Ich musterte ihn.

»Sieh mich nicht so an, Jane. Nur weil du eine Therapie machst, ist dir alles verdächtig, was normal aussieht.

Natalie war meine kleine Schwester, sie war ein nettes Mädchen, schon fast eine Frau, als sie tragischerweise gestorben ist. Basta. So erinnere ich mich an sie, und das will ich auch nicht ändern. Ich möchte nicht, daß du sie in den Schmutz ziehst, auch wenn sie schon fünfundzwanzig Jahre tot ist. Okay?«

Ich goß noch etwas Sherry in mein winziges Glas und trank einen Schluck.

»In Ordnung, was ist deine letzte Erinnerung an sie?«

Diesmal schien Claud einen Moment nachzudenken, ehe er antwortete – vielleicht überlegte er auch, ob er überhaupt antworten sollte. Dann nickte er, mit einem fast mitleidigen Gesichtsausdruck.

»Ich weiß wirklich nicht, was das soll, aber wenn du darauf bestehst – wir waren alle auf Stead und bereiteten die Party für Martha und Alan vor, die von der Kreuzfahrt zurückkamen. Am nächsten Morgen wollte ich nach Bombay fliegen. Wie die meisten von uns hat auch Natalie geholfen. Am Tag der Party sind wir alle – du und Natalie und ich – hin und her gerannt und haben alles mögliche erledigt. Weißt du noch?«

»Es ist schrecklich lange her«, entgegnete ich.

»Ich erinnere mich genau, daß ich Natalie im Auto mitgenommen habe, um Alans und Marthas Geschenk abzuholen. Wir haben uns, glaube ich, darüber unterhalten, was sie anziehen wollte. Danach weiß ich nur noch, daß ich mit dem Grill beschäftigt war und mich kaum mehr vom Fleck gerührt habe bis in die frühen Morgenstunden.« Er sah mich an. »Aber das weißt du nicht mehr, stimmt’s? Du warst ja mit Theo zugange. Vor der Morgendämmerung bin ich dann mit Alec weggefahren. Als ich zwei Monate später zurückkam, hörte ich zum erstenmal von Natalies Verschwinden.«

Mit dem Zeigefinger tupfte ich sorgfältig die Krümel von meinem Teller.

»Hast du Natalie morgens noch gesehen?«

»Natürlich nicht. Ich habe überhaupt niemanden gesehen, außer Mutter, die Alec und mich ungefähr um halb vier zum Bahnhof gefahren hat. Bitte, Jane, das ist doch alles schon ein alter Hut. Und ich bin dir keine große Hilfe

– ich war nicht da an jenem Tag, als dieser Mann Natalie gesehen hat.«

Er strich sich mit der Hand über die Stirn, und ich bemerkte zum erstenmal, wie müde er aussah. Dann lächelte er mir zu, ein seltsames vertrautes kleines Halblächeln. Auf einmal war die Feindseligkeit verschwunden; etwas anderes, ebenso Beunruhigendes war an ihre Stelle getreten.

»Weißt du eigentlich«, meinte er gedankenverloren,

»weißt du eigentlich, wie sehr ich es bedaure, nicht dagewesen zu sein?

Lange Zeit habe ich gedacht, wenn ich nicht weggefahren wäre, wäre alles nicht passiert. Ich glaubte wohl, daß ich es hätte verhindern können oder so was Lächerliches. Und ich habe bis heute das Gefühl, daß ich irgendwie vom Rest der Familie getrennt bin, weil sie alle da waren, nur ich nicht.« Er lächelte, aber sein Lächeln erreichte nicht seine Augen. »Du hast mich immer den Bürokraten der Familie genannt, stimmt’s, Jane?

Vielleicht kommt das daher, daß ich nur auf diese Weise ein echtes Zugehörigkeitsgefühl entwickeln kann.«

»Claud, es tut mir wirklich leid, wenn ich etwas Blödes gesagt habe.«

Ohne nachzudenken nahm ich seine Hände, und er zog sie nicht weg, sondern sah hinab auf unsere ineinander verschlungenen Finger. Ein paar Sekunden saßen wir schweigend da, dann wurde es mir plötzlich unangenehm, und ich rückte von ihm ab.

»Was machst du an Weihnachten?« Meine Stimme klang viel zu fröhlich.

Jetzt machte er ein verlegenes Gesicht. »Weißt du das nicht? Ich wollte eigentlich zu Martha und Alan, aber Paul hat mich eingeladen, den Tag mit ihm und Peggy zu verbringen.«

»Aber sie kommen zu mir!« Ein paar unfreundliche Gedanken schossen mir durch den Kopf.

»Paul meinte, es macht dir sicher nichts aus.«

»Aber das ist vollkommen unmöglich, Claud. Nein, das geht nicht. Dad wird da sein, Kim und ihr neuer Freund, die Jungs und Hana. O Scheiße, außerdem natürlich noch ein Fernsehteam, das einen Film über uns dreht. Was sollen wir deiner Meinung nach alle tun? Die glückliche Familie spielen oder was?«

»Du hast doch selbst gesagt, wir können Freunde bleiben.«

Das hatte ich wirklich gesagt. Es war ein blödes Klischee, ein falscher Trost und obendrein eine glatte Lüge, aber ich hatte es trotzdem gesagt.

»Und ich möchte Weihnachten gern mit meinen Söhnen verbringen.«

Ich wußte, es war ein schrecklicher Fehler. Was würde Kim sagen?

»In Ordnung.«

21. KAPITEL

Ich saß da, und das trockene Moos drückte sich gegen meine Wirbelsäule. Ich wußte, daß Cree’s Top hinter mit war. Links floß der Col; er war schiefergrau wie die Wolken, die die Sonne verdeckten. Plötzlich war mir kalt in meinem ärmellosen Kleid, und ich schlang meine von einer prickelnden Gänsehaut bedeckten Arme eng um mich. Die zerknüllten Papierfetzen waren auf dem dunklen Wasser kaum zu erkennen; sie trieben weg von mir und verschwanden im Gefunkel des reflektierenden Lichts, lange vor der Flußbiegung. Die Zweige der Ulme zu meiner Rechten raschelten und wogten im plötzlich aufkommenden Wind, der Regen ankündigte.

Ich stand auf und drehte mich um. Nun blickte ich auf Cree’s Top und den Weg, der sich seinen Abhang emporschlängelte. An manchen Stellen verbarg er sich hinter dichtem Buschwerk, bis er schließlich ganz vom Halbdunkel verschluckt war. Jedesmal, wenn ich zu diesem Fluß und diesem Hügel zurückkehrte, die mich von Natalie trennten, erschien mir meine Umgebung wieder etwas lebensechter. Das Gras war grüner, der Fluß viel deutlicher mit all seinen kleinen Wellen und Wirbeln.

Diesmal wirkten die Dinge nicht nur prägnanter, sondern irgendwie auch härter. Das Wasser erschien schwerer und träger, der Weg unter meinen Füßen starrer, sogar die Blätter sahen aus, als könnte man sich in den Finger schneiden, wenn man sie berührte.

Eine feindselige unzugängliche Landschaft, die ihre Geheimnisse nicht freiwillig offenbaren wollte. Jetzt näherte ich mich dem Gipfel von Cree’s Top und war mir fast ganz sicher, daß mich auf der anderen Seite etwas Böses erwartete. Deshalb war alles so dunkel geworden.

Mein Körper, mein ganzes Inneres, alles versank in Hoffnungslosigkeit. Wollte ich wirklich, was ich da tat?

Ein Augenblick der Schwäche genügte. Ich machte kehrt und rannte den Abhang hinunter, weg von dem, was auch immer mich dort erwartete. Konnte ich in dieser geliebten Landschaft meiner Erinnerung nicht woanders hingehen?

Ich erreichte den Fuß von Cree’s Top und rannte am Col entlang. Instinktiv wußte ich, daß der Weg vom Ufer wegführte und mich zu Stead zurückbringen würde, wo ich die Familie vorfinden würde, wie sie einst war: Theo, groß und finster, Martha, dunkelhaarig und wunderschön, lachend und stark, mein Vater, gutaussehend und noch voller Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Die Überbleibsel jener goldenen Sommerparty.

Doch rasch wurde mir der Weg fremd, als hätte ich die Grenze zu einem verbotenen Land überschritten. Der Wald wurde dichter, der Himmel verschwand, dann kam ich auf Alex’ Couch zu mir. Tränen strömten über mein Gesicht. Es war absurd, aber ich mußte mich aufsetzen, um mir Hals und Ohren abzuwischen. Mit besorgtem Blick beobachtete mich Alex. Ich erklärte ihm, was ich versucht hatte, aber er schüttelte tadelnd den Kopf.

»Jane, Sie sind nicht in Narnia oder in Oz oder in irgendeinem Märchenwald, in dem Sie mal hierhin und mal dorthin gehen können. Sie erforschen Ihr eigenes Gedächtnis. Sie müssen sich von ihm führen lassen. Haben Sie nicht das Gefühl, daß Sie beinahe am Ziel sind?«

Alex Dermot-Brown war kein Mann, den ich normalerweise als meinen Typ betrachtet hätte. Er war ein etwas schmuddeliger Mensch und lebte in einem ebensolchen Haus. Seine Jeans waren an den Knien blankgescheuert, sein dunkelblauer Pullover hatte Flecken und war voller Fusseln, seine langen lockigen Haare hatten keine Form, sondern wurden während jeder angeregten Konversation ununterbrochen von seinen Fingern durchpflügt. Dennoch fühlte ich mich zu ihm hingezogen, sicher auch deshalb, weil er der Mensch war, dem ich mich geöffnet hatte, der Mann, von dem ich gelobt werden wollte. Das alles war mir sonnenklar. Aber nun erkannte ich mit einiger Erregung, daß ihn meine Forschungsreise ebenso faszi-nierte wie mich und daß er ihren Fortschritten ebenso gespannt und erwartungsvoll entgegensah. Tief im Bauch spürte ich gleichzeitig ein seltsames Ziehen. Es erinnerte mich an die Vorwehen, die ich vor Jeromes Geburt gehabt hatte, diese kaum wahrnehmbaren Kontraktionen, die mich warnten, daß ich demnächst wirklich und wahrhaftig ein Kind zur Welt bringen mußte. Auch jetzt stand etwas bevor, dem ich mich stellen mußte. Das wußte ich. Aber was mochte es nur sein?

Ein Mann mit schütterem Haar und einem grauen Anzug stand auf. Er sah aus, als wäre er direkt aus dem Büro zur Versammlung gekommen.

»Also, ich habe etwas zu sagen.«

Man kennt ja die öffentlichen Versammlungen oder Diskussionen, bei denen der oder die Vorsitzende das Publikum auffordert, Fragen zu stellen. Wenn dann eine endlose Stille einkehrt und niemand sich traut, den Mund aufzumachen – ist das nicht immer entsetzlich peinlich?

Diesmal war es ganz anders. Jeder wollte etwas sagen, und die meisten versuchten es gleichzeitig.

Gleich zu Anfang war uns klargeworden, daß man beim Bau des Wohnheims die Anwohner einbeziehen mußte, zumindest auf einer informellen Basis. Man hatte sich mit der Bürgervereinigung der Grandison Road getroffen, um das Thema zu erörtern, und die Leute hatten eine öffentliche Versammlung gefordert, in Anwesenheit der für das Wohnheim verantwortlichen Behördenvertreter. Es war nicht ganz klar, was diese Forderung bedeutete und ob man sie überhaupt zur Kenntnis nehmen mußte, aber man beschloß darauf einzugehen, allein schon aus Gefälligkeit.

Chris Miller von der Planungsabteilung des Stadtrats hatte die Verantwortung für das Projekt und sollte den Vorsitz übernehmen, Dr.

Chohan, ein Psychiater der offenen

Abteilung von St. Christopher, würde dasein, außerdem Nadine Tindall vom Sozialamt. Unmittelbar vor der Veranstaltung hatte Chris angerufen und mich gebeten, ebenfalls zu erscheinen.

Widerwillig erklärte ich mich bereit zu kommen, wenn auch nur, um ein Auge auf eventuelle vorschnelle Zuge-ständnisse zu haben, die Chris möglicherweise machen würde. Das Geld für so etwas wurde gewöhnlich von meinem Budget abgezwackt. Ausgerechnet an diesem Abend hatte ich es geschafft, mich mit Caspar zu einem Drink zu verabreden. Jetzt mußte ich ihn anrufen, um abzusagen und mich zu entschuldigen. Doch als er hörte, worum es ging, spitzte er sofort interessiert die Ohren und fragte, ob er kommen und sich ins Publikum setzen dürfte.

Er wollte mich bei der Arbeit sehen. Ich entgegnete, es handle sich lediglich um eine Formalität, es lohne sich für ihn wirklich nicht zu kommen.

»Es wird keine Formalität«, beharrte er. »Schließlich geht es um den Lebensraum dieser Leute. Ihr wollt Verrückte in diese Gegend einschleusen. Ich möchte das keinesfalls verpassen. Solche Versammlungen erfüllen heutzutage die Funktion einer Bärenhatz oder einer öffentlichen Hinrichtung.«

»Jetzt machen Sie mal halblang, Caspar, niemand hat etwas gegen dieses Projekt.«

»Wir werden ja sehen. Übrigens müssen Sie mich unbedingt daran erinnern, daß ich Ihnen gelegentlich mal eine hochinteressante Untersuchung zeige, die vor ein paar Jahren in Yale durchgeführt worden ist. Sie scheint die Annahme zu bestätigen, daß Leute, die sich öffentlich zu einer bestimmten Position bekannt haben, diese noch hartnäckiger verfechten, wenn begründete Gegenargumen-te auftauchen – mögen diese auch noch so zwingend sein.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Erwarten Sie nicht, jemanden mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen.«

»Ich brauche keine Untersuchung aus Yale, um das zu wissen. Aber vielleicht sehen wir uns ja bei der Versammlung.«

»Ich gehe wahrscheinlich in der Menge unter, werde Sie aber mit Sicherheit sehen.«

Genau fünf Minuten vor Beginn der Versammlung kettete ich mein Fahrrad an die Parkuhr vor dem Bürgerzentrum. Als ich hineinging, dachte ich zuerst, ich hätte mich verirrt. Ich hatte ein paar alte Damen erwartet, die hier vor dem Regen Zuflucht suchen würden. Aber was mich hier empfing, erinnerte eher an eine Demonstration gegen die Kopfsteuer. Auf der Bühne waren Chris und seine Leute. Doch nicht nur jeder Sitzplatz war besetzt, auch auf den Gängen drängten sich die Menschen, und ich mußte mir – Entschuldigungen murmelnd – einen Weg zur Bühne bahnen, wo Chris mich mit rotem, nervösem Gesicht empfing. Er hustete und füllte dauernd sein Glas aus der Wasserkaraffe nach. Als ich mich auf dem städtischen Plastikstuhl niederließ, beugte er sich zu mir herüber und flüsterte heiser: »So ein Menschenauf-lauf.«

»Und warum?« flüsterte ich fragend zurück.

»Die Leute aus der Grandison Road sind gekommen«, erklärte er. »Aber auch jede Menge aus der Clarissa Roas, der Pamela Road und der Lovelace Avenue.«

»Warum interessieren die sich alle für ein kleines Wohnheim?«

Chris zuckte die Achseln. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, nickte Chohan und Tindall zu, stand auf und bat um Ruhe. Das Gebrodel ebbte ein wenig ab.

Chris stellte uns alle vor und erläuterte in knappen Worten, dieses Projekt sei beispielhaft für die Bemühungen der Stadtverwaltung, die Krankenpflege effektiv zu gestalten. Man hoffe, das Wohnheim werde das erste einer ganzen Reihe solcher Einrichtungen im Bezirk, denn es handle sich hierbei um ein humanes, praktisches und kostendeckendes Therapiemodell für genesende psychiatrische Patienten. Gab es zu diesem Punkt irgendwelche Fragen? Eine Unzahl Hände schossen in die Höhe, aber der kahlköpfige Mann im grauen Anzug setzte sich durch.

»Bevor ich eine Frage stelle«, sagte er, »möchte ich erst einmal das zum Ausdruck bringen, was meiner Meinung nach die Stimmung dieser Versammlung beherrscht. Nämlich, daß wir Anwohner entsetzt sind, weil wir nicht nach unserer Meinung gefragt wurden, als man beschlossen hat, diese Einrichtung hier bei uns zu bauen. Das ist ein schändliches, hinterhältiges Vorgehen.«

Chris setzte zu einem Protest an, aber der Mann im grauen Anzug ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Bitte lassen Sie mich ausreden, Mr. Miller. Sie hatten bereits Gelegenheit, Ihre Meinung zu äußern. Jetzt sind wir an der Reihe.«

Was folgte, war eher ein Vortrag als eine Frage, aber die zentrale These war, daß eine psychiatrische Einrichtung nicht in ein Wohngebiet gehörte. Als der Mann fertig war, wandte sich Chris zu meiner Überraschung und meinem blanken Entsetzen an mich und bat um einen Kommentar.

Ich stotterte etwas davon, daß das Wohnheim keine psychiatrische Einrichtung im engeren Sinne sei. Soweit ich informiert war, sollte das Gebäude entlassenen Patienten dienen, die keine stationäre Betreuung benötigten. Die einzige Supervision würde darin bestehen, sich in bestimmten Fällen zu vergewissern, daß die Medikamente ordnungsgemäß eingenommen wurden. Deshalb war das Wohnheim weiter nichts als ein ganz normales Haus in einem Wohngebiet.

Jetzt stand eine Frau auf und sagte, sie habe vier Kinder im Alter von sieben, sechs, vier und knapp zwei Jahren, und es sei ja gut und schön, daß man über soziale Verantwortung rede, aber sie müsse in erster Linie an ihre Kinder denken. Die Schule in der Richardson Road sei nur zwei Straßen entfernt. Könnten die Ärzte denn hundertprozentig garantieren, daß die Patienten im Wohnheim keinerlei Gefahr für die Kinder darstellten?

Dr. Chohan versuchte zu erklären, daß es sich gar nicht um Patienten handelte, sondern um Personen, die entlassen worden waren, genauso wie man jemanden mit einem gebrochenen Bein aus dem Krankenhaus entläßt, wenn er wieder gesund ist. Und ebenso wie dieser Mensch vielleicht noch ein paar Wochen beim Laufen eine Krücke brauche, so brauchten manche psychiatrische Patienten eine Unterbringung, in der sie ein gewisses Maß an Betreuung erhielten. Patienten, nein, Menschen, korrigier-te er sich, Menschen, die möglicherweise eine Gefahr darstellten, wurden nicht in solchen Wohnheimen untergebracht.

Aber was war mit den Medikamenten? Wie wollten die Ärzte sicherstellen, daß die Patienten ihre Medikamente richtig einnahmen? Pauline erklärte, genau das sei das Entscheidende bei dem Modell, nach dem diese Wohnheime funktionierten. Sie habe Verständnis für die Sorgen der Anwohner, aber sie seien doch schon im frühesten Stadium der Planung informiert worden.

