haben Sie natürlich recht«, räumte sie ein. »Aber Ihr Fall wird mittlerweile schon in der Öffentlichkeit breitgetreten, stimmt’s?«

»Ja, schon, aber trotzdem …«

»Meine liebe Jane, ich bin hier, um Ihnen zu helfen, und Sie können mir glauben, Sie werden Hilfe benötigen.«

»Weshalb gerade Sie, Melanie?«

Als Melanie antwortete, verschluckte sie sich an einem Bissen Sandwich. Ich klopfte ihr auf den Rücken.

»Vielen Dank, jetzt geht’s wieder«, meinte sie nach einiger Zeit. »Ich habe meine Therapie bei Dr. Dermot-Brown vor zehn Jahren begonnen. Ich hatte Depressionen, und meine Ehe lief schlecht. Außerdem kam ich mit meinem Job nicht zurecht. Sie wissen ja, die normalen Probleme einer berufstätigen Frau.«

Ich lächelte verständnisvoll.

»Mehrere Jahre lang sprach ich über meine frühe Kindheit, aber es änderte sich nichts. Eines Tages sagte Dr. Dermot-Brown, er hätte das Gefühl, ich sei von einem nahen Verwandten mißbraucht worden und würde die Erinnerung verdrängen. Daraufhin bin ich schrecklich wütend geworden. Ich habe den Gedanken weit von mir gewiesen und wollte die Analyse hinschmeißen, aber irgendwas hielt mich davon ab. Also machten wir weiter.

Wir streiften bestimmte Abschnitte meiner Kindheit, Erinnerungslücken, aber es gab keine Fortschritte. Alles schien sinnlos zu sein, bis Alex vorschlug, ich solle mir einfach vorstellen, ich sei mißbraucht worden, und von diesem Punkt aus weitermachen.«

Melanie machte eine Pause und nahm einen großen Schluck Wasser. »Auf einmal öffneten sich alle Schleusen. Mich quälten Bilder, die allesamt mit Sexualität zu tun hatten. Als ich genauer hinsah und mich auf sie einließ, merkte ich, daß es Erinnerungen an sexuelle Übergriffe meines Vaters waren. Keine Angst, ich erzähle Ihnen nichts darüber, was mein Vater mit mir gemacht hat. Es waren schreckliche, perverse Sachen, die ich mir selbst kaum vorstellen kann. Während Alex und ich uns weiter vortasteten, deckten wir immer mehr auf.

Ich begriff, daß meine Mutter die Verbündete meines Vaters war und sein Treiben nicht nur duldete, sondern aktiv unterstützte. Mein Bruder und meine Schwester wurden genau wie ich vergewaltigt und mißbraucht.«

Sie sprach erschreckend ruhig, als hätte sie geübt, diese entsetzliche Geschichte zu erzählen. Wie sollte ich reagieren?

»Das ist furchtbar!« sagte ich und wußte sofort, wie unzulänglich diese Bemerkung war. »Hatten Sie keinerlei Zweifel, daß Sie es sich nur eingebildet haben?«

»Ich quälte mich unendlich und brauchte viel Hilfe und Zuspruch, die ich zum größten Teil von Alex bekommen habe.«

»Was haben Sie dann getan? Sind Sie zur Polizei gegangen?«

»Ja, nach einiger Zeit. Man hat meinen Vater vernom-men, aber er hat alles abgestritten, so daß es nie zu einer Anklage kam.«

»Und Ihre Geschwister? Was haben die gesagt?«

»Sie haben sich auf die Seite meiner Eltern gestellt.«

»Und was ist aus Ihrer Familie geworden?«

»Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr. Was habe ich denn mit Menschen zu schaffen, die mein Leben ruiniert haben?«

»O Gott, das tut mir leid. Und wie ging es dann für Sie weiter? Wie hat Ihr Mann reagiert?«

Ich war entsetzt, aber Melanie beschrieb ganz distanziert, fast amüsiert ihr gescheitertes Leben.

»Er wurde überhaupt nicht fertig damit. Mir ging es ein, zwei Jahre fürchterlich schlecht, ich wurde krank und konnte nicht arbeiten. Ich war einfach fix und fertig.

Schließlich zog ich aus und kündigte meine Arbeit. Auf diese Weise habe ich fast ein Jahrzehnt meines Lebens verloren. Ich hab mir immer Kinder gewünscht. Meine Therapie bei Alex begann ich mit Mitte Dreißig. Jetzt bin ich sechsundvierzig. Ich werde nie Kinder haben. Ich brauche mich nur noch um mich selbst zu kümmern.«

»Lieber Himmel, Melanie, war es das wirklich wert?«

Ihr seltsames Lächeln verschwand. »Wert? Mein Vater hat Sodomie mit mir getrieben, als ich fünf Jahre alt war!

Meine Mutter wußte Bescheid, nahm es aber nicht zur Kenntnis. Das haben sie mir angetan, und damit muß ich fertig werden.«

Mir war übel, und das Essen blieb mir im Hals stecken.

Ich mußte mich zwingen zu schlucken.

»Haben sich Ihre Eltern nie bei Ihnen entschuldigt für das, was sie Ihnen angetan haben?«

»Entschuldigt? Sie haben alles abgestritten.«

»Und jetzt?« Das war wahrscheinlich eine blöde Frage, aber mir fiel nichts Besseres ein.

»Ich habe vor ein paar Jahren eine Selbsthilfegruppe gegründet – für Menschen, die sich nachträglich an einen Mißbrauch erinnert haben. Deshalb wollte Alex auch, daß wir uns kennenlernen. Wir veranstalten heute nachmittag einen Workshop und haben dabei an Sie gedacht. Hätten Sie Lust mitzumachen?«

»Ich bin mir nicht sicher, Melanie.«

»In der Gruppe sind wirklich ganz großartige Frauen, Jane, ich denke, sie werden Ihnen gefallen. Geben Sie uns eine Chance. Vielleicht können wir Ihnen helfen.« Sie sah auf ihre Uhr. »Ich muß jetzt gehen. Wir treffen uns um zwei, im Konferenzraum 3, am Ende des Flurs. In Ordnung?«

Ich nickte. Melanie warf den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter, nahm einen Stoß Akten, und während sie sich durch die Menge kämpfte, nickte sie hier und da jemandem zu. Sie hätte genausogut auf dem Weg zu einem Fest oder zur Versammlung einer Frauenorga-nisation sein können, aber nein, sie ging zu einem Seminar für mißhandelte Menschen, dem sie sogar vorstand. Eine Frau, die viel gelitten, aber überlebt hatte.

Ich brauchte dringend eine Zigarette und einen Kaffee.

Also reihte ich mich in die Schlange ein, aber als ich bei den Tassen angelangt war und mir einschenken wollte, zitterte meine Hand so stark, daß sich der Kaffee überall-hin ergoß, nur nicht in meine Tasse.

»Lassen Sie nur, ich schenke Ihnen ein«, sagte eine Frau neben mir und füllte meine und ihre Tasse. Dann führte sie mich zum nächsten freien Tisch, und wir setzten uns. Ich erkannte sie sofort wieder, bedankte mich bei ihr, und sie streckte mir ihre Hand entgegen.

»Guten Tag, mein Name ist Thelma Scott.«

»Ja, ich weiß. Ich habe Ihren Diskussionsbeitrag vorhin gehört.«

»Ich weiß auch, wer Sie sind«, entgegnete sie trocken.

»Sie sind Jane Martello, Alex Dermot-Browns neuestes und bestes Vorzeigeexemplar.«

»Jeder, dem ich hier begegne, scheint mich zu kennen.«

»Sie sind eben ein wertvolles Objekt, Mrs. Martello.«

Das ging nun wirklich zu weit.

»Dr. Scott, ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, aber ich weiß wirklich nicht, was ich hier soll, und ich möchte keinesfalls in einen Streit verwickelt werden.«

»Dafür ist es jetzt ein bißchen spät, finden Sie nicht auch? Ihr Schwiegervater ist auf dem Weg ins Gefängnis und wird dort bis ans Ende seiner Tage bleiben. Und Sie haben ihn dorthin gebracht.«

»Er hat das Verbrechen gestanden, Dr. Scott. Er wird sich schuldig bekennen.«

»Ja, ich weiß«, sagte sie offensichtlich wenig beeindruckt.

»Was halten Sie von Melanie Foster?«

»Ihr Fall ist wirklich tragisch.«

»Dieser Meinung bin ich auch.«

Ich trank meinen Kaffee aus. »Ich muß jetzt gehen«, sagte ich und erhob mich langsam.

»Zu Melanies Workshop?«

»Ja.«

»Um schwesterlichen Zuspruch zu bekommen? Damit Ihnen jemand bestätigt, daß Sie richtig gehandelt haben?«

»Das ist nicht meine Absicht.«

Amüsiert zog Thelma Scott die Stirn kraus. »Wirklich nicht? Na, dann ist ja alles in Ordnung«, sagte sie und öffnete ihre Geldbörse.

»Ich zahle«, erklärte ich.

»Da ist nichts zu zahlen«, erwiderte sie. »Unser Kaffee geht auf Kosten von Mindset. Ich möchte Ihnen nur etwas geben.«

Sie zog eine Karte hervor und reichte sie mir.

»Meine Visitenkarte, Jane. Meine private Telefonnummer und Adresse stehen auf der Rückseite. Sollten Sie jemals Lust verspüren, mit mir zu reden, rufen Sie mich an. Jederzeit. Ich sichere Ihnen absolute Diskretion zu, was bei anderen Kollegen nicht immer der Fall ist.«

Zögernd nahm ich die Karte. »Dr. Scott, ich bezweifle, daß wir uns etwas zu sagen haben.«

»Auch gut. Dann rufen Sie eben nicht an. Aber stecken Sie die Karte in Ihren Geldbeutel. Na los, ich möchte sehen, wie Sie es tun.«

»Okay, okay.« Folgsam tat ich – unter ihrem wachsamen Auge –, was sie mir befohlen hatte. »So, ich hab sie unter meine Kreditkarte gesteckt.«

Bevor ich aufstehen konnte, beugte sich Thelma Scott über den Tisch und ergriff meine Hand.

»Heben Sie die Karte auf. Es ist noch nicht überstanden, Jane«, sagte sie mit einer Dringlichkeit, die mich überraschte.

»Passen Sie auf sich auf.«

»Keine Sorge«, erwiderte ich und ging hinaus.

Ich betrat den Konferenzraum 3, der erheblich kleiner war als der Saal, in dem die Einführung stattgefunden hatte.

Die zehn im Kreis aufgestellten Stühle waren schon fast alle besetzt; die Frauen musterten mich neugierig, als ich Platz nahm. Sollte ich mich vorstellen? Ob es unhöflich war, bis zum Beginn des Workshops eine Zeitschrift zu lesen? Ich öffnete meine Mappe, als müßte ich noch dringend etwas vorbereiten. Ich merkte, wie noch mehr Teilnehmer eintrafen. Als Melanie mich begrüßte, blickte ich auf. Kein Platz war mehr frei. Da drei Teilnehmer stehen mußten, darunter auch Alex Dermot-Brown, wurden zusätzliche Stühle hereingetragen. Alle rutschten ein Stück nach hinten, um den Kreis zu vergrößern.

»Guten Tag«, sagte Melanie, nachdem wir alle saßen.

»Ich begrüße Sie zu unserer Arbeitsgruppe ›Hört uns zu!‹.

Ich werde mich bemühen, nicht allzu viele Worte zu machen. Wie Sie alle wissen, ist dies keine gewöhnliche Gruppensitzung. Unter uns befinden sich einige Beobachter und ein Gast. Ich möchte nicht zu förmlich sein und übernehme die Diskussionsleitung nur im weitesten Sinne.

Ich schlage vor, daß sich alle erst einmal vorstellen und erklären, weshalb sie hier sind. Wir verfahren im Uhrzeigersinn, ich fange an. Ich heiße Melanie. Ich habe mich daran erinnert, daß ich von meinen Vater und meiner Mutter mißbraucht worden bin.«

Nun stellten sich alle nacheinander vor – soviel Leid war kaum zu ertragen. Schließlich war die Reihe an mir.

Meine Wangen brannten.

»Ich heiße Jane«, sagte ich. »Bitte, ich bin leider nicht recht auf das hier vorbereitet. Ich habe nichts von Ihrer Arbeitsgruppe gewußt. Ich wollte nur mal zuhören, um die Gruppe kennenzulernen.«

»Das ist doch in Ordnung, Jane«, sagte Sylvia, eine hübsche, robuste Frau mittleren Alters. »Zuerst mal müssen wir lernen, Worte für das zu finden, was uns angetan wurde. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, daß man uns nicht glaubt und uns verunsichern will. Aus diesem Grund haben wir unser Trauma verdrängt.«

»Entschuldigung«, sagte die Frau links von mir. »Darf ich mich noch vorstellen, bevor wir mit der Diskussion beginnen?«

»Ja, natürlich«, sagte Melanie. »Nur zu.«

»Hallo, ich heiße Sally, und ich erinnere mich daran, daß mich mein Vater und ein Freund der Familie mißbraucht haben. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrochen habe, Sylvia.«

Alle schwiegen verlegen, denn Sylvia war eigentlich mit ihren Ausführungen fertig gewesen. Ich nutzte die Stille, um noch etwas zu sagen.

»Es tut mir leid, aber ich bin noch nicht soweit. Sie sind alle so mutig, und ich halte es kaum aus, mir vorzustellen, was ihr durchgemacht habt. Für mich ist das alles noch so frisch.«

»Wir sollten Ihnen nicht leid tun«, meinte Carla, eine junge Frau mit wunderschönen hennaroten Haaren und einem phantasievollen, langen, bunten Kleid. Sie sah traumhaft aus – wie eine Zigeunerin. »Das Schreckliche ist die Unfähigkeit, darüber zu reden. Hier in der Gruppe haben wir versucht, uns von dieser Ohnmacht zu befreien.

Jane, ich weiß nicht viel über Sie, aber wahrscheinlich zweifeln Sie noch an den Erinnerungen, die Ihr Gedächtnis freigegeben hat, fühlen sich schuldig und machen sich Sorgen über die Konsequenzen. Mißbrauchs-opfer durchleben alles noch einmal, wenn sie versuchen, das Geschehene in Worte zu fassen. Jeder, der die Aussage einer mißhandelten Frau in Frage stellt, wird selbst zum Täter. Der Zweck unserer Gruppe besteht darin, daß wir uns gegenseitig helfen und unterstützen.

Wir glauben und vertrauen Ihnen, Jane.«

»Danke. Sicher ist Ihre Gruppe eine wichtige emotionale Unterstützung.«

Die Frauen lachten und sahen einander an. Melanie klopfte mit dem Stift auf ihren Ordner und bat um Ruhe.

Dann sagte sie:

»Es geht nicht nur um Gefühle, sondern um Politik.

Wenn Sie bei uns mitmachen wollen, was wir sehr hoffen, werden Sie bald herausfinden, daß Mißbrauch kein isolier-tes Verbrechen ist und selbst von Menschen in verantwortlichen Positionen verübt wird. Das ist die Situation, gegen die wir antreten.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein!« protestierte ich.

»Denken Sie an Ihre persönliche Erfahrung, Jane. Sie haben einen Mörder und Vergewaltiger entlarvt, der fünfundzwanzig Jahre seiner gerechten Strafe entgangen ist. Und jetzt? Wird Ihre Aussage ernstgenommen? Wird sie aktenkundig festgehalten?«

»Ich habe eine Aussage gemacht. Aber er hat ein Geständnis abgelegt«, räumte ich ein. »Er bekennt sich schuldig.«

»Wie praktisch«, sagte Melanie. »Die Leute wollen nicht wahrhaben, daß Mißhandlungen weitverbreitet sind und nicht nur ein Irrer zu dieser Tat fähig ist, sondern ebenso unser Nachbar, der Mann nebenan. Es ist so schrecklich, daß man gar nicht daran denken will. Deshalb sind wir, die Opfer, diejenigen, die sich nicht daran erinnern sollen und die beschimpft werden, wenn sie es doch tun. Aber damit ist jetzt Schluß. Bald werden sich uns noch mehr Leute anschließen, bis der Schutzwall bricht, der die Täter umgibt. Die Polizei und Ihre Familien haben Ihnen einzureden versucht, Ihre eigene Sicht der Dinge zu verleugnen und sich von sich selbst zu entfremden. Wir wollen Ihnen helfen.«

Nach dem Workshop wollte Alex mir noch andere Leute vorstellen, aber ich sagte ihm, daß ich gern nach Hause fahren möchte. Ich sagte ihm, ich werde ein Taxi nehmen, aber er bestand darauf, mich heimzufahren. Ich schwieg lange, während wir uns langsam durch den Berufsverkehr bewegten.

»Wie fanden Sie Melanies Gruppe?«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es fällt mir schwer, über soviel Leid vernünftig zu reden.«

»Hätten Sie Lust mitzumachen?«

»Himmel, das weiß ich nicht, Alex. Früher mußte ich mal für ein Schulfest der Jungen einen Flohmarkt organi-sieren. Danach habe ich mir geschworen, mich nie mehr für so etwas zu engagieren. Menschenmengen sind nicht meine Stärke.«

Wieder schwiegen wir lange. Aber mir lagen zwei Fragen auf dem Herzen.

»Alex«, begann ich schließlich. »Sie sind Spezialist auf diesem Gebiet, und ich hatte tatsächlich eine Erinnerung, die darauf wartete, aufgedeckt zu werden. Ist das nicht seltsam?«

»Nein, Jane, das ist es nicht. Entsinnen Sie sich nicht an unser erstes Gespräch? Ich glaubte, ich könnte nichts für Sie tun. Sie sagten, es gäbe ein schwarzes Loch mitten in Ihrer goldenen Kindheit. Das hat mein Interesse geweckt.

Ich suchte nach einer verschütteten Erinnerung, weil ich felsenfest davon überzeugt war, daß es eine gab.«

»Und Sie können sich nicht vorstellen, daß Sie sich vielleicht getäuscht haben?«

»Sie haben doch das wiedergefunden, was verschüttet war, oder nicht?«

»Ja, aber ich wünschte, ich könnte mich darüber freuen.«

»Denken Sie an das, was Melanie gesagt hat. Es ist nur natürlich, daß eine wiedergewonnene Erinnerung Schuldgefühle weckt. Vorher schien das Leben einfacher zu sein, nicht wahr? Aber schließlich haben nicht Sie Natalie umgebracht.«

»Alex, Sie haben das doch nicht etwa einem Journalisten erzählt?«

Unvermittelt riß Alex das Lenkrad herum und hielt an.

Jemand hupte und schrie etwas.

»Jane, ich bin Ihr Arzt. Wie können Sie so etwas von mir glauben!«

»Auf der Konferenz war mein Fall nicht gerade ein Geheimnis.«

»Die Menschen dort haben alle viel durchgemacht.

Diese Leute können Ihnen helfen und umgekehrt. Jane, Sie sind stark und intelligent, Sie haben überlebt. Sie könnten viel Gutes bewirken.«

»Aber das geht alles viel zu schnell, Alex. Ich kann keine Verantwortung für andere übernehmen. Es fällt mir schon schwer genug, die Verantwortung für mich selbst zu tragen.«

»Sie sind stärker, als Sie denken. Wenn Sie wollten, könnten Sie zu einer bedeutenden Sache beitragen. Vielleicht sollten Sie mal daran denken, ein Buch zu schreiben über das, was Sie erlebt haben, auch wenn es nur einem therapeutischen Zweck dient. Nein, sagen Sie nichts, behalten Sie es nur im Kopf. Wenn Sie Hilfe brauchen, könnten wir es auch gemeinsam versuchen.«

Ich schüttelte den Kopf. Ich war völlig erschöpft.

33. KAPITEL

Unter allen Darstellern, die in diesem schrecklichen Drama mitwirkten, kam Claud zweifellos die Rolle des Helden zu. Monatelang – nein, jahrelang, um ehrlich zu sein – war er ein fester Bestandteil meines Lebens, bis ich beschloß, ihn daraus zu verbannen. Aber jetzt war mir ein Leben ohne ihn kaum vorstellbar, obwohl ich es vermied, allzu häufig mit ihm zusammen zu sein oder mich bei unseren Begegnungen zu stark auf ihn einzulassen. Kim wurde nicht müde, mich zu warnen.

»Sei nett zu ihm«, riet sie mir. »Aber überleg dir gut, wohin deine Freundlichkeit unter den gegebenen Umständen führen kann.«

Es gab Tage, da wollte ich ihn zurückhaben und konnte mir einfach nicht erklären, weshalb ich ihn überhaupt verlassen hatte. Dann hantierte ich in der Küche mit meinen Kochtöpfen herum, buddelte im Garten, trank Gin und be-mühte mich, das flaue Panikgefühl im Magen zu ignorieren.