Potentiell gefährliche Personen (von denen es ohnehin nur sehr wenige gab) und solche, die sich weigerten, ihre Medikamente regelmäßig einzunehmen, kamen für ein Wohnheim von vornherein nicht in Frage. Dann machte Pauline einen Fehler, einen fatalen Fehler, wie ich später dachte. Sie sprach von Vorurteilen gegen psychisch gestörte Menschen, die auf falschen Informationen basier-ten, und schloß ihre Ausführungen mit der Bemerkung, man dürfe nicht zulassen, daß solche Vorurteile politische Entscheidungen beeinflußten. Falls das eine Einschüch-terungstaktik sein sollte, mit der sie das Publikum dazu bringen wollte, unseren Standpunkt zu akzeptieren, so ging der Schuß eindeutig nach hinten los.

Ein Mann erhob sich und meinte, diese ganzen medizinischen Argumente seien ja vielleicht richtig, aber es gehe hier doch auch um Eigentumswerte. Im Publikum befänden sich eine Menge Leute, die ihr ganzes Leben für ihr Haus gespart hatten. Warum sollten all diese Leute ihr Heim einem neumodischen Dogma opfern, das sich irgendwelche Soziologen ausgedacht hatten, die wahrscheinlich ruhig und gemütlich irgendwo in Hampstead wohnten?

Chris’ Antwort hörte sich an, als würde er beim Sprechen seine Zunge verschlucken. Er meinte, er hätte gehofft, daß die medizinischen Erläuterungen alle Ängste in dieser Richtung ausräumen würden. Aber der Mann erhob sich erneut. Diese ganzen medizinischen Erläuterungen seien reine Zeitverschwendung, verkündete er. Für Nichtbetroffene sei es leicht, sich über irgendwelche sogenannten Vorurteile auszulassen. Ob an ihnen nun was dran sei oder nicht, potentielle Hauskäufer würden jedenfalls in Zukunft wegbleiben.

Törichterweise stellte Chris darauf die Frage, wie er denn solche Bedenken ein für allemal zerstreuen könne, worauf ihn der Mann anbrüllte, die Anwohner hätten keinerlei Interesse daran, ihre Bedenken zerstreuen zu lassen. Sie wollten, daß das Wohnheimprojekt abgeblasen wurde, Schluß, aus. Jetzt erhob sich ein gutaussehender Mann in einem Tweedjackett und einem Hemd mit offenem Kragen. O Gott! Es was Caspar.

»Ich möchte eigentlich nicht direkt eine Frage stellen, sondern eher einen Kommentar abgeben«, sagte er und blinzelte durch seine Nickelbrille. »Ich überlege die ganze Zeit, ob es vielleicht am besten wäre, wenn sich die Leute hier, sozusagen als Gedankenexperiment, vorstellen würden, dieses Wohnheim sollte in einer anderen englischen Stadt gebaut werden. Würden wir das Projekt gutheißen, wenn wir damit kein persönliches Risiko eingingen?«

»Das ist doch alles Scheiße!« schrie der Mann, der die Eigentumswerte ins Spiel gebracht hatte, den erschrocke-nen Caspar an. »Was glauben Sie denn, warum wir heute hierhergekommen sind? Wenn irgendwo etwas für diese Leute gebaut wird, die keiner haben will, warum nimmt man dann nicht ein Industriegelände oder eine stillgelegte Fabrik?«

»Wir könnten vielleicht auch zu den guten alten viktorianischen Irrenanstalten zurückkehren«, meinte Caspar.

»Heißt es nicht immer, man soll ein Stück rohes Fleisch drauflegen?« fragte Caspar. »Autsch!« Er zuckte zusammen, während ich sein Auge mit Watte abtupfte.

»Ich muß erst mal die Wunde säubern. Und rohes Fleisch habe ich sowieso nicht. Höchstens ein paar Würstchen in der Gefriertruhe.«

»Die könnten wir ja essen«, schlug Caspar hoffnungsvoll vor, dann zuckte er wieder zusammen. »Glaubst du, es sind Glassplitter drin?«

»Nein, wohl kaum. Das Glas ist in ein paar große Scherben zerbrochen, und der Schnitt kommt vom Gestell. Und von der Faust dieses Mannes natürlich. Ich kann nur wiederholen, daß es mir wirklich furchtbar leid tut, was da passiert ist. Es ist alles meine Schuld.«

»Na ja, nicht ganz.«

Wir befanden uns in meinem Haus. Paul Stephen Avery aus der Grandison Road war von zwei stämmigen Polizisten abgeführt worden, die Versammlung hatte sich im Chaos aufgelöst. Caspar hatte jede medizinische Behandlung abgelehnt, konnte aber nicht selbst nach Hause fahren, weil seine Brille ja kaputt war. Deshalb hatte ich mein Fahrrad hinten in seinen Wagen verstaut und war mit ihm zu mir gefahren, wo ich darauf bestand, daß er sein Auge wenigstens von mir verarzten ließ. Die so entstandene Nähe war mir nicht unangenehm.

»Ich dachte, du hältst nichts von intellektuellen Debatten«, sagte ich, während er schon wieder zuckte.

»Tut mir leid, ich bin schon so vorsichtig wie möglich.«

»Theoretisch halte ich nichts davon. Ich hatte eigentlich nur vorgehabt, mir anzusehen, wie du in Aktion trittst.

Aber als der Mann anfing, solches Zeug zu faseln, mußte ich mich einfach einmischen. Vielleicht war es in gewisser Hinsicht ganz heilsam. Weißt du, ich habe doch diese Phantasievorstellung, die Welt wäre besser, wenn an bestimmten Wendepunkten der Weltgeschichte ein briti-scher Linguist und Philosoph greifbar gewesen wären und dafür gesorgt hätten, daß die Terminologie konsequent durchgehalten wird. Wahrscheinlich ist es ganz gut, wenn man gelegentlich einen Faustschlag ins Gesicht bekommt.

Glaubst du, ich kriege ein blaues Auge?«

»Ganz bestimmt.«

»Hast du einen Spiegel?«

Ich überreichte Caspar einen Spiegel aus dem Medizin-schränkchen. Er begutachtete sich voller Ehrfurcht.

»Erstaunlich. Schade, daß ich erst am Dienstag wieder ins College muß. Die wären tödlich beeindruckt.«

»Keine Sorge. Ein Veilchen muß reifen wie ein guter Wein. Nächste Woche ist es sicher noch imposanter.«

»Solange es nur Fanny keine Angst einjagt. Wobei mir einfällt …«

»Ich fahr dich hin. Mit deinem Wagen. Keine Sorge.

Mein Fahrrad ist ja noch drin.«

22. KAPITEL

»Was möchtest du, Jane?« fragte Alan und musterte mich über die halben Gläser seiner Lesebrille hinweg.

Wie üblich wußte ich es nicht. »Ich hab mich noch nicht entschieden. Paul soll als erster bestellen.«

»Dann mal los, Paul.«

»Weißt du, ich habe bei einer Speisekarte immer dieses existentielle Problem. Ich kann mich nicht entschließen, was ich bestellen soll.«

»Ach, um Himmels willen«, explodierte Alan. »Wir fangen mit dem Räucherlachs an. Hat jemand was dagegen? Gut. Dann möchte ich ein Steak und Kidney Pudding. Für alle, die gutes altmodisches Essen mögen, kann ich das nur empfehlen.«

»In Ordnung«, sagte Paul, ziemlich nervös.

»Jane?«

»Ich hab eigentlich gar keinen Hunger. Ich nehme nur einen Salat.«

Alan wandte sich an den Kellner. »Haben Sie das notiert? Und Kaninchen für die Lady neben mir. Und sagen Sie Grimley, daß wir eine Flasche von meinem Weißwein und eine Flasche Roten möchten, und ich trinke zunächst mal eine Bloody Mary. Die anderen hätten wahrscheinlich gerne überteuertes Mineralwasser mit einem ausländischen Namen.«

»Ich hätte auch gern eine Bloody Mary«, warf ich unvermittelt ein.

»Gut, Jane.«

Alan gab dem Kellner die Speisekarte, nahm die Brille ab und lehnte sich zurück.

»Salat«, wiederholte er schaudernd. »Salat gehört auch zu den Gründen, weshalb man Frauen so lange nicht hier reingelassen hat.«

Dieses schäbig-pompös ausgestattete Restaurant südlich von Picadilly Circus mit seinen drittklassigen alten Meistern, seiner abgewetzten Clubeinrichtung, den ausge-blichenen Vorhängen, dem Rauch, dem Männertratsch, war Alans zweites Zuhause. Blades, der Club, dem er nun schon seit über dreißig Jahren angehörte. Heute schien er sich irgendwie unwohl zu fühlen, er wirkte gereizt und bedrückt, und ich hatte nicht den Eindruck, als wäre die Gesellschaft von Paul und mir geeignet, ihn aufzuheitern.

Paul war voll und ganz mit seiner Fernsehsendung beschäftigt. Während wir zusammen die Lower Regent Street hinunterspaziert waren, hatte er mir erklärt, daß Alan die Schlüsselfigur des Projekts sei. Dieser Teil des Films müsse unbedingt stimmen. Doch er sei sich nicht sicher, wie er mit Alan umgehen sollte. Als ich jetzt am Tisch saß und mir eine Zigarette nach der anderen am Stummel der vorhergehenden anzündete, hatte ich den Eindruck, daß vor mir ein unerfahrener Angler saß, der eine Fliege vor der Nase eines altehrwürdigen Lachses tanzen ließ. Und ich? Was nützte ich Alan im Augenblick?

Inzwischen waren die Bloody Marys und das Mineralwasser gekommen. Alan nahm einen großen Schluck.

»Wie war das Essen mit der neuen Verlagslektorin?«

erkundigte ich mich.

»Reine Zeitverschwendung«, antwortete Alan. »Kannst du dir vorstellen, daß das Mittagessen mal meine liebste Tageszeit war? Als Frank Mason noch mein Lektor war, haben wir drei, vier Stunden beim Essen verbracht. Einmal haben wir so lange getagt, daß wir gleich noch zum Abendessen im selben Restaurant blieben. Gestern habe ich dann diese neue Lektorin kennengelernt, Amy heißt sie. Hatte ein Kostüm an und trank nur Wasser. Hat eine Vorspeise runtergewürgt und ein Glas Mineralwasser getrunken. Eigentlich wollte ich ihr zeigen, wo’s langgeht: Gin Tonic als Aperitif, drei Gänge, ein paar Flaschen Wein, Brandy, Zigarre, alles.«

»Und was ist daraus geworden?« fragte Paul.

»Ich hab’s nicht getan«, antwortete Alan achselzuckend.

»Und wißt ihr, warum? Sie fand mich langweilig. Alan Martello, der reaktionäre alte Säufer, der seit den siebziger Jahren kein Buch mehr zustande gebracht hat. Vor fünfundzwanzig Jahren wollten Mädchen wie sie mit mir schlafen. Sie standen Schlange, um mit mir ins Bett zu steigen. Heute versuchen sie, ein Essen mit mir so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Viertel nach zwei war sie wieder in ihrem Büro.«

Ich trank einen Schluck.

»Wie fand Martha eigentlich diese Schlangen von schwärmerischen jungen Mädchen?« wollte ich wissen.

»Die gute alte Jane – immer interessiert sie sich dafür, was andere Leute empfinden. Immer soll alles glatt und perfekt sein. Die Antwort lautet, daß wir uns irgendwie durchgewurschtelt haben, wie andere Menschen auch.«

»Es hat ihr also nichts ausgemacht?«

Alan zuckte die Achseln. »Sie hatte Verständnis für mich.«

»Wie geht es Martha eigentlich, Alan?«

»Oh, ganz gut«, erwiderte Alan zerstreut. »Die Behandlung nimmt sie ein wenig mit, so ist das eben. Wenn sie das erst mal hinter sich hat, wird es sicher besser. Sie macht sich hauptsächlich Sorgen wegen diesen verdammten Ärzten.«

Wieder einmal rührte mich dieser Mann mit dem struppigen Bart und den roten Wangen, der hier herum-schwadronierte, sich selbst an der Nase herumführte und immer noch am gleichen Roman schrieb, den er angefangen hatte, als wir alle noch Kinder waren. Dieser Mann, der den Gedanken verdrängte, daß seine Frau sterbenskrank war, der nicht bei ihr sein wollte. Aber was empfand ich eigentlich für ihn?

»Ich hab in letzter Zeit viel über Natalie nachgedacht«, sagte ich.

Alan winkte den Kellner heran und bestellte noch zwei Bloody Marys. Ich machte mir nicht die Mühe, Protest einzulegen.

»Ich weiß«, antwortete Alan, nachdem der Kellner wieder gegangen war. »Und ich hab auch gehört, daß du zu einem von diesen Seelenklempnern gehst. War alles ein bißchen viel für dich, was?«

»Ja, ich glaube schon. In gewisser Weise.«

»Und du schnüffelst herum. Was suchst du eigentlich?

Willst du vielleicht rausfinden, wer meine Tochter umgebracht hat?«

»Ich weiß nicht. Eigentlich versuche ich hauptsächlich, all die Dinge in meinem Kopf zu ordnen.«

»Und dann du, Paul, du und deine Fernsehsendung! Habt ihr beide keine eigene Familie, mit der ihr euch beschäftigen könnt?«

Jetzt zeigte der Wodka bei Alan deutlich seine Wirkung.

Ich kannte diesen Zustand. Er würde spöttische Bemerkungen machen, nach wunden Punkten suchen und uns so lange provozieren, bis wir die Beherrschung verloren. Ich wechselte einen raschen Blick mit Paul, der mir zulächelte. Gemeinsam waren wir der Situation gewachsen, und vor uns saß ja ohnehin nicht mehr der gleiche dominierende, mitreißende Alan von früher. Im Räucherlachs stocherte er nur ein bißchen herum; erst als das Steak mit Kidney Pudding kam und der Kellner das große Weinglas mit dem schweren, dunklen Bordeaux füllte, besserte sich seine Laune Zusehens.

»Salat – daß ich nicht lache«, sagte er, während er versuchte, sich die Serviette wie ein Lätzchen um den Hals zu binden.

Ich habe alte Fotos von Alan gesehen, dem »zornigen jungen Mann«. In den frühen fünfziger Jahren war er schlank, fast asketisch gewesen. Jetzt hatte er Übergewicht und rote Flecken im Gesicht. Seine von geplatzten Ader-chen durchzogene Nase zeugte von jahrelanger Schlem-merei. Aber die lebhaften blauen Augen glitzerten immer noch genauso kokett und gebieterisch. Vor allem für Frauen war es schwer, sich ihrer Faszination zu entziehen.

Selbst jetzt noch konnte ich mir vorstellen, daß eine Frau, die diesen Blick auf sich spürte, Lust hatte, mit ihm ins Bett zu gehen.

»Mit wie vielen Frauen hast du geschlafen, Alan?«

Ich konnte selbst nicht glauben, daß ich das gefragt hatte, und wartete beinahe panisch auf seine Antwort. Zu meiner Überraschung lachte Alan laut auf.

»Mit wie vielen Männern hast du geschlafen, Jane?«

»Wenn du es sagst, sag ich es auch.«

»In Ordnung. Dann mal los.«

Himmel, das hatte ich mir selbst eingebrockt.

»Es sind leider nicht besonders viele. Sieben, vielleicht acht.«

»Und ein Viertel davon sind meine Söhne.«

Das Blut stieg mir ins Gesicht.

»Und was ist mit dir? «

»Möchte Paul uns seine Erfahrungen nicht vielleicht auch mitteilen?«

Erschrocken blickte Paul auf.

»Ich hab nichts versprochen«, beteuerte er und schluckte schwer.

»Ach, komm schon, nicht so schüchtern. Du erwartest doch schließlich auch, daß alle anderen in deiner lächerlichen Fernsehsendung ihre Intimitäten herausposaunen.«

»Herrgott, Alan, das ist doch pubertäres Theater. Aber wenn du es unbedingt wissen willst – ich hatte wahrscheinlich mit etwa dreizehn Frauen Sex, vielleicht auch mit fünfzehn.«

»Dann hab ich gewonnen«, stellte Alan zufrieden fest.

»Ich schätze, daß ich mit gut hundert Frauen geschlafen habe, vermutlich ungefähr hundertfünfundzwanzig.«

»Oh, bravo, Alan«, sagte ich, so sachlich ich konnte.

»Vor allem wenn man bedenkt, daß du ja ein Handikap hattest – als verheirateter Mann mit Kindern.«

Inzwischen hatte Alan bereits ein ordentliches Pensum Bordeaux intus.

»Oh, der wahre errötende Musenquell«, sagte er, nahm einen großen Schluck Wein und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Das war kein Handikap. Wißt ihr, was das Gute am literarischen Erfolg ist?«

Paul und ich blickten ihn erwartungsvoll an, denn wir wußten beide, daß die Frage rein rethorisch war.

»Das Gute sind die Frauen«, verkündete Alan. »Wenn man einen erfolgreichen Roman verfaßt und – egal, ob zu Recht oder Unrecht – als Vertreter der jüngeren Generation gehandelt wird, heimst man natürlich ordentlich Geld und Ruhm ein, aber man kriegt auch eine Menge Frauen, die man sonst nicht gekriegt hätte. Wenn ich eine Frau kennenlerne, irgendeine Frau, dann versuche ich mir vorzustellen, wie sie im Bett ist. Das tun alle Männer, nur trauen sich die meisten nicht, danach zu handeln. Ich hab’s getan. Wenn ich eine Frau kennenlernte, die ich attraktiv fand, habe ich sie gefragt, ob sie mit mir ins Bett geht.

Und sehr oft hat eine ja gesagt.« Er schob sich einen Löffel Kidney Pudding in den Mund und kaute inbrünstig.

»So was sollte man nicht sagen, stimmt’s?«

»Hast du das bei jeder Frau gemacht?« fragte ich.

»Jawohl.«

»Zum Beispiel bei Chrissie Pilkington?«

»Bei wem?«

Auf halbem Weg zwischen Teller und Mund machte der Löffel halt. Alan runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach.

»Du erinnerst dich wohl nicht mehr an alle Namen?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Sie war eine Schulfreundin von Natalie. Lange blonde Locken, wie ein Modell für ein präraffaelitisches Gemäl-de. Sommersprossen. Kleine Brüste. Groß. Fünfzehn Jahre alt.«

»O ja, jetzt fällt’s mir wieder ein«, sagte Alan wehmütig.

»Sie war glaube ich sechzehn, oder nicht?« fügte er mit vorsichtiger Stimme hinzu.

»Mädchen in diesem Alter sind wunderschön, nicht wahr?« fragte ich.

»Ja, das sind sie«, bestätigte Alan. Er wollte immer gern bestimmen, welche Richtung das Gespräch nahm, aber jetzt wußte er nicht recht, worauf das alles hinauslief.

»Ihre Haut ist makellos. Der Körper fest, vor allem die Brüste.«

»Genau.«

»Und sie besitzen eine ganz besondere sexuelle Anziehungskraft. Ich konnte sie sogar bei den Mädchen sehen, die Jerome und Robert mit nach Hause gebracht haben. Sie sind zwar noch ein bißchen wie Kinder, aber haben den Körper einer erwachsenen Frau. Und ich wette, sie unterwerfen sich sexuell den Wünschen des Mannes, und sie sind scharf auf Sex. Ich wette, sie sind zu fast allem bereit, was man von ihnen verlangt. Ja, sie sind sogar noch dankbar dafür. Hab ich recht?«

»Manchmal«, antwortete Alan mit einem unbehaglichen Lachen. »Das ist alles schon so lange her.«

Auch Paul sah aus, als wäre ihm das alles nicht ganz geheuer. Wahrscheinlich fragte er sich, in was für einen Privatkrieg er da hineingeraten war und wie er sich am besten verhalten sollte.

»Es war alles so perfekt, nicht wahr? Man schrieb das Jahr 1969, die kleinen Mädchen nahmen die Pille, es war die Zeit der sexuellen Befreiung. Leider hat es nicht immer funktioniert. Wie mit Chrissie beispielsweise.

Natalie hat euch erwischt. Und sie hat es Martha erzählt.

Und diesmal wurde Martha nicht wütend, hat es aber auch nicht einfach hingenommen. Sie hat dir erzählt, daß sie eine Affäre mit meinem Vater hatte. Wie fandest du das?«

»Wie bitte?« Paul war sichtlich schockiert.

Alan hatte das Steak und den Kidney Pudding aufge-gessen. Geräuschvoll kratzte er das letzte bißchen Soße aus dem Teller und leckte gründlich den Löffel ab. Er behauptete immer, es sei eine Angewohnheit aus dem Krieg, daß er seinen Teller bis zum letzten Rest leer aß. Er sah sehr müde aus.

»Ich fand das irgendwie übertrieben«, sagte er. »Wenn Martha gern mit jemandem bumsen wollte …« Zwar brüllte er nicht, aber er sprach laut genug, daß an den Nebentischen zwei Gäste in Nadelstreifen die Köpfe umwandten. Ach, es war dieser Schriftsteller, der sich mal wieder danebenbenahm. »Wenn sie mit jemandem bumsen wollte, hätte sie es einfach tun sollen, sie hätte es bestimmt genossen. Statt dessen wollte sie etwas demonstrieren und verführte deinen armen Vater. Ich glaube, das hat deine Mutter nie überwunden. Ich finde, Martha hat sich niederträchtig benommen.« Paul hatte die Hände vors Gesicht geschlagen.

»Nicht nur das«, fügte ich hinzu, »außerdem hat Martha die Familie bedroht, diese schöne, heile Welt, die du zwischen den Martellos und den Cranes aufgebaut hattest, und das alles nur, weil sie ein Exempel statuieren wollte.

An deiner Stelle wäre ich stinksauer gewesen.«

Alan leerte sein Glas in einem Schluck. Er wirkte nicht mehr wie ein Mann, der ein vierstündiges Festmahl übersteht.

»Ich war auch stinksauer«, antwortete er, jetzt mit gedämpfter Stimme.

»Und was hast du gemacht, Alan?«

Vorsichtig legte er den Löffel in den Teller. »Ich finde, wir haben genug über Sex geredet«, murmelte er.

»Du hast damit angefangen«, bemerkte ich, aber Alan hörte mir nicht zu.

»Unsere Familie – und damit meine ich auch dich – war wunderbar«, sagte er. »Es war schändlich, das alles aufs Spiel zu setzen, nur um mir eins auszuwischen. Das war unverzeihlich.

Und letzten Endes hatte nur Felicity darunter zu leiden.

Hast du dir das jemals klargemacht, Jane? Die liebe, süße Martha und Natalie, deine Schwester im Geiste, die haben deiner Mutter das angetan.«

»Natalie war auch verletzt.«

Alans Reaktionen waren deutlich verlangsamt. Er sah aus wie ein verwirrter alter Mann, den man gerade aus dem Schlaf gerissen hat.

»Natalie? Es war Martha, nicht Natalie.«

»In jenem Sommer hat sich alles zugespitzt, stimmt’s?

Chrissie und du, die Enthüllung über Martha und meinen Vater, dann Natalie. Eine ganze Menge für einen Sechzig-Minuten-Film. Paul, solltest du nicht lieber eine Serie daraus machen?«

Paul schob seinen Teller von sich. Er war noch halb voll.

»Was willst du, Jane?« fragte er leise.

»Und was willst du, Paul?« warf Alan ein, wie immer erpicht darauf, Öl in die Flammen zu gießen.

»Alan, ich liebe dich, ich liebe euch alle. Das will ich in meinem Film einfangen.«

»Wir werden ja sehen«, meinte Alan matt. »Beeil dich, Jane, wir wollen unseren Nachtisch.«

Ich spießte ein matschiges Viertel Tomate auf die Gabel.

Schon beim Gedanken an etwas Eßbares in meinem Mund wurde mir speiübel.

23. KAPITEL

Das Wasser im Spülbecken war schaumig von dem ganzen Gänsefett (»warum essen wir Gans«, hatte Robert, mit der Stimme eines Elfjährigen gequengelt, »sonst gab es doch immer Truthahn«). Ich zog den Stöpsel heraus, hob die fettigen Teller aus dem Becken und stapelte sie ordentlich auf die Seite. Rotkohlreste und ein paar Zigarettenstummel

– vermutlich meine – lagen zusammen mit dem Besteck auf dem Grund des Beckens. Ich spülte alles grob ab, steckte den Stöpsel wieder in den Abfluß und ließ heißes Wasser einlaufen – mit viel Spülmittel. Dann ging ich ins Eßzimmer, um das Schlachtfeld in Augenschein zu nehmen.

Ein Stuhl lag noch immer umgekippt auf der Seite, dort, wo Jerry ihn hingeschmissen hatte, ehe er hinausgestürmt war (»diesmal bist du wirklich zu weit gegangen, Mutter! « ), mit Hana im Schlepptau, die auf ihren dünnen schwarzen Absätzen versuchte, graziös hinter ihm herzutrippeln. Ich hob den Stuhl auf und ließ mich darauf niedersinken. In der Mitte des Tisches tropften die Kerzen vor sich hin und warfen ihr flackerndes Licht auf den Trümmerhaufen. Ein umgekippter, halb zermatschter Plumpudding lag – ungefähr so appetitanregend wie ein aufgeschlitzter Fußball – zwischen einer Ansammlung verschmierter Weingläser, Becher, Portweingläser, leerer Flaschen. Wieviel hatten wir getrunken? Nicht genug –

jedenfalls nicht genug, um die Erinnerungen auszublen-den, die sowieso unbarmherzig von dem Fernsehteam festgehalten worden waren.

Ich hob eine grüne Papierkrone auf, setzte sie mir auf den Kopf und zündete eine Zigarette an. Es war schön, wieder allein zu sein. Während ich langsam den Rauch einsog, fegte ich die leeren Knallbonbonhüllen zusammen und warf sie ins Kaminfeuer, das kurz aufflammte, dann aber rasch wieder zu einer goldgefleckten Glut zusammen-sank. Mein Blick fiel auf einen der beigelegten Witzzettel, und ich mußte daran denken, wie Kim – in einem knallgelben Kleid – und Erica – in Feuerrot – über all die Kalauer gekichert hatten. Eigentlich den ganzen Abend –

unerwartete Verbündete, zwei verrückte Tussis in absurden Flitterfähnchen. Über die üblichen Knallbonbon-witze wollten sie sich ausschütten, aber auch über Andreas, der alles andere als begeistert war von Erica und dieser ihm noch unbekannten Kim. Sie lachten über Pauls feierlichen Regisseurernst und über die Kameras. Sie hatten sich rechts und links von Dad niedergelassen (der auf Zeitlupe umzuschalten schien, während alle anderen immer aufgedrehter wurden) und so unerhört mit ihm geflirtet, daß er sie trotz allem anlächelte, wehrlos gegen ihr kindisches Getue.

Ich drückte die Zigarette aus und trug die Gläser in die Küche. Dann spülte ich das Besteck und ließ klares Wasser darüberlaufen. Wie wundervoll diese Stille war.

Es war ziemlich laut zugegangen: Paul hatte Erica angeschrien (»Versuchst du etwa, meinen Film zu ruinieren?«), Andreas hatte Kim angebrüllt (»Du hast wirklich genug getrunken!«), Kim hatte zurückgekeift (»Verpiß dich, alter Blödmann, es ist Weihnachten und ich hab keinen Bereitschaftsdienst!«), Jerry war auf Robert losgegangen (»Wenn du Hana nicht höflich behandeln kannst, dann hau ab!«), Robert hatte mich angeschrien (»Willst du immer noch alle zu einer glücklichen Familie machen?«). Dad war nicht laut geworden, genaugenom-men hatte er fast gar nichts gesagt. Zwar hatte auch Claud sich beherrscht, er war mir jedoch in die Küche gefolgt und hatte mich dort angezischt: »Wer ist dieser Caspar, Jane?«

Die Teller waren fertig und standen glänzend weiß in Reih und Glied. Ich hob ein Tablett mit verschiedenen Gegenständen hoch (Streichhölzer, Schlüsselbund, Büroklammer, Stift, Fingerhut, Brieföffner, Ohrring, Ansteck-blume, Schraubenzieher, schwarzer Bauer vom Schach-spiel) und zuckte bei der Erinnerung innerlich zusammen.

O Gott, wir hatten tatsächlich das Gedächtnisspiel gespielt. Natürlich hatte Claud es organisiert und den halbbeschwipsten Gästen die Regeln erklärt (»Merkt euch, was auf dem Tablett ist, dann decke ich alles zu, und ihr müßt alles aufschreiben, woran ihr euch erinnert. Wenn ihr fertig seid, nehme ich das Tuch weg, dann sehen wir mal, wer das beste Gedächtnis hat«). Als Kinder hatten wir dieses Spiel oft gespielt. Einer der Gegenstände auf dem Tablett war ein uraltes Foto von Claud, mir und den Jungs gewesen (Wer hatte es gemacht? Ich wußte es nicht mehr), auf dem wir uns anlächelten und uns festhielten.

Schlagartig schienen alle nüchtern zu werden. Das war der Moment gewesen, als Jerry den Stuhl umgeschmissen hatte.

Ich füllte mir Portwein in ein dickes kleines Glas und steckte mir eine letzte Zigarette an. Der Rest der Unordnung mußte bis morgen warten. Dann zog ich meine Schuhe aus und nahm die Ohrringe ab. Ich gähnte und mußte plötzlich kichern, weil mir Kim und Erica einfielen.

In diesem Moment klingelte das Telefon.

»Hallo!« Wer rief denn um diese nachtschlafende Zeit an?

»Mum.« Es war Jerry, und er klang immer noch wütend.

»Tu so was nie wieder.«

»Willst du damit sagen, du hast dich nicht amüsiert? Wie schade – ich hatte schon geplant, daß wir uns alle zu Silvester wieder treffen.«

»Genau, das habe ich gebraucht.«

Ich lag in einem dicken Frotteebademantel am grünen Wasser, umgeben von Palmen und dichtem Gebüsch. Wir tranken Mangosaft, und ich fühlte mich so entspannt wir schon seit ewigen Zeiten nicht mehr. Meine Muskeln hatten sich entkrampft, meine Knochen waren geschmei-dig, meine Haut war glatt und weich, grünes Licht tanzte vor meinen Augen. Die Wintersonne, die durch die großen Fenster hereinfiel, liebkoste meine nackten Beine. Der Raum war erfüllt vom Echo weiblicher Stimmen, wie in einem Harem. Ich spürte meinen Herzschlag, gleichmäßig und beruhigend. Bald würde ich ein paar Runden schwimmen und danach zur Massage gehen. Dann würde ich mich wieder hinlegen, in den Frauenzeitschriften blättern und die Anzeigen für Sonnencreme und Lippenstift studieren.

Am Abend zuvor hatte Kim angerufen. Sie hatte zwei Tageskarten für The Nunnery gekauft, ein Fitneßcenter nur für Frauen, und sie fragte mich nicht, ob ich mitkommen wollte, sie bestand einfach darauf. Zwar protestierte ich schwach, aber beim Klang von Kims sachlicher, vertrauter Stimme füllten sich meine Augen plötzlich mit Tränen. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich mich endlich gehenlassen, als würden sich alle Schleusen gleichzeitig öffnen.

Ich hatte kaum aufgelegt, als das Telefon schon wieder klingelte. Diesmal war es Catherine, sie rief von einer Telefonzelle aus an. Paul sei gekommen, berichtete sie, und jetzt streite er sich mit Peggy, und die beiden versuchten nicht mal, leise zu sein. Es sei scheußlich, so scheußlich wie damals, bevor Paul endgültig gegangen sei.

Sie schrien sich an, und alles habe irgendwie mit Natalie zu tun – könnte ich ihr nicht bitte, bitte verraten, was eigentlich los sei? Leider konnte ich das nicht, denn ich wußte es selber nicht. Also faselte ich banales Zeug darüber, daß Paul und Peggy sie sehr liebhatten, was sie niemals vergessen dürfe. An diesem Punkt merkte ich, daß ich mit ihr wie mit einem sechsjährigen Kind redete, und hielt inne. Aber statt sauer zu werden und aufzulegen, fing Catherine an, laut zu schluchzen. Ich stellte mir vor, wie sie sich mit ihrem schönen schlanken Körper an die schmuddelige Zellenwand lehnte und Rotz und Wasser heulte; wie sie sich mit ihrem schwarzen T-Shirt die Tränen abwischte und ihre knochigen Ellbogen eiskalt wurden. Ich murmelte irgend etwas, und sie schluchzte weiter. Und während sie noch schniefte, war plötzlich das Geld alle.

Als Robert und Jerome klein gewesen waren, hatten sie sich so leicht trösten lassen. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie sich ihre kleinen Körper dann an meinen schmiegten, wie sie den Kopf fest an meinen Hals drückten und die Beinchen entschlossen um meine Taille schlangen, während mein Kinn auf ihren weichen Haaren ruhte.

Doch irgendwann wollten sie nicht mehr, daß ich sie anfaßte. Eines Tages merkte ich, daß sie nicht mehr morgens zu mir ins Bett krochen. Und daß sie die Bade-zimmertür verriegelten. Wenn sie Probleme hatten, zogen sie sich in ihr Zimmer zurück, und ich mußte meinen Drang unterdrücken, ihnen nachzugehen und so zu tun, als könnte Mummy immer noch alles hinbiegen.

Seit dem Tag ihrer Geburt haben sie sich von mir entfernt. Mir fiel ein, daß meine Mutter kurz vor ihrem Tod sagte: »Das Beste, was ich dir schenken konnte, war deine Unabhängigkeit. Aber du hattest es immer so schrecklich eilig, von mir wegzukommen.« Kinder haben es immer eilig wegzukommen. Ich dachte an Robert am Strand; er war ungefähr fünf, sein Schuh war aufgegangen, und er heulte, weil wir nicht auf ihn gewartet hatten. Da stand er, eine kleine, stämmige Gestalt im endlosen. Sand.

Ich rannte zu ihm, bückte mich, um ihm zu helfen, aber er schubste mich weg: »Das kann ich allein!« Sie üben es so lange, erwachsen zu sein, und eines Tages merkt man dann, daß sie tatsächlich erwachsen sind. Wo war all die Zeit geblieben? Wie konnte es sein, daß ich plötzlich eine alleinstehende Frau mittleren Alters war, daß ich nie wieder die überschäumende Freude spüren würde, ein Kind auf dem Arm zu halten, mein Kinn an sein Köpfchen zu drücken und zu sagen: Sei nicht traurig, es wird alles gut, ich verspreche es dir.

Ich weinte mich in den Schlaf; von heftigen krampfhaf-ten Schluchzern geschüttelt lag ich da und hatte das Gefühl, als sei etwas in mir zerbrochen. Am nächsten Morgen – mit einem phantastischen eisblauen Himmel und kahlen Zweigen, die der Frost knacken ließ – zog ich meinen Trainingsanzug an, packte mein Shampoo und Jane Eyre in eine Umhängetasche und zog los, um mich mit Kim zu treffen. Jetzt lag ich neben ihr, mit geschlossenen Augen in der grün-weißen Umgebung, und sprach mit verträumter Stimme. Heute, mit Kim, konnte ich über alles reden. Worte trieben zwischen uns in der Luft, Wolken aus Erklärungen. Wasser plätscherte, kleine grüne Wellen tanzten über meine geschlossenen Augen.

Mein Körper war Wasser, mein Herz hatte sich aufgelöst, Gefühle durchströmten mich sanft wie ein geträumter Fluß.

»Mir scheint, ich bin ziemlich am Ende, Kim.«

»Wegen Natalie?«

Kim hielt meine Hand fest, unsere Finger schlossen sich umeinander, unsere Arme schaukelten zwischen den Sonnenliegen. War es Verzweiflung, was ich fühlte?

Verzweiflung mußte nicht immer hart und schneidend sein, sie konnte genausogut wie eine warme Flüssigkeit in jeden geheimen Winkel meines Körpers eindringen.

»Vielleicht war es ein Fremder. Eine Tragödie, bei der zufällig sie das Opfer wurde.«

»Ja.« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.

»Luke kommt als Täter wahrscheinlich am ehesten in Frage, auch wenn das Baby nicht von ihm war. Vielleicht hat er sie umgebracht, weil er wußte, daß er nicht der Vater war.«

»Vielleicht.«

»Wie auch immer, es ist jedenfalls nicht deine Pflicht, es herauszufinden.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Du hast doch nicht womöglich jemand anderen in Verdacht? Liebe Jane, du solltest dich nicht lächerlich machen.«

Noch eine Weile lagen wir schweigend nebeneinander.

Ich hatte die Augen immer noch geschlossen; das einzige, was sich an mir noch stabil anfühlte, waren meine Finger, dort, wo sie sich um Kims Hand schlangen.

Später ließ ich mich massieren. Eine nach Zitronen duftende Frau, die Haare zu einem glatten Pferdeschwanz zurückgebunden, beugte sich über mich und machte sich mit kräftigen Fingern an all meinen schmerzenden Körperstellen zu schaffen. Mein letzter Rest Widerstand wurde auf natürlichen Bahnen aus meinem Körper geschoben. Tränen rannen mir übers Gesicht und bildeten kleine Lachen auf der Couch.

Ich holte mein Auto vom Parkplatz an der St. Martin’s Lane – Himmel, welcher Luxus! – und fuhr über die Charing Cross Road nach Norden. Ich stellte das Radio an.

Nein, keine Musik. Ich wollte mich nicht meinen Gedanken überlassen, also drückte ich den Knopf, bis ich einen Sender fand, auf dem jemand redete.