Claud war natürlich sehr bald über die Sache mit Alan informiert worden, was aber weder sein Entsetzen milderte noch den Schmerz linderte. Als erstes übernahm er, der Erstgeborene, die Rolle des Familienoberhaupts. Benommen und bewundernd beobachtete ich, wie er sich den Journalisten stellte, Briefe verfaßte und Mutters Habselig-keiten ordnete. Er vermittelte den Eindruck, als kümmere er sich Tag und Nacht um das Wohl seiner Mitmenschen.

Er wirkte plötzlich jünger. Die tiefen Falten um seinen Mund, die seinem Gesicht den Ausdruck eines traurigen Mannes mittleren Alters verliehen, verschwanden, und seine Augen bekamen einen ungewohnten Glanz. Während jeder um ihn herum zu zerbrechen drohte, erschien er unerschütterlich. Er wirkte ausgeglichen wie seit Jahren nicht mehr und war voller Tatendrang. Vielleicht waren das ja die Vorzeichen eines Nervenzusammenbruchs.

Er machte mir Vorwürfe. Ich hatte das Gefühl, als entgehe ihm keine meiner Bemerkungen und Gesten, als achte er stets darauf, nichts zu sagen, was mich verletzen könnte. Seine Freundlichkeit war unerträglich und erinnerte mich an unsere ersten Rendezvous, als er mir stets die Tür aufhielt, mir Blumen mitbrachte, mich nie in meinem Redefluß unterbrach und auch nie vergaß, mir Kompli-mente zu meinem Äußeren zu machen. Immer war er bemüht, Streit zu vermeiden, und wenn er doch einmal anderer Meinung war, blieb sein Ton dennoch höflich und behutsam. Er brachte mich damit fast zu Raserei. Erst als unsere beiden Söhne geboren waren, wir eine Hypothek und einen großen gemeinsamen Freundeskreis hatten, ließ seine Anspannung nach. Allerdings bezweifle ich, daß er sich meiner je wirklich sicher fühlte, denn er hatte immer große Angst, mich zu verprellen und zu verlieren.

Aber eines Tages passierte es dann natürlich, und vielleicht verlor er mich, weil er sich mir nie ganz öffnen konnte. Seine Liebe und seine Stärke hatte er mir gezeigt, mich aber nicht an seinen Ängsten und Unsicherheiten teilhaben lassen. Er hatte sich zu sehr bemüht, Stärke zu zeigen. Jetzt, in seiner neu erwachten Besorgtheit, hielt er mich über alle neuen Entwicklungen auf dem laufenden.

Er erzählte mir, wie Theo, Jonah und Alfred und ihre Frauen und Kinder mit der Situation umgingen. Er ließ mich sogar wissen, was sie über mich sagten. Allerdings informierte er mich nie vollständig – ich spürte, wie er alle Bitterkeit ausblendete, die sie mir gegenüber empfanden.

»Und was ist mit Alan?« fragte ich ihn bei einem seiner ersten Besuche.

»Er schweigt«, erwiderte Claud. »Er redet mit niemandem.«

Die Vorstellung, daß sich Alan – den ich von jeher als Menschen mit unstillbarem Rededrang kannte – in Schweigen zurückzog, war irgendwie beängstigend. Ich stellte mir vor, wie seine Gedanken gegen diese Mauer anrannten.

Je näher der Prozeßtermin rückte, desto verwundbarer und wehrloser fühlte ich mich. Eines Tages wurde ich ohne mein Wissen auf dem Weg zum Einkaufen fotografiert. Das Foto erschien später unter der Überschrift: »Die Frau, die ihr Gedächtnis zurückge-wann.« Zwar gab es juristische Bestimmungen darüber, was im einzelnen über mich geschrieben werden durfte, aber das hielt die Journalisten nicht davon ab, medizinische Beiträge über Fälle von wiederhergestelltem Erinnerungsvermögen zu veröffentlichen. Klatschreporter schrieben über die mit einer solchen Therapie einher-gehenden Probleme und berichteten über betroffene Familien und die Schwierigkeiten, mit denen ein berühmter Schriftsteller beim Älterwerden zu kämpfen hatte.

Trotz verzweifelter Anstrengungen ließ Alan sich nicht überreden, einen Anwalt zu nehmen, und lehnte auch sonst jede juristische Hilfe ab. Er berief sich auf sein Geständnis. Nein, er wolle sich nicht verteidigen und würde auch niemandem gestatten, die Verteidigung für ihn zu übernehmen. Befürchtungen wurden laut, daß es sich vielleicht um einen üblen Trick handelte und Alan das Geständnis im letzten Moment doch noch widerrufen würde. Zweimal wurde ich in ein enges Büro in der Nähe der Fleet Street bestellt, wo ich einem konventionell gekleideten jungen Mann und einer Frau Rede und Antwort stehen mußte. Die beiden waren besonders daran interessiert, wie ich an die Tagebücher herangekommen war und wie sich meine Sitzungen bei Alex Dermot-Brown im einzelnen abgespielt hatten. Fast alle meine Äußerungen riefen nervöses Geflüster und ernste Mienen hervor.

»Gibt es irgendwelche Probleme?« fragte ich.

»Es erhebt sich die Frage, ob das als Beweis zulässig ist«, antwortete der junge Mann. »Aber darüber müssen wir uns den Kopf zerbrechen, nicht Sie.«

Claud benahm sich, als könnte er allein mit Willenskraft alles wieder in Ordnung bringen. Er war der einzige, der sich mit allen seinen Brüdern traf. Außerdem führte er Gespräche mit Jerome und Robert und spielte Squash mit Paul. Auf diese Weise nährte er die Illusion, zwischen den Cranes und den Martellos herrsche nach wie vor paradie-sische Eintracht. Auch Dad besuchte er mehrmals. Ich vermute, sie konnten jetzt, nachdem Claud und ich in Scheidung lebten, besser miteinander reden als vorher.

Selbst mit Peggy traf er sich, obwohl sich die beiden eigentlich nie sonderlich gut verstanden hatten, und beantwortete ihre Fragen.

»Daß Paul und sie geschieden sind, ist noch lange kein Grund, sie auszuschließen. Schließlich kennt sie Alan viel besser als Erica.«

Was er wohl tat, wenn er in sein kleines, penibel sauberes Apartment zurückkehrte? Womit vertrieb er sich die Zeit, wenn keine Aufgaben auf ihn warteten? Ob es jemanden gab, mit dem er über sich selbst sprach? Ich sah ihn vor mir, wie er sich ein Kotelett briet, sich dazu ein Glas Wein einschenkte und sein bescheidenes Mahl vor den Neun-Uhr-Nachrichten zu sich nahm. Anschließend ging er durch die Wohnung, strich hier einige Kissen glatt, zog dort die Vorhänge zu und prüfte, ob die Wohnungstür richtig verschlossen war und seine Anziehsachen für den nächsten Tag bereitlagen. War auch der Wecker richtig eingestellt, daß er ihn am Morgen mit Radioklängen aus dem Schlaf holte? Dann legte er sich in die Mitte des Doppelbetts und wartete darauf, daß er einschlief.

Bestimmt verfolgten ihn unablässig die Bilder der jüngsten schrecklichen Ereignisse, aber er schaffte es irgendwie, sich mit ihnen zu arrangieren. Obwohl er so heikel ist, so vernünftig, ein solcher Gewohnheitsmensch und Pedant, hat er doch Mut – wahrscheinlich weil er letztlich ein Stoiker ist.

Einmal lud ich ihn zum Abendessen ein. Es war das erste Mal, seit wir uns getrennt hatten, daß ich für ihn kochte –

wenn man das Pilzessen einmal außer acht läßt. Nervös plante ich das Menü; schließlich sollte es weder zu sehr aus dem Rahmen fallen – als hätten wir ein Rendezvous –

noch zu alltäglich sein – als wären wir immer noch Mann und Frau. Letztlich entschied ich mich für etwas ganz Simples: Hähnchen mit Knoblauchbrot und Salat, eine Käseplatte und Obst. Fünfundvierzig Minuten bevor er erscheinen sollte, schnitt ich zwei rote Paprikaschoten in Streifen, rieb sie mit Knoblauch ein und fritierte sie. Wenn sie abgekühlt waren, wollte ich sie mit Balsamico-Essig und abgetropften Dosentomaten mischen. Ich würzte das Hähnchen mit Rosmarin und schob es in den Ofen.

Anschließend wusch ich den Salat und vermengte ihn mit Fenchel und Avocado in einer Schüssel. Ich überlegte kurz, ob ich meine Bürokluft anlassen oder mich lieber umziehen sollte. Schließlich blieb ich, wie ich war –

allerdings tuschte ich mir die Wimpern und tupfte mir Rosenwasser hinter die Ohren.

Claud beim Essen zuzusehen ist ein Vergnügen. Er geht ganz methodisch vor, spießt ein bißchen von allem auf seine Gabel, kaut das Ganze gründlich und spült es mit einem Schluck schwerem Chardonnay hinunter. Ihn zu beobachten erinnert mich an früher, als ich Daddy morgens beim Rasieren zuschauen durfte. Ob wir je wieder zusammenfinden würden, überlegte ich, während ich Clauds schmale Handgelenke betrachtete, seine geschickten langen Finger, sein ruhiges konzentriertes Gesicht. Heute abend erschien mir der Gedanke gar nicht so abwegig – auch wenn ich mich im selben Augenblick fühlte, als wäre ich besiegt worden. Als er fertig gegessen hatte, legte er Messer und Gabel ordentlich nebeneinander, wischte sich mit einem Zipfel der Serviette über seinen ohnehin sauberen Mund und lächelte mich an.

»Wer ist Caspar?«

Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet.

»Ein Freund.«

»Mehr nicht?«

»Ich möchte nicht darüber reden.«

»Sag mir wenigstens, ob es ernst ist.«

»Es gibt kein ›es‹. Ich habe Caspar seit Wochen nicht gesehen. In Ordnung?«

»Reagier doch nicht gleich so gereizt, Janey.«

»Nenn mich nicht Janey.«

Er schnitt sich zwei Stückchen Käse ab und nahm ein paar Cracker aus der Dose.

»Meinst du nicht, ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren?«

»Nein, hast du nicht.«

Jetzt ging es mir schon besser – das Gefühl, wir könnten unsere Ehe vielleicht doch wiederbeleben, verblaßte. Wäre das Abendessen doch bloß schon vorbei. Ich wollte ins Bett gehen, einen Thriller lesen und dabei Tee trinken.

Claud jonglierte ein Stückchen Ziegenkäse auf einem Cracker, steckte den Happen in den Mund und kaute eine Weile.

»Das Problem ist, daß ich mich immer noch mit dir verheiratet fühle«, erklärte er sachlich. »Für mich bist du nach wie vor meine Frau. Und ich bin dein Mann.«

»Hör mal …«

»Ich bin noch nicht fertig.« Offenbar merkte er nicht, daß er den falschen Zeitpunkt erwischt und etwaige Chancen für heute bereits verspielt hatte. »Dieses Gefühl ist noch stärker geworden, seit Dad seine Schuld gestanden hat. In dieser furchtbaren Zeit, die wir durchgemacht haben – eine schlimmere kann man sich wirklich nicht vorstellen –, haben wir uns gegenseitig unterstützt. Oder habe ich dir nicht geholfen?«

Ich nickte stumm.

»Ich will offen zu dir sein – einer der Gründe, weshalb ich das alles durchgestanden habe – diese scheußliche Situation –, war die Hoffnung, daß wir dadurch möglicherweise wieder zusammenfinden. Sieh mal, Jane, wir sind inzwischen über vierzig. Wir sollten lieber nett zueinander sein, anstatt uns voneinander zurückzuziehen. Wir gehören zusammen, wir und die Jungs.«

Ich fuhr auf, als er unsere Söhne erwähnte. Sie hineinzu-ziehen war unfair.

Er bemerkte nicht, wie ich mich verschloß. »Wir sollten wieder eine Familie sein. Findest du nicht auch?«

Aber Claud ließ mir gar keine Möglichkeit zu antworten.

Er erhob sich, ging um den Tisch herum und nahm mein Gesicht in seine Hände. Er wirkte weder aufgeregt noch ungehalten, sondern nur sehr entschlossen, als glaubte er, nachdem er alles geregelt hatte, könnte er jetzt auch noch rasch unsere Ehe wieder in Ordnung bringen. Er stand viel zu dicht vor mir, ich konnte ihn nicht klar sehen und roch in seinem Atem nur Wein und Knoblauch. Ich stieß ihn weg.

»Nein, Claud, hör auf. So einfach geht das nicht.« Ich zitterte. »Es ist meine Schuld. Du hast recht, wir sind uns in letzter Zeit wieder nähergekommen und haben uns gut verstanden. Und als ich dich zu mir einlud, hast du natürlich gedacht …«

»Sei still. Kein Wort mehr.« Zwei hektische rote Flecken erschienen plötzlich auf seinem blassen Gesicht. Er nahm seinen Mantel. »Kein Wort. Jetzt nicht. Denk einfach darüber nach, ja? Ich will nichts überstürzen und dich nicht in Panik versetzen.« Als wäre ich ein scheues Tier, das man vorsichtig anlocken mußte. Einen Augenblick lang stand er in der Tür.

»Auf Wiedersehen.« Er zögerte. »Liebling.«

Ich habe nicht das geringste Verlangen gespürt, dachte ich, als ich die Teller wegräumte. Nichts, absolut nichts.

Statt dessen hatte mich so etwas wie hoffnungsloses Entsetzen gepackt: Ich konnte mein altes Leben nicht einfach wieder aufnehmen, als hätte ich nach einer bewältigten Midlife-crisis mein Gleichgewicht zurückgewonnen. Claud hatte recht, wir waren über Vierzig. Aber ich kam mir gar nicht so vor.

»Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe.«

Caspar nahm mir gegenüber Platz.

»Ich bin selbst gerade erst gekommen.«

Wir waren übertrieben höflich zueinander. Ich reichte ihm die Weinliste, die er vorsichtig entgegennahm, damit sich unsere Finger bloß nicht berührten.

»Ich habe einen Pinot Noir bestellt.«

»Gut«, sagte er. »Sollen wir auch noch was zu trinken bestellen?« Er sah auf, und unsere Blicke begegneten sich.

»Hat dir mein unwiderstehlicher Humor nicht gefehlt?«

Mißbilligend schüttelte ich den Kopf. »War das etwa eine Kostprobe?«

»Na ja, ich bin ein bißchen aus der Übung.«

Der Kellner brachte den Wein. Wir tranken ihn ernst und in kleinen Schlucken. Ich zündete mir eine Zigarette an.

Meine Hände zitterten ein wenig. Caspars Gesicht verfinsterte sich.

»Möchtest du lieber, daß ich stocksauer werde und dich frage, weshalb du mich erst ohne Erklärung sitzenläßt und dann aus heiterem Himmel wieder anrufst?«

»Fragen kannst du gern. Aber bitte nich stocksauer.«

»Wie geht es dir, Jane?«

Während der Wochen, in denen ich auf Distanz zu Caspar gegangen war, hatte ich vergessen, wie aufmerksam er war. Als er mich anblickte, hatte ich das Gefühl, daß er mich wirklich sah. Wenn er mich fragte, wie es mir ging, wußte ich, daß dies keine leere Floskel war, sondern daß er es wirklich wissen wollte. Ich holte tief Luft.

»Ich glaube, nicht sehr gut.«

Er nickte. »Ist das Interesse der Presse abgeflaut?«

»Ja, ein wenig. Aber der Prozeß ist in einer Woche.

Dann wird’s vermutlich noch mal schlimmer.«

»Mußt du aussagen?«

»Wahrscheinlich nicht. Es sei denn, Alan besinnt sich anders und widerruft sein Geständnis. Dann hängt alles von mir ab.«

»Erzählst du mir davon?« Er hatte seine Frage genau richtig formuliert. Hätte er gesagt: » Möchtest du mir davon erzählen?«, hätte ich den Eindruck gehabt, er wolle mir seine Hilfe anbieten, und mich vor ihm verschlossen.

So aber erkannte ich, daß ich ihm liebend gern erklären wollte, was ich in den zurückliegenden Wochen erlebt hatte. Eigentlich hatte ich mir selbst all das Geschehene noch nicht richtig klargemacht. Ich brauchte das Gespräch dringend.

»Es tut mir leid, daß ich dich nicht angerufen habe«, sagte ich spontan.

Caspar lächelte. »Freut mich, daß es dir leid tut, aber es ist schon in Ordnung«, erwiderte er. Er setzte seine Brille auf und studierte die Speisekarte. »Laß uns ein paar Dips und Oliven bestellen. Ich hab seit dem Frühstück so gut wie nichts gegessen.«

Ich vertraute Caspar alles an. Ich schilderte meine Kindheit, unsere Freundschaft zu den Martellos – Theo erwähnte ich nur flüchtig – und Natalies Verschwinden.

Ich erzählte ihm von meiner Heirat mit Claud, wie jung ich damals war und wie meine Ehe im Lauf der Jahre immer mehr zerfiel – wie eine Sandburg, die der Wind nach und nach abträgt, bis nichts mehr von ihr übrig ist.

Bis ich Claud endlich verließ. Ich beschrieb, wie wir Natalies Überreste gefunden hatten. Caspar war ein guter Zuhörer.

Ich erklärte ihm, daß ich irgendwann merkte, wie unglücklich ich war, und daß ich mich nach einigen fehlgeleiteten Anläufen (ich gestand meinen ersten mißglückten Therapieversuch, erwähnte jedoch William nicht) zu einer Therapie bei Alex Dermot-Brown entschlossen hatte.

»Was hast du dir von der Therapie versprochen?«

erkundigte sich Caspar.

»Vermutlich wollte ich dadurch mein Leben wieder selbst in den Griff bekommen. Ich hatte das Gefühl, im Chaos zu versinken, und wußte nicht, wie ich wieder herausfinden sollte. Später entwickelte sich das Ganze allerdings mehr zu einer Suche nach meiner wahren Vergangenheit.«

»Ziemlich großes Vorhaben«, sagte Caspar leise.

Ihm von der Therapie zu erzählen war ungleich schwieriger. Die Erkenntnisse, die ich auf der Couch gewonnen hatte, entglitten mir immer wieder, wie Quecksilber-kügelchen, die man mit dem Finger aufnehmen will.

»Er hat mir geholfen, aus meinem Leben eine zusammenhängende Geschichte zu machen«, wiederholte ich unbeholfen Alex’ Worte.

»Ich hab immer gedacht«, entgegnete Caspar, »der Reiz der Psychoanalyse läge darin, die eigenen Lebensge-schichte kennenzulernen und in Worte zu fassen.«

War das eine Kritik an mir oder ein Kompliment?

Wahrscheinlich weder das eine noch das andere.

»Es fällt mir schwer, darüber zu reden – und ich kann mich so schlecht an die chronologische Reihenfolge erinnern«, gestand ich. »Es ist mehr wie ein Raum, in dem ich mich selbst erforscht habe. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich weitermachen soll – welchen Zweck das jetzt alles hat. Außerdem« – die Bar füllte sich allmählich, und ich mußte die Stimme heben, damit Caspar mich verstand –, »außerdem ist es irgendwie unheimlich. Ich habe mir früher nie Gedanken darüber gemacht, wie es Menschen gelingt, so viel Leid mit sich herumzutragen und dennoch ihr Leben zu meistern. Ich bin mir auch immer noch nicht im klaren darüber, ob es richtig ist, Erinnerungen auszugraben und alte Wunden aufzureißen.

Vielleicht sollte man schreckliche Ereignisse einfach ruhen lassen.« Mich fröstelte. »Natürlich nicht in meinem Fall. Aber ich bin der Ansicht, es gibt Dinge, die keiner Erklärung bedürfen. Und zuweilen muß angerichteter Schaden in absolut dichten Behältern aufbewahrt werden, wie nuklearer Müll. So was ist natürlich Ketzerei in den Augen der Psychologen. Außer bei den Skeptikern, zu denen auch Alex gehört.«

»Du stehst dem allem Gott sei Dank genauso skeptisch gegenüber«, bemerkte Caspar.

»Und du hast Gott sei Dank nicht das Wort befähigt verwendet«, lachte ich.

Zum Schluß erzählte ich ihm noch von der Gruppe, an der ich teilgenommen hatte, aber er sagte kein Wort dazu.

»Tja, das war’s. Und jetzt weißt du hundertmal mehr über mein Leben als ich über deines.« Plötzlich war ich ganz befangen, als wären im Kino die Lichter angegangen.

»Meine Zeit kommt noch«, sagte er und winkte dem Kellner.

»Die Rechnung, bitte.« Er nahm seine Brille ab und zog seine Handschuhe an. »Ich muß zu Fanny nach Hause«, sagte er.

»Übrigens erwähnt sie dich immer wieder.«

Wir gingen gemeinsam hinaus. »Kommst du zurecht?«

»Ja«, antwortete ich und war auch überzeugt davon.

»Und du rufst mich an?«

»Ja. Diesmal ganz bestimmt.«

»Na dann, auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Caspar. Vielen Dank.«

Einen Moment befürchtete ich, er würde mich berühren, aber er tat es glücklicherweise nicht.