»Was von den Vertretern des verschlafenen Establish-ment, die immer noch unser Land beherrschen, außer acht gelassen wird, ist die Tatsache, daß das Wertvollste der Welt bald etwas sein wird, was man nicht in Händen halten kann: kein Öl, kein Gold, sondern Information.«

»Ach du Scheiße!« schrie ich laut, da mich im Innern meines Wagens niemand hörten konnte.

»Nun, die Auswirkungen sind unabsehbar, aber lassen Sie mich auf zwei Punkte besonders hinweisen. Erstens ist der Prozeß nicht umkehrbar, er entzieht sich jeder Kontrolle seitens nationaler Indikative oder Exekutive.

Zweitens wird jede Organisation, die aus dieser Informationswelt ausgeschlossen bleibt, absterben und in Vergessenheit geraten.«

»O verdammt!« schrie ich.

Eine betont heitere Discjockey-Stimme fragte, ob

»Theo« vielleicht ein Beispiel dafür geben könne.

»In Ordnung, nehmen wir eine der angesehensten Institutionen, die Polizei. Wenn man eine neue Organisation schaffen wollte, die die Arbeit der Polizei übernimmt, dann würde sie vollkommen anders aussehen. Heute haben wir die typische unrationelle, arbeitskraftintensive Struktur, die jedes Jahr mehr Geld frißt und dabei immer schlechtere Resultate erzielt. Das ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß die Rolle der Polizei auf einem Mythos basiert. Effiziente Polizeiarbeit basiert auf rationa-lem Management und der Beschaffung von Information.«

»Was ist mit dem einfachen Bobby auf Streife?«

»Allein die Erfindung ist doch schon ein Witz. Wenn wir möchten, daß Leute die Straße auf und ab marschieren, ohne etwas zu tun, holen wir uns doch lieber Pensionäre für ein Pfund pro Stunde. Das hat doch nichts mit Polizeiarbeit zu tun.«

»Hier müssen wir eine Pause machen. Wir sprechen mit Dr. Theo Martello über sein neues Buch The Communica-tion Cord. Sie hören Capital Radio.«

Ich war gerade in der Tottenham Court Road und merkte zu meiner Belustigung, daß ich gleich am Capital Tower vorbeifahren würde. Also überquerte ich die Euston Road, bog, einem plötzlichen Impuls folgend, rechts von der Hampstead Road ab und parkte neben dem Laden mit den Armee-Restbeständen. Eine Weile ließ ich das Radio laufen und hörte zu, wie Theo vom Niederreißen der Grenzen schwärmte, vom Zusammenbruch der Institutionen, vom Ende des Staates, der Wohlfahrt, der Einkom-menssteuer und so weiter. Schließlich war er fertig, und der Discjockey wies noch einmal auf das Buch hin. Ich stieg aus, überquerte die Straße und wartete ein paar Meter von der Drehtür entfernt.

Zuerst bemerkte Theo mich nicht. Er trug seine Geschäftskleidung, einen Anzug, dessen Revers so hoch und so scheußlich war, daß er sündhaft teuer gewesen sein mußte. Unter dem Arm trug er eine Aktentasche, etwa so groß und so dick wie eine Zeitschrift. Im Wintersonnen-schein schimmerte seine Kopfhaut durch die kurzge-schorenen Haare.

»Darf ich Ihnen die Tasche tragen, Mister?« fragte ich freundlich.

Erschrocken wandte er sich um.

»Was ist denn jetzt los?« fragte er. »Hat mich etwa die versteckte Kamera erwischt?«

»Nein, ich hab dich gerade im Radio gehört und plötzlich bemerkt, daß ich ganz in der Nähe war.«

Er lachte. »Gut. Schön, dich zu sehen, Jane.«

»Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«

»Liegt Bush Home auf deinem Weg?«

»Nein, aber ich bringe dich gern hin.«

Theo sagte dem bereits wartenden Taxifahrer, er könne weiterfahren, und wir stiegen in meinen Wagen.

»Wie kommst du bloß mit einer so kleinen Aktentasche aus?«

»Ich bin immer mit Einkaufstüten voller Papiere in den Satteltaschen unterwegs.«

Theo schüttelte den Kopf. »Ich finde selbst die noch viel zu groß. In fünf Jahren habe ich eine von der Größe und dem Gewicht einer Kreditkarte.«

»Ich verliere meine Kreditkarte andauernd.«

»Ich fürchte, die Informationsrevolution hat noch nicht herausgefunden, wie man das Gehirn beeinflußt, meine Liebe. Da vorne mußt du links abbiegen und dann rechts.«

»Ich kenne den Weg«, entgegnete ich etwas gereizt. »Du bist nicht sehr nett mit unserer Polizeitruppe umgesprun-gen, findest du nicht auch?«

»Das ist genau das Thema, bei dem die Leute die Ohren spitzen, oder nicht?«

Eine kurze Stille trat ein, und ich wartete in der Hoffnung, Theo würde bei diesem Thema bleiben. Ich selbst hatte Angst, das anzusprechen, was mir auf den Nägeln brannte. Doch ich mußte es tun.

»Theo, was hast du mit Helen Auster im Sinn?«

Zunächst erfolgte keine Reaktion, aber die Pause war etwas zu lang.

»Was meinst du damit?«

»Ach komm schon, Theo, ich bin doch nicht blind.«

Ich sah, wie sich sein Griff fester um die Aktentasche schloß.

»Ach, weißt du, Frauen in Uniform haben irgendwas an sich, findest du nicht?«

»Helen Auster trägt keine Uniform.«

»Nicht wirklich, aber metaphorisch. Es ist irgendwie erotisch, wenn ein Symbol staatlicher Autorität schwach wird und sich erobern läßt.«

Ich wußte nicht, wie ich anfangen sollte.

»Theo, sie versucht den Mord an deiner Schwester aufzuklären.«

»Ach, laß doch, Jane. Kein Mensch wird den Mord an Natalie je aufklären. Die Ermittlungen sind eine Farce. Es gibt kein Beweismaterial. Letztlich wird alles im Sand verlaufen.«

»Hab ich da was verpaßt, Theo? Ich dachte, du bist verheiratet. Wie paßt Frances in die Geschichte?«

Mit einem selbstsicheren Lächeln wandte sich Theo zu mir um.

»Was soll ich dir denn sagen, Jane? Daß meine Frau mich nicht versteht? Wir sind hier nicht beim Debattier-klub.«

»Ist Helen Auster nicht auch verheiratet?«

»Mit dem Supermarktmanager, ja. Aber das scheint für Sie kein Hinderungsgrund zu sein.« Ich musterte ihn. Auf seinem Gesicht lag ein leichtes Lächeln, als wollte er mich ärgern oder sich über mich lustig machen. »Helen ist eine leidenschaftliche Frau, Jane. Und sehr freizügig, wenn sie ein wenig ermutigt wird.«

»Willst du Frances verlassen?«

»Nein, es ist nur ein bißchen Abwechslung.«

So schrecklich einfach war es also. Mir war übel, aber ich konnte mich nicht bremsen.

»Ich habe neulich Chrissie Pilkington gesehen. Na ja, sie heißt nicht mehr Pilkington.«

»Und?«

»Sie hat deinen Namen erwähnt.«

»Worum ging es denn?«

»Sie war mal eine Flamme von dir. Nachdem dein Vater mit ihr fertig war.«

»Sehr kurz.« Er schwieg. »Alles in Ordnung, Jane?«

fragte er schließlich.

»Wie meinst du das?«

»Möchtest du wirklich wissen, wie ich das meine?«

fragte Theo, zum erstenmal richtig wütend. »Ich versuche mich daran zu erinnern, wer vor Chrissie meine Flamme war, wie du es so schön ausdrückst. Wie hieß sie denn nur?« Hektisch blickte er um sich. Wir steckten im Stau, mitten in der Gower Street. »Ich gehe von hier lieber zu Fuß oder nehme mir ein Taxi. Danke fürs Mitnehmen.«

Damit öffnete er die Wagentür, stieg aus und ging mit raschen Schritten davon. Ich blieb im Wagen sitzen, mitten im Stau, wütend und beschämt.

24. KAPITEL

Ich nahm gerade ein Bad, als das Telefon klingelte. Mit dem großen Zeh drehte ich den Warmwasserhahn zu, ließ mich in den Schaum zurücksinken und horchte. Ich hatte vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten. Ob ich drangehen sollte? Wenn ich jetzt aus der Badewanne hüpfte, würde das Klingeln aufhören, ehe ich den Apparat erreichte. Aber es hörte nicht auf zu klingeln. Also hievte ich mich doch aus dem Wasser, wickelte mich in ein Handtuch und rannte ins Schlafzimmer.

»Hallo!«

»Jane, hier ist Fred.«

»Fred? Ich hab ewig nichts mehr von dir gehört …«

»Ich rufe an wegen Martha. Es geht zu Ende.«

»Zu Ende?«

»Sie liegt im Sterben, Jane. Es wird schnell gehen. Sie möchte dich sehen und hat mich gebeten, dich mitzubrin-gen. Ich fahre morgen ganz früh los.«

»Sollten wir uns nicht lieber gleich auf den Weg machen?«

»Ich fürchte, dazu bin ich nicht in der Lage.« Seine Stimme klang undeutlich. »Aber sie schläft jetzt ohnehin.«

»In Ordnung, Fred. Um wieviel Uhr?«

»Ich hole dich so gegen fünf ab, dann kommen wir nicht in den Berufsverkehr und können um acht dort sein.

Morgens geht es ihr am besten. Sie schläft fast den ganzen Nachmittag.«

In letzter Zeit hatte ich diese Fahrt eindeutig zu oft gemacht: zum großen Pilzesuchen mit der Familie, zur Beerdigung, zu meinen unbeholfenen Aussprachen mit Martha und mit Chrissie. Fred hatte getrunken, aber ich konnte nicht beurteilen, ob heute früh oder gestern nacht.

Ich bot ihm an, das Steuer zu übernehmen, aber er winkte ab. Schweigend fuhren wir in seinem Firmenwagen durch den dunklen Morgen. Lynn hatte ihm eine Kanne guten schwarzen Kaffee mitgegeben, dazu ein paar Sandwiches, in ordentliche Dreiecke geschnitten, dünn mit Pflaumen-mus bestrichen. Ich lehnte die Sandwiches ab, trank aber Kaffee. Als ich mir eine Zigarette anzündete, kurbelte Fred sofort das Fenster herunter. Ich steckte eine der Kassetten, die ich für Martha mitgenommen hatte, in den Recorder. Sofort erfüllten die Lieder von Grieg rein und klar das Auto.

Als wir in Birmingham ankamen, fragte ich Fred:

»Erinnerst du dich daran, wie sie uns immer vorgesungen hat? Beim Abendessen, auf Spaziergängen – plötzlich fing sie an zu singen. Sie hat nicht nur vor sich hingesummt oder uns zum Mitsingen animiert, nein, sie hat geschmettert, richtig laut geschmettert.«

Fred knurrte etwas. Na ja, selbstverständlich erinnerte er sich daran. Aber ich war nicht zu bremsen.

»Oder wie sie auf ihrem alten Fahrrad rumgeradelt ist, aufrecht im Sattel, die Haare flatterten im Wind. Wir haben sie oft ausgelacht, und trotzdem war sie immer als erste oben auf dem Hügel. Oder wie sie uns gezeichnet hat. Wir spielten miteinander und wußten nicht mal, daß sie da war, und auf einmal zeigte sie uns dann die fertige Skizze. Manche waren wunderschön. Ich frage mich, wo sie alle geblieben sind. Ich hätte gern eine davon.«

»Ich weiß noch genau, wie sie immer im Gewächshaus saß.«

Freds Stimme war barsch, und er hielt die Augen auf die Straße gerichtet. »Jeden Morgen ging sie zum Gewächshaus und setzte sich auf diesen hohen Hocker. Wenn wir aufstanden, fanden wir sie dann dort, vollkommen reglos, mit starrem Blick in Richtung Garten, wie ein Wach-posten. Irgendwie war das beruhigend. Was auch sonst passierte, Mum saß da und bewachte das Stück Welt, das uns gehörte. Nimm doch noch ein wenig Kaffee.«

»Danke. Stört es dich, wenn ich noch eine Zigarette rauche?«

»Nur zu.«

Inzwischen hatten wir die Autobahn verlassen und folgten den Schildern nach Bromsgrove.

»Fred, wegen Natalie …«

»Nein.« Seine Stimme war scharf.

»Ich wollte nur fragen … «

»Ich habe nein gesagt, Jane. Später. Erst kommt Martha.

Du mußt warten.«

Marthas Zimmer war voller Blumen und Pralinenschach-teln, wie auf einer Krankenhausstation.

»Es ist schon merkwürdig, daß die Leute immer denken, wenn man alt oder krank ist, braucht man Süßigkeiten«, lachte sie und bedankte sich für meine Kassetten. Fred reichte ihr die Karten, die seine Kinder für sie gemacht hatten. Martha betrachtete jede einzelne sehr aufmerksam und legte sie schließlich behutsam auf den Tisch neben ihrem Bett. Dann saßen wir da und konnten kaum unser Entsetzen darüber verbergen, wie schmal ihr Gesicht geworden war. Ihr Körper zeichnete sich kaum unter der Decke ab, ihre weißen Hände waren nur noch Haut und Knochen. Eine unbehagliche Pause trat ein, in der wir uns den Kopf darüber zerbrachen, welches Thema für ein Sterbebett geeignet wäre.

»Genauso seltsam ist es«, fuhr Martha fort, »daß man in Situationen, in denen es einem am wichtigsten ist zu reden

– wie jetzt, wo ich sterbe –, oft gleichzeitig das Gefühl hat, es wäre unmöglich. Oder peinlich. Alfred, du wolltest mich nach dem Garten fragen oder nach dem Wetter, stimmt’s? Dabei wirst du mich vielleicht nie wiedersehen.«

»Mummy«, sagte Fred leise. Es war beinahe ein Schock, daß ein erwachsener Mann jemanden mit einem so kindlichen, vertraulichen Namen anredete. Ich blickte auf meine Hände hinunter, die ich in meinem Schoß gefaltet hielt.

»Fred, mein Lieber, geh doch einfach ein Weilchen zu Alan. Er spaziert irgendwo im Garten herum. Ich möchte gern mit Jane unter vier Augen sprechen. Und dann mit dir, auch allein. In Ordnung?«

Als Fred gegangen war, sagte Martha: »Ich hatte lange Zeit, mich auf das Sterben vorzubereiten, aber irgendwie wird es dadurch auch nicht leichter.«

»Hast du Angst?« fragte ich.

»Ich fürchte mich entsetzlich, wenn du’s genau wissen willst. Ich denke an dieses große schwarze Loch, das mich erwartet, und es kommt mir gar nicht so vor, als wäre mein Leben wirklich vorbei. Es ging alles viel zu schnell, ich fühle mich irgendwie betrogen. Aber mit Alan kann ich nicht darüber sprechen. Er redet nur davon, daß es mir in ein paar Wochen sicher wieder bessergehen wird, und überlegt, wo wir dieses Jahr Ferien machen sollten – weißt du, ich glaube, er hat sogar schon mit dem Reisebüro telefoniert. Er bemuttert mich entsetzlich, und ich kann nicht mal ein Glas Wasser trinken, ohne daß er gleich angeschossen kommt, um es für mich zu halten.« Sie hob ihre zitternde Hand. »Ein andermal sagt er, ich sollte versuchen aufzustehen und einen Spaziergang im Garten zu machen. Er schneidet Rezepte aus und ermuntert mich, sie auszuprobieren. Oder er kocht selbst für mich, Knödel und solches Zeug, und lädt ungefähr fünfmal soviel auf meinen Teller, wie ich essen kann. Dann beobachtet er mich, wie ich esse. Über Dinge, die wir regeln müssen, kann ich nicht mit ihm sprechen. Dinge für die Zeit nach meinem Tod.«

»Kann ich irgend etwas für dich tun?«

Sie blickte mir fest in die Augen, als wüßte sie alles. »Ja.

Alan hat dir immer vertraut. Paß auf ihn auf. Kümmere dich um ihn, Jane.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann, Martha«, entgegnete ich.

»Doch, du kannst es«, sagte sie fest.

Wie soll man sich von einem geliebten Menschen verabschieden, wenn man weiß, daß man ihn nie wiedersehen wird? Ich beugte mich zu Martha hinab, und sie blickte mit glanzlosen, müden Augen zu mir empor.

»Du bist so schön«, sagte ich, was mir furchtbar lächerlich vorkam, und strich eine weiße Haarsträhne aus ihrer Stirn. Ich küßte sie auf beide Wangen und auf den Mund.

»Es tut mir leid«, sagte sie zu mir.

Auf dem Heimweg fuhr Fred viel zu schnell. Es herrschte reger Verkehr auf den Straßen, und es war neblig, aber er blieb auf der Überholspur, bremste scharf, wenn plötzlich ein Wagen vor ihm auftauchte, und hupte jeden an, der vernünftigerweise langsamer fuhr. Zunächst schwieg er, was mir auch lieber war. Im Radio liefen die Nachrichten, danach kam ein Theaterstück, dem ich nicht folgen konnte. Etwa sechzig Kilometer vor London sagte er:

»Jane, es muß aufhören.«

Ich unternahm nicht mal den Versuch, so zu tun, als würde ich ihn nicht verstehen. »Warum sagst du das, Fred?«

Er hieb mit der Faust aufs Lenkrad, wich etwas Totem aus, das auf der Straße lag, und antwortete: »Begreifst du denn nicht, daß wir von diesem ganzen Unsinn genug haben? Ich habe mit Claud gesprochen – der dir unter den gegebenen Umständen unglaublich viel Verständnis entgegenbringt, finde ich –, und er hat erzählt, es hätte irgendwas mit einer Therapie oder so zu tun. Mit Theo hab ich auch gesprochen. Was hast du denn vor?«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er war noch nicht fertig.

»Ich weiß nicht, warum dir soviel daran liegt, dich zu rächen – wo du es doch warst, die Claud verlassen hat, aber vergessen wir das mal. Wir können es einfach nicht mehr ertragen, daß du in unserem Leben herumschnüffelst. Und jetzt liegt auch noch Mummy im Sterben –

kannst du nicht endlich aufhören?«

»Ich tu doch gar nichts.«

»Ach, red keinen Unsinn. Was willst du von uns? Laß uns in Frieden. Mach ruhig weiter mit deiner Nabelschau-therapie, aber uns laß bitte in Ruhe. «

Natürlich hatte er wieder getrunken. Aber dachten die anderen auch so über mich? Ein Teil von mir sehnte sich danach, daß man mir vergab und mich wieder im Schoß der Familie aufnahm, aber irgend etwas hielt mich zurück.

Den Rest der Fahrt legten wir in grimmigem Schweigen zurück.

Ich sollte mir eine Katze zulegen, dachte ich, während ich die Eingangstür aufschloß und das kalte, stille Haus betrat. Ohne den Mantel auszuziehen, ging ich zum Telefon im Wohnzimmer und wählte Theos Nummer. Er hob sofort ab.

»Theo, hier ist Jane.«

»Hallo, Jane.«

Er klang nicht sonderlich erfreut.

»Ich muß mit dir sprechen. Ich war gerade mit Fred unterwegs.«

»Ja, ich weiß. Er hat mich von seinem Handy angerufen.«

»Denkst du das gleiche wie er, Theo? Daß ich meine Nase in Angelegenheiten stecke, die mich nichts angehen?«

»Wenn du das noch fragen mußt, bist du weniger intelligent, als ich dich eingeschätzt habe, Jane. Ich finde, du machst dich lächerlich.«

Damit legte er auf. Eine nach der anderen wurden die Türen der Familie Martello vor meiner Nase zugeschla-gen.

Ich spähte in meinen Kleiderschrank. Mein graues Gabardinekostüm mit dem langen, engen, bis zum Knie geschlitzten Rock? Zu sehr Geschäftsfrau. Das rote enge Kleid mit dem tiefen Ausschnitt und den langen Ärmeln?

Zu sexy. Das kleine Schwarze? Zu bieder. Leggings mit einer chinesischen Seidentunika in Herbstfarben? Zu zurückhaltend. Ich probierte eins nach dem anderen vor dem langen Spiegel und entschied mich schließlich doch für die Tunika. Dann ließ ich mir ein Bad einlaufen, wusch mir die Haare und kleidete mich langsam an. Ich zog einen grünen Lidstrich, tuschte meine Wimpern und schminkte mir die Lippen dunkelrot. Ich lächelte in den Spiegel, aber mein Spiegelbild lächelte ängstlich zurück. Viel zu aufgedonnert. Also befeuchtete ich einen Wattebausch mit Make-up-Entferner und wischte den Lidstrich wieder weg.

Schließlich war es doch nur eine Dinnerparty, kein Examen. Ich bürstete mir die Haare zurück und steckte sie hoch, legte die tropfenförmigen Bernsteinohrringe an und tupfte Rosenwasser auf die Handgelenke. Außer mir waren noch sieben Gäste eingeladen, und natürlich würde Caspars Tochter da sein. Was sollte ich bloß tun, wenn sie mich nicht mochte?

Fanny betrat den Raum rückwärts, einen schweren Koffer hinter sich herziehend. Dann wandte sie sich um und sah uns ernst an.

»Ich bin auf Reisen«, verkündete sie. Vor meinen Knien machte sie halt und betrachtete mich einen Moment mit Caspars grauen Augen. »Wer bist du?«

Caspar machte keine Anstalten, sich einzumischen, sondern wartete nur die Antwort ab.

»Jane.«

»Sag mir alle Wörter, die sich auf Jane reimen. Auf die Plätze, fertig, los.«

Ich gab mir alle Mühe.

»Jetzt mit Fanny, Los!«

»Danny, Annie, Mannie …«

»Das sind alles bloß Namen. Ich will richtige Wörter.«

Ich versuchte es, kam aber nicht weit.

»In der Schule sagen die Mädchen immer, Fanny bedeutet Vagina, und dann singen sie ›Fanny hat ’ne Fanny‹.

Meinst du auch, Fanny heißt Vagina?«

»Viele Wörter haben unterschiedliche Bedeutungen. Für manche Leute bedeutet Fanny tatsächlich Vagina, für mich bedeutet Fanny jetzt ein fünfjähriges Mädchen, das auf Reisen ist. Als ich in der Schule war, haben mich die anderen immer ›Plain Jane Crane‹ gerufen, dabei war ich weder unscheinbar noch ein Kran.«

Jetzt stand Caspar auf und sagte zu Fanny: »Na, dann komm jetzt lieber mal. Wir lesen noch ein Kapitel Pippi und lassen unsere Gäste ein paar Minuten allein. Ihr wißt ja, wo der Wein ist.«

Sie streckte ihm die Arme entgegen, und er hob sie auf seine Schultern.

»Noch ein Glas Wein, Jane?«

»Höchstens ein halbes.«

Ich streckte die Hand aus, um meinen Worten Nach-druck zu verleihen, und dabei berührten sich unsere Finger. Mein Atem stockte. Mir wurde flau im Magen, mein Herz zappelte wie ein Fisch.

»Wie hast du Caspar kennengelernt?« fragte der Mann neben mir – Leonard, der im Tropenkrankenhaus arbeitete und gerade aus Angola zurückgekommen war.

»Ich habe bei einer öffentlichen Versammlung neben ihr gesessen, und sie hat mich angeschrien«, mischte sich Caspar ein.

»Und dann ist er zu einer Bürgerversammlung gekommen, an der ich teilnehmen mußte, und jemand hat ihm ein blaues Auge verpaßt.«

»Für einen überzeugten Pazifisten läßt du dich in ziemlich viele Schlägereien verwickeln«, meinte Carrie von der anderen Seite des Tischs. »Hat dich nicht auch schon mal ein Penner verhauen, als du versucht hast, ihm Geld zu geben?«

»Das war ein Mißverständnis.«

»Na klar«, sagte Eric mit den roten Haaren und den abgebissenen Fingernägeln. »Und dann auch noch die alte Dame im Supermarkt, als du mit ihrem Einkaufswagen weggegangen bist. Bei der richtigen Beleuchtung sieht man die Narbe immer noch.«

Es war ein wunderschöner Abend mit interessanten, lockeren Gesprächen gewesen. Caspars Freunde hatten mich empfangen, als hätten sie schon viel von mir gehört.

Gelegentlich, wenn ich Caspar ansah, ertappte ich ihn dabei, wie er mich musterte. Bei allem, was ich sagte oder tat, war ich mir stets bewußt, daß er sich mit mir im Zimmer befand. Ein Glücksgefühl, das ich kaum verbergen konnte, stieg in mir auf und raubte mir fast den Atem.

Ich sprang auf.

»Oh, tut mir leid, ich hab gar nicht bemerkt, wie spät es ist. Ich muß heim.« Ich lächelte in die Runde. »Es war ein wunderschöner Abend, vielen Dank.«

Caspar hielt mir meinen Mantel hin, und ich schlüpfte hinein, sorgfältig jede Berührung vermeidend. Er öffnete die Tür, und ich trat hinaus in die frische Luft, die roch, als würde es demnächst schneien.

»Danke, Caspar, es hat mir sehr gefallen.«

»Gute Nacht, Jane.«

Reglos standen wir voreinander. Einen Augenblick dachte ich, er würde mich küssen. Wenn er mich küßte, würde ich ihn auch küssen und mich an seinen langen schmalen Körper schmiegen. Aber dann hörte ich Gelächter aus dem Wohnzimmer, und oben hustete ein Kind. Ich ging nach Hause.

»Tut mir leid, Jane Martello ist nicht zu sprechen, aber hinterlassen Sie bitte eine Nachricht nach dem Piepton.«

»Hallo, hier ist Paul, am Donnerstag abend um, äh, um zehn Uhr dreißig. Ich rufe an, um dir zu sagen, daß die Sendung am 21. Februar ausgestrahlt wird. Ich würde mich freuen, wenn du zu einer kleinen Feier zu uns kommen würdest. Und die Sendung ansehen natürlich.

Bitte gib mir so bald wie möglich Bescheid.«

Wie war es möglich, daß die Sendung schon fertig war?

Ich hatte Paul doch gesehen, wie er herumgewandert war und sich Notizen gemacht hatte, und dann war da natürlich noch das katastrophale Weihnachtsfest gewesen, aber ich hatte gedacht, es sei alles noch im Entwicklungsstadium.

Eigentlich hatte ich im stillen sogar gehofft, es würde überhaupt nie zur Ausstrahlung kommen.

»Hi, Jane, hier ist Kim, ich wollte nur wissen, ob bei dir alles in Ordnung ist.«

»Ich bin’s, Alan.« Er klang reichlich alkoholisiert.

»Bitte ruf mich an.«

Wie sich herausstellte, war er tatsächlich betrunken. Als wir von Martha sprachen, weinte er ins Telefon. »Oh, Jane«, klagte er, und mir lief eine Gänsehaut über den Rücken, als ich an seine unbeholfene, kindische Bedürftig-keit und meine überspannte, unloyale Heimlichtuerei dachte.

»Für sie bist du wie eine Tochter.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber ich wußte, was er meinte. Auch für mich war Martha meine zweite Mutter.

»Gibt es keine Hoffnung, daß ihr euch versöhnt, du und Claud? Das würde sie so glücklich machen.« Nein, keine Hoffnung, nicht das kleinste bißchen. Und Martha wußte genau, daß es aus war.

»Ich werde nie wieder schreiben, nie mehr. Ich bin ein alter Mann, ich bin am Ende, Jane.«

Ich zog meine Zigarettenschachtel heraus.

»Verlaß uns nicht, Jane.«

Nun begann er, von Natalie zu faseln – so ein wunderbares Kind, so liebevoll. Warum war sie in ihren letzten Jahren so feindselig gewesen? Sie hatten doch immer versucht, gute Eltern zu sein, nicht wahr? Was hatten sie nur falsch gemacht? Er wußte ja, daß er bei Frauen leicht schwach wurde, aber das erklärte doch noch lange nicht …

einmal hatte sie ihn sogar angespuckt. Erinnerungen sind so schrecklich, so schrecklich, so schrecklich, so schrecklich.

25. Kapitel

Ich rief Caspar an. Den ganzen Tag über hatte ich an ihn gedacht, aber erst abends entschloß ich mich, ihn anzurufen.

»Hier ist Jane. Können wir uns am Sonntag auf dem Highgate Cemetery treffen?«

»Gern. Wann?«

»Um drei beim Grab von George Eliot.«

»Wie finde ich das?«

»Du erkennst es daran, daß ich um drei danebenstehe.«

»In Ordnung. Ich bin der mit dem Exemplar von Daniel Deronda, zur Hälfte gelesen.«

Das war alles – zwei Dutzend Worte. Und das erotischste Telefongespräch, das ich je geführt hatte. Ich buk zwei Madeirakuchen, drei Vollkornbrote und einen einfachen Biskuitkuchen zum Einfrieren. Ich trank vier Gläser Rotwein, rauchte acht Zigaretten und hörte Bach –

unromatische Musik. Am Samstag putzte ich das Haus, von oben bis unten, und zwar gründlich: Ich nahm die Bücher aus den Regalen und wischte sie einzeln ab, hängte die Bilder auf, die seit Monaten im Arbeitszimmer rumstanden und riß die Drucke von den alten Kirchen herunter, die Claud hatte hängenlassen und die sich bereits wellten. Ich klebte die Fotos vom letzten Jahr ins Album.

Mit Ausnahme eines Schnappschusses von Hana mit einem Glockenhut, der fast ihr ganzes Gesicht verbarg, waren auf ihnen nur Gebäude zu sehen. Nachmittags ging ich nach Hampstead und kaufte mir einen Mantel. Er kostete nichts, da ich einfach mit meiner Kreditkarte zahlte. Alle Gedanken an Natalie verbannte ich aus dem Kopf. Schließlich war es mein Wochenende.

Abends machte ich mir einen Reissalat und trank dazu den Rest der Flasche Rotwein, die ich vor nicht allzu-langer Zeit geöffnet hatte. Dann holte ich eine Schachtel vom Speicher, zündete eine Kerze an und schmökerte in den Liebesbriefen, die Claud mir geschrieben hatte. Fast alle stammten aus dem Jahr vor unserer Heirat und dem Jahr danach. Ansonsten gab es nur noch gelegentlich eine Postkarte von irgendeiner Konferenz:

»Vermisse dich.« Wahrscheinlich war das nicht mal gelogen.

Alle Briefe waren in einer makellosen Handschrift verfaßt; auf manchen war die Tinte allerdings schon etwas verblichen.

»Meine süße Jane«, schrieb er, »Du warst wunderschön in Deinem blauen Kleid.«

»Mein Liebling, ich wünschte, Du wärst heute nacht bei mir.« Der früheste Brief stammte vom September 1970 –

ein paar Monate nach Natalies Verschwinden. Seltsam, daß ich ihn vergessen hatte: Es war ein netter, vernünftiger Brief darüber, wie die Familie zusammenhielt. »Sie wird wieder heimkommen«, hatte Claud geschrieben, »aber natürlich wird nichts je wieder so sein wie früher. Der erste Teil unseres Lebens ist vorüber.« Er hatte recht.

Seltsam, daß er in diesen wenigen Zeilen mehr über Natalie gesagt hatte als jemals später. Ich dachte an ihn in seiner aufgeräumten Wohnung, mit den Kunstbänden über alte Kirchen und der alphabetisch geordneten Korrespon-denz. Ob er immer noch hoffte, daß ich es mir anders überlegen würde? Wäre er in diesem Augenblick, am Abend vor meinem Rendezvous mit Caspar, zur Tür hereingekommen, ich glaube, ich hätte ihn nicht abge-wiesen. Abschiednehmen war noch nie meine Stärke.

Er war pünktlich an Ort und Stelle, allerdings mit Fanny.

Ihre wilden Locken umrahmten ihr von der Kälte gerötetes Gesicht; sie trug Jeans, die für ihren schmalen kleinen Körper mindestens zwei Nummern zu groß waren. Als erstes öffnete sie ihre behandschuhte Faust und zeigte mir die Steine, die sie während des Wartens gesammelt hatte.

Daher stammten auch die Schmutzflecken auf ihren Wangen.

»Fannys Freundin, bei der sie heute eigentlich den Tag verbringen wollte, ist leider krank geworden«, erklärte Caspar.

»Ich freue mich, deine Tochter wiederzusehen«, log ich.

»Komm mit, Fanny, da hinten ist ein Obelisk mit einer Hundeschnauze. Der Hund hieß Emperor.«

»Was ist ein Obelisk?«

»Eine Arte spitze Säule.«

Wir spazierten den kiesbestreuten Hauptweg entlang; man mußte aufpassen, daß man sich nicht in den Brombeerranken verfing.

»Ist dir schon aufgefallen«, fragte Caspar, »wie viele Kinder hier begraben sind? Hier zum Beispiel, der kleine Samuel, fünf Jahre alt, und da drüben, ein elfmonatiges Baby.« An einem Familiengrab machten wir halt: fünf Namen, alles Kinder unter zehn Jahren. Fanny drehte Pirouetten auf einem sonnenbeschienenen Fleck. Auf manchen besonders gepflegten Gräbern standen Blumen, aber die meisten waren mit Nesseln und Efeu überwach-sen, Moos wucherte auf den Grabsteinen und machte die Inschriften zum Teil unleserlich.

»Sieh dir mal das hier an«, sagte ich. Ein paar Meter entfernt stand ein kopfloser Engel Wache über einer bewachsenen Steinplatte. »Wir haben verlernt zu trauern, stimmt’s? Wir wissen nicht mehr, wie man jemanden im Gedächtnis behält. Ich hätte gern ein solches Denkmal.

Aber die Leute würden sagen, das ist kitschig – oder morbid.«

Caspar lächelte. »Morbid? Was soll daran morbid sein, wenn man mit vierzig sein Grabmonument plant? Ein solcher Gedanke wäre mir nie gekommen.«

»Ich bin zweiundvierzig. Sieh mal hier.«

Vier verträumte präraffaelitische Köpfe, trauernd in einem steinernen Kreis.

»Wo sind die Tiere begraben, Jane?« Fanny kehrte von einem Ausflug durch eine Reihe verfallener Grabsteine zurück.

Ich deutete den Pfad entlang. »Dort drüben. Noch ein Stück weiter.«

Und schon war sie fort, daß die Schalfransen nur so hinter ihr herflatterten.

»Komm hierher, Jane.«

Ich bahnte mir einen Weg durchs Dickicht, wo Caspar auf mich wartete. Ich ging langsam. Einen schöneren Moment als diesen würde ich wahrscheinlich nie erleben.

Dicht vor ihm blieb ich stehen, und wir sahen uns an.

»Plain Jane Crane«, sagte er. Mit dem Zeigefinger zeichnete er sanft meine Lippen nach. Vorsichtig, als wäre ich kostbar und zerbrechlich, legte er die Hand um meinen Hinterkopf. Ich zog die Handschuhe aus, ließ sie einfach in die Nesseln fallen und schob die Hände unter seinen Mantel, unter seinen Pullover, unter sein Hemd. Er roch nach Holzrauch. Ich sah mein Gesicht in seinen Augen, doch dann schloß er sie und küßte mich. So viel Stoff war zwischen uns. Wir preßten uns aneinander, mein Körper schmerzte vor Sehnsucht.

»Caspar, Caspar, wo seid ihr? Kommt mal her und seht euch an, was ich gefunden habe. Ach, hier seid ihr ja.

Warum versteckt ihr euch? Jane, du hast deine Handschuhe verloren. Kommt schon, beeilt euch.«

Als ich mich in meiner Erinnerungswelt wiederfand und die Felsen von Cree’s Top hart und unnachgiebig in meinem Rücken fühlte, fror ich, und mir war ängstlich zumute. Zu meiner Linken floß der Col; seine kleinen Wellen wirkten auf mich beklemmend, dick wie Öl, nicht wie fließendes Wasser. Schwerfällig erhob ich mich und ging zur Flußbiegung. Dort blieb ich stehen und drehte mich um; ich fröstelte in meinen Tennisschuhen und dem dünnen Baumwollkleid, schwarz wie das, welches Natalie in diesem Sommer so oft getragen hatte. Der Wind drückte es eng an meinen jungen festen Körper, den ich tags zuvor Theo hingegeben hatte, der ihn liebkoste, entblößte und schließlich in ihn eindrang, draußen im Schatten des Waldes, während uns das Lachen und die Musik der Party in den Ohren klangen. Ich hatte das Tagebuch mit meinen kindischen Wünschen und Phantasien dabei und riß nun die Seiten heraus, eine nach der anderen. Mit solch albernen Vorstellungen wollte ich nichts mehr zu tun haben. In dem Gefühl, die Brücken hinter mir abzubrechen, zerknüllte ich die Blätter und warf sie ins Wasser, wo sie im Spiel von Licht und Schatten auf den Wellen verschwanden, im Zwielicht, das den Übergang von Wasser und Luft beinahe unsichtbar machte. Jetzt war ich eine Frau, nicht wahr?

Ich stand da, das Gesicht dem Hügel zugewandt. Eine Woge der Furcht überflutete mich, ich fühlte mich plötzlich so schwach, daß ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Links von mir schwankten und bogen sich die Ulmen, vielleicht standen sie aber auch still und nur ich selbst taumelte. Dennoch machte ich mich auf den Weg, den schmalen, steilen Pfad hinauf, an den ich mich –

obwohl er mir doch einst so vertraut war – nicht mehr erinnerte. Durch das Gebüsch zu meiner Rechten konnte ich zwar das schlammige Wasser des Flusses unter mir sehen, aber jetzt blickte ich nur auf den Pfad vor mir, diesen Pfad, der durch mein verschlossenes Gedächtnis führte. In der hereinbrechenden Dämmerung streiften mich unsichtbare Zweige und verfingen sich in meinem Kleid, Dornen zerkratzten meine nackten Arme und Beine, als wollten sie mich zurückhalten. Doch ich achtete nicht darauf. Nun war ich auf Cree’s Top angekommen, aber die Sicht war in allen Richtungen von dichten Ginsterbüschen verstellt. Die Bergkuppe war sehr schmal, und schon nach ein paar Schritten ging es wieder bergab.