34. KAPITEL

Eines Abends brachte Claud mir auf dem Weg von der Arbeit meinen Karton von Stead vorbei. Zögernd stand er vor der Tür. Er fragte zwar nicht, erwartete aber offenbar, daß ich ihn auf einen Drink hereinbat, ihn zum Essen einlud oder mich bereit erklärte, wieder mit mir zusammenzuleben. Aber ich widerstand jeder Versuchung.

Ich wollte allein sein, wenn ich den Inhalt des Kartons durchsah. Claud erzählte mir, wie die Dinge auf Stead standen, nun da Jonah alles losgeworden war und der Besitz bald verkauft werden sollte. Ich hörte ihm zu, stellte aber keine Fragen und ging kaum auf seine Worte ein. Nach ein paar Minuten versiegte unser Gespräch, und ich stand noch immer unnachgiebig in der halboffenen Tür. Claud sah niedergeschlagen aus und meinte, es sei wohl besser, wenn er sich jetzt auf den Weg mache. Ich dankte ihm, daß er mir den Karton vorbeigebracht hatte.

Daraufhin wirkte er noch enttäuschter und murmelte etwas, was ich nicht verstand; aber ich fragte nicht nach.

Er sah mich leidend an und ging davon.

Die Brüder hatten damals natürlich ständig auf Stead gelebt, aber auch Paul und ich hatten dort unsere Kartons.

Martha und Alan hatten sie uns geschenkt, als wir noch klein waren. In diese Kartons packten wir die Besitztümer, die wir auf Stead hatten; Dinge, die, wenn wir gegen Ende des Sommers zurück in den Alltag mußten, weggepackt und auf dem Dachboden verstaut wurden. Wenn wir im darauffolgenden Juli den Alltag hinter uns ließen und zurückkehrten, liefen wir als erstes hinauf, kramten unsere Kartons hervor und holten die Dinge heraus, die in der Zwischenzeit kleiner geworden waren, weil wir gewachsen waren.

Irgendwie paßte der Karton nicht hierher, sein Anblick hatte geradezu etwas Anstößiges. Er gehörte zu Stead, zu meiner Vergangenheit. Als ich versuchte, ihn hochzu-heben, bedauerte ich fast, Claud nicht hereingebeten zu haben. Meine Arme waren zu kurz, ich konnte den Karton nicht umfassen und mußte ihn daher durch den Flur ziehen. Dabei entstand ein Geräusch, wie wenn ein Finger-nagel über eine Fensterscheibe kratzt, und der Karton hinterließ eine weiße Spur, die mir, wie ich fürchtete, erhalten bleiben würde. Es gelang mir, ihn bis in die Küche zu schleifen, wo ich ihn neben dem Tisch stehenließ.

Das Ganze würde eine Weile dauern. Zur Stärkung mixte ich mir einen Gin Tonic, holte ein neues Päckchen Zigaretten aus der Duty-free-Schachtel, die Duncan in einem Anfall von Toleranz letzte Woche für mich am Flughafen erstanden hatte, zündete die erste an und öffnete den Karton. Der Inhalt unterschied sich sehr von dem der Kartons, die ich auf meinem eigenen Dachboden stehen hatte. Dieser enthielt keine Bündel alter Briefe, die mit einem Band verschnürt waren, oder alte Zeitungsaus-schnitte, Studentenausweise, Aufsätze, Zeugnisse, Schul-fotos. Sein Inhalt sagte nichts über mein Leben aus, sondern barg Bruchstücke der kurzen Momente zwischen meinem Alltagsleben.

Ich nahm ein paar alte Bücher heraus. Das kleine weiße Pferd, Anna von Green Gables, Stolz und Vorurteil, Vier Schwestern, Kim und einige Wie funktioniert das? Am liebsten hätte ich jedes sofort aufgeschlagen und durch-geblättert, doch ich legte sie mir für eine spätere Gelegenheit zur Seite. Dann kamen einige unnütze Sachen zum Vorschein wie alte Füller, Batterien, ausgetrocknete Klebstofftuben, einzelne Ohrringe, Lippenstifthüllen ohne Lippenstift. Warum hatte ich das nicht in den Mülleimer geworfen? Jede Menge Krimskrams. Ein herzförmiges Kästchen voller Watte. Was hatte ich darin aufbewahrt?

Kämme. Einen großen, bemalten Stein, den ich als Briefbeschwerer zu benutzen beschloß. Einen kleinen, getöpferten Teller mit dem Bild eines Affen. An den konnte ich mich überhaupt nicht erinnern. Ich würde ihn vielleicht für Büroklammern verwenden. Ein paar alte Kassetten. Ein paar Taschenreiseführer über Griechenland und Italien wanderten schnurstracks in den Müll. Ich hatte den Griechenlandreiseführer gekauft und war bis zum heutigen Tag nicht da gewesen.

Ganz unten entdeckte ich alte Notizbücher. Wir alle, aber besonders Natalie und ich, schrieben und schrieben, vor allem an jenen Sommertagen, an die wir uns ungern erinnerten, weil es unablässig regnete und wir im Baum-haus herumsaßen. Ich blätterte die Bücher kurz durch, entdeckte verblichene alte Zeichnungen und Geschichten, Zettel, auf denen wir Schiffeversenken gespielt oder Männchen gekritzelt hatten, Briefe. Und die Tagebücher, die ich fast jedes Jahr geführt hatte. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke, und ich stöberte, bis ich schließlich ein zerfleddertes rotes Schulheft fand, auf dem »J. Crane.

Tagebuch. 1969« stand. Ich blätterte es hastig durch, bis ich bei den letzten Seiten angelangt war. Das war natürlich sinnlos. Es gab keinen Eintrag am Tag nach der Party oder am Tag der Party selbst. Damals war das Leben zu sehr von Gefühlen beherrscht, um in einem Tagebuch festgehalten zu werden. Was hatte ich in den letzten goldenen Tagen gefühlt und getan? Ich blätterte ein paar Seiten zurück und las:

24. Juli Theo Theodosius!! Mit Natalie ist es total öde, sie will nicht mit mir sprechen, Paul jammert die ganze Zeit, keine Ahnung, was mit ihm los ist, Fred und Jonah benehmen sich fürchterlich kindisch, Claud ist am Durchdrehen, weil er die ganze Party organisiert. Er sagt, daß er nicht weiß, wo das Zelt stehen soll und wer es aufbauen wird und wessen Idee es überhaupt gewesen sei, den Grillplatz – von dem alles abhängt – erst kurz vor der Party zu bauen, und ob irgend jemand Alan und Martha im Notfall erreichen kann. Er (Claud) sieht richtig krank aus.

Luke hängt auch rum und sieht elend aus, und Mum und Dad sind auch nicht gerade in Hochform. In diesem ganzen Chaos, in dem jeder kurz vor dem Nervenzusammenbruch zu stehen scheint, fühle ich mich so wundervoll wie noch nie in meinem ganzen Leben. Es hat alles gerade erst angefangen, und es ist wundervoll. Während ich dies schreibe, ist es bereits tiefe Nacht (Natalie schläft schon –

sie sah echt schrecklich aus heute abend, aber wenn sie nicht bald netter zu mir ist, höre ich wirklich auf, mir Sorgen um sie zu machen). Ich halte eine Taschenlampe über die Seite, während ich schreibe. Ich bin so aufgeregt, daß ich den Füller kaum ruhig halten kann. Tagsüber mußte ich mich um die Dinge kümmern, die Claud organisiert hat: Lebensmittel in Westbury abholen, aufräumen, austüfteln, wer wo schläft … Hab Theo also kaum gesehen. Dann, nach dem Abendessen, als es dunkel wurde, kreuzten sich unsere Blicke. Wir trafen uns draußen und nahmen uns wortlos bei der Hand, gingen über den Rasen und durch den Wald fast bis ganz zum Cree’s Top hinauf. Wir setzten uns nebeneinander und küßten und streichelten uns. Theo knöpfte mir mein Kleid auf und berührte seinen Körper durch die Wäsche hindurch, und ich berührte seinen Körper mit zitternden Händen und hoffte, daß er nicht merkt, wie sehr ich zitterte, aber eigentlich war es mir egal. Noch immer laufen Schauer durch meinen Körper, und wenn ich die Augen schließe, fühle ich genau, wo er mich berührt hat, jede noch so winzig kleine Stelle. Wir sagten einander, daß wir uns lieben. Eng umschlungen lagen wir da, und ich wollte weinen, aber ich tat es nicht. Dann gingen wir ganz langsam wieder zurück. Es war der letzte Tag des Halbmondes, die silberne Sichel war unglaublich schmal.

Dann küßten wir uns ganz lange und sagten einander gute Nacht, und ich schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf und schreibe das jetzt und weiß, daß ich überhaupt nicht schlafen kann.

25. Juli Stimmt nicht ganz. Ich lag stundenlang wach, bis ich schließlich doch einschlief. Ich wurde aber schon ganz früh, um halb fünf, von den Vögeln geweckt und fühlte mich den ganzen Tag über entweder müde oder träumte vor mich hin. Ein langweiliger, langweiliger, stinklang-weiliger Tag. Alan und Martha können von Glück sagen, daß sie bloß zur Pary kommen und sie nicht vorbereiten müssen. Jeder sieht noch schlechter aus als gestern. Ach ja, wir haben Zuwachs bekommen, Mr. Weston kam mit dem großen Zelt, den Backsteinen und anderen Sachen für den Grillplatz und war furchtbar mies gelaunt. Aber als Claud Mr. Weston erklärt hatte, was er tun sollte, waren beide mies gelaunt. Ich konnte nicht anders, ich mußte kichern. (Natalie ist das leibhaftige Elend, wirklich.) Erst meinte Claud, der Grill müsse gebaut werden, dann sollte plötzlich das Zelt aufgebaut werden, und am Abend stand der Grill noch immer nicht. Claud sagte, wenn wir uns morgen als erstes darum kümmern, würde alles noch klappen, Mr. Weston ist kurz vorm Durchdrehen und so weiter und so fort. Alle brüllen sich nur noch an. Morgen ist die Party, und es wird das totale Chaos geben, alle werden wie verrückt herumrennen, und ungefähr zehn Millionen Gäste werden eintreffen, die an verschiedenen Orten übernachten sollen. Erst mal werden wir morgen alle von Seiner Hoheit Claud von Martello bis in die hintersten Winkel von Shropshire gejagt werden. Aber das juckt mich nicht weiter. Theodore und ich haben heimlich darüber geredet, und wir werden überhaupt nicht zu der Party gehen (!!!). Sein Freund Pete Nichol kommt mit seinen Eltern, und sie werden bis zum Morgengrauen bleiben, bis Claud auch noch den letzten Hot dog vom el nouveau barbecudos serviert hat. Theo und ich werden uns heimlich davonschleichen und zu Pete fahren. Und dann werde ich mich ihm ganz hingeben, und ich kann es kaum noch aushalten. Ich bin so glücklich, aber ich habe auch große Angst.

Als ich das gelesen hatte, weinte ich nicht wirklich, aber trotzdem waren meine Wangen naß. Ich fühlte mich nicht mitgenommen oder so. Ich hatte einen sehr befreienden Fünf-Minuten-Heulanfall, nach dem ich mich bedeutend besser fühlte, mir das Gesicht wusch und Caspar anrief.

Als er den Hörer abnahm, wußte ich gar nicht mehr so genau, warum ich ihn eigentlich hatte anrufen wollen. Ich fragte ihn, ob er Lust auf einen Drink hätte, und er fragte, wann denn, und ich sagte, jetzt sofort. Aber er meinte, daß er nicht weg könne, weil ein Stockwerk höher ein Kind schlafend im Bett liege. So schlug ich vor, mit einer Flasche Wein zu ihm zu kommen, und versprach, auch höflich und anständig zu sein und keine Szene zu machen.

Ich wolle keine Mitleidsbezeugungen oder weisen Ratschläge. Er meinte, ich solle besser aufhören und lieber keine weiteren Versprechungen machen. In Ordnung. Also machte ich mich auf den Weg.

»Du bist wirklich sehr geduldig«, sagte ich zu Caspar, als mein Fahrrad im Flur und die Weinflasche auf seinem Küchentisch stand.

»Ich habe Geduld mit dir« , erwiderte er. »Aber verlaß dich besser nicht darauf.«

»Ich weiß. Du mußt ganz schön viel mit mir aushaken.

Das tut mir wirklich leid.«

»Ich fühle mich anscheinend zu Frauen hingezogen, mit denen es das Leben nicht gut gemeint hat. Sicher wird es hochinteressant zu sehen, wie ich mit einer glücklichen Jane Martello zurechtkomme.«

»Glücklich?« fragte ich. »Na, ja, wir wollen es nicht gleich übertreiben.«

Ich berichtete ihm, wie mein Abend verlaufen war, und erzählte ihm, ohne ins Detail zu gehen, daß ich in meinem alten Tagebuch gelesen hatte.

»Bist du noch immer auf der Suche, Jane?«

»Nein, natürlich nicht. Ich bin dabei, das alles hinter mir zu lassen. Aber wahrscheinlich hatte ich gehofft, dort irgendeinen Hinweis zu entdecken, der auf wundersame Weise die Entwicklung der Ereignisse bestätigt. Es erscheint mir noch immer so merkwürdig. Ich möchte etwas anderes – jemand soll mir sagen, daß alles in Ordnung ist.«

Es folgte eine lange Pause. Ich hatte insgeheim gehofft, daß er dieses Schweigen mit beruhigenden Worten füllen würde, doch er tat es nicht. Er lächelte mich nur so merkwürdig an, spielte mit seinem Glas und trank schließlich einen Schluck.

»Und dennoch«, sagte er, »hast du das Angebot abgelehnt, dich dieser Selbsthilfegruppe von Frauen anzuschließen, die ihr Gedächtnis wiedererlangt haben.

Sie hätten dir geholfen. Warum hast du abgelehnt?«

Ich lachte und nahm eine Zigarette aus meiner Tasche, dachte aber im selben Augenblick an Fanny, die oben schlief, und legte sie wieder weg.

»Aus mehreren Gründen, nehme ich an. Unter anderem war es ein Satz von dir.«

»Von mir?« meinte Caspar mit gespieltem Erschrecken.

»Als wir uns damals auf einen Drink getroffen haben, bevor du zu der öffentlichen Anhörung wegen des Wohnheims gekommen bist, erzähltest du mir von einer Studie, die zeigt, daß Leute, wenn sie einmal etwas öffentlich geäußert haben, bei ihrer Meinung bleiben, selbst wenn man ihnen beweisen kann, daß ihre Behauptungen nicht stimmen. So ist es doch, oder?«

»Ja.«

»Ich möchte Gewißheit, aber ich möchte Gewißheit und dazu noch recht haben. «

»Dabei kann ich dir nicht helfen.«

»Ich weiß nicht.«

Beide stellten wir unsere Gläser auf den Tisch. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, aber plötzlich lagen wir uns in den Armen, küßten uns leidenschaftlich, während unsere Hände den Körper des anderen erkundeten. Ich knöpfte sein Hemd auf und glitt mit den Lippen seine behaarte Brust hinab. Er zog mir den Pullover aus und schob den BH, ohne ihn zu öffnen, von meinen Brüsten.

»Warte«, sagte ich atemlos. »Ich muß erst die Stiefel ausziehen.«

Meine Schuhe waren so fest verschnürt wie ein Korsett.

Er schüttelte den Kopf, und ich spürte seine Hände auf meinen Knien und dann, wie sie meine Beine hinauf-glitten. Zum Glück hatte ich keine Strumpfhosen an. Als er sich bis zum Slip vorgetastet hatte, zog er ihn mit einem Ruck nach unten und über meine Schuhe. Als ich auf das Sofa zurückfiel, rutschte mein Rock hoch, und schon spürte ich ihn in mir.

Später gingen wir ins Schlafzimmer und befreiten uns von unseren verknautschten Kleidern, erkundeten zärtlich den Körper des anderen und schliefen wieder miteinander.

Ich fühlte, fast zum erstenmal, daß Sex etwas war, an dem ich Geschmack finden könnte. Wir lagen den Rest der Nacht nebeneinander und redeten. Gegen fünf murmelte Caspar etwas von Fanny. Ich küßte ihn, stand auf, zog mich an, küßte ihn noch einmal leidenschaftlich zum Abschied und ging. Als ich im Morgengrauen durch die Straßen radelte, dachte ich mitleidig an all die Leute, die um diese Zeit in ihrem Bett lagen und schliefen.

35. KAPITEL

Am Tag vor dem Prozeß lungerte eine Handvoll Fotografen vor meinem Haus und erwischte mich, wie ich gerade Milch kaufen gehen wollte. Als ich mir die Hand vors Gesicht hielt, konnte ich mir bereits ausmalen, wie sich das in der morgigen Zeitung machen würde. Ich sah die Schlagzeilen schon vor mir:

»Das verdeckte Gesicht der Anklägerin« – »Die streitbare Schwiegertochter«. Der Verhandlung selbst wohnte ich nicht bei. Der Prozeß dauerte nur einen Vormittag. Ich hatte das Haus sehr früh verlassen – noch vor sieben –, um der Presse zu entgehen, doch ein Journalist lauerte mir bereits um diese Uhrzeit auf.

»Gehen Sie zum Prozeß?« rief er, aber ich trat so schnell ich konnte in die Pedale und sauste wortlos auf meinem Fahrrad an ihm vorbei.

Auf dem Heimweg las ich an einem Zeitungsstand in Großbuchstaben: SCHRIFTSTELLER: »ICH TÖTETE

MEINE TOCHTER«. Ich trat auf die Bremse und kaufte den Standard. Auf der ersten Seite prangte ein altes Foto, das einen gutaussehenden Alan zeigte. Mir brach der Schweiß aus, und mein Atem ging stoßweise.

Ich radelte nach Hause und bekam vor lauter Nervosität das Fahrradschloß nicht zu. Durch den Briefkastenschlitz hatte der Postbote ein Päckchen gequetscht. Ich erkannte die Handschrift des Absenders: Es war von Paul. Das mußte sein Video sein. Auch das noch! Da es im Haus kalt war, machte ich, bevor ich in die Küche ging, erst einmal die Heizung an. Ich setzte den Wasserkessel auf und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster. Die Signallampe des Anrufbeantworters blinkte unablässig, aber ich kümmerte mich nicht darum. Wahrscheinlich waren es lauter Anfragen von Journalisten, die eine Stellungnahme von mir wollten. Die Zeitung hingegen, die noch immer gefaltet im Korb lag, wirkte wie ein Magnet auf mich. Aber ich blieb standhaft. Ich schmierte mir Orangenmarmelade (ich hatte sie letztes Jahr von Martha geschenkt bekommen) auf das Toastbrot und goß kochendes Wasser über einen Teebeutel. Im Mantel setzte ich mich an den Tisch und trank einen Schluck von dem dünnen Tee.

Ich überflog den Artikel auf der Suche nach den wichtigen Einzelheiten. Alan hatte sich schuldig bekannt und es abgelehnt, strafmildernde Umstände geltend zu machen. Der Staatsanwalt hatte kurz die Beweislage dargelegt (die im wesentlichen auf Natalies Brief, wie und wo er gefunden worden war, und meinen Erinnerungen basierte). Abschließend erklärte der Staatsanwalt, daß anhand der vorliegenden Gutachten kein Grund zu der Annahme bestünde, daß Alan Martello nicht zurechnungs-fähig sei. Mit keinem Wort wurde erwähnt, daß Natalie von ihm schwanger gewesen war. Ich konnte mir nicht erklären, warum. Bevor der Richter das Urteil verkündete, hatte Alan lediglich eine einzige Aussage gemacht: »Ich büße für ein grauenhaftes Verbrechen, das jahrzehntelang auf meiner Familie gelastet hat.«

Er weigerte sich, näher auf diesen Satz einzugehen oder sich zu der Sache ausführlicher zu äußern. Der Richter beschrieb den Mord eines Vaters an seiner Tochter als eines der abscheulichsten und schwersten Verbrechen.

Durch die Weigerung Alan Martellos, Reue zu zeigen, und durch sein wenig kooperatives Verhalten während des Verfahrens habe er die Sache nur noch schlimmer gemacht. Alan wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, von denen er mindestens fünfzehn Jahre zu verbüßen hatte.

Ein großes Foto zeigte die finster dreinblickenden Martello-Brüder, die alle zum Prozeß gekommen waren.

Sie hatten der Presse gegenüber jeden Kommentar verwei-gert. Der Standard bezeichnete ihre Haltung als »gefaßt, ja fast heldenmütig«.

Claud hielt den weinenden Fred im Arm. Auf einem kleineren Foto war ich zu sehen, wie ich mit der Hand mein Gesicht verdeckte, und ein zurechtgeschnittenes Foto, das ich nie zuvor gesehen hatte, zeigte eine Porträtaufnahme von Natalie. Sie wirkte auf dem Bild jünger als fünfzehn und sah durchschnittlich hübsch aus.