Ich blieb stehen und lauschte. Jetzt wußte ich es. Durch das Buschwerk vor mir sah ich, wie sich etwas bewegte.

Schattenhafte Umrisse. Und auch Laute, gedämpft und undeutlich. Es war da. Es war wirklich da. All das, was ich ein Vierteljahrhundert aus meinem Gedächtnis verbannt hatte, alles war da, ich brauchte nur einen Schritt weiterzugehen, die Schranken durchbrechen, die ich zu meinem eigenen Schutz errichtet hatte. Als ich die Augen öffnete und – zunächst ohne etwas zu sehen – Alex anblinzelte, spürte ich nicht Angst wie bisher, sondern eine eiserne, kalte Entschlossenheit. Es war alles da. Aber ich war noch nicht bereit. Noch nicht ganz

26. KAPITEL

Am Mittwoch, dem 15. Februar, erwachte ich mit dem Gefühl, daß irgend etwas bevorstand. Seit Tagen hatte es geregnet – der Rasen war schon ganz aufgeweicht –, aber heute war es plötzlich kalt und sonnig. Highgate Hill wirkte unnatürlich klar. Auch die ganz normalen Gegenstände in meiner Küche waren anders, irgendwie bedeutungsschwer. Meine Haut kribbelte. Alles, was ich ansah, schien von hinten beleuchtet zu sein – die Umrisse traten stärker hervor, und alles wirkte härter und deutlicher als sonst. Das galt auch für mich, ich fühlte mich selbstbewußt und völlig klar. Ich mußte mich betätigen.

Gestern hatte ich eingekauft, und einiges war schon vorbereitet. Ich stellte die Waage mit den großen Gewichten auf den Tisch, daneben eine Tüte Vollkornmehl, eine Tüte weißes Mehl, Plastiksäckchen mit Kürbis-kernen, Sonnenblumenkernen und Sesamsamen, Hefe, die aussah wie weicher Ton, Meersalz, Vitamin-C-Pulver in einem orangefarbenen Apothekendöschen, eine Plastik-flasche mit Traubenkernöl und eine Tüte harten, grobkörnigen braunen Rohzucker. Diese Arbeit erledigte ich wie in Trance. Die Hefe ging auf und warf feuchtglänzende Blasen. Ich rührte das Salz in das grobe Vollkornmehl und vermischte alles mit der nach Bier duftenden Hefebrühe. Dann ging ich eine halbe Stunde in den Garten und rauchte, wobei ich an nichts dachte. Als ich wieder zurückkam, knetete ich zwei große Teigstücke

– lehnte mich fest auf die Handballen, drückte und faltete

–, schnitt den Teig schließlich in vier Teile, rollte ihn aus und preßte ihn in vier Backformen. Wieder eine Pause.

Geistesabwesend wanderte ich durchs Haus, legte hier eine Bluse zusammen, rückte dort ein Buch im Regal zurecht. Dann bestrich ich die ballonartig aufgegangenen Laibe mit Salzwasser, bestreute sie mit Sesam und schob sie in den glühendheißen Ofen. Der Geruch des wohl-kontrollierten Backvorgangs, der hefegärenden Wiederge-burt erfüllte das Haus und versetzte mich in eine Art Rauschzustand. Nach einer Zeit, die mir im Flug zu vergehen schien, klopfte ich prüfend gegen die Backformen, und da sie bereits hohl klangen, holte ich sie heraus und kippte die Brotlaibe auf die bereitgestellten Drahtgitter. Kleine geröstete Sesamsamen hüpften über die Arbeitsplatte; ich befeuchtete die Finger, tupfte sie auf und zermahlte sie zwischen den Zähnen.

Drei Laibe wurden verpackt und kamen sofort in den Gefrierschrank. Einen behielt ich zurück. Ich schnitt eine dampfende Scheibe ab, bestrich sie mit gesalzener Butter, legte ein Stück Ziegenkäse darauf und verschlang das Ganze gierig. Dazu gab es Leitungswasser. Keinen Wein, keinen Kaffee, so was brauchte ich jetzt nicht, ich hätte es gar nicht verkraftet. Mit schwirrendem Kopf stieg ich zitternd auf mein Fahrrad und radelte durch die kalte klare Luft zum Büro, denn Duncan und ich hatten ein Treffen vereinbart, das wir etwas überehrgeizig ein Meeting nannten. Kurz nach zwei kam ich an und begann, die Post der letzten beiden Tage zu öffnen, hauptsächlich Rund-briefe von Stellen, aus deren Versandlisten ich mich noch nicht hatte streichen lassen. Fast alles landete im Papierkorb. Wenn ich nicht ganz andere Sorgen gehabt hätte, wäre jetzt ein passender Zeitpunkt gewesen, um mir welche um meinen Job zu machen.

Allerdings war ich auch nicht planloser als andere. Aus Mangel an sinnvollerer Beschäftigung sortierte Gina unser Ablagesystem neu. Vor einer Woche noch hatte das Ergebnis absolut apokalyptische Ausmaße: Die gesamte Vergangenheit von CFM lag in Papierform überall im Büro verteilt. Jetzt verschwanden die Papierberge nach und nach an ihren neu zugewiesenen Plätzen, Ringhefter schnappten, Aktenschränke klapperten, und plötzlich standen wir kurz vor der perfekten Ordnung – wie in Pompeji. Es wäre fast schade gewesen, diese systema-tische Perfektion durch neue Arbeit zu zerstören.

Duncan war vertieft in die technischen Finessen der Espressomaschine, die in den boomenden Achtzigern eine unserer größten Anschaffungen gewesen war. Er brachte mir einen Fingerhut voll Kaffee, und nachdem ich ihn mir mit einem einzigen, winzigen Schluck einverleibt hatte, spürte ich augenblicklich einen kräftigen Koffeinstoß.

Unterdessen berichtete er mir von dem neuen Plan, über den er zur Zeit mit der Stadtverwaltung diskutierte und in dem es darum ging, obdachlose Familien (»Heimchen-lose«, wie er sie etwas albern nannte) in baufälligen Häusern unterzubringen und ihnen dann die Mittel für die Eigenrenovierung zur Verfügung zu stellen. Ich nickte begeistert. Der Plan war äußerst kostendeckend (außer für uns), praktikabel, sozial förderlich, hatte wenig mit Architektur im herkömmlichen Sinn zu tun. Außerdem war es so gut wie sicher, daß das Wohnungsamt das Projekt ohne Zögern ablehnen würde. Das ideale Projekt für CFM. Dann kamen wir zum Thema Wohnheim.

»Ich habe in der Zeitung von dem Fackelzug der Anwohner gelesen«, sagte Duncan. »Euer Versuch, die Ängste der Leute zu zerstreuen, hat offensichtlich nicht ganz hingehauen. Bedeutet das denn, daß das ganze Wohnheimprojekt abgeblasen ist?«

»Nicht unbedingt«, antwortete ich. »Ein Anwalt der Stadtverwaltung hat sich eine etwas hinterhältige Methode ausgedacht, wie man die Sache durchziehen könnte.

Wegen des Krachs bei der Versammlung und der Verhaftung danach gibt es eine gerichtliche Anhörung.

Soweit ich die Sache begreife, besteht der Trick darin zu behaupten, daß die ganze Geschichte noch nicht entschieden sei, sozusagen ein schwebendes Verfahren sei, was bedeutet, daß wir auf Fragen zum Thema nicht eingehen können. Jedenfalls werden war das sagen. In der Zwischenzeit geht das Projekt weiter seinen Gang.

Irgendwann werden sich unsere Gegner dann mit einem Wohnheim auseinandersetzen müssen, das bereits in Betrieb ist. Wenn Bürger auf arrogante Vertreter der Stadtverwaltung und eine modernistische Architektin losgehen, ist das eine Sache. Ein gefundenes Fressen für die Lokalpresse. Aber es ist etwas anderes, wenn sich irgendwelche Dummköpfe über psychisch Kranke ereifern, die wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden sollen. So sieht die neueste Strategie aus.«

»Hast du denen erklärt, daß diese Leute auf dem Gehweg und in den Ladentüren rumstehen und auf den Parkbänken rumsitzen würden, wenn sie sich nicht auf ihren eigenen Hinterhöfen aufhalten könnten?«

»Nein. Dazu bin ich aufgrund der Ereignisse nicht mehr gekommen.«

Recht gutgelaunt beendeten wir das Meeting. Ich kehrte an meinen Schreibtisch zurück, rauchte etliche Zigaretten und trommelte mit dem Bleistift aufs Telefon, bis ich merkte, daß ich nichts zu tun hatte und vielleicht besser heimgehen sollte. Ich war überzeugt, daß ich alles klar durchschaute und deshalb meine Energien anderweitig einsetzen mußte. Gina erkundigte sich nach meinem Befinden, aber ich konnte ihr nicht mal richtig zuhören.

Also ging ich – ohne mich von Duncan zu verabschieden.

Später würde ich alles erklären.

Wieder zu Hause öffnete ich eine Flasche Rotwein, stieg auf einen Stuhl und durchforstete den Küchenschrank. Ich fand eine Packung gesalzene Cashewnüsse, eine zusammengerollte, dreiviertelvolle Packung mit Pistazien und ein kleines Päckchen kartoffelchipähnlicher Gebilde mit Scampigeschmack. Das reichte als Abendessen. Ich trank Wein und aß Chips, während ich zwischen den verschiedenen Fernsehkanälen hin und her schaltete. Es gab eine Quizshow mit Fragen, die mir ziemlich an den Haaren herbeigezogen schienen, außerdem Lokalnach-richten und eine amerikanische Science-fiction-Serie, von der ich zuerst dachte, es wäre Star Trek. Allerdings bestätigte sich diese Vermutung nicht, es war nicht mal die Nachfolgeserie. Dann gab es noch eine Sendung über Albatrosse – über die langen Reisen, die sie auf den Passatwinden machen, über die lebenslange Bindung der Pärchen –, eine Comedyshow, die in einer amerikanischen High-School spielte, und eine weitere Nachrichtensen-dung.

Nachdem ich viel zu lange auf den Bildschirm geglotzt hatte, drehte ich den Ton ab und rief auf Stead an. Ich wollte mit Martha reden. Aber unerwarteterweise meldete sich eine andere Stimme. Es war Jonah. Mit ruhiger, förmlicher Stimme erklärte er mir, Martha sei heute früh ins Koma gefallen und am Nachmittag ganz friedlich gestorben. Ich versuchte ein paar Fragen zu stellen, um mit Jonah im Gespräch zu bleiben, aber er entschuldigte sich gleich, er müsse auflegen. Auf dem Fernsehschirm war inzwischen ein Mann in einem grauen Anzug zu sehen, der stumm den Mund auf- und zumachte wie ein Fisch im Glas. Ich mußte jemanden anrufen. Bei Claud erreichte ich den Anrufbeantworter. Bei Caspar hob eine Frau ab, und ich legte auf. Bei Alex Dermot-Brown meldete sich Alex. Er war überrascht und meinte als erstes, wir hätten doch am nächsten Tag einen Termin.

Konnte mein Anliegen nicht bis dahin warten? Doch nachdem ich ein bißchen mehr erzählt hatte, meinte er, ich solle gleich zu ihm kommen, ja, er fragte sogar, ob ich es allein schaffen würde oder ob er mich abholen solle. Ich versicherte ihm, ich würde es allein schaffen, und schwang mich aufs Fahrrad – ohne Mütze und ohne Handschuhe, obwohl die Autofenster schon mit Rauhreif bedeckt waren.

Alex sah irgendwie verändert aus, als er die Tür öffnete.

Obwohl ich ihn in dieser Umgebung kannte und er auch sonst nie sonderlich schick angezogen war, fühlte ich mich wie ein Schulmädchen, das unerlaubterweise zu nachtschlafender Zeit seinen Lehrer besucht. Er begrüßte mich mit leiser Stimme, offensichtlich besorgt. Von unten aus der Küche hörte ich Stimmen. Allmählich bekam ich den Eindruck, daß ich ihn vielleicht bei etwas gestört hatte, aber ich war unfähig, mir darüber Gedanken zu machen.

Alex führte mich in sein Zimmer. Ich erkundigte mich nach seinen Kindern, und er antwortete, sie schliefen längst, ganz oben unterm Dach, ich brauchte mir ihretwegen keine Sorgen zu machen. Als er das Licht anknipste, war ich geblendet. Nach der Dunkelheit draußen, dem heimeligen Dämmerlicht in der Eingangs-halle und im Treppenhaus schien die plötzliche Helligkeit kalt und fordernd. Ich legte mich auf die Couch, Alex setzte sich neben mich.

»Martha ist tot«, sagte ich.

Ich holte tief und vorsichtig Luft, wie ich es manchmal auf Seereisen machte, um den Brechreiz zu unterdrücken.

Alex ließ sich lange Zeit, ehe er etwas sagte. Dann sprach er sanft, aber entschlossen.

»Ich möchte, daß Sie wieder an den Tag zurückdenken, an dem Natalie verschwunden ist«, sagte er.

Das überstieg meine Kräfte. »Das kann ich nicht, Alex, wirklich.«

Plötzlich kniete er neben mir. Ich spürte seinen warmen Atem an meiner Wange, seine Hand lag auf meinem Haar.

»Jane, eine Frau, die Sie sehr geliebt haben, ist heute gestorben. Ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Aber Sie sind nicht zu mir gekommen, um sich trösten zu lassen. Sie wollen diese Gefühlsbewegung ausnutzen. Habe ich nicht recht?«

»Keine Ahnung, was ich will«, erwiderte ich, aber ich wußte, daß mein Widerstand gebrochen war.

»Dann lassen Sie uns anfangen«, meinte Alex.

Wieder sprach er die leisen, beruhigenden Worte, die jetzt ein vertrauter Zauberspruch waren und wie gedämpfte Musik aus einem entlegenen Zimmer zu mir drangen.

Als sich mein Körper entspannte, erfaßte mich eine ungeheure Erleichterung, und schon war ich dort. Das Moos in meinem Rücken, Zweige und Kieselsteine unter meinen Schenkeln. Als ich aufstand und mein Kleid ausklopfte, spürte ich die Abdrücke auf meiner Haut, wie von einer Bastmatte. Die Sonne war hinter dem Cree’s Top verschwunden, der Col lag im Schatten, seine unregelmäßig dunkle Oberfläche kräuselte sich träge. Die zerknüllten Papierfetzen waren verschwunden und mit ihnen die kindischen Phantasien, die sie verkörperten. Das alles war vorüber.

Ich drehte mich um; der Wind ließ mich frösteln, und vereinzelte Tropfen, die mir ins Gesicht wehten, kündeten Regen an. Das schwarze Kleid preßte sich gegen meinen Körper, meinen sexuell erwachten Körper, dessen Brüste und Schenkel nun nicht mehr mir allein gehörten. Eine kühle Entschlossenheit erfüllte mich. Vor mir lag Cree’s Top, rechts neben mir war das Flußufer. Ich rannte den schmalen, steilen Pfad empor, hinein in den Wald und durch die Ginsterbüsche hindurch. Ich hörte Geräusche, nicht von Vögeln, nicht vom Wind oder vom Fluß –

sondern ein seltsames Pfeifen und Stöhnen. Ich achtete nicht darauf. Ich rannte, bis ich mein eigenes Keuchen hörte und den Schmerz in meiner eingeschnürten Brust spürte. Die Bäume wirkten auf mich wie tot, die Büsche nackt, der Fluß rechts unter mir braun und müde. Doch meine Pflicht war es, nicht nachzudenken, sondern einfach weiterzugehen. Zweige zerkratzten mein Gesicht, Dornen-ranken griffen nach meinem Kleid. Jetzt hatte ich die Bergkuppe erreicht, rannte weiter, auf der anderen Seite bergab. Auf Natalies Seite. Durch die Büsche vor mir sah ich, wie sich etwas bewegte, schemenhaft tauchten Gestalten zwischen den Ästen auf, ich hörte Schreie, unverständliches Rufen. Doch es gab kein Zurück mehr.

Ich lief weiter, bahnte mir einen Weg durchs Gebüsch und hinaus ins helle Sonnenlicht.

Im ersten Moment war ich von der Sonne geblendet und sah weiter nichts als golden gefleckte Explosionen. Ich kniff die Augen zusammen und zwang mich genau hinzuschauen. Die Dinge nahmen Gestalt an, und ich nahm mehrere Dinge gleichzeitig wahr. Ein Mädchen lag im Gras. Sie schrie. Natalie. Dunkle Haare, lodernde Augen. Sie wurde zu Boden gedrückt. Über sie gebeugt ein Mann, die Hände um Natalies Hals. Sie schlug mit Armen und Beinen um sich. Vergeblich. Dann wurde die Bewegung langsamer und erstarb schließlich ganz. Ich wollte schreien, aber mein Mund war voller Asche. Ich wollte weglaufen, aber meine Füße waren aus Blei. Das Mädchen wurde losgelassen und blieb reglos liegen. Der Mann wandte mir den Rücken zu. Er war dunkelhaarig, nicht grau. Er war schlank, nicht untersetzt. Er war glatt-rasiert, nicht bärtig. Aber es bestand kein Zweifel. Es war Alan. Plötzlich brach es aus mir heraus, ich schrie und schrie. Jemand packte mich. Es war Alex. Er drückte mich an sich und flüsterte mir beruhigend ins Ohr. Ich richtete mich auf. Meine Haare klebten mir im Gesicht. Ich war gehäutet, mein Innerstes war nach außen gekehrt. Ich konnte Alex gerade noch rechtzeitig sagen, daß ich mich übergeben mußte, und zwar sofort. Er hielt mir den Papierkorb hin. Ich würgte, und dann kotzte ich alles heraus. Schließlich sank ich auf die Couch zurück, alle viere von mir gestreckt, hilflos, verrotzt, Reste von Erbrochenem auf dem Gesicht, tränenverschmiert, stöhnend, heulend, nach Luft ringend. Erschöpft, vernichtet, voller Entsetzen.

Dann hörte ich eine vertraute Stimme an meinem Ohr.

»Sie haben es geschafft, Jane. Alles in Ordnung. Sie sind in Sicherheit.«

27. KAPITEL

Ich erwachte in meinem Bett, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war. Ach ja, richtig, Alex hatte mich nach Hause gefahren. Hatte ich eine Szene gemacht und seine Kinder erschreckt? Mein Fahrrad mußte noch vor seinem Haus stehen, an eine Parkuhr gekettet. Ich griff nach dem Wecker. Fast zehn Uhr. Morgens oder abends?

Bestimmt morgens. Wenn es abends wäre, wäre es zwanzig Uhr. Nein, zweiundzwanzig Uhr. Am äußersten Rand meines Bewußtseins lauerte etwas, das ich nicht aufspüren wollte. Trotzdem gab ich mir Mühe, mich zu erinnern. Ich mußte mich beeilen, um noch rechtzeitig aufs Klo zu kommen. Eine Weile hing ich über der Schüssel, aber es kamen nur ein paar heiße, brennende Spritzer.

Schließlich wusch ich mir den Mund mit einem Waschlappen ab. Ich trug noch immer die Sachen von gestern. Kurz entschlossen ließ ich sie einfach dort fallen, wo ich gerade stand, und stieg unter die Dusche. Erst ganz heißes, dann ganz kaltes Wasser. Danach schlüpfte ich in Jeans und ein altes Cordhemd. Meine Finger zitterten so, daß ich kaum die Knöpfe zumachen konnte. Ich beschloß etwas zu essen und ging hinunter in die Küche. Im Gefrierschrank befanden sich zwei Tüten mit Kaffeebohnen; ich entschied mich für die dunkleren und kochte mir eine große Kanne voll. Nach längerer Suche fand ich ein ungeöffnetes Päckchen Zigaretten in dem Mantel, den ich gestern abend angehabt hatte. Ich trank eine Tasse Kaffee nach der anderen, bis die Kanne leer war, und rauchte die ganze Packung.

Ein paarmal klingelte das Telefon, und ich hörte Stimmen vom Anrufbeantworter. Duncan, Caspar, mein Vater. Ich würde mich später um sie kümmern. Aber als ich die Stimme von Alex Dermot-Brown hörte, sprang ich auf und nahm den Hörer ab. Er machte sich Sorgen um mich und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei und ob ich zu ihm kommen könne. Am besten sofort. Ich versprach ihm, in einer Stunde da zu sein. Draußen war es kalt, aber sonnig. Ich zog einen langen, wallenden Mantel an, band mir einen Schal um, setzte eine Baskenmütze auf und machte mich auf den Weg nach Hampstead Heath.

Ein böiger Wind blies, und als ich den Gipfel von Kite Hill erreichte, lag mir London zauberhaft klar zu Füßen, sogar die Hügel von Surrey konnte ich am Horizont erkennen. Ich ging bergab, verließ Hampstead Heath beim Parliament Hill und kam am Royal Free Hospital vorüber.

Claud hatte mir einmal von einem psychisch gestörten Patienten berichtet, der von dem neurotischen Zwang besessen war, die Fenster des Gebäudes zu zählen. Da er nie zweimal hintereinander zum gleichen Ergebnis kam, war es ein endloses Unterfangen.

Die Dinge, die wir tun, um unserem Leben eine Ordnung zu verleihen. Ich erinnere mich an ein Gedicht über einen Mann, der dabei erwischt wurde, wie er alle Os in der Bibliothek ausmalte. Dachte er an die Os, die er schon ausgemalt hatte, oder mehr an die, die noch ausstanden?

Es war ein langer Gewaltmarsch, und als ich bei Alex an die Tür klopfte, war ich ganz außer Atem. Daran waren sicher die Zigaretten schuld. Fast hätte ich laut gelacht, als ich mich bei dem Vorsatz ertappte, das Rauchen aufzugeben. Noch nicht. Noch nicht.

Als die Tür sich öffnete, überraschte, oder besser, überwältigte mich Alex – er nahm mich in die Arme, drückte mich fest an sich und redete tröstend auf mich ein, als wäre ich eins seiner Kinder, das Angst vor der Dunkelheit hatte. Genau das war mein sehnlichster Wunsch. Schließlich ließ er mich wieder los, sein Gesicht wurde ernst, und er fragte mich, ob alles in Ordnung sei.

»Ich weiß nicht. Ich habe mich mehrmals übergeben, und mir ist immer noch übel. Mein Kopf fühlt sich an, als würde jemand versuchen, ihn mit einer Fahrradpumpe aufzupumpen.«

Alex lächelte. »Keine Sorge«, meinte er. »Genau das war zu erwarten. Es ist ein ähnlicher Effekt, wie wenn das Fieber zurückgeht. Stellen Sie sich einfach vor, daß Ihr Körper versucht, das ganze Gift und die Verunreinigungen auszustoßen, die er in einem Vierteljahrhundert aufnehmen mußte. Es ist ein Reinigungsprozeß.«

»Werde ich jetzt verrückt, Alex?«

»Sie werden gesund. Sie entdecken die Qual eines Lebens ohne Selbsttäuschung.«

»Aber Alex, kann das denn wahr sein? Wirklich? Könnte ein Mann wie Alan seine eigene Tochter schwängern?

Und sie ermorden?«

Sanft umschloß Alex mein Gesicht mit den Händen und sah mir in die Augen.

»Sie sind diejenige, die die Schranken durchbrochen und die Lügen entlarvt hat, Jane. Sie haben diese Reise gemacht, Jane. Sagen Sie es mir – halten Sie es für unmöglich, daß er all das getan hat?«

Die Antwort erforderte einen großen Kraftaufwand. Ich trat einen Schritt zurück, und Alex löste seine Hände von meinem Gesicht. Nachdenklich schüttelte ich den Kopf.

»Nein«, antwortete ich kaum hörbar. »Ich glaube nicht, daß es unmöglich ist.«

Ein paar Minuten später lag ich wieder auf der Couch, und Alex saß auf seinem Stuhl. Ich wollte versuchen, die Einzelheiten des Geschehenen zu rekonstruieren, aber Alex verbot es mir. Das konnte alles warten. Statt dessen sprach er sanft auf mich ein, wie er das nun schon so oft getan hatte, und führte mich zurück in meine Erinnerung, zurück zum Schauplatz des Mordes. Während dieser Sitzung und der des nächsten und übernächsten Tages ging er mit mir die Ereignisse mehrmals durch, bis sie sich für mich immer eindeutiger darstellten. Wie beim Fotogra-fieren, wenn man den Apparat schärfer stellt und mit einemmal alle Einzelheiten und Nuancen des Motivs erkennt. Ich sah, wie Natalie sich wehrte, sah, was sie anhatte, angefangen von dem geflochtenen Stirnband bis zu den roten Turnschuhen, die ich immer mit ihr in Zusammenhang bringe. Und ich erkannte Alan, stark und schwer, wie er sie zu Boden drückte, ihren Hals packte, immer fester, bis sie sich nicht mehr regte.

»Hätte ich denn gar nichts tun können?«

»Was denn? Ihr Gedächtnis kam Ihnen zu Hilfe, indem es den Horror des Geschehens ausblendete und Sie auf diese Weise davor schützte. Jetzt haben wir den Schutz-schild durchbrochen.«

Es bedeutete eine ungeheure Anstrengung für mich, alles noch einmal zu durchleben. Das Verbrechen war so lebensecht und gewaltsam und so nah – wahrscheinlich hatte ich mich im Gebüsch versteckt –, daß ich meinte, ich könnte eingreifen, etwas unternehmen, vielleicht wenigstens schreien. Dabei wußte ich ja die ganze Zeit, daß ich nichts unternommen hatte und daß es jetzt jenseits meiner Macht lag – es war nicht mehr zu ändern. Der Schock und der Schmerz ließen nicht nach. Es gelang mir nicht, das Geschehene zu verarbeiten. Ich wurde damit nicht fertig, es gab keine Katharsis, es war nicht möglich, das Leid zu überwinden, sich davon zu lösen. Ich bekam einfach keine Distanz zu den Ereignissen, ich war unfähig, in Ruhe darüber nachzudenken. An manchen Tagen konnte ich nur schluchzen, von Schmerz geknebelt; ich rauchte, statt zu essen, und ich betrank mich allein in meinem Haus.

Ein wenig Selleriesalz in einen Krug, dazu ein paar Prisen schwarzen Pfeffer, drei Spritzer Tabasco, eine Wahnsinnsration Lea and Perrins, der Saft einer halben Zitrone und ein Klecks Tomatenketchup. Man sollte immer mit den billigsten Zutaten beginnen. Wenn man eine ganze Literpackung Tomatensaft verwendet wie ich, braucht man ein großes Glas russischen Wodka.

Schließlich die geheime Zutat: ein halbes Weinglas trockener Sherry. Eine Handvoll Eis in ein breites Glas, und man hat einen hinreichend nahrhaften Drink, der zur Not das Abendessen ersetzt. Zu meiner Stimmung hätte ein Streichquartett von Bartók (aus der mittleren Schaffensperiode) am besten gepaßt, aber statt dessen hörte ich Rigoletto. La donna e mobile. Ich nicht. Ich hatte den Blick in mein Inneres gewagt und war über das, was ich vorfand, entsetzt. Draußen war es kalt und dunkel.

Aber bald würde ich aufbrechen und mich den realen Dingen stellen müssen. Das stand mir als nächstes bevor.

Als ich den letzten verwässerten Rest aus meinem Glas hinuntergekippt hatte, beschloß ich hinauszugehen. Aber alles mußte äußerst sorgsam eingefädelt werden. Es war kalt. Ich zog einen Pullover an. Darüber einen Mantel. Ich setzte eine Mütze auf. Schlüssel und Portemonnaie in die Manteltasche. Die kalte Luft draußen klärte meinen Kopf ein wenig. Ich hatte meine Ehe zerstört. Ich hatte meinen Kindern weiß Gott was angetan. Ich hatte meine eigene psychische Gesundheit ruiniert. Ich hatte entsetzliche Dinge aufgedeckt. Schon jetzt waren Menschen, die ich liebte, entsetzt über das, was ich tat. In welche Katastrophe würde ich jetzt die Familie stoßen, die mir mehr bedeutete als alles andere auf der Welt? Der Wind trieb mir stechende Regentropfen ins Gesicht. Das Leben war ein Alptraum geworden.

Jetzt ging ich an Geschäften vorüber. Ein Mann mit langen verfilzten Haaren saß neben einem räudig und elend aussehenden Hund undefinierbarer Rasse vor dem Supermarkt und streckte mir die Hand entgegen. So endeten Menschen, die sich aus Familie, Gesellschaft und Arbeit zurückzogen. Ich holte eine Münze aus meinem Portemonnaie und gab sie dem Mann. Ganz fest klemmte ich sie zwischen zwei Finger, damit sie nicht hinunterfiel.

Mir war klar, daß ich mein eigenes Leid auf die Welt übertrug – wie jämmerlich es manchen ihrer Bewohner auch ergehen mochte –, und deshalb überraschte es mich auch nicht sonderlich, als ich vor einem Fernsehgeschäft stand und auf den flimmernden Bildschirmen Alan erblickte, der hinter der Schaufensterscheibe stumme Mundbewegungen in meine Richtung machte. Hier war der Patriarch persönlich, und er verteidigte sich mit Worten, die ich nicht verstehen konnte. Einen Augenblick glaubte ich, nun endgültig den Verstand verloren zu haben. Die Realität hätte sich mit meiner Erinnerung und meinen Alpträumen vermischt, und Alan hätte mich besiegt, vernichtend und unwiderruflich. Dann plötzlich fiel es mir ein.

»Ach du Scheiße!«

Ich blickte benommen um mich, war aber endlich aus meiner Trance erwacht. Als ich die gelbe Leuchtschrift eines freien Taxis entdeckte, winkte ich den Wagen zu mir. Ich sagte dem Fahrer eine Adresse in Westbourne Grove. Während wir Swiss Cottage und Paddington durchquerten, hielt ich mein Gesicht direkt in den bitter-kalten Wind, der zum offenen Fenster hereinblies.

»Alles in Ordnung, meine Liebe?« erkundigte sich der Taxifahrer besorgt.

Ich nickte, denn ich war nicht sicher, ob ich einen zusammenhängenden Satz herausbringen würde. Als ich an die Tür klopfte, ließ Erica mich herein.

»Es ist fast vorbei«, sagte sie. »Möchtest du was zu trinken?«

»Nur Wasser«, antwortete ich, während ich ihr die Treppe hinauf folgte.

»Trinkst du nicht mehr?«

»Im Gegenteil.«

Sie führte mich in ein dunkles Zimmer. Die einzige Lichtquelle war ein riesiger Fernsehbildschirm; auf den Stühlen erkannte ich schemenhafte Silhouetten. Ich suchte mir ein Plätzchen auf dem Fußboden. Erica reichte mir mein Wasser, und ich hielt mir das feuchte Glas an die Stirn. Da ich gedacht hatte, Pauls Dokumentation über unsere Familie wäre eine Abfolge von Interviews, war ich auf das, was ich nun sah, ganz und gar nicht vorbereitet.

Als ich mich endlich konzentrieren konnte, erschien ein Foto von Natalie auf dem Bildschirm, die undeutliche Vergrößerung eines Klassenfotos, ein Bild, das überhaupt nicht typisch für sie war. Jemand redete vom verloren-gegangenen Geist der sechziger Jahre, wahrscheinlich Jonah, vielleicht aber auch Fred. Die Kamera schwenkte von Natalie zu einem Bild von Stead, das vermutlich von Chantry’s Hill aus aufgenommen worden war. Zuerst dachte ich, es wäre ebenfalls ein Foto, aber ein leichtes Zittern der Kamera, eine kaum wahrnehmbare Bewegung der Blätter, ein Changieren des Lichts zeigte, daß gefilmt wurde. Die Kamera wanderte weiter, bis sie bei Paul angelangt war. Er blickte auf das Haus hinunter, mit dem Rücken zur Kamera. Dann wandte er sein Gesicht direkt der Kamera zu und sprach im Gehen mit ihr wie mit einem Freund. Er war eben ein echter Profi.

Er redete über die Familie, nannte sie die Heimat eines Menschen, den Ort, der einem stets Zuflucht bietet. Er sprach über die Familie als Symbol der Zuneigung und als Symbol der Gesellschaft mit all ihren Bindungen und Verpflichtungen. Umnebelt wie ich war, fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren, aber ich bekam immerhin mit, daß er eine Geschichte aus seiner goldenen Kindheit erzählte. Als er fertig war, blieb er stehen. Die Kamera fuhr zurück, und man sah, daß er die Stelle erreicht hatte, an der Natalies Leiche gefunden worden war. Die Grube war noch offen; Paul machte ein gefühlvolles Gesicht. Die Kamera entfernte sich immer weiter, bis schließlich die ganze Szenerie im Bild war: Ein nachdenklicher Paul spähte in die Grube, neben ihm Stead im Schein der frühen Morgensonne, ein Vogel zwitscherte. Dazu erklang Musik im Stil von Delius, die kräftig anschwoll. Dann kam der Abspann. Jemand knipste das Licht an.

»Wo bist du gewesen?« Paul stupste mich von hinten.

»Tut mir leid.«

»Ich bin froh, daß du wenigstens den Schluß gesehen hast«, sagte er. »Das war eine echte Tour de force.

Viereinhalb Minuten ohne einen einzigen Schnitt. Ich mußte den ganzen Hügel runtermarschieren und genau in dem Moment unten ankommen, in dem ich mit meinen Erinnerungen fertig war. Das war die größte technische Anforderung, an die ich mich je herangewagt habe. Als ich dann endlich ›Schnitt!‹ rufen konnte, haben sogar die Techniker applaudiert. Aber ich möchte, daß du es dir vollständig ansiehst. Ich lasse dir eine Kassette schicken.«

»Danke«, sagte ich. »Ich muß jetzt gehen.«

»Aber du bist doch gerade erst gekommen, Jane. Ich möchte dich gern mit ein paar Leuten bekannt machen.«

»Ich muß gehen.«

Da ich nicht mal den Mantel ausgezogen und die Mütze abgenommen hatte, konnte ich einfach die Treppe wieder hinuntergehen und verschwinden. Ich vermutete, daß ich mein ganzes Geld für das Taxi ausgegeben hatte, aber ich schaute nicht nach, sondern ging zu Fuß nach Hause und machte sogar noch einen Umweg durch den Regent’s Park. Ich brauchte anderthalb Stunden, und als ich meine Haustür aufschloß, war ich stocknüchtern.

28. KAPITEL

Als ich am nächsten Morgen aufstand, war mir so schwindlig und übel, daß ich mich mehrere Sekunden am Bettrand festhalten und tief Luft holen mußte. Die ganze Nacht hatten mich quälende Träume verfolgt. In dem hohen Spiegel erblickte ich eine alternde, verstörte Frau mit kreidebleichem Gesicht und ungewaschenen Haaren.

Seit Tagen hatte ich nicht mehr ordentlich gegessen, und in meinem Mund breitete sich ein ekelhaft fauliger Geschmack aus. Vor einer Woche hatte ich Caspar geküßt und gespürt, wie mein Körper zu neuem Leben erwachte.

Aber diese magere Frau, die mir dort entgegenstarrte, war eine vollkommen andere Person, erschöpft und kränklich, die nur die Schattenseite des Lebens kennengelernt hatte.

Das Bild von Alans gebücktem Körper wollte einfach nicht verschwinden. Ständig sah ich ihn vor mir, so klar und deutlich wie eh und je. Ich brauchte Alex’ Hilfe nicht mehr. Jetzt war das Monster aus seinem Versteck hervor-gekommen, hinaus ins grelle Licht des Tages. Ich konnte es nicht mehr zurückdrängen. Alles war in meiner Erinnerung haftengeblieben. Ich war Augenzeugin eines Mordes gewesen, und jetzt mußte ich alles neu erleben.

Ich konnte mir selbst dabei zusehen. Mein Atem ging flach, und schon sah ich, wie sich Alan über Natalie beugte, triumphierend, abstoßend.

Ich schlüpfte in meinen Morgenmantel und ging in die Küche. Dort mahlte ich Kaffee und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster. Ich bestrich sie mit Butter und Marmelade, setzte mich an den Tisch und starrte sie an.

Fünf Minuten später biß ich einmal ab. Dann noch einmal.

Es fühlte sich an wie Streusand. Ich kaute und schluckte, kaute und schluckte. Wieder überkam mich eine Woge der Übelkeit, kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich sprang auf und rannte ins Badezimmer, wo ich mich übergab, bis mein Hals weh tat und meine Augen brannten.

Ich ließ die Badewanne vollaufen und schrubbte mich gründlich ab. Und obwohl ich mir minutenlang die Zähne putzte, wollte der Geschmack von Erbrochenem und Panik sich nicht vertreiben lassen. Ich zündete eine Zigarette an und füllte meine Lungen mit Asche. Asche zu Asche.

Ich zog mir eine schwarze Jeans an und einen schwarzen Pullover mit Polokragen. Dann bürstete ich mir die Haare aus dem Gesicht, setzte mich auf einen Stuhl in der Küche, trank den abgekühlten Kaffee, der grauenhaft schmeckte, und starrte zum Fenster hinaus in den Regen und den verwilderten Garten. Es war neun Uhr, und ich hatte keine Ahnung, wie ich den Rest des Tages hinter mich bringen sollte. Den Rest meines Lebens.