In ihrem Gesicht war nichts Bedrohliches oder Unheil-volles zu erkennen. Außerdem entdeckte ich einen zwei Seiten langen Artikel mit der Überschrift »DAS KURZE

LEBEN VON NATALIE UND IHR GRAUSAMER

TOD«. Unter einer etwas unscharfen Aufnahme, auf der alle sieben Martellos zu sehen waren, wie sie in die Kamera lächelten, stand eine kurze Erläuterung. Der erste Satz lautete: »Sie schienen eine so glückliche Familie zu sein.« Außerdem gab es noch einen Bericht über die polizeilichen Nachforschungen; mein Name fiel mir gleich im ersten Absatz ins Auge, aber ich las die Geschichte nicht; ich konnte einfach nicht.

Das Telefon läutete. Ich erstarrte und umklammerte die Tasse mit dem inzwischen kalt gewordenen Tee.

»Jane, hier ist Kim. Bitte nimm den Hörer ab.«

»Kim.« Ich glaube, ich war noch nie so froh gewesen, eine vertraute Stimme zu hören. »Kim, Gott sei Dank, du bist es.«

»Hör mal, wir können später reden. Ich habe uns ein Zimmer in einem kleinen Hotel in Bishop’s Castle an der Grenze zu Wales gebucht. Ich will mit dir übers Wochenende wegfahren. Kannst du bis halb sechs fertig sein? Ich hol dich ab.«

Ich hatte keine Einwände.

»Was würde ich nur ohne dich anfangen, Kim? Ja, das geht.«

»Gut. Vergiß nicht, deine Wanderschuhe und jede Menge warme Sachen einzupacken. Bis dann.«

Ich lief nach oben und stopfte ein paar langärmelige TShirts, dicke Pullover und warme Socken in eine große Reisetasche, kramte meine Wanderschuhe hervor, an denen noch der Dreck vom letzten Jahr klebte, und fand schließlich meine Regenjacke zusammengeknüllt ganz hinten im Schrank. Viertel vor fünf. Ich zündete mir eine Zigarette an und schaltete den kleinen Fernseher am Bettende an. Alans Gesicht, das nur aus Bart und bedrohlich blickenden Augen zu bestehen schien, starrte mich an, dann schwenkte die Kamera auf das ernste Gesicht eines noch sehr jungen Reporters: »Bei der Urteilsverkündung beschrieb der Richter den Mord eines Vaters an seiner Tochter als eines der schlimmsten und widernatürlichsten Verbrechen, das man sich vorstellen könne …« Ich beugte mich entsetzt vor und schob Pauls Video in den Recorder. Der junge Reporter verschwand jäh von der Bildfläche. Während der Vorspann lief, tauchte hinter aufsteigendem Zigarettendunst Stead auf dem Bildschirm auf.

Obwohl ich die letzte Sequenz bereits vorab gesehen hatte, war ich nie den Eindruck losgeworden, daß Paul bei seinem Film nicht sonderlich systematisch vorgegangen war. Also erwartete ich wohl einen Urlaubsfilm, wie man ihn mit der Videokamera dreht. Doch ich sollte eine Überraschung erleben. Der Film begann damit, daß Paul einige Verse aus A Shropshire Lad rezitierte: Dringt in mein Herz ein tödlicher Wind Aus jenem fernen Land,

Sag mir, was das für blaue Hügel sind Und Dörfer, unbekannt?

Die Kamera zeigte in ruhigen Einstellungen die Landschaft von Shropshire, die nun im Winter zwar kahl, aber noch immer sehr imposant wirkte. Die Sonne schimmerte durch die blattlosen Äste rund um Stead, und das alte Haus mit seinen rosa schimmernden Mauern sah einladend aus. Es war das Haus meiner Kindheit und das Land meiner verlorenen Unschuld.

Ich saß gebannt vor dem Fernseher, während die Zigarette bis zu meinen Fingerspitzen niederbrannte, und betrachtete Paul, wie er direkt in die Kamera sprach.

Erinnerung, sagte er, ist etwas nicht Greifbares, und die Erinnerungen, die man an seine Kindheit hat, sind verführerisch und voller Sehnsucht. Wenn man eine glückliche Kindheit verleben durfte, dann fühlt man sich als Erwachsener wie ein Verbannter, dem diese Freuden nun für immer versagt sind. Wir können niemals dorthin zurückkehren. Die Musik schwoll an, und die Kamera zoomte zur Eingangstür von Stead. Alan trat heraus. Die Zigarettenasche fiel auf die Bettdecke, und ich fegte sie achtlos beiseite. Er zitierte etwas von Wordsworth und sprach über die Liebe. Er erklärte in seiner großspurigen Art, daß er ein zorniger, junger Mann gewesen sei, der die Familie und die damit verbundenen Werte verachtet habe.

Aber er habe gelernt, daß dies – wobei er auf Stead deutete

– der Ort sei, an dem er wirklich er selbst sein könne. »Ich habe für mich so etwas wie Frieden gefunden«, erklärte er.

Als er da auf der Türschwelle stand, wirkte er wie der Prototyp des weisen Patriarchen. Ich betrachtete seine breiten Hände, mit denen er seinen Worten Gewicht verlieh, und erschauderte. Martha, so zart und zerbrechlich wie eine Blütenranke, kam den Flur entlang. Sie hatte einen flachen, breiten Korb und eine Gartenschere bei sich, lächelte verlegen in die Kamera und verschwand wieder aus dem Bild. Die Kamera schwenkte seitwärts und kam an der Stelle zum Stehen, wo man Natalies Leichnam gefunden hatte. Paul erzählte die Fakten. Dann wurden eine Reihe von Fotos eingeblendet, auf denen Natalie als Baby, als Kleinkind, als Zehnjährige, als Teenager, mit der Familie und allein zu sehen war, und schließlich ihr Grabstein.

Als Claud im Bild erschien und ich ihn mit den Augen eines neutralen Zuschauers betrachtete, fiel mir auf, wie gut er aussah und wie ernst er wirkte. Angespannt wartete ich darauf, daß er über mich und über das Scheitern unserer Ehe sprechen würde. Doch er beschränkte sich darauf zu sagen, daß »die Dinge sich nicht so entwickelt hätten«, wie er gehofft habe. Ich war selbst entsetzt über die Woge von Schuldgefühl und Liebe, die mich bei seinen Worten erfaßte. Schnitt zu Robert und Jerome, die in Hampstead Heath Frisbee spielten. Wie jung und unbeschwert sie aussahen! Dann Jerome, der sich liebevoll darüber mokierte, wie besessen die ältere Generation von der Erinnerung an die Vergangenheit sei. Schnitt zu Fred und seiner Familie, wie sie bei sich zu Hause auf ihrer gepflegten Terrasse sitzen. Wieder Schnitt zu Alan, der –

einen Brandy in der Hand – sich lang und breit über die Macht der Vergebung ausließ. Und dann noch Schnitt zu Theo, der eine Familie mit einem Computerprogramm verglich.

Das war ja ich, wie ich mit hochrotem Gesicht in meiner Küche stand. O Gott, Weihnachten – aber das Weihnachten, das ich dort sah, während ich auf Kim wartete, war voll festlicher Ausgelassenheit; Gelächter dröhnte mir aus dem Fernseher entgegen; ich lächelte ständig und reichte den Wein herum. (Hatte ich an jenem Abend wirklich so oft gelächelt? Ich konnte mich gar nicht daran erinnern.) Erica und Kim sahen in ihren feuerroten und gelben Kleidern wie zwei extravagante Paradiesvögel aus. Dad wirkte wie ein distinguierter älterer Herr, und meine beiden Söhne verkörperten das Sinnbild der Jugend. Die Macht der Cutters – Bilder so aufzusplitten, daß sich das kollektive Trauma in ein Bild weinseliger Eintracht verwandelt.

Ich rauchte die letzte Zigarette aus meinem Päckchen.

Trotz meiner Abneigung gegen die Botschaft des Films, die durch Alans Geständnis zunichte gemacht worden war, berührte mich dieses melancholische Verhaftetsein in der Vergangenheit als Ort der Unschuld und der Freude, dem verlorenen Eden für jeden von uns. Die Musik, der grüne Winter in Shropshire, die Gesichter, die auf dem Bildschirm erschienen und wieder verschwanden und mir so vertraut waren wie mein eigenes. Paul war es gelungen, daß auch diejenigen, die bei diesem Projekt nur wider-strebend mitgewirkt hatten, während des Interviews mit einer Art innerer Beteiligung sprachen, als würden sie im Gespräch Erkenntnisse über sich selbst erlangen. All dies erfüllte mich mit tiefer Trauer.

Der Film war fast zu Ende. Paul ging, die Hände in den Taschen vergraben, am Col entlang. Der Pegel des braunen Wassers war nach den letzten Regenfällen stark angestiegen. Paul blieb stehen, drehte sich zur Kamera und streckte seine Hände dem Betrachter entgegen. O Gott, er rezitierte noch einmal aus einem Gedicht: Verlor’nes Land der Zuversicht,

Erinn’rung, strahlend klar.

Der Weg des Glücks, wie es einst war –

Doch Rückkehr gibt es nicht.

Ich war verwirrt. Wollte uns dieser Dokumentarfilm nun sagen, daß man wieder nach Hause gehen konnte oder daß man es nicht konnte? Doch Paul sprach weiter. »Familie«, sagte er. »Alan Martello nannte sie Plage und Frieden.

Jane Martello, meine Schwester, meinte, daß die Menschen hier ihre besten, aber auch ihre schlechtesten Seiten offenbaren.« (Ach, du lieber Himmel!)

»Für Erica, meine Frau, ist sie sowohl ein Hafen als auch ein Gefängnis – wir können immer wieder in den Schoß der Familie zurückkehren, aber ganz gleich, wie weit wir sie auch hinter uns lassen, entkommen können wir ihr niemals.« (Aus welchem Weihnachts-Knallbonbon hatte sie denn diesen Spruch?) Paul lächelte mit der Weisheit des Alters und schritt davon, in die letzte Sequenz, die ich bereits gesehen hatte: Großaufnahme von dem Haus und dem Fundort der Leiche.

Ich schaltete den Fernseher aus und beschloß, ihn endlich zu verkaufen. Ach, vielleicht würde netterweise ein Cracksüchtiger einbrechen und ihn stehlen, während ich mit Kim weg war. Es war fast halb sechs. Ich machte die Reisetasche zu, doch dann öffnete ich sie noch einmal und packte mein altes Tagebuch ein. Ich wählte rasch Pauls Nummer, aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Nach dem Piepton sagte ich:

»Paul, hier ist Jane. Ich habe mir gerade deinen Film angesehen. Er ist sehr beeindruckend – ehrlich, trotz allem, was inzwischen passiert ist, hat er seine Berechti-gung. Ich fahre übers Wochenende mit Kim weg, aber ich rufe dich an, sobald ich wieder da bin. Wirklich gute Arbeit.« Ich wollte schon auflegen, aber da fiel mir plötzlich noch etwas ein. »Oh, Paul – könntest du mir sagen, auf welcher Seite des Flusses du am Ende des Films stehst?«

Kaum hatte ich aufgelegt, hörte ich Kim auch schon hupen. Ich zog meine Lederjacke an, nahm meine Tasche und ging hinaus.

River Arms war ein kleines weißes Gasthaus mit niedrigen Deckenbalken und einem riesigen offenen Kamin in der Bar. Wir hatten ein Doppelzimmer mit Bad. Kim sagte, wenn man morgens aufwache, könne man von unserem Fenster aus den Fluß und die Berge schon sehen. Jetzt war es allerdings diesig und dunkel. Ich saß auf meinem Bett und fühlte mich zu erschöpft, um mich vom Fleck zu rühren.

»Es ist jetzt neun Uhr«, sagte Kim. »Warum nimmst du nicht ein Bad, und wir treffen uns in einer halben Stunde in der Bar? Die Küche hier ist zwar ganz ausgezeichnet, aber das heben wir uns für morgen auf. Wir werden einfach eine Kleinigkeit am Kamin essen.«

»In Ordnung.« Ich gähnte und stand auf. »Woher kennst du dieses Gasthaus eigentlich?«

Kirn kicherte. »Tja, ein Relikt aus meiner bewegten romantischen Vergangenheit. Manchmal leistet es mir noch gute Dienste.«

Ich nahm ein heißes Bad und benutzte sämtliche Badezusätze und -gels, die herumstanden. Ich wusch mir die Haare und schlüpfte in eine Leggings und ein flauschiges, weites Baumwollhemd. Kim hatte uns Plätze am Kamin gesichert und bereits zwei große Gin Tonic bestellt. Sie hob ihr Glas und stieß mit mir an.

»Auf bessere Zeiten«, sagte sie.

Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich trank einen großen Schluck von dem klaren, kalten Getränk.

»Ich habe uns schon etwas zu essen bestellt«, fuhr sie fort.

»Roastbeef-Sandwiches und eine Flasche Rotwein. Ist dir das recht?« Ich nickte; ich war froh, daß mir heute jemand alle Entscheidungen abnahm.

»Morgen können wir eine lange Wanderung machen, irgendwo hoch hinauf, wo die Luft dünn und der Ausblick phantastisch ist. Falls es nicht regnet. Ich habe Wander-karten dabei, die können wir beim Frühstück studieren.«

Wir tranken unsere Drinks und sagten beide lange nichts.

Es gibt nur wenige Menschen, mit denen man zusammen schweigen kann, ohne daß es peinlich ist.

Schließlich meinte Kim: »War es schlimmer, als du erwartet hast?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe.

Aber es war trotzdem schlimm genug.«

Die Sandwiches wurden gebracht; sie waren mit dünnen Scheiben rosa gebratenen Fleisches belegt, dazu gab es eine Meerrettichsoße. Der Wein war ein schwerer voll-mundiger Shiraz, samtig genug, um mich friedlich zu stimmen.

»Warum habt ihr euch, Andreas und du, eigentlich getrennt? Ihr schient so glücklich miteinander.«

»Wir waren auch glücklich. Zumindest dachte ich das.«

Kim klappte ihr Sandwich auseinander und bestrich das Roastbeef mit Meerrettichsoße. »Erst hatte er mit mir noch darüber gesprochen, wohin wir nächsten Sommer in Urlaub fahren würden, und im nächsten Augenblick erzählt er mir, daß er und seine Ex-Freundin beschlossen hätten, es noch mal miteinander zu versuchen. Dann die alte Leier: ›Tut mir leid, danke für die schöne Zeit, ich werde dich nie vergessen, du bist wundervoll‹ und dieser ganze Mist.« Sie schenkte uns beiden Wein nach.

»Ich war zu alt. Ich kann keine Kinder mehr bekommen.

Ich verkörpere die Vergangenheit und nicht die Zukunft.«

Sie hob ihr Glas: »Auf ein Altwerden in Schande.«

Ich beugte mich vor und umarmte sie. »Er ist bescheuert.

Er begreift nicht, was er an dir hatte.«

Kim rang sich ein Lächeln ab. »Das Leben scheint nie so zu verlaufen, wie man es gerne möchte, oder? Wenn du mich damals, als wir zusammen studierten, gefragt hättest, was ich mir vom Leben wünsche, hätte ich dir geantwortet, daß ich alles haben will: eine gute, dauerhafte Beziehung, Kinder, viele Kinder, Karriere, Freunde. Ich habe Freunde, und ich habe Karriere gemacht, obwohl der Job mir heute nicht mehr so viel bedeutet. Den mache ich inzwischen mit links. Aber mit der dauerhaften Beziehung habe ich offensichtlich Probleme. Und Kinder werde ich nie haben.«

Was konnte ich darauf antworten?

»Das Leben ist grausam. Ich dachte immer, jeder ist seines Glückes Schmied. Aber so was denkt man, glaube ich, nur, wenn man jung ist, oder? Da wären wir also: du –

schön, geistreich, warmherzig – und allein. Und ich, ich hatte eigentlich alles, was ich mir wünschte, und plötzlich lebe ich in einem Alptraum. Auf jeden Fall« – ich war inzwischen etwas angetrunken, geschwätzig und schrecklich sentimental – »haben wir uns, und daran wird sich auch nichts ändern.« Damit hob ich das Glas. »Auf uns.«

»Auf uns. Im übrigen laß uns jetzt mal was essen, ich bin schon blau.«

Mit großem Appetit verspeisten wir die Sandwiches.

»Wußtest du«, sagte ich nach einer Weile, »daß Stead gar nicht weit weg ist?«

»Ja«, erwiderte Kim. »Das wußte ich. Ist das ein Problem für dich?«

»Nein, nicht direkt. Hast du dieses Gasthaus ausgesucht, weil es in der Nähe von Stead liegt?«

»Irgendwie schon. Das heißt, ich habe es ausgesucht, weil es ein schönes Plätzchen ist, und dann dachte ich, daß du vielleicht gerne nach Stead willst. Um die Vergangenheit zu bewältigen. Ich fürchtete, daß sie dich sonst erdrücken könnte.«

Ich sah sie verwundert an.

»Kim, du bist wirklich erstaunlich. Seit wir hier angekommen sind, denke ich darüber nach, daß ich unbedingt dorthin muß. Ich muß an den Ort zurück, an dem es passiert ist. Nicht unbedingt nach Stead, aber zu Cree’s Top. Ich kann es nicht erklären, aber ich habe das Gefühl, daß ich das Geschehene erst dann verarbeiten kann, wenn ich noch einmal dort war. In meiner Erinnerung bin ich x-mal dagewesen; wenn ich meine Augen schließe, könnte ich dir jeden Zentimeter, jede Senke und jeden Baum genauestens beschreiben. Aber ich war niemals wieder da

– nicht seit Natalie verschwunden ist. Es wurde zu einer Art verbotener Zone für mich. Nun, inzwischen weiß ich ja, warum. Aber ich weiß auch, daß ich dem, was ich getan habe, nicht entfliehen kann. Also muß ich mich der Sache stellen. Alle Plätze noch mal abgehen. Das verstehst du doch, oder?«

Kim nickte und schüttete den Rest der Flasche in unsere Gläser. »Sicher. Wenn ich in deiner Haut steckte, würde ich es wahrscheinlich genauso machen.«

Ich wollte etwas erwidern, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen. »Da dem aber nicht so ist, werde ich morgen, während du nach Stead zurückkehrst, einen langen Spaziergang machen.«

Wir starrten beide, von Wein und Müdigkeit benebelt, schweigend in die Flammen.

»Woran denkst du?« fragte Kim.

»Es war nicht Memory, weißt du«, sagte ich.

»Was?«

»Das Spiel, das wir immer an Weihnachten gespielt haben, bei dem man sich an Gegenstände auf einem Tablett erinnern muß. Das heißt nicht Memory. Es heißt

›Kims Spiel‹.«

»Welches Spiel? Wovon in aller Welt redest du eigentlich?«

»Ich habe in dem Karton mit den alten Sachen aus Stead, die Claud mir vorbeigebracht hat, einen Roman von Kipling gefunden. Kim. Beim Durchblättern stieß ich auf die Stelle, wo Kim zum Spion ausgebildet wird. Sie trainieren sein Gedächtnis, indem er sich wahllos zusam-mengestellte Gegenstände merken muß, die anschließend verdeckt werden. Das ist Kims Spiel.«

»Möchtest du vielleicht noch ein Glas Wein«, erkundigte sich Kim lächelnd.

»Memory dagegen ist ein Spiel, bei dem Karten verdeckt auf dem Tisch liegen und man versuchen muß, möglichst viele Paare zusammenzubekommen. Wie konnte ich das nur vergessen?«

Kim stand auf.

»Ich vergebe dir«, sagte sie. »Komm, laß uns schlafen gehen.«

36. KAPITEL

Das Anwesen wirkte, als wäre es bereits nicht mehr bewohnt. Als ich aus dem Auto stieg und mich umsah, spürte ich Marthas Abwesenheit sofort. Sie hatte mir mal erzählt, daß ihre Bücher quasi nebenbei entstanden und die Kinder von allein groß geworden wären, aber sie habe immer das Gefühl gehabt, daß ihr Garten sie wirklich brauchte. Früher war zwar ein paarmal in der Woche ein Mann aus Westbury gekommen, doch wenn ich auf Stead Ferien machte, schien sie mir jede freie Minute im Garten zu verbringen. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie auf Knien mit einer kleinen Schaufel den Boden umgrub, Unkraut jätete und Stecklinge setzte. Unermüdlich widmete sie sich einer Aufgabe, von der wir anderen so gut wie nichts verstanden. Wenn wir die Blumen, das Obst und das Gemüse bemerkten, dann bewunderten wir das alles gebührend, wir hatten es gern um uns, aber um die vielen kleinen Schlachten, die im Laufe des Wachstumsprozesses gewonnen oder verloren wurden, kümmerten wir uns nicht. Hatte sich jemand darüber Gedanken gemacht, was ohne Martha aus dem Garten werden sollte? Es war noch nicht einmal ein Jahr her, seit sie sich – zunächst geistig, dann auch körperlich – aus dem Leben zurückgezogen hatte, und es war noch nicht Frühling, aber schon jetzt wirkte alles vernachlässigt. Stöcke, an denen nichts festgebunden war, steckten in den Beeten, Löwenzahn überwucherte den Rasen, und überall lag welkes Laub.

Das Haus war verschlossen, und ich hatte keinen Schlüssel. Ich hatte nie einen gebraucht. Als ich durch die Fenster spähte, sah ich leere Räume, kahle Borde, nackte Wände, auf deren Tapeten helle Rechtecke an abgenom-mene Bilder erinnerten.

Das war nicht mehr unser Haus, und es bereitete mir eine bittere Genugtuung zu sehen, daß alles, was an die Martellos erinnerte, so radikal entfernt worden war. Stead stand zum Verkauf. Vielleicht würde schon bald jemand mit neuen Erinnerungen hier einziehen. Meine eigenen waren für mich noch überall spürbar, wie das raschelnde Laub, das der Wind von der kleinen Landstraße bis ans Ende der Auffahrt heraufgeweht hatte. Ich wandte mich ab. Die trostlose Grube, in der man Natalie gefunden hatte, war noch da, halbvoll mit morastigem Wasser. Warum schüttete sie denn niemand zu?

Aber deshalb war ich nicht hergekommen. Ich hatte keine Zeit zu vergeuden, und es war auch niemand da, dem ich etwas hätte vorjammern können. Ich wollte die Sache möglichst schnell hinter mich bringen und mir das ansehen, worum es mir ging. Dann würde ich Stead für immer verlassen, mich mit Kim treffen, etwas Gutes essen, ein schönes Wochenende verbringen, nach London zurückfahren und endlich mein eigenes Leben beginnen.

Mit schnellen Schritten überquerte ich den ungepflegten Rasen und fühlte, wie meine Zehen feucht wurden.

Verdammt, ich hatte die falschen Schuhe angezogen.

Schließlich erreichte ich den Waldrand. Zu meiner Linken sah ich die Pullam Farm, und zu meiner Rechten befand sich der Weg, der am Waldrand entlang und dann in einer Kurve wieder zu Stead führte. Doch heute wollte ich nicht diesen Weg einschlagen, sondern zum erstenmal nach fünfundzwanzig Jahren durch den Wald zu Cree’s Top und zum Ufer des Col gehen. Es war ein nebelver-hangener, feuchter Morgen, und ich fror in meinem Anorak. Aber es würde nicht lange dauern. Der Weg gabelte sich, als ich auf die Anhöhe zukam, hinter der sich der Fluß verbarg. Ich nahm die rechte Abzweigung, die mich um Cree’s Top herum zum Flußufer führen würde.

Der Weg, von Gestrüpp überwuchert, wurde anscheinend kaum noch benutzt. Nachdem ich mich durch das Unterholz gekämpft hatte, erreichte ich nach kurzer Zeit das Flußufer und den Fuß von Cree’s Top. Ich war wieder da. Ein winziges Detail hatte alles ins Rollen gebracht, eine Kleinigkeit, die Alex’ Interesse geweckt hatte. War es nicht so gewesen? Diese albernen Teenager-Gedichte, die ich zusammengeknüllt und ins Wasser geworfen hatte, als ich, mit dem Rücken zu Cree’s Top, am Fluß gesessen und beobachtet hatte, wie sie von der Strömung davongetragen wurden. Ob wohl eins davon das Meer erreicht hatte?

Oder waren sie allesamt nach der ersten Biegung im Schilf hängengeblieben? Ich kramte in meiner Anoraktasche und holte einen Werbezettel von einem indischen Restaurant heraus, das mir »Unglaublich niedrige Preise!« versprach.

Ich knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Fluß.

Und nun geschah etwas so Komisches, daß ich fast lachen mußte. Der Fluß floß in die falsche Richtung! Der zusammengeknüllte Werbezettel von »The Pride of Bengal« wurde nicht weggetragen und verschwand nicht hinter der Biegung des Flusses – nein, er schwamm direkt auf mich zu. Und tatsächlich, als ich flußaufwärts blickte, sah ich, daß es in dieser Richtung erst nach mehreren hundert Metern eine Biegung gab. Wie war das möglich?

Einen Augenblick lang war ich völlig verwirrt, aber dann begriff ich plötzlich, was los war. Mit raschen Schritten erklomm ich Cree’s Top. Viele Bäume waren gefällt worden, und als ich oben angelangt war, hatte sich der Morgennebel gelichtet, und man konnte den Fluß und den Weg, der am Ufer entlangführte, klar erkennen. Der Col machte eine leichte Biegung nach rechts, bevor er seine ursprüngliche Richtung wieder aufnahm. Von hier oben sah das wie ein umgedrehtes C aus. Fünfzig Meter entfernt befand sich die Brücke, von der Natalie zum letztenmal gesehen worden war.

Der Weg wurde mit einemmal sehr abschüssig, und ich mußte aufpassen, daß ich hangabwärts nicht zu schnell wurde. Als ich die Ebene erreichte, setzte ich mich, den Rücken gegen den breiten Felsen am Fuß von Cree’s Top gelehnt. Ich kramte wieder in meinen Anoraktaschen und förderte den Kreditkartenbeleg einer Tankstelle zutage.

Wenn ich ordentlicher wäre, hätte ich ihn natürlich schon längst am richtigen Platz abgeheftet. Ich knüllte ihn zusammen und warf ihn ins Wasser. Inzwischen hatte sich die Sonne hervorgewagt, und das hellblaue Papier auf den glitzernden Wellen war nur schwer zu erkennen, aber ich ließ es nicht aus den Augen. Es wurde schneller und verschwand schließlich hinter der grasbewachsenen Biegung. Wie ein Traum …

37. KAPITEL

Als Kinder spielten wir oft in der Nähe der Blutbuche mit dem dicken, grauen Stamm und den leuchtendbunten Blättern. Sie stand vor einer Steinmauer, und wenn man auf die Mauer stieg, waren die unteren Äste des Baums nah genug, daß man hinaufklettern konnte. Jetzt erschien er mir schwindelerregend hoch. Für alle anderen unsichtbar konnten wir durch die bronzefarbenen Blätter Stead und sein Portal sehen und beobachteten, wie die Erwachsenen kamen und gingen. Stundenlang blieben wir dort oben. Wir nahmen unsere Puppen mit, und, als wir älter waren, Bücher und Äpfel. Natalie und ich saßen und redeten, während das Licht durch die Blätter flirrte. Wir sahen den vorbeiziehenden Wolken nach, tauschten Geheimnisse aus, und die Tage zogen gemächlich vorüber.

Ich hatte fast vergessen, wie ausgeglichen und fröhlich Natalie sein konnte. Nach ihrem Verschwinden hatte ich mich ihr gegenüber nicht wie eine wirkliche Freundin verhalten. Wenn ich diejenige gewesen wäre, die ohne ein Wort der Erklärung gegangen wäre, hätte sie mich fieberhaft gesucht, das weiß ich. Sie hätte sich von mir im Stich gelassen gefühlt und sich wütend gegen die Beschwichtigungsversuche der Erwachsenen gewehrt. Sie hätte keine Ruhe gegeben. Ich dagegen hatte Nacht für Nacht passiv und traurig in dem Zimmer gelegen, das ihres gewesen war, hatte zwar immer von ihr geträumt, aber nie richtig nach ihr gesucht. Einmal, als Natalie und ich im Garten Verstecken spielten, konnte ich sie nirgends finden. Nachdem ich vergeblich hinter den dichten Büschen und in den Geräteschuppen gesucht hatte, marschierte ich in die Küche, wo Martha Plätzchen buk.

Gerade machte ich mich daran, die Schüssel auszulecken, da stürmte Natalie herein.

»Warum gibst du immer gleich auf?« brüllte sie mich an.

»Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt mit dir rumärgere, wenn du immer gleich aufgibst. Du gehst mir auf die Nerven, Jane Crane.«

Ich rieb mit dem Finger über die Rinde. Martha hatte diesen Baum auch sehr gemocht. Sie hatte Krokusse und Schneeglöckchen um ihn herum gepflanzt. Die Schneeglöckchen blühten schon, die weißen Köpfe neigten sich anmutig im kalten Wind. Helle Krokustriebe lugten aus dem Erdreich hervor. Ich setzte mich, und als ich mich an den Baumstamm lehnte, spürte ich die rauhe, alte Rinde durch meine Jacke. Mit Anfang Zwanzig hatte ich ein viermonatiges Architekturpraktikum in Florenz gemacht.

Ich hatte die Stadt geliebt und in meiner Freizeit die engen Gassen durchwandert oder dunkle, nach Weihrauch duftende Kirchen erkundet, wo Madonnenstatuen in Nischen standen und alte Frauen Kerzen für die Toten anzündeten.

Zehn Jahre später fuhr ich wieder dorthin. In meiner Erinnerung hatte ich die Stadt noch ganz klar vor Augen, doch schon bald mußte ich feststellen, daß irgend etwas nicht ganz stimmte. Die Straßen waren kürzer; wo ein Aussichtspunkt sein sollte, stand ein hohes Gebäude; das Café, in dem ich immer meinen Espresso getrunken und kleine Reiskuchen gegessen hatte, war von der Mitte des Platzes in eine Ecke gerückt. Claud hatte mich zu beruhigen versucht: Man müsse einen Ort eben immer wieder neu entdecken, und das Schöne am Reisen sei doch gerade, daß neue Eindrücke hinzukämen und alte sich änderten. Aber ich kam mir irgendwie betrogen vor: Ich wollte in eine unversehrte Vergangenheit zurückkehren, in der jede Stelle ihre Erinnerungen für mich bereithielt; aber statt dessen kam ich in eine Stadt, die mir auf rätselhafte Weise entglitten war.

Die gleiche, nicht erklärbare Unzufriedenheit plagte mich auch jetzt. Einer plötzlichen Eingebung folgend, zog ich den Reißverschluß meines Anoraks bis zum Kinn hoch, stand auf und kletterte auf den niedrigsten Ast des Baums. Mühsam arbeitete ich mich von Ast zu Ast vorwärts, bis ich einen Sitzplatz erreichte. Durch das Gewirr der mit winzigen Knospen übersäten Zweige blickte ich auf Stead. Da stand das Haus, das unsichtbare Spuren des Verfalls aufwies. Wenn sich rein äußerlich nichts ändert, woran erkennt man dann den Augenblick, in dem das Leben aus dem Gesicht eines Freundes schwindet, wie weiß man, daß ein Haus verlassen ist? Von meinem Platz aus konnte ich die Haustür nicht genau erkennen, obwohl ich mich ganz klar daran erinnerte, sie als Kind von hier gesehen zu haben. Ich kletterte wieder hinunter, sprang ungeschickt auf den Rasen und setzte mich ein zweites Mal mit dem Rücken an den Baum.

Ich zog mein altes Tagebuch hervor, das ich heute morgen noch aus der Reisetasche gekramt hatte, und blätterte auf gut Glück in den hinteren Seiten. Bei manchen Eintragungen kamen mir sofort Erinnerungen: Zum Beispiel die Geschichte mit der Kerze, die Alans Bart in Brand gesetzt hatte, als er sich gierig über den Tisch beugte, um sich die letzten Kartoffeln auf den Teller zu schaufeln. Ich hatte damals so lachen müssen, daß mir hinterher der Bauch weh tat. Oder als wir auf dem nahen Baggersee segeln gingen und ich furchtbare Angst bekam, weil das Boot sich schräg legte und Wasser hinein-schwappte, es aber natürlich nicht zugeben wollten – vor allem nicht vor Natalie und Theo, die sehr sportlich waren und es nicht ausstehen konnten, wenn jemand nicht so mutig war wie sie. Oder wie ich mit Alan und den Zwillingen um vier Uhr morgens aufgestanden war, um bei Tagesanbruch dem Vogelkonzert zu lauschen, und wie wir fröstelnd und hungrig, aber vollkommen begeistert zurückkehrten.

Doch es gab andere Eintragungen, die rein gar nichts bei mir auslösten: Ein Streit mit Mum, den ich mit schein-heiliger Einsichtslosigkeit beschrieb, oder der Besuch eines mittelalterlichen Herrensitzes, in dem sich während der Reformation Katholiken unter den Dielenbrettern versteckt hielten. Sie waren wie die vergessenen, von Efeu und Nesseln überwucherten Gräber auf dem Highgate Cemetery. Der größte Teil unseres Lebens ist eben verschüttet.

Der letzte Eintrag war mir allerdings immer im Gedächtnis geblieben – was nicht weiter verwunderlich war, denn der Tag vor Natalies Verschwinden war für mich sozusagen der sichtbare Rand rund um ein großes schwarzes Loch. Ohne Schwierigkeit konnte ich die Vorbereitungen aufzählen, die an jenem Tag für die Party getroffen worden waren; ich erinnerte mich daran, wie ich Theo auf der freien Stelle zwischen den frischen gemauerten Steinen für den Grill geküßt hatte, der rechtzeitig für die Party am nächsten Tag fertig werden mußte, und wie wir schuldbewußt aufsprangen, als wir Jim Weston kommen hörten.

Ich klappte das Tagebuch zu und rieb mir die Augen.

Regen tropfte auf den Umschlag. Ich hatte das Gefühl, etwas durch dichten Nebel zu betrachten; alle Umrisse waren verzerrt und verschwommen. Wie ich mit Theo dort stand, wo der Grill stehen würde, wie wir uns küßten. Der Grill.

Ich stand so hastig auf, daß ich beinahe gestolpert wäre, und rannte in dem stärker werdenden Regen dorthin, wo Natalies Überreste gefunden worden waren. Die Stelle war noch immer deutlich zu erkennen, ein hellerer Fleck mit aufgewühltem Lehm, Schutt und herausgerissenem Unkraut. Ich sprang in die Grube hinunter und fing planlos an, im Dreck zu graben. Das Bein einer Puppe kam zum Vorschein, eine rostige Gabel mit verklebten Zacken, eine Bierflasche mit zersplittertem Hals; dann förderte ich einen zerbrochenen Backstein zutage und Teile eines rostigen Grillgitters. Das waren die Überreste des Grills.

Natalie war darunter begraben gewesen.

Schwer atmend ließ ich mich am Rand der Grube nieder und wischte mir die schmutzigen Hände an meinen schmutzigen Jeans ab. Inzwischen fiel der Regen stetig und legte sich wie ein dunkler Vorhang vor Stead und all seine Geheimnisse. Irgend etwas war hier faul. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen; es war, als entglitte mir ein Traum immer wieder bei dem Versuch, mich an ihn zu erinnern. Natalie war unter dem Grill begraben worden.

Aber der Grill war gebaut worden, bevor sie starb!

Ich sagte laut: »Deshalb also wurde ihre Leiche hier begraben! Niemand wäre auf die Idee gekommen, hier zu suchen, weil sie unmöglich hier sein konnte.«

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und starrte durch die Finger in die lehmige Grube. Regen lief mir über den Nacken. Ich versuchte es noch einmal: »Natalie ist vergraben worden, bevor sie starb.«

Oder: »Natalie wurde unter dem Grill vergraben; Natalie ist gestorben, nachdem der Grill fertig war; deshalb …«

Deshalb was? Ich kickte mit dem Fuß ein paar Steinreste in das Loch und stand auf. Kim wunderte sich sicher schon, wo ich blieb.

38. KAPITEL

Als ich in den Gasthof zurückkehrte, lag Kim auf dem Bett und studierte eine Landkarte. Bei meinem Anblick setzte sie sich auf.

»Du bist ja ewig weg gewesen. Du liebes bißchen, schau dir mal dein Gesicht an! Hast du ein Schlammbad genommen oder wie? Ist was passiert?«

»Nein, nichts. Ich weiß nicht.« Ich ging ins Badezimmer und wusch mir Gesicht und Hände. Als ich wiederkam, zog Kim sich gerade die Stiefel an.

»Willst du was essen?« fragte sie.

»Nein. Geh nur, wenn du Hunger hast.« Doch dann überlegte ich es mir anders und fügte schnell hinzu: »Hast du Lust auf einen Spaziergang?«

»Klar; auf der Karte habe ich einen fünfzehn Kilometer langen Wanderweg gefunden, der gleich unten an der Straße beginnt. Wenn wir die Strecke gehen, sind wir noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Der Weg führt über Berg und Tal, und bei dem Wetter heute wird es bestimmt ziemlich matschig.«

Mit einem Blick auf meine Jeans meinte ich: »Na, ich denke, damit komme ich klar.«

Auf dem ersten Teil der Strecke sagte ich kein Wort, und wir erklommen den schmalen, steinigen Pfad ohnehin in einem solchen Tempo, daß ich vermutlich nicht gleichzeitig hätte wandern und sprechen können. Brombeerranken verfingen sich in meiner Kleidung, und Regen tropfte von den nassen Blättern. Schließlich wurde der Weg breiter, und wir kamen auf eine Anhöhe, von der man bei schönem Wetter sicher einen guten Ausblick gehabt hätte.

»Ich bin vollkommen durcheinander«, begann ich.

»Weshalb?«

»Anfangs war alles klar, genauso wie ich es erwartet hatte – natürlich, schließlich kenne ich Stead wie mein eigenes Zuhause. Ich hab mich einfach ein bißchen umgesehen, du weißt schon, die ganzen alten Erinnerungen …« Kim nickte, sagte aber nichts. »Dann bin ich zu der Stelle zurückgegangen, an der es passiert ist.« Es war merkwürdig, ich brachte es immer noch nicht fertig zu sagen ›wo Alan Natalie ermordet hat‹. »Seit sechsund-zwanzig Jahren bin ich nicht mehr dort gewesen.« Ich kletterte über einen Baumstamm, der quer über dem Pfad lag, und wartete, bis Kim mich eingeholt hatte. »Und als ich zu der Stelle kam, merkte ich, daß alles falsch war. Ich habe mich falsch erinnert.«

»Warum überrascht dich das so? Du hast doch selbst gesagt, daß du fast dreißig Jahre nicht mehr dort warst. Es ist ganz normal, daß du dich nicht erinnerst.«

»Nein. Ich habe mich erinnert – aber falsch. Verstehst du nicht, Kim? Ich bin mit Alex in Gedanken so oft durch diese Landschaft gegangen, aber als ich jetzt tatsächlich dorthin zurückkehrte, da war alles anders! Ich meine, verkehrt herum. Oh, verdammter Mist, ich weiß nicht.«

Ich zog ein feuchtes Päckchen Zigaretten aus der Jackentasche und zündete mir, während wir weitergingen, eine an.

»Nur damit ich dich richtig verstehe, Jane – willst du damit sagen, daß der Weg, den du Stück für Stück mit Alex erforscht hast, der falsche war?«

»Nein, nein, das meine ich nicht. Ich bin den richtigen Weg gegangen, jedes Detail stimmte – aber es war eben alles verkehrt herum.«

»Ich glaube, ich kapier das nicht. Was soll das denn heißen?«

»Ich weiß es selbst nicht. Ich bin total verwirrt, Kim.

Und das ist noch nicht alles.«

»Wie, nicht alles?« Kim war so entnervt, daß sie mich fast anschrie.

»Nicht nur, daß der Weg andersrum verlief, als ich dachte, ich habe noch etwas anderes herausgefunden – und ich weiß nicht, warum bis jetzt niemand darauf gekommen ist. Dabei ist es eigentlich ganz naheliegend.«

»Was denn? Verdammt noch mal, Jane, hör auf, in Rätseln zu sprechen! Mach endlich den Mund auf und erklär es mir!«

»Okay. Also: Ich saß da und las das Tagebuch, das Claud mir gebracht hat. Und das beschreibt genau den Zeitraum vor Natalies Tod.«

»Aha.«

»Tja, in meinem letzten Eintrag – den ich am Tag vor Natalies Ermordung gemacht habe – schreibe ich, daß der Grill noch nicht fertig ist. Der Grill, den Jim Weston für die Party gebaut hat.«

»Und?«

»Aber dort hat man Natalie gefunden. Kim. Unter dem Grill.«

Ich beobachtete, wie Kims verständnisloser Gesichtsausdruck sich veränderte. Nachdenklich sah sie mich an:

»Das ist unmöglich. Das würde bedeuten …«

»Das würde bedeuten, daß die Backsteine, unter denen man Natalie gefunden hat, gemauert wurden, bevor sie starb.«

»Aber …«

Ich zählte die verschiedenen Argumente an meinen Fingern ab: »Also, erstens: Wir wissen, daß Natalie am Tag nach der Party starb. Jemand hat sie gesehen, ein vertrauenswürdiger Zeuge, der nicht in irgendwelche Familienstreitigkeiten verwickelt war. Zweitens: Wir wissen, daß Alan sie umgebracht hat – ich erinnere mich daran, und er hat es gestanden. Aber Alan traf erst auf Stead ein, als der Grill schon fertig war. Drittens: Natalies Leiche ist unter dem Grill vergraben worden.« Wütend und frustriert steigerte ich das Marschtempo, und Kim mußte fast rennen, um mit mir Schritt zu halten.

»Wenn das stimmt, solltest du zur Polizei gehen, Jane.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Was soll ich der Polizei denn sagen? Keiner würde diese neue Laune meiner Erinnerung akzeptieren. Und es ändert sowieso nichts daran, daß Alan Natalie getötet hat. Ich will bloß wissen, wie er das fertiggebracht hat.«

Ich versetzte einer Brombeerranke, die mir im Weg lag, einen Tritt und kramte in meiner Jackentasche nach einer weiteren Zigarette.

»Verdammt, Jane, kannst du nicht endlich damit aufhören«, meinte Kim. »Warum ist das so wichtig für dich? Denk doch mal darüber nach. Du weißt die Haupt-sache über Natalies Tod – du weißt, wer sie umgebracht hat. Jetzt willst du auch noch alle Einzelheiten raus-kriegen. Und wenn du das alles rausgefunden hast, dann wirst du durch die Gegend rennen und rauchen wie eine Blöde. Aber du wirst nie alles herausbekommen, Jane.

Soll ich dir sagen, was ich denke?«

»Na, mach schon. Du gibst ja sowieso nicht eher Ruhe.«

Ich war durchnäßt und wütend. Ein Steinchen drückte gegen meinen Fußballen, mein Kopf juckte unter der Wollmütze, der Wollschal kratzte am Hals, meine Hände schwitzten in den Wollhandschuhen, und meine Nase war eiskalt. Warum konnte Kim nicht einfach nur zuhören, nicken und mir die Hand halten?

»Ich glaube, das Ganze ist für dich zu einer fixen Idee geworden. Wenn du ein Rätsel gelöst hast, taucht garantiert gleich das nächste auf. Du suchst nach dem ultimativen Sinn dieser gräßlichen Tragödie. Du hast den Verstand verloren.«

»O danke.«

»Doch, du gehst mir wirklich langsam auf die Nerven.

Kannst du nicht endlich Ruhe geben?«

Ich kletterte über einen Zaun und faßte dabei mitten in eine schleimige, grüne Flechte.

»Ich möchte ja gern. Und ich dachte auch, alles wäre überstanden. Ich wollte noch einmal hierherkommen, um die ganze Sache zu Ende zu bringen und – das hört sich sicher dumm an – um Natalie wiederzufinden. Sie war für mich eine Art Puzzle geworden, und die einzigen Charakterzüge, über die ich nachdachte, waren jene, die ihren Tod erklärten. Aber neulich hab ich sie plötzlich ganz deutlich vor mir gesehen; es war, als könnte ich die Hand ausstrecken und sie berühren. Ich habe sie wirklich geliebt, sie war meine beste Freundin. Deshalb mußte ich herkommen und Natalies wahrem Ich Lebewohl sagen, dort, wo sie zuletzt gewesen ist. Aber jetzt fühle ich mich so … ach, Mist, ich brauche einen neuen Ansatzpunkt. Ich hab das Gefühl, ich werde noch verrückt.«

Kim sagte nichts. Wir gingen den Hügel hinunter zum Auto.

»Du willst das restliche Wochenende hierbleiben, oder?«

fragte Kim, als wir zum Gasthof zurückfuhren, »Ja, natürlich.« Aber dann sagte ich: »Weißt du, Kim, ich fürchte, ich kann nicht bleiben. Ich bin furchtbar unruhig.

Tut mir wirklich leid, aber können wir nicht heute abend zurückfahren?«

Kim machte ein grimmiges Gesicht.

»Eine ziemlich lange Fahrt, um hier eine Nacht zu verbringen und einen Spaziergang im Regen zu machen, findest du nicht auch?«

»Ich weiß, aber ich wäre bestimmt keine angenehme Gesellschaft.« Ich kurbelte das Fenster herunter und zündete mir eine Zigarette an. »Du weißt schon, unerledigte Dinge … Wie die Frau zu mir gesagt hat: ›Es ist noch nicht überstanden‹.«

»Und wie heute schon die ganze Zeit habe ich nicht die geringste Ahnung, was du meinst. Na ja«, Kim streckte die Hand aus und berührte sanft meine Schulter, »laß uns nicht streiten.

Ich wollte nicht meckern.« Sie lächelte mich wehmütig an. »Ich hatte mir schon mein Abendessen ausgemalt: Muscheln und Thunfisch in Zitronenmarinade, gefolgt von Lammbraten. Und zum Nachtisch einen Apfelstrudel mit Sahne.«

»Ich werde ein paar Sandwiches für unterwegs besorgen«, sagte ich. »Vollkornbrot mit Käse und Salat und hinterher einen Apfel.«

»Na, toll.«

Es war noch nicht ganz sechs Uhr abends, als wir den Gasthof mit Sack und Pack verließen. Ich bestand darauf, die zweite Übernachtung, die wir nicht in Anspruch genommen hatten, zu bezahlen, und entschuldigte mich bei dem Besitzer für unsere überraschende Abreise.

»Die denken wahrscheinlich, es handelt sich um eine kleine Meinungsverschiedenheit unter Liebenden«, mutmaßte Kim.

»Ach, sie werden glauben, wir sind die typischen Schönwetterwanderer aus London, die vor dem Regen flüchten.«

Und es regnete noch immer, als wir an diesem scheußlichen Februarabend aufbrachen. Die Scheibenwischer fegten das Wasser beiseite, und Kim legte eine Kassette ein. Schräge, jazzige Saxophonklänge erfüllten das Wageninnere und übertönten den prasselnden Regen.

Während der Fahrt sagten wir beide kein Wort, aber unser Schweigen hatte nichts Unbehagliches. Allmählich ließ der Regen nach, doch es waren noch genügend Pfützen auf der Straße, und jedesmal, wenn ein Lkw an uns vorbeidonnerte, mußte Kim die Scheibenwischer wieder einschalten.

Erschöpft lehnte ich mich zurück und betrachtete die Landschaft, die an uns vorüberzog. In der Scheibe konnte ich undeutlich und verschwommen mein Gesicht erkennen. Ich hätte es dort nicht länger ausgehalten, aber warum ich zurückfuhr, konnte ich eigentlich auch nicht sagen.

Was sollte ich jetzt bloß tun? Mein Leben war in eine Sackgasse geraten. Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich mich wieder in Alex’ Behandlung begab und versuchte, mir über die schrecklichen Widersprüche Klarheit zu verschaffen, die mich nicht mehr losließen. Mit Alex’

Hilfe war es mir gelungen, einen grauenerregenden Abschnitt meiner Vergangenheit zu erhellen, aber alles andere lag noch im dunkeln. Vielleicht mußte ich auch Licht in diese Dinge bringen. Beim bloßen Gedanken daran fühlte ich mich bereits unaussprechlich erschöpft.

Jeder Knochen tat mir weh. Als ich diese Reise zurück in meine Kindheit begonnen hatte, hatte ich immer von einem schwarzen Loch in meiner Vergangenheit gesprochen. Doch jetzt schien es, als hätte sich dieses Bild – wie das Negativ einer Fotografie – umgekehrt. Das einzige, was für mich jetzt sichtbar, verwirrend sichtbar war, war der Teil, der bis dahin im dunkeln gelegen hatte.

Aufgewühlte Erde, in der ein toter Teenager lag.

»Könntest du kurz das Licht anmachen? Ich will eine andere Kassette einlegen«, meinte Kim und kramte in der Ablage, in der ein heilloses Durcheinander herrschte.

»Klar.« Ich blinzelte in das Licht, und die Welt außerhalb des Wagens war ausgeblendet. »Weißt du, Kim, ich habe das Gefühl, alles ist auf den Kopf gestellt. Als ich heute morgen den Hügel hinaufging, kam ich mir vor wie Alice bei ihrer Reise hinter den Spiegeln, als sie in dem Garten spazierengeht, in dem alles umgekehrt ist. Wenn man zu einem bestimmten Punkt will, darf man nicht auf ihn zu-, sondern muß von ihm weggehen. Merkwürdig, nicht wahr?«

Erstaunt stellte ich fest, daß mir die Tränen kamen. Ich mußte blinzeln und blickte auf die Scheibe. Eine Frau mittleren Alters, deren schmales Gesicht kummervoll aussah, starrte zurück, gefangen in ihrer Welt auf der anderen Seite der Scheibe. Wir sahen einander aus weit auf gerissenen Augen erschreckt an. Sie war mir nicht fremd; wir kannten uns ziemlich gut, doch vielleicht nicht gut genug. Ein Blitz durchzuckte mein Gehirn. O nein, lieber Gott, bitte nicht! Was hatte ich getan?

Ich griff hastig nach oben und knipste das Licht aus. Der silberhelle, betörende Klang einer Flöte schwebte durch den Raum. Das Gesicht der Frau war verschwunden. Ich hatte mich selbst gesehen. Natürlich. Ich war das Mädchen auf der Anhöhe, war für eine Stunde Natalie; ich hatte mich selbst auf der Anhöhe gesehen, war mir auf der Fährte gewesen. Ich hatte mich in dem Garten hinter den Spiegeln befunden und war meinem eigenen Bild gefolgt, und als ich mich selbst gefunden hatte, hatte ich mich auf ganz schreckliche Weise verloren. Auf ganz schreckliche Weise. Ich fühlte, wie ein Schrei aus meiner Kehle aufstieg, und hielt mir den Mund zu. Es war gar nicht Natalie, die auf dem Hügel gewesen war; das war immer ich gewesen, Natalies Freundin, ihre Doppelgängerin. Der alte Mann, der damals das Zelt abgebaut hatte, hatte mich gesehen; ich war es, die Natalie genannt worden war. In meinen Alpträumen hatte ich mich gesucht.

»Kim, kannst du mich bitte an der nächsten U-Bahn-Station absetzen?«

Wir fuhren gerade durch die Londoner Randbezirke, und ich wußte, wohin ich jetzt fahren mußte.

Kim sah mich erstaunt an, hielt aber an der nächsten Haltestelle prompt an. »Ich hoffe, du weißt, was du tust, Jane, denn ich weiß es mit Sicherheit nicht.«

Ich küßte sie auf die Wange und drückte sie ganz fest an mich.

»Ich weiß, was ich tue, zum erstenmal seit langer, langer Zeit weiß ich das. Ich muß unbedingt etwas herausfinden, und ich denke, es wird sehr schmerzlich sein.«

»Jane«, sagte Kim, als ich ausstieg. »Falls du das hier jemals hinter dich bringen solltest, dann schuldest du mir was. Und zwar einen großen Gefallen.«

39. KAPITEL

»Hallo?«

»Hallo, spreche ich mit Dr. Thelma Scott?«

»Ja.«

»Hier ist Jane Martello. Vielleicht erinnern Sie sich an mich, wir sind uns schon mal begegnet …«

Sie unterbrach mich, und ihre Stimme klang interessiert.

»Ja, ich erinnere mich.«

»Ich weiß, das klingt ein bißchen komisch, aber könnte ich vielleicht bei Ihnen vorbeikommen?«

»Wie? Jetzt gleich?«

»Ja, wenn das geht …«

»Es ist Samstagabend. Woher wissen Sie, daß ich keine Dinnerparty gebe oder vorhabe auszugehen?«

»Tut mir leid. Ich möchte Sie natürlich nicht stören.«

»Nein, ist schon in Ordnung, ich lese nur. Sind Sie sicher, daß es so wichtig ist? Können wir nicht einfach am Telefon darüber reden?«

»Wenn ich es Ihnen erzählt habe und Sie es nicht wichtig finden, dann können Sie mich ja wegschicken.

Geben Sie mir fünf Minuten.«

»In Ordnung. Wo sind Sie denn jetzt?«

»An der U-Bahn-Haltestelle Hanger Lane. Soll ich ein Taxi nehmen?«

»Nein, Sie sind schon ganz in der Nähe. Steigen Sie einfach in die U-Bahn nach Shepherd’s Bush.«

Sie gab mir eine kurze Wegbeschreibung, und wenige Minuten später bog ich bei der Wood Lane in eine ruhige Wohnstraße ein.

Auf mein Klingeln öffnete eine zierliche Frau mit hellwachem Gesicht; ich erinnerte mich noch genau an sie.

Heute trug sie allerdings Jeans und einen ausgesprochen bunten Pullover. Zwar lächelte sie ein wenig spöttisch, als entspräche mein Anblick genau ihren Erwartungen, aber ihr Händedruck war durchaus herzlich.

»Möchten Sie etwas essen?«

»Nein, danke. Ich habe keinen Hunger.«

»Dann müssen Sie mir wohl beim Essen zusehen.

Kommen Sie mit in die Küche. Rauchen ist leider nicht gestattet«, sagte sie, denn sie hatte die Zigarette in meiner Hand sofort bemerkt. Mit einer raschen Bewegung warf ich den Glimmstengel hinter mich auf den Weg. In der Küche goß sich Dr. Scott ein Glas Chianti ein; mir servierte sie das gewünschte Glas Leitungswasser.

»Da Sie nichts essen wollen, mache ich mir auch nur einen kleinen Imbiß«, meinte sie. »Also, worum geht es?

Warum wollten Sie mich sprechen?«

Während des Gesprächs bereitete sie eine große Auswahl kleiner Gerichte zu: Pistazien, Oliven mit Sardellen- und Chilifüllung, Tortillachips mit einem Guacamole-Dip aus dem Kühlschrank, Mozzarella und Parmaschinken mit einem großen Klecks Olivenöl.

»Sind Sie Psychoanalytikerin?«

»Nein, Psychiaterin. Ist das wichtig?«

»Sie wissen, was mir passiert ist, was ich getan habe, nicht wahr?«

»Ich glaube schon. Aber erzählen Sie es mir lieber noch einmal.«

Himmel, wie ich mich jetzt nach einer Zigarette sehnte!

Damit sie mir beim Nachdenken half und damit meine Hände was zu tun hatten.

»Seit November war ich bei Alex Dermot-Brown in Therapie. Ich hatte große emotionale Probleme, nachdem man die Überreste meiner Freundin Natalie gefunden hatte, die seit dem Sommer 1969 vermißt worden war.

Alex zeigte besonders großes Interesse, als ich ihm erzählte, daß ich zur Zeit des Verbrechens ganz in der Nähe war. Wir haben die Szene immer wieder durchge-arbeitet, sie visualisiert, und so kam mir allmählich wieder die Erinnerung. Ich war Augenzeugin. Ich habe gesehen, wie Natalie von ihrem Vater, meinem Schwiegervater Alan Martello, getötet wurde. Als ich Alan mit dieser Erkenntnis konfrontierte, hat er gestanden. Jetzt ist er …

na ja, das haben Sie sicher in der Zeitung gelesen.«

»Ja, allerdings.«

»Jetzt habe ich eine Frage, Dr. Scott. Eigentlich sind es sogar zwei Fragen. Kann es sein, daß jemand ein Verbrechen bekennt, das er gar nicht begangen hat? Und, wenn ja, weshalb sollte jemand so etwas tun?«

»Darüber muß ich einen Augenblick nachdenken«, sagte Dr. Scott. »Eine knifflige Frage. Warum möchten Sie das ausgerechnet von mir wissen?«

»Weil ich mich frage, ob es möglich ist, daß sich eine Erinnerung später als falsch herausstellt? Ich meine, eine klare, detaillierte visuelle Erinnerung.« Dr. Scott setzte zu einer Antwort an, aber ich ließ sie noch nicht zu Wort kommen. »Ich hatte das Gefühl, nach einer Computerdatei zu suchen, die ich aus Versehen gelöscht hatte. Wenn man die dann wiederfindet, zweifelt man doch nicht daran, daß es tatsächlich die gelöschte Version ist, oder?«

Inzwischen hatte Dr. Scott am Tisch Platz genommen; die Teller mit den kleinen Speisen standen aufgereiht vor ihr. Sie hatte eben von einem Sandwich abgebissen und mußte erst einmal energisch kauen und schlucken, bevor sie antworten konnte.

»Nennen Sie mich doch Thelma. Übrigens ist dieser Name ein Beispiel für Irritationen bei der Übermittlung von Informationen. Er stammt aus einem Roman von Marie Corelli, geschrieben in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Heldin, eine Norwegerin, heißt so. Auf einer Konferenz im norwegischen Bergen begann ich deshalb meine Ansprache mit der Bemerkung, meine Anwesenheit sei doch sehr angemessen, weil ich einen norwegischen Namen habe und so weiter und so fort. Aber danach kam ein Mann zu mir und erklärte mir, daß Thelma überhaupt kein norwegischer Name sei. Corelli muß da irgend etwas mißverstanden haben. Oder sie hat es einfach erfunden.«

»Ihr Name ist also ein Irrtum?«

»Ja, alle Frauen mit Namen Thelma müßten eigentlich neu getauft werden und einen richtigen Namen bekommen.« Sie lachte. »Aber es ist ja auch gleichgültig, solange man das mit der kulturellen Tradition nicht zu eng sieht.

Ihr Vergleich mit der Computerdatei ist sehr interessant.

Nicht mal die Neurologen haben ein akkurates Modell von den Funktionen des menschlichen Gedächtnisses, deshalb steht es jedem frei, eigene Befehlsmodelle zu entwickeln.

Manchmal kann das Gedächtnis wie ein Speichersystem funktionieren. Ein ganzer Teil kann verlorengehen, beispielsweise alles, was mit einer alten Schulklasse zu tun hat. Dann begegnet man zufällig einem ehemaligen Klassenkameraden, der ein bißchen von früher erzählt, und plötzlich kommen eine ganze Menge Erinnerungen zurück, von denen man gar nichts mehr wußte und über die der Klassenkamerad auch nicht geredet hat.

Problematisch wird es, wenn man die eigenen Behelfs-modelle mit der Realität verwechselt. Dann nämlich kann einen der Vergleich mit dem Speichersystem zu der Annahme verleiten, daß alles, was man je erlebt hat, jederzeit erinnert und neu durchlebt werden kann –

vorausgesetzt, man entdeckt den richtigen Schlüsselreiz.

Aber ich würde manche Erinnerungen eher mit einer Sandburg am Strand vergleichen. Wenn das Meer sie einmal überschwemmt und weggewaschen hat, kann man sie nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form wiederauf-bauen, nicht mal theoretisch. Ist das alles, worüber Sie mit mir sprechen wollten?«

»Natürlich nicht. Ich bin verzweifelt und weiß nicht mehr, an wen ich mich wenden soll.«

»Warum sprechen Sie nicht mit Alex Dermot-Brown?«

»Ich glaube nicht, daß Alex für das, was ich sagen möchte, ein offenes Ohr hat.«

»Und jetzt glauben Sie, ich bin Alex nicht wohlgesonnen und nehme Ihnen deshalb Ihre Geschichte ab«, meinte Thelma und goß sich ein drittes (oder war es schon ihr viertes?) Glas Wein ein.

»Sehen Sie, auf der Konferenz, bei der wir uns begegnet sind, habe ich auch ein paar sehr nette Frauen kennengelernt, die schreckliche Dinge erlebt haben. Diese Frauen haben mir versprochen, mich zu unterstützen, mir Glauben zu schenken und mich nicht in Frage zu stellen. Jetzt stehe ich am Rand eines Abgrunds, aber ich möchte gar keine Unterstützung. Ich will nicht, daß man mir glaubt, wenn ich unrecht habe. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Noch nicht ganz, aber reden Sie ruhig weiter.«

»Ich würde Ihnen gern die wichtigsten Punkte erklären.

Der letzte Zeuge, der Natalie lebend gesehen hat, sagt, es war am Sonntag, dem 27. Juli, an einem Fluß in der Nähe des Herrenhauses. Meine Gedächtnisarbeit mit Alex beruhte auf der Annahme, daß ich ganz in der Nähe der Stelle war, an der zur gleichen Zeit das Verbrechen passierte. Ich hatte damals eine leidenschaftliche Liebes-affäre mit einem von Natalies Brüdern, ging hinunter zum Col, dem Fluß, und setzte mich ans Ufer, mit dem Rücken zu dem kleinen Hügel, der mich von Natalie trennte. Aus einer Laune heraus hatte ich ein paar Gedichte, die ich früher geschrieben hatte, zerrissen und ins Wasser geworfen. Dann sah ich den Papierfetzen nach, wie sie um die Flußbiegung verschwanden.«

Thelma zog eine Augenbraue hoch. »Ist das alles wirklich von Bedeutung?«

»Ja, es ist sogar sehr wichtig. Genau das gleiche habe ich auch Alex erzählt – es war der Teil, an den ich mich erinnerte, ohne Vorbehalte, der Teil, an dem es für mich keinen Zweifel gab.«

»Und?«

»Heute früh war ich zum erstenmal, seit es passiert ist, wieder am Fluß. Als ich zu der Stelle kam, an die ich mich erinnerte, floß das Wasser in die falsche Richtung.«

»Wie meinen Sie das – ›in die falsche Richtung‹.«

»Es klingt blöd, aber es stimmt. Ich habe ein Stück Papier reingeworfen, und es ist nicht von mir weg, sondern zu mir her geschwommen.«

Thelma sah enttäuscht aus. Sie zuckte die Achseln. Mehr hatte ich nicht zu bieten?

»Ganz einfach«, fuhr ich fort, »Ich drehte mich um und ging über die kleine Anhöhe zur anderen Seite. Und da begriff ich, daß ich dort gesessen und das Papier ins Wasser geworfen hatte. Ich habe probeweise sogar noch ein Stück reingeworfen, und es ist von mir weg und um die Flußbiegung geschwommen, genau wie in meiner Erinnerung.«

Thelmas Gesichtsausdruck war kühl geworden. Sie wirkte distanziert, etwas peinlich berührt sogar. Sogar das Essen schien sie nicht mehr zu interessieren. Zweifellos überlegte sie, wie sie mich ohne größere Umstände loswerden konnte.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Bestimmt bin ich schwer von Begriff, aber ich verstehe wirklich nicht ganz, worauf Sie hinauswollen. Mir leuchtet nicht ein, warum es wichtig sein sollte, daß Sie sich an die falsche Stelle am Fluß erinnert haben.«

»Es war nicht nur falsch herum. Die Brücke, von der aus der Zeuge Natalie angeblich gesehen hat, war ebenfalls auf dieser Seite des Hügels. Aber schenken Sie mir bitte noch eine Minute Geduld. Aus Gründen, die ich nicht näher erörtern möchte, habe ich vor kurzem eine Menge Sachen von früher bekommen, aus der Zeit, als ich den Sommer immer im Haus der Martellos verbracht habe.

Darunter befand sich auch das Tagebuch, das ich damals führte. Da es schon zwei Tage vor Natalies Verschwinden aufhörte, habe ich ihm nie Beachtung geschenkt. Als ich es mir jedoch heute noch einmal ansah, fiel mir ein hochinteressantes Detail auf. Mir war es schon immer seltsam vorgekommen, daß Natalies Leiche nicht gefunden wurde. Als man sie im November entdeckt hat, war das – jedenfalls für mich – beinahe noch seltsamer. Die Stelle war brillant gewählt, denn sie lag direkt vor unserer Nase, im Garten, nur ein paar Meter vom Haus entfernt.

Aber wie war es dem Täter gelungen, sie unbemerkt dort zu vergraben?«

»Ich weiß nicht. Sagen Sie’s mir«, entgegnete Thelma mit spürbarer Ungeduld.

»Mein Tagebuch erinnerte mich daran, daß vor dem Haus ein Grill gebaut wurde und daß dieser Grill genau am Morgen des 26. Juli fertig war – das war der Samstag, an dem es abends eine Party gab, dem Tag, bevor Natalie zum letztenmal gesehen wurde. Heute früh habe ich mir die Grube angesehen, in der Natalies Leiche gefunden wurde, und dort entdeckte ich auch die Reste dieses Grills.

Er war aus Backsteinen gemauert und mit in Beton eingelassenen Tonkacheln verkleidet. Jetzt sind nur noch Scherben da, denn der Grillplatz wurde abgerissen, und die Tonkacheln wurden zertrümmert, als Martha – das ist meine Schwiegermutter – den Rasen vergrößern ließ. Aber der springende Punkt ist: Der Mörder hat Natalie in dem Loch vergraben, weil er wußte, daß darüber eine schwere Backsteinkonstruktion mit Beton und Kacheln errichtet werden würde.«

»Würde die Polizei nicht zu allererst in einem Loch im Boden suchen?«

»Aber es gab ja gar kein Loch mehr, verstehen Sie denn nicht? Als Natalie am 27. zum letztenmal gesehen wurde, war der Grill schon über vierundzwanzig Stunden an Ort und Stelle. Aber aus einleuchtenden Gründen ist es unmöglich, eine Leiche unter einem Backsteingrill zu vergraben, der schon fix und fertig auf der Wiese steht.«

»Na ja, damit beantworten Sie doch Ihre eigene Frage, stimmt’s?«

»Sie verstehen immer noch nicht ganz. Natalie kann unmöglich erst am 27. gestorben sein, als man sie erstmals vermißte. Sie war schon am Morgen vor der Party, also schon am 26. tot – und vergraben.«

Thelma machte ein verwirrtes Gesicht, aber nun war ihr Interesse wenigstens wieder geweckt. »Aber Sie haben doch gesagt, man hat Natalie am 27. gesehen, oder?«

»Ja. Aber was ist, wenn ich Ihnen sage, daß Natalie und ich gleich alt waren, daß wir einen sehr ähnlichen Teint hatten und oft die gleichen Kleider trugen? Daß Natalie in der Gegend sehr bekannt war, während ich nur im Sommer auftauchte – eine Menge Nachbarn hatten mich also noch nie gesehen? Und daß ich inzwischen entdeckt habe, daß ich zur selben Zeit am selben Ort war, an dem man Natalie angeblich zum letztenmal lebend gesehen hat?

Was dann?«

Auf Thelmas Gesicht breitete sich ganz langsam ein Lächeln aus, wie eine Flamme, die sich gemächlich durch eine Zeitung frißt. Jetzt dachte sie nach, und zwar gründlich.

»Sind Sie sicher, was den Grill betrifft?« wollte sie wissen.

»Hundertprozentig. Ich habe auf beiden Seiten des Lochs Kachelreste gefunden. Natalies Leiche lag garantiert darunter.«

»Und Sie wissen auch ganz genau, daß der Grill nicht doch ein paar Tage später fertig geworden ist? Vielleicht hat man es ja nicht bis zur Party geschafft.«

»Nein, er war der Mittelpunkt der Party. Ich habe Fotos, wie die Gäste davor Schlange stehen, um sich Rippchen und Bratwurst zu holen.«

Thelma fiel noch ein Einwand ein.

»Spielt das alles denn überhaupt eine Rolle? Alan hat ein Geständnis abgelegt. Die Polizei würde sicher behaupten, daß Sie die Daten falsch im Kopf haben.«

»Aber Alan war überhaupt nicht da. Mein Vater hat Alan und Martha am Morgen der Party in Southampton vom Schiff abgeholt. Sie kamen gerade mit dem Dampfer aus der Karibik und sind erst am frühen Abend auf Stead eingetroffen, direkt zu Beginn der Party. Alan kann Natalie nicht ermordet haben. Es gibt nur ein einziges Problem.«

»Und das wäre?«

Ich hob ratlos die Hände. »Ich hab ihn gesehen. Und er hat es gestanden.«

Thelma lachte laut auf. »Oh, weiter nichts?«

»Ja«, antwortete ich.

»Ich habe nie an so was geglaubt.«

»Wollen Sie damit sagen, ich habe mir alles nur eingebildet?«

Höchstwahrscheinlich sagte ich das ziemlich laut.

»Jane, ich mache mir jetzt einen Whisky, und Sie kriegen auch einen. Außerdem erlaube ich Ihnen, ein paar von Ihren widerlichen Zigaretten zu rauchen, und dann setzen wir uns hin und unterhalten uns mal ernsthaft. In Ordnung?«

»Ja, in Ordnung.«

Schon holte sie zwei unglaublich klobige Whiskygläser hervor und danach noch einen unglaublich klobigen Aschenbecher. In meinem Haus hätte ich beides nicht geduldet.

»Hier«, sagte sie, während sie die beiden Gläser jeweils mit einem etwa fünffachen Scotch füllte. »Nichts von diesem modischen Single-Malt-Zeug, sondern ein altbe-währter Verschnitt – so sollte man Whisky trinken. Prost.«

Ich nahm einen großen Schluck und zog beglückt an meiner Zigarette.

»Also?« fragte ich.

»Erzählen Sie mir von Ihren Therapiesitzungen bei Alex Dermot-Brown«, sagte Thelma »Wie meinen Sie das?«

»Erzählen Sie mir davon, wie Sie Ihr Gedächtnis wiedergefunden haben. Wie ging das vor sich?«

Ich berichtete kurz über das kleine Ritual, das Alex und ich jedesmal vollzogen, wenn ich mich ans Ufer des Col zurückversetzte. Während ich sprach, erschien auf Thelmas Gesicht erst ein Stirnrunzeln, dann allmählich ein Lächeln.

»Entschuldigung«, unterbrach ich mich, »hab ich was Komisches gesagt?«

»Aber nein«, entgegnete sie. »Machen Sie weiter.«

»Das war schon alles. Was halten Sie davon?«

»Haben die Vertreter der Anklage es je in Erwägung gezogen, Sie in den Zeugenstand zu rufen?«

»Wozu? Alan hat ja gestanden.«

»Natürlich. Aber hatten Sie den Eindruck, daß die Ankläger darauf brannten, Sie aussagen zu lassen?«

»Das weiß ich nicht. Na ja, ich glaube, einigen von ihnen wäre es eher unangenehm gewesen.«

»Dann sage ich Ihnen, daß man Alan Martello nie allein aufgrund Ihrer Aussage verurteilt hätte. Das wäre wahrscheinlich sogar gesetzwidrig gewesen.«

»Wieso?«

»Weil sich das Gedächtnis unter dem Einfluß von Hypnose verändert. Und Sie sind hypnotisiert worden.«

»Das ist doch albern! Ich weiß genau, was ich getan habe. Ich lag bloß auf der Couch und habe versucht, mich zu erinnern. Wenn man mich hypnotisiert hätte, müßte ich das doch wohl wissen.«

»Das glaube ich kaum. Hypnose ist kein Hokuspokus.

Ich schätze, Sie reagieren sehr empfänglich auf hypno-tische Prozesse. Ich könnte Sie jetzt in Trance versetzen und Ihnen sagen, daß Sie … hmm, sagen wir mal, daß Sie auf dem Weg von Shepherd’s Bush hierher gesehen haben, wie jemand überfahren wurde. Wenn ich Sie aus der Hypnose zurückhole, wären Sie überzeugt, daß es stimmt.«

»Selbst, wenn es so wäre – Alex hat mir nicht gesagt, woran ich mich erinnern soll.«

»Ich weiß, aber allein durch die Wiederholungen und die Verstärkung, die er Ihnen gab, haben Sie sozusagen immer mehr Erinnerungen angehäuft. Jedesmal haben Sie ein Versatzstück zu Ihrer Geschichte hinzugefügt, und bei der nächsten Sitzung erinnerten Sie sich dann an das Detail, das Sie bei der vorhergehenden dazugewonnen hatten.

Selbstverständlich ist Ihre Erinnerung in gewisser Weise real, aber es ist eine Erinnerung an Erinnerungen.«

»Aber was ist mit dem Verbrechen, das ich gesehen habe? Es war so real, so detailliert.«

»Die ganze Therapie war doch darauf zugeschnitten.

Alex Dermot-Brown hat Sie darauf vorbereitet, er hat Ihnen immer wieder versichert, daß alles, woran Sie sich erinnern, der Wirklichkeit entspricht, und er hat seine Autorität als Arzt und Analytiker eingesetzt, um Sie davon zu überzeugen, daß Sie etwas wiedererlebten – und nicht etwa konstruierten.«

»Ist so etwas denn möglich? «

»Ja, so etwas ist durchaus möglich.«

»Hat Alex das absichtlich gemacht? Hat er versucht, mir eine falsche Erinnerung einzutrichtern?«

»Ganz gewiß nicht. Aber manchmal schafft man sich das, wonach man sucht. Ich weiß, daß Dr. Dermot-Brown leidenschaftlich an das Phänomen der wiedergewonnenen Erinnerungen glaubt, und ich bin überzeugt, daß er den Menschen helfen will, die unter Gedächtnisverlust leiden.

Mittlerweile hat er sogar seine ganze berufliche Arbeit darauf ausgerichtet.«

»Sie sind also sicher, daß er sich irre?«

»Welche Erklärung könnte es sonst geben für das, was Sie erlebt haben, Jane?«

»Und was ist mit dem Mißbrauch von Kindern? Glauben Sie, das sind alles bloß Phantasien, wie Freud behauptet hat?«

Thelma nahm einen großen Schluck Whisky. »Nein. Zur Zeit behandle ich ein halbes Dutzend Opfer von sexuellem Mißbrauch. Zwei davon sind Schwestern und haben beide jeweils zwei von ihrem Vater gezeugte Kinder zur Welt gebracht, bevor sie sechzehn waren. Beim Prozeß gegen ihn hat meine Aussage hoffentlich geholfen, ihn zu überführen. Natürlich weiß ich auch, daß sich Mißbrauch oft schwer beweisen läßt. Ich kenne Männer, die deshalb ungeschoren davonkommen, und das treibt mich zur Verzweiflung. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich mehr trinke, als mir bekommt.« Sie schwenkte ihr schon fast leeres Whiskyglas. »Aber ich glaube nicht, daß Mißbrauch in einem luftleeren Raum existiert, in dem die normalen Regeln – ich meine damit juristische und wissenschaftliche Grundsätze – nicht mehr gelten. Nur weil Mißbrauch extrem schwer nachweisbar ist, bedeutet das noch lange nicht, daß wir versuchen sollten, Ange-klagte ohne Beweise zu verurteilen.«

»Aber in diesen Fällen gibt es Beweise. Bei den Frauen, die ich im Workshop kennengelernt habe. Sie erinnern sich daran, wie sie mißbraucht wurden.«

»Tun sie das? Alle? Ich kenne junge Frauen aus anscheinend liebevollen, intakten Familien, die nach ein, zwei Jahren Analyse überzeugt waren, ihre gesamte Kindheit hindurch auf entsetzliche Weise mißbraucht worden zu sein. Sie erzählen von wiederholten rituellen Vergewaltigungen. Sodomie, Folter, davon, daß man sie gezwungen hat, Exkremente zu essen und an irgendwelchen schwarzen Messen teilzunehmen. Vielleicht meinen manche Leute, daß solche unerhörten Beschuldigungen von besonders stichfesten Beweisen untermauert werden müssen, aber die Leute, die sich für die Rechte dieser bedauernswerten Frauen einsetzen, vertreten die Ansicht, daß wir außer den eigenen Aussagen der Opfer keine weiteren Beweise brauchen. Alles andere ist für sie Kollaboration mit dem Täter. Es gibt nicht mal eine neurologische Erklärung für den Gedächtnisverlust, der, wie wir alle wissen, nach einem Schlag auf den Kopf, beispielsweise bei einem Autounfall, eintreten kann. Aber es gibt keine Erklärung dafür, wie regelmäßig über mehrere Jahre hinweg wiederkehrende Einzelereignisse aus dem Gedächtnis gelöscht werden können. Da ist Ihr Erlebnis, daß Sie gesehen haben, wie Ihr Schwiegervater Ihre Freundin ermordet hat, noch ein vergleichsweise trivialer Fall.«

»Aber warum habe ich denn ausgerechnet Alan gesehen?«

Thelma zuckte die Achseln. »Fragen Sie mich nicht. Sie kennen ihn, ich nicht. Vielleicht haben Sie im Verlauf Ihrer Analyse besonders starke Gefühle auf ihn projiziert.

Als Ihre Phantasie dann einen Bösewicht brauchte, erschien er Ihnen möglicherweise als geeignet, weil er ein Mann ist, der Frauen gegenüber zur Gewalt neigt. Das Bild des Mordes entstand in dem Moment, in dem Ihre innere und Ihre äußere Welt aufeinandertrafen. Auf eine abnorme Weise war es so etwas wie ein Triumph für den psychoanalytischen Therapieansatz. Unglücklicherweise hat sich die Realität sehr hartnäckig eingemischt.«

»Aber warum um alles in der Welt hat Alan dann gestanden?«

»So etwas kommt vor, wissen Sie. Er wird seine Gründe haben.«

»O Gott«, stöhnte ich und ließ den Kopf auf die Hände sinken.

»Wenn Sie wissen wollen, ob Alan Martello ein Mann ist, der mit Schuldgefühlen und Verzweiflung umzugehen versucht, indem er etwas absolut Irres, Selbstzerstörerisches, Theatralisches tut, dann haben Sie so ziemlich ins Schwarze getroffen.«

Thelma trank ihren Whisky aus.

»So sieht’s also aus.«

Ich betrachtete mein Glas. Keine Chance, es je leerzu-kriegen: Mindestens ein dreifacher Scotch war noch übrig, und ich fühlte mich schon jetzt betrunken. Ein bißchen unsicher erhob ich mich.

»Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.«

»Ich rufe Ihnen ein Taxi«, sagte Thelma, und nach ihrem Anruf vergingen nur wenige Minuten, ehe es an der Tür klingelte.

»Vermutlich wollen Sie mich jetzt als Paradebeispiel in Ihrem Kreuzzug gegen die Theorie der wiedergewonnenen Erinnerung benutzen«, meinte ich unter der Tür.

Thelma lächelte mich traurig an. »Nein, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Das, was Sie erlebt haben, wird die Verfechter dieser Theorie nicht verunsichern.«

»Das kann doch nicht wahr sein.«

»Wieso denn nicht? Wie steht es mit Ihnen? Was hätten Sie gedacht, wenn Sie zu Ihrem Fluß gekommen wären und die Strömungsrichtung hätte gestimmt? «

»Ich weiß nicht.«

»Passen Sie auf sich auf«, sagte sie, als ich ins Taxi stieg. »Sie müssen morgen früh die Polizei anrufen. Die müssen mit ihren Ermittlungen noch mal von vorn anfangen.«

»O nein, bestimmt nicht.«

Thelma sah mich verwundert an, aber das Taxi war bereits losgefahren und sie schon außer Hörweite.

40. KAPITEL

Wir fuhren auf der A12 gegen den Strom der Pendler aus der Stadt und gelangten rasch in die nur auf den ersten Blick ländlich wirkenden Londoner Randbezirke. Ich hatte die Straßenkarte auf meinem Schoß ausgebreitet. Außer den Wegangaben, die ich machte, fiel kein Wort. Wir bogen von der Hauptverkehrsstraße ab und gelangten in das typische Chaos aus Kreisverkehr, Dorfstraßen und Industriegebieten. An der Baustelle für eine Umgehungs-straße saßen wir für eine halbe Stunde auf einer nur einspurig befahrbaren Straße fest. Ein Mann regelte per Handzeichen den Stop-and-go-Verkehr. Wiederholt sah ich nervös auf die Uhr.

Für den letzten Teil der Fahrt brauchten wir die Straßenkarte gar nicht, sondern folgten einfach den blauen Schildern in Richtung Wivendon. Wir parkten vor einem neoklassizistischen Gebäude, das genausogut als Fremden-verkehrsamt hätte durchgehen können. Aber es war ein Gefängnis.

Die anderen blieben auf dem Parkplatz. Ich ging zwischen niedrigen Ligusterhecken den Weg entlang, der zum Sicherheitstor führte. Man überprüfte meinen Personalausweis, inspizierte meinen Führerschein und nahm mir die Handtasche ab. Eine Frau in marineblauer Uniform lächelte mich freundlich an, aber tastete mich unter den Armen und meinen Kleidern ab. Ich mußte relativ schmale Türen passieren, die mich an den Personaleingang in städtischen Hallenbädern erinnerten.

Ich nahm in einem Wartezimmer Platz, in dem auf einem Tisch in der Mitte des Raums eine blütenlose Topfpflanze und alte Zeitschriften lagen. An der Wand hing ein Plakat, das für ein großes Feuerwerk warb. Die Tür öffnete sich, und ein übergewichtiger Mann in braunen Kordhosen und kariertem Hemd trat ein. Sein dichtes, rötlichbraunes Haar hing über dem offenen Hemdkragen. Er war ungefähr in meinem Alter, und unter seinem linken Arm trug er mehrere dicke, braune Aktenordner.

»Mrs. Martello?« Er kam auf mich zu, setzte sich neben mich und reichte mir die Hand. »Ich bin Griffith Singer.«

»Hallo.«

»Sie sehen überrascht aus.«

»Ich nehme an, ich habe einen Wärter erwartet.«

»Wir versuchen hier etwas legerer zu sein.«

»Wieviel Zeit habe ich?«

Stirnrunzelnd sah er mich an. »Solange Sie wollen. Tut mir leid, heute bin ich leider ziemlich beschäftigt. Sind Sie einverstanden, wenn ich Ihnen alles weitere unterwegs erzähle?«

Wir standen auf, und er führte mich durch die Tür und einen Korridor entlang, der an vergitterten Flügeltüren endete.

»Von hier aus kommen wir zu der Gruppe«, erklärte mir Griffith und drückte auf eine simple Plastikklingel, die an der Wand neben der Tür befestigt war. Ein uniformierter Mann kam aus einem gläsernen Büro, das zwischen diesen beiden Türen lag. Griffith zeigte seinen Ausweis vor, und sie suchten meinen Namen auf einer Liste und konnten ihn nicht finden. Bis jemand vom Haupteingang meine Registrierung bestätigte, vergingen ein paar Minuten.

»Wie macht er sich?« erkundigte ich mich.

»Er ist einer unserer Stars«, meinte Singer. »Wir sind wirklich sehr mit ihm zufrieden. Dies ist eine neue Gruppe, wissen Sie. Ich beziehungsweise wir haben diese Gruppe erst kurz vor seiner Ankunft eingerichtet, und er gehört zu den Leuten, die dafür gesorgt haben, daß sie läuft. Wissen Sie etwas über unsere Arbeit?«

»Wir haben ihm alle geschrieben, aber er hat nicht geantwortet.«

»Unsere Insassen müssen alle lange Haftstrafen verbü-

ßen. Anstatt sie im Knast verrotten zu lassen, haben wir hier Bedingungen geschaffen, damit sie sich untereinander helfen und, wie wir hoffen, ihre Zeit auch kreativ nutzen können.«

»Erinnerungen austauschen.«

»Es ist nicht so, wie Sie denken«, sagte Singer. »Er macht sich verdammt gut. Er hat ein Seminar gestaltet und jeden mit einbezogen. Er … oh, gut, da kommt Riggs.«

Ein anderer uniformierter Mann polterte den Gang entlang. Nach Luft ringend murmelte er eine Entschuldigung. Ich mußte einen Zettel unterschreiben und ihn in eine durchsichtige Plastikhülle stecken, die an meinem Revers befestigt wurde. Die erste Tür öffnete sich und fiel hinter mir ins Schloß. Dann die zweite. Ein Wärter, den ich anhand des Namensschildchens als Barry Skelton identifizierte, begleitete uns.

»Bin ich hier auch sicher?«

Singer lächelte amüsiert. »Hier drinnen sind Sie sicherer als draußen auf dem Parkplatz. Außerdem wird Barry die ganze Zeit bei Ihnen sein.«

In jede Richtung führte ein weiß getünchter Korridor mit flauschigem Teppichboden.

»Ich sehe mal, ob ich ein Zimmer finde, in dem Sie beide ungestört reden können. Es gibt hier einen Lagerraum, der frei sein könnte.«

Wir kamen an mehreren Räumen vorbei. Ich konnte im Vorübergehen ein paar Männer erkennen, die fernsahen.

Niemand nahm Notiz von uns. Irgend etwas – ich konnte nicht sehen, was – tat sich im Lagerraum, und so gingen wir weiter, bis wir einen leeren Seminarraum fanden.

»Barry wird sich um alles weitere kümmern«, meinte Singer und ging den Korridor weiter entlang. Plötzlich fiel ihm noch etwas ein, und er drehte sich zu uns um. »Er schreibt einen Roman, wissen Sie. Es klingt ziemlich vielversprechend.«

Wir betraten einen mittelgroßen Raum mit breiten Fenstern am anderen Ende, von denen aus man auf einen leeren Sportplatz sah. In der Mitte des Zimmers standen acht orangefarbene Plastikstühle im Kreis. Durch das Neonlicht, das brannte, war alles hell erleuchtet. Barry nahm sich einen der Stühle und stellte ihn genau in den Türrahmen.

»Ich werde mich hierhin setzen«, sagte er mit leichtem Ulster-Akzent. Er war ein auffallend großer Mann mit blasser Haut und glattem, schwarzem Haar. »Setzen Sie sich bitte mir gegenüber hin. Hier herrschen zwar keine strengen Regeln, aber es ist Ihnen nicht gestattet, einander irgendwelche Gegenstände zu reichen. Wenn Sie das Gespräch, aus welchen Gründen auch immer, beenden wollen, brauchen Sie nichts zu sagen. Berühren Sie einfach nur kurz Ihren Ausweis am Revers, dann komme ich zu Ihnen und begleite Sie hinaus.«

Ich nickte und setzte mich auf den angegebenen Stuhl.

Um mich zu sammeln, bedeckte ich mein Gesicht mit den Händen.

»Hallo, Jane.«

Ich sah auf.

»Hallo, Claud.«

Claud hatte bestimmt vierzehn Pfund abgenommen. Sein Gesicht sah hagerer, spitzer aus, und seine kurzgeschnittenen Haare waren ein wenig grauer geworden. Er trug ein verwaschenes blaues Sweatshirt, schwarze Jeans und Turnschuhe. Er sah sich kurz nach Barry Skelton um, der im Türrahmen saß.

»So, dann werde ich Sie beide jetzt mal allein lassen«, meinte Singer etwas unbeholfen, als hätte er uns für ein Blind date zusammengebracht und wäre sich nicht sicher, wie es weitergehen würde.

Claud nickte.

»Soll ich mich hierhin setzen, Barry?« fragte er und deutete auf den Stuhl, der in dem Kreis mir gegenüber stand. Barry nickte. Claud setzte sich, und wir musterten einander.

»Du siehst gut aus, Claud«, sagte ich.

Er sah tatsächlich gut aus, besser als jemals zuvor. Mit einem leichten Nicken bedankte er sich für das Kompliment und griff in seine Hosentasche, um ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen und ein graues Metallfeuerzeug hervorzukramen. Er bot mir eine Zigarette an, aber ich schüttelte dankend den Kopf. Er zündete sich eine an und nahm einen tiefen Zug.

»Die Umgebung ist sehr anregend«, meinte er. »Es werden hier interessante Ideen entwickelt. In vielerlei Hinsicht, denke ich, ist es eine Verbesserung des Barlinnie-Modells. Und für mich persönlich …«, er zuckte leicht die Achseln, »ist es ein außerordentlich gesundes Leben. Aber wie geht es dir?«

»Hast du von Alan gehört?«

»Ich sehe nicht fern und lese keine Zeitungen. Ich nehme an, er ist aus der Haft entlassen worden.«

»Mehr noch. Er ist wieder ein berühmter Schriftsteller.«

»Wie das?«

»Als er auf freien Fuß gesetzt wurde, schrieb er innerhalb von vierzehn Tagen seine Gefängnis-Memoiren.

Sie heißen A Hundred and Seventy-Seven Days. Die Verleger brachten es diesen Monat auf den Markt. Es war eine Sensation. Der New Yorker verglich Alans Werk wohlwollend mit Ein Tag im Leben des Iwan Denisso-witsch. Alan hat mir erzählt, daß bei der Verfilmung des Stoffes Anthony Hopkins seinen Part spielen wird. Ich glaube, das einzige, worüber Alan im Augenblick nachgrübelt, ist die Frage, ob er eher den Literaturno-belpreis oder den Friedensnobelpreis verliehen bekommt.«

Claud lächelte. Er klopfte die Zigarette ab, und die Asche fiel neben seinem rechten Fuß auf den Boden.

»Ihr sprecht also wieder miteinander?« erkundigte er sich.

»Es sieht so aus. Alan schloß mich in die Arme und vergab mir.

Ich war sehr gerührt, obwohl sich das Ganze live in einem Fernsehstudio abspielte.«

»Was ist aus deinem Therapeuten geworden?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Wie geht es den Jungen, Jane?«

»Gut, Paul übrigens auch. Er hat seinen Film noch mal komplett überarbeitet und ist jetzt gerade auf einem Fernsehfilmfestival in Seoul.«

»Gut. Ich persönlich fand die erste Fassung etwas oberflächlich.«

»Es wundert mich nicht, Claud, daß du diesen Eindruck hattest.«

»Was ist aus deinem Wohnheim geworden? Steht es schon?«

»Noch nicht, aber wir haben jetzt den dritten offiziellen Eröffnungstermin, und wir nähern uns diesem Datum unaufhaltsam, ohne daß bis jetzt etwas dazwischenge-kommen wäre. Ich bin optimistisch.«

»Freut mich zu hören, Jane. Das ist ein gutes Zeichen. Es ist ein phantastisches Projekt. Wie schön für dich.«

Hinter meinen Augen fing es unaufhaltsam an zu pochen.

»Und wie steht es um dein Opus magnum? Wie ich hörte, schreibst du an einem Roman.«

Claud lachte. »Hat Griff mal wieder geplaudert? Ich weiß, man sollte anderen seine Arbeit erst dann zeigen, wenn sie fertig ist. Aber ich konnte ihm seine Bitte einfach nicht abschlagen.«

»Was ist es?«

»Ich schreibe eine Art Krimi, quasi als intellektuelle Übung. Ich muß sagen, die Arbeit macht mir viel Freude.«

»Worum geht es?«

»Um den Mord an einem jungen Mädchen.«

»Wer tötet es?«

»Ein sehr interessanter Aspekt. Ich versuche von der abgedroschenen Vorstellung wegzukommen, daß junge Mädchen süße, passive Geschöpfe sind. Die Ermordete ist ein Teenager, der sich seiner erwachenden sexuellen Anziehungskraft sehr bewußt ist und sie dementsprechend einsetzt. Sie ist schön und bezaubernd, aber sie setzt diese Vorzüge ein, um allen anderen um sie herum Schaden zuzufügen. Sie kennt deren Geheimnisse und erpreßt sie.«

»Wird sie deshalb umgebracht?«

»Nein, nicht nur. Sie kann es nicht lassen, ihre körperlichen Reize auch den Männern ihrer Familie gegenüber einzusetzen. Für alle anderen unbemerkt, gelingt es ihr, ihren älteren Bruder zu verführen.«

»Wie bewerkstelligt sie das?«

»Du weißt schon, gelegentliche Blicke oder Berührungen, eine gewisse Vertrautheit, ja, sie flirtet sogar mit ihm. Was ich versuche herauszuarbeiten, ist der Übergang von einer unschuldigen Beziehung der Familienmitglieder untereinander zu einem Stadium, wo ein ähnliches Verhalten sexuell aufgeladen wird, weil das Mädchen zur Frau wird und die Macht erkennt, die es ausübt.«

»Was passiert?«

»Sie bekommt mehr, als sie erwartet hat. Als er merkt, daß sie ihn an der Nase herumgeführt hat, bringt er sie dazu, zu ihrem Angebot zu stehen. Sie muß die Konsequenzen, die ihr Verhalten logischerweise haben wird, erkennen. Aber das ist gleichzeitig auch die überraschende Wendung, verstehst du. Noch in dieser Situation benutzt sie ihre Sexualität als eine Form der Macht, die sie über ihren Bruder hat. Sie verhöhnt und demütigt ihn. Was als Bestrafung für sie gedacht war, wird für sie zum Genuß.«

»Und dann?«

»Das Ganze wäre nach und nach vielleicht im Sande verlaufen, aber sie wird schwanger.«

»Kann sie nicht abtreiben lassen?«

»Diese Frage stellen sie sich gar nicht. Das Mädchen droht seinem Bruder damit, daß es ihn vor der Familie bloßstellen will.«

»Das hört sich ja an, als würdest du auf der Seite des Mörders stehen.«

»Jede Geschichte hat doch zwei Seiten, oder? Und was uns Menschen auszeichnet, ist unsere Vorstellungskraft!

Sagtest du das nicht immer?«

»Denkst du, dir gelingt es, die Leser davon zu überzeugen, daß ein junges Mädchen es verdient, von seinem Bruder, der es geschwängert hat, ermordet zu werden?«

Claud zuckte die Achseln, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Das ist eine künstlerische Herausfor-derung.«

»Wie stellt der Junge es an?«

»Ja, das ist nicht uninteressant, nicht wahr?« Claud wirkte ruhig und nachdenklich. »Im Vergleich zu der Tat selbst besteht die weitaus größere Schwierigkeit darin, nicht überführt zu werden. Der Bruder zieht zwei ganz unterschiedliche Möglichkeiten in Betracht. Er könnte seine Schwester zum Beispiel zufällig bei einem Streit töten. Das Schlimmste, was der Täter in einem solchen Fall zu erwarten hätte, wäre eine kurze Haftstrafe; wenn er Glück hat, bekommt er Bewährung. Aber das ist keine besonders reizvolle Lösung. Ich mußte …« Claud wirkte, als habe er für einen Moment den Faden verloren. Er trat die Zigarette aus und zündete sich eine neue an. »Ich wollte über einen Jungen schreiben, der seine Schwester tötet, um den Anstand zu wahren. Ihn hat sie ganz offensichtlich provoziert, aber sie vergiftet auch die Atmosphäre in der Familie. Sie ist ein Mädchen, das hinter Geheimnisse kommt und dieses Wissen ausnutzt. Familien brauchen ihre Geheimnisse, diese kleinen Ausflüchte, die alles zusammenhalten. Dieses Mädchen ist dabei, eine gute, eine großartige Familie zu zerstören. Viele werden mir zustimmen, wenn ich sage, es ist besser, ein Mädchen zu verlieren als eine komplette Familie.«

»Vom Standpunkt des Mädchens erfährt man in der Geschichte wohl nicht sehr viel.«

»Ihr Standpunkt ist sonnenklar: Sie folgt ihren unmittel-baren Begierden, egal, welchen Schaden sie damit bei anderen anrichtet.«

»Wie begeht der Junge eigentlich den Mord?«

»In dem Haus auf dem Land, in dem die Familie lebt, soll ein großes Sommerfest stattfinden. Es werden sehr viele Menschen kommen, und so wird es nicht weiter auffallen, wenn jemand fehlt. Der Bruder organisiert dieses Fest, und dabei kommt ihm eine Idee. Er sorgt dafür, daß der Grill für die Party erst in letzter Minute gemauert wird, und weil er sich mit den Handwerkern anlegt, ist der Grill am Abend vor der Party erst halb fertig. Er bittet seine Schwester, sich mit ihm mitten in der Nacht zu treffen. Da das Mädchen mit einem Jungen aus dem Ort flirtet, schlägt er vor, es solle seiner Zimmerge-nossin einfach sagen, es habe sich mit seinem neuen Schwarm verabredet. Er erwürgt seine Schwester und vergräbt ihren Leichnam nicht sehr tief an der Stelle, wo der Grill am nächsten Morgen fertig gemauert werden soll.«

»Ist der Grill nicht ein viel zu auffälliger Platz?«

»Das Schöne an diesem Plan ist, daß mehrere andere Faktoren hinzukommen. Der Roman spielt im Jahr 1969.

Wenn damals ein aufsässiges, schwieriges sechzehnjähriges Mädchen verschwand, nahm man an, daß es von zu Hause weggelaufen sei. Als man dann später Schlimmeres nicht mehr ausschließen kann, ist bereits einige Zeit vergangen, und bei dem ganzen Durcheinander, das auf der Party herrschte, kann niemand mehr genau sagen, wann es zum letztenmal gesehen wurde. Doch die Anwesenden haben den Eindruck, das Mädchen sei auf der Party gewesen. Der Bruder hatte mehreren Handwerkern aus dem Ort und einigen Freunden erzählt, welche Aufgaben seine Schwester bei der Party übernehmen würde. Natürlich ist sie, als das Fest beginnt, schon tot und begraben, aber sie hat eine sehr gute, gleichaltrige Freundin. Ein süßes Mädchen. Sie sehen sich ähnlich und ziehen sich gleich an. Dieses Mädchen ist in der Gegend kaum bekannt, da es in London lebt. Alles, was ich brauchte – was die Story brauchte – war, daß ein oder zwei Leute auf der Party die beiden miteinander verwechselten, und so würde aus einem guten das perfekte Versteck werden.«

Ich sah über Clauds Schultern hinweg zu Barry, der sich offensichtlich langweilte. Anscheinend hatte er nicht viel für Literatur übrig.

»Aber ich war doch gar nicht auf der Party, Claud.«

»Ja, ich weiß. Theo hat es mir erzählt, als ich aus Indien zurückkam. Nun, das ist ein Detail, das ich im Roman ausgelassen habe. Dieser Umstand würde bei dem hieb-und stichfest strukturierten Roman, den ich schreibe, einfach zu unglaubwürdig wirken. Wie du bereits sagtest, warst du nicht auf der Party und konntest mir somit auch nicht das entscheidende Alibi liefern. Doch als Gerald Docherty am Sonntag, dem 27. Juli, über die Brücke am Col ging, um uns beim Zeltabbau zu helfen, hat er dich gesehen und für Natalie gehalten. Damit hattest du nicht nur sehr wirkungsvoll vom Fundort der Leiche abgelenkt, sondern mir gleichzeitig auch ein solch perfektes Alibi verschafft, wie ich es mir selbst nie hätte ausdenken können. Du warst, ohne es zu ahnen, zu meiner Komplizin geworden.«

»Warum hast du mich geheiratet, Claud? Warum hast du mich geheiratet und Kinder mit mir bekommen?«

Zum erstenmal wirkte Claud überrascht.

»Weil ich mich in dich verliebt habe. Ich habe nie eine andere geliebt. Ich habe immer nur dich geliebt. Du bist die Frau für mich. Und ich wollte, daß du mich liebst. Was ich nicht bedacht hatte, war die Tatsache, daß du eines Tages aufhören könntest, mich zu lieben. Alles weitere entwickelte sich aus diesem Versagen.«

»Und du warst bereit, Alan für deine Freiheit zu opfern.

War der Brief tatsächlich von Natalie, oder hast du ihn gefälscht?«

»Es war der Brief, den Natalie an mich geschrieben hat.

Ich mußte lediglich das Stückchen Papier mit ›Lieber Claud‹ abreißen und einige andere verräterische Worte entfernen. Im übrigen habe ich Alan nicht geopfert. Du hast doch oft genug von seinem Hang zur Theatralik gesprochen. Ich sah, in welche Richtung sich die Dinge entwickelten, und habe der Sache lediglich einen kleinen Schubs gegeben. Er nahm die Rolle bereitwillig an, als er gestand. Und aus dem, was du mir erzählt hast, schließe ich, daß er niemals glücklicher war. Ich bin nicht stolz darauf, wenn du das meinst. Ich fürchte, ich dachte, ich könnte dich damit zurückgewinnen, und das hat womöglich mein Urteilsvermögen leicht getrübt.«

Claud beugte sich vor, und seine Stimme wurde zu einem kaum vernehmbaren Flüstern.

»Willst du wissen, was ich wirklich bedaure, Jane?« Ich reagierte nicht. »Wenn du das alles herausgefunden hättest, als wir noch verheiratet waren …« Claud runzelte die Stirn. »Ich meine nicht verheiratet, sondern als wir noch zusammen, richtig zusammen waren, dann hättest du mich verstanden. Nein, sag jetzt nichts. Ich weiß, du hättest es getan. Da ist noch etwas, was ich dir unbedingt sagen will, denn ich weiß, daß du nie wieder hierherkommen und mich besuchen wirst. Es ist schon in Ordnung, Jane. Ich nehm es dir nicht übel. Das einzige, was zählt, ist, daß ich dich noch immer liebe. Du hast nicht gesagt, was du von mir denkst, und das ist vermutlich das Beste, was ich von dir erwarten darf. Vergiß nur eins nicht, Jane: Die Familie und unsere beiden Söhne, das ist mein Geschenk an dich. Du wirst für immer in der Welt leben, die ich dir erschaffen habe.«

Ich tippte an meinen Ausweis. Als Barry mich hinaus-führte, vermied ich es, Claud anzusehen. Keiner von uns sagte ein Wort.

Griffith geleitete mich durch alle Korridore zur Eingangspforte zurück. Er reichte mir zum Abschied seine breite Hand.

»Auf Wiedersehen, Mrs. Martello. Wenn es Ihnen ein Trost ist, ich …«

»Auf Wiedersehen. Und danke.«

Als ich nach draußen ging, fiel die Tür hinter mir mit einem dumpfen Knall ins Schloß. Während ich weg war, hatte das Wetter umgeschlagen. Die Sonne schien von einem fast türkisblauen Himmel herunter. Die wenigen trockenen Blätter, die noch an den Bäumen entlang des Wegs hingen, schimmerten. Ich strich mir mit beiden Händen das Haar zurück, streckte mein Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen und stand mit geschlossenen Augen im Sonnenschein. Allmählich verstummte das Dröhnen in meinem Kopf. »Das war’s, Natalie«, sagte ich laut. »Es ist vorbei. Ich wünschte, du wärst noch unter uns. Meine Schwester. Meine Freundin.«

Langsam ging ich die flachen, gepflasterten Stufen zwischen den niedrigen Hecken und den gepflegten, leeren Blumenbeeten entlang. Ich blieb stehen, als ich auf dem Parkplatz eine kleine Gestalt in einem Dufflecoat erspähte, die wie ein Kobold im Sonnenschein herumwirbelte. Sie hielt inne, stand schwankend auf Zehenspitzen und plumpste zu Boden, während sich in ihrem Kopf alles drehte. Ein junger Mann mit blondem, zotteligem Haar in einer abgetragenen Lederjacke, unter der ein dicker Pullover hervorlugte, rannte zu ihr hin, hob sie hoch und warf sie in die Luft. Fanny quietschte vor Vergnügen, und ihr blondes Haar flatterte im Wind. Robert warf sie wieder in die Luft, setzte sie dann behutsam ab und hielt sie an den Schultern fest.

Caspar und Jerome gingen auf die beiden zu. Sie waren in ein ernsthaftes Gespräch vertieft, und mitten in der Unterhaltung blieb Caspar stehen und legte seine Hand auf Jeromes Arm. Als sie bei Fanny angekommen waren, griff sie nach Caspars Hand. Sie reckte ihm ihr blasses, ernstes Gesichtchen entgegen und erzählte ihm etwas. Jerome setzte ihr fürsorglich die Kapuze auf.

Als sie mich erblickten, verstummte ihre Unterhaltung.

Drei große Männer und ein kleines Mädchen drehten sich erwartungsvoll zu mir um. Ich holte tief Luft und ging auf sie zu.

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