Schließlich raffte ich mich auf und rief Kim in der Klinik an. Sie war mit einem Patienten beschäftigt, also hinterließ ich eine Nachricht. »Sobald wie möglich«, sagte ich. Meine Stimme war nur ein heiseres Flüstern; wahrscheinlich dachte die Sekretärin, ich läge im Sterben.

Noch eine Zigarette. Ich hörte, wie die Post durch den Briefschlitz in der Haustür plumpste, aber ich rührte mich nicht. Mein Körper fühlte sich schwer und hohl an.

Endlich klingelte das Telefon.

»Jane.«

Ich öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus.

»Jane. Hier ist Kim. Jane, sag mir bitte, was los ist.«

»Oh, Go-o-o-ott!« Stammte dieses dünne Jammern etwa von mir?

»Jane, hör zu, ich komme rüber. Rühr dich nicht vom Fleck. In fünfzehn Minuten bin ich bei dir. In Ordnung?

Fünfzehn Minuten. Alles wird wieder gut.«

»Ich kann es dir nicht sagen. Ich kann’s nicht. O Gott.

Ich kann’s nicht.«

»Trink deinen Tee, Jane.« Brav nahm ich einen kleinen Schluck und zog eine Grimasse: Der Tee war milchig und süß, Babynahrung.

»Also, ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen, okay?«

Ich nickte.

»Hat es was mit Natalie zu tun?«

Ich nickte.

»Glaubst du, du weißt etwas über Natalies Tod?«

Ich nickte wieder.

»Glaubst du, du weißt, wer der Mörder ist?«

Nicken.

»Hast du das in der Therapie rausgefunden?«

»Ja.«

»Hör zu, Jane, erzähl mir bitte, wer Natalie deiner Meinung nach umgebracht hat, aber denk daran, es wird nicht wahrer, wenn du es aussprichst.«

»Ich – ich – oh, Gott, Kim, ich kann es nicht.«

»Doch du kannst es. Ist es jemand aus deiner Familie?«

»Meiner Großfamilie, ja.«

»Sag mir den Namen, Jane.«

Ich konnte seinen Namen nicht aussprechen. Also benutzte ich ein Wort, das überhaupt nicht zu ihm zu passen schien:

»Mein Schwiegervater.«

Mein Schwiegervater. Der beste Freund meines Vaters.

Der Großvater meiner Söhne. Der Mann, den ich mein Leben lang kannte und von dem ich noch vor wenigen Wochen ganz nebenbei gesagt hätte, daß ich ihn liebte. Ich sah sein gemeines Gesicht vor mir, als ich die Worte hervorstieß.

»Er hat sie bestimmt deshalb getötet, weil sie schwanger war. Vielleicht hat er sie geschwängert. Das wäre gar nicht so abwegig, ich traue es ihm zu. Noch ein Nervenkitzel, eine weitere Möglichkeit, sich an Martha zu rächen. Oder jemand anderes hat sie geschwängert, und er hat es rausgefunden. Wenn ich die Leute nach Natalie gefragt habe, haben sie immer betont, wie seltsam sie war: intrigant, berechnend, verschlossen, bezaubernd, sexy, voller sexueller Komplexe. Jetzt paßt alles zusammen.«

Wieder kam es mir hoch, und ich rannte aus dem Zimmer, aber ich würgte nur den milchigen Tee heraus.

Als ich zurückkam, starrte Kim aus dem Fenster.

Stirnrunzelnd.

»Jane«, sagte sie mit ernster Stimme. »Das ist ein ziemlicher Hammer, was du da behauptest.«

»Ich weiß.« Ich schluckte schwer.

»Es geht um deine Familie, Jane. Bist du ganz sicher?«

»Ich habe es genauso deutlich gesehen, wie ich dich jetzt sehe.«

»Du meinst also, Alan Martello hat seine eigene Tochter ermordet – womöglich nachdem er sie zuvor auch noch geschwängert hatte – und sie dann vor seiner eigenen Haustür vergraben?«

»Ja.«

»Hast du das der Polizei gesagt?«

»Nein.«

»Was hast du jetzt vor?«

Ich starrte hinaus in den Garten, wo eine Elster – der Trauervogel – über den durchweichten Rasen hüpfte.

»Vielleicht mit jemandem darüber sprechen. Am besten mit Claud. Das bin ich ihm schuldig.«

»Ja, ich denke, das solltest du. Aber vorher solltest du alles noch mal genau überdenken. Unternimm noch nichts, Jane. Laß dir erst alles gründlich durch den Kopf gehen.«

»Jane, hier ist Caspar. Wann können wir uns treffen? Was machst du beispielsweise heute abend?«

»Oh, ich kann nicht. Ich meine, da paßt es mir nicht.«

»Ja gut, dann vielleicht morgen?«

»Nein, ich kann nicht.«

»Ist alles in Ordnung bei dir?«

»Ja, klar.«

»Na gut.« Seine eben noch so warme Stimme klang nun beleidigt. »Wenn du mich sehen möchtest, kannst du ja anrufen.«

»Das mache ich. Caspar?«

»Ja?«

»Nichts. Tschüs.«

»Du siehst furchtbar aus. Bist du krank?«

Claud, der gerade von der Arbeit zurückgekommen war, stand in seinem hellgrauen Anzug in der Tür und betrachtete mich beunruhigt. Ich wußte, daß mein Anblick keine Freude war, schließlich hatte ich vor meinem Aufbruch in den Spiegel geblickt und war selbst erschrocken über mein verkniffenes Gesicht. Doch als ich Claud sah, spürte ich einen heftigen Schmerz über der Nasenwurzel. Ich hatte das Gefühl, meine Knie würden gleich nachgeben.

»Komm rein, setz dich.«

Er führte mich zum Sofa – so freundlich und sanft wäre er bestimmt nicht mehr, wenn ich ihm erst einmal meine Geschichte erzählt hatte. Lieber Himmel – ich war gekommen, um alles zu zerstören.

»Sag mir, was du auf dem Herzen hast.«

Seine Doktorstimme. Unter anderen Umständen hätte mich seine professionelle Ruhe geärgert. Jetzt beneidete ich ihn darum, und die Distanz, die zwischen uns entstand, war mir sehr willkommen. Ich holte tief Luft.

»Alan hat Natalie ermordet.«

Clauds Gesichtsausdruck hätte wohl in jeder anderen Situation lächerlich gewirkt. Es herrschte völlige Stille.

»Ich habe gesehen, wie er es getan hat. Ich habe versucht, es für immer zu vergessen, aber jetzt erinnere ich mich wieder.«

»Wovon redest du? Was soll das heißen, du hast ihn gesehen?«

In knappen Worten berichtete ich ihm von meiner Therapie bei Alex Dermot-Brown. Einen Augenblick befürchtete ich schon, ich müßte mich wieder übergeben.

Clauds Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Seine Hand legte sich auf meine Schulter wie eine Klaue.

»Du sprichst von meinem Vater. Du hast gerade behauptet, mein Vater hätte meine Schwester ermordet.

Und wer soll der Vater des Babys gewesen sein?«

Ich zuckte die Achseln.

»Entschuldige mich bitte einen Moment.«

Claud stand auf und verließ das Zimmer. Ich hörte Wasserrauschen. Als er zurückkam, trocknete er sich mit einem kleinen Handtuch das Gesicht ab. Dann setzte er seine Brille wieder auf und sah mich an.

»Gibt es irgendeinen Grund, der mich daran hindern könnte, dich hinauszuwerfen?«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Claud.«

Er stand vor mir und blickte auf mich herab. Ich wollte nicht, daß er mich hinauswarf.

»Möchtest du einen Drink?«

»Ja«, antwortete ich erleichtert.

Claud goß uns beiden einen Whisky ein und blieb neben mir stehen, während ich gut die Hälfte hinunterkippte. Der Whisky versengte mir die Kehle und brannte sich einen Weg durch meinen leeren Magen, wo er dann wie Feuer brannte.

»Alles in Ordnung?« Ich nickte und trank noch einen Schluck. Claud nahm meine Hand, und ich ließ zu, daß er meine verkrampften Finger löste und streichelte. Lange rieb er meinen leeren Ringfinger.

»Jane, ich bin nicht glücklich über diese therapeutische Offenbarung. Du hast deine Ehe beendet, deine Söhne sind aus dem Haus, du hast Natalies Leiche entdeckt – bist du sicher, daß du dich nicht einfach in einem extremen Streßzustand befindest?«

»Du meinst, ich habe das erfunden?«

»Du sprichst von meinem Vater, Jane.«

»Tut mir leid. O Gott, es tut mir so leid. Was kann ich nur tun?«

»Auf einmal kommst du zu mir gelaufen, Jane, und fragst mich um Rat?«

Ich schwieg. Langsam ging Claud zum Fenster hinüber und starrte hinaus in die undurchdringliche Dunkelheit.

Volle fünf Minuten blieb er dort stehen, nur gelegentlich nippte er an seinem Whisky. Ich saß auf der Couch, ohne mich zu rühren. Schließlich kam er zu seinem Stuhl zurück und setzte sich mir gegenüber.

»Du hast keine Beweise«, sagte er schließlich.

»Ich weiß, was ich gesehen habe, Claud.«

»Ja«, meinte er mit unüberhörbarem Zweifel in der Stimme.

»Ich will offen mit dir sprechen, Jane. Ich glaube nicht, daß mein Vater Natalie getötet hat. Aber ich werde versuchen, dir aus dem Schlamassel herauszuhelfen, in den du dich gebracht hast. Aus zwei Gründen. Erstens wegen meiner Gefühle für dich, die du ja kennst. Zweitens weil ich verhindern will, daß eine zweite Katastrophe über die Familie hereinbricht. Und das würde passieren, so oder so, wenn du solche Anschuldigungen verbreitest. Wenn wir Alans Unschuld beweisen können, um so besser.«

»Was kann ich tun, Claud?«

»Gute Frage. Es gibt keine handfesten Beweise, keine Augenzeugen, abgesehen von dir.« Claud zog eine Augenbraue hoch. Eine lange Pause kehrte ein. »Eine Idee hätte ich, Jane, immerhin. Warst du schon mal im Arbeitszimmer meines Vaters?«

»Nicht mehr, seit ich klein war.«

»Was bewahrt er dort auf?«

»Seine Manuskripte vermutlich, seine Entwürfe, Exemplare seiner Bücher, Nachschlagewerke.«

»Und seine Tagebücher.«

»Um Himmels willen, Claud, er wird wohl kaum seine Tochter ermordet und es dann in seinem Tagebuch notiert haben.«

»Aber ich bin derjenige, der ihn für unschuldig hält, richtig? Wenn du an die Tagebücher aus dem damaligen Jahr herankommst, finden wir vielleicht ein Alibi für die Zeit, zu der du ihn gesehen haben willst, und möglicherweise gibt es Zeugen dafür. Ansonsten könnten uns die früheren Einträge gegebenenfalls Hinweise auf seine Gefühle geben.«

»Ich halte das nicht für sehr aussichtsreich.«

»Ach nein?« entgegnete er sarkastisch. »Na, dann entschuldige bitte, daß ich dir meine Hilfe aufgedrängt habe. Vielleicht solltest du es lieber bei jemand anderem versuchen, bei Theo oder Jonah beispielsweise.«

»Tut mir leid, Claud, so habe ich das nicht gemeint. Ich bin dir dankbar, wirklich. Es ist ja auch eine gute Idee, aber wie sollen wir es anstellen?«

»Wann fährst du zur Beerdigung?«

»Was? Oh, ich weiß noch nicht, Donnerstag wahrscheinlich. Und du?«

»Ich fahre morgen. Hör zu, wenn ich eine Gelegenheit habe, versuche ich, mich ins Arbeitszimmer zu schleichen.

Wenn es nicht klappt, mußt du es tun. Aber ich tue alles, was ich kann. Alles.«

Er stand wieder auf und sah auf mich herunter. Ich erwiderte seinen Blick, ohne zu lächeln; seine Augen hielten mich in ihrem Bann, ich konnte nicht wegsehen.

Plötzlich veränderte sich sein Gesicht, und er ließ sich neben mich aufs Sofa sinken. Diesmal griff ich nach seiner Hand. Er trug seinen Ehering noch, und ich drehte ihn langsam zwischen den Fingern. Tränen rannen ihm über die Wangen; ich wischte sie behutsam ab und nahm sein Gesicht in beide Hände.

»Es tut mir leid, Claud.«

Er schluchzte laut auf und rückte näher zu mir. Ich hielt ihn nicht zurück. Wie hätte ich das tun können? Er drückte den Kopf an meinen Hals, ich wehrte mich nicht. Langsam ließ er sich an meiner Brust hinabgleiten und verbarg sein tränenüberströmtes Gesicht in meinem Schoß.

»Jane, Jane, bitte verlaß mich nicht. Ich kann nicht ohne dich leben, ich kann einfach nicht. Ohne dich ist alles anders. Ich schaffe das nicht allein. Du warst immer bei mir. Du hast mir immer geholfen. Immer. Wenn ich dich am meisten brauchte, warst du da. Du hast mich gerettet.

Geh nicht. Nicht jetzt.«

»Pssst.« Ich strich ihm übers Haar und spürte seinen Atem heiß an meinem Schenkel. Es war ein Gefühl, als begingen wir Inzest. »Psssst. Ist gut, Claud, weine nicht.

Ich ertrage es nicht, wenn du weinst.« Er lag da wie ein zu groß geratenes Kind, und ich wiegte ihn in meinen Armen.

29. KAPITEL

Ich war wieder dort, wo alles begonnen hatte, in Alex Brown-Dermots Küche, mit einem großen Becher Kaffee.

Alex unterhielt sich mit jemandem am Telefon, wobei er unverbindliche Laute von sich gab, eine Menge Hmmms und Ahas, ganz offensichtlich in der Absicht, den Anrufer abzuwimmeln. Immer wieder sah er zu mir herüber und warf mir einen aufmunternden Blick zu. Ich schaute mich um. In dieser Küche fühlte ich mich wohl: Sie war unaufgeräumt, Rezepte steckten an der Pinnwand, Rechnungen häuften sich auf dem Tisch, überall verstreut lagen Zeitungen, Fotos lehnten an Kerzenhaltern, Frühstücksgeschirr stapelte sich im Spülbecken, dazwischen Knoblauchzehen in einer Schale und Blumen in einer Vase. Ich bemerkte das Foto einer dunkelhaarigen Frau mit einem verlegenen Lächeln – vermutlich Alex’

Frau. Ich überlegte mir, wie wichtig diese Küche wohl für den Verlauf meiner Therapie gewesen war. Hätte ich mich einem Mann mit einer ordentlichen, nüchternen Küche anvertraut?

Endlich legte Alex auf und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.

»Noch Kaffee?«

»Ja, bitte.«

Es kam mir seltsam vor, mich auf gleicher Höhe mit ihm zu unterhalten, seinem Blick direkt zu begegnen.

»Sie sehen ein wenig besser aus.«

Heute morgen hatte ich ein Wollkleid mit tiefer Taille angezogen, einen witzigen kleinen Hut aufgesetzt und sogar Lippenstift und Wimperntusche benutzt.

»Ich fühle mich auch ein wenig besser. Glaube ich jedenfalls.«

Ich hatte so viel geweint, daß ich mich ganz ausgetrocknet fühlte.

Alex beugte sich über den Tisch. »Jane«, sagte er mit seiner leisen, angenehmen Stimme, »Sie haben enormen Mut bewiesen, ich bin sehr stolz auf Sie. Ich weiß, daß es schwer gewesen ist.«

»Warum fühle ich mich dann nicht besser?« platzte ich heraus. »Sie haben gesagt, es ist, als würde man einen Abszeß aufschneiden. Wieso fühle ich mich dann so gräßlich? Nicht nur anderen gegenüber, sondern vor allem mir gegenüber. Ich finde mich selbst schrecklich.«

Alex reichte mir ein Papiertaschentuch.

»Einen Abszeß aufzuschneiden ist schmerzhaft und bringt immer Probleme mit sich. In einem sehr verletzlichen Stadium Ihres Lebens, beim Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein, haben Sie etwas so Abscheuliches mit angesehen, daß Ihr Bewußtsein das Ereignis einfach zensiert hat. Sie dürfen nicht erwarten, daß alles sofort wieder in Ordnung ist. Wissen tut weh; das eigene Leben in die Hand zu nehmen ist schwer, der Heilungsprozeß braucht seine Zeit. Aber Sie müssen begreifen, Jane, daß Sie nicht mehr zurück können. Sie werden nie wieder vergessen.«

Ich fröstelte. »Was soll ich machen?«

»Sie geben mir also recht, daß Sie vor Ihrem neuerwor-benen Wissen nicht davonlaufen können?«

»Ja.«

»Glauben Sie, Sie könnten damit leben und nichts unternehmen?«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Selbstverständlich ist Ihnen klar, daß Sie, sollten Sie sich entschließen, einfach mit dieser schrecklichen Erinnerung weiterzuleben, dennoch Macht ausüben und eine Entscheidung fällen.«

»Ja, das weiß ich.«

»Wer ist wichtig für Sie?«

Diese Frage verblüffte mich. »Wie bitte?«

»Ich fragte, wer ist wichtig für Sie?«

»Robert und Jerome.« Ihre Namen kamen blitzschnell aus meinem Mund, und plötzlich wurde mir klar, daß sie die ganze Zeit ganz nah an der Oberfläche meines Bewußtseins gewesen waren – sie und auch der Horror, den sie nun meinetwegen würden durchmachen müssen.

Ich hatte sie nur mit Mühe verdrängt. »Dad. Kim. Und Hana.«

»Wer noch?«

»Na ja, Claud. Trotz allem.«

»Wer noch?«

»Danach kommen noch eine Menge Leute, aber die sind mir nicht ganz so wichtig.«

»Alan?«

»Nein, er natürlich nicht«, antwortete ich fast gequält.

Ich konnte die Erwähnung dieses Namens kaum ertragen.

»Sonst niemand Besonderes?«

»Eigentlich nicht.«

»Wirklich niemand?«

»Alex, was soll denn das?«

»Was ist mit Ihnen?«

»Mit mir?« Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte.

»Sind Sie sich selbst nicht wichtig, Jane?«

»Ja, stimmt, ich weiß, was Sie meinen, aber …«

»Finden Sie nicht, Jane, daß Sie es sich selbst schuldig sind, ganz offen zu Ihrer Erkenntnis zu stehen? Sie denken an Ihre Söhne, Ihren Vater, Ihren Ex-Ehemann. Sie sind so mit der Welt um Sie herum beschäftigt, daß Sie das Wichtigste einfach vergessen haben.«

»Aber ich muß doch an die anderen denken. Ich bin dabei, ihre Welt zu zerstören.«

Alex beugte sich noch weiter vor und musterte mich durchdringend.

»Ich hatte schon des öfteren mit ähnlichen Fällen zu tun«, sagte er. »Alle diese Frauen mußten tapfer und entschlossen sein. Sie mußten nicht nur mit ihrem eigenen Schmerz fertig werden, sondern auch damit, daß ihnen weder die Menschen ihrer Umgebung noch die staatlichen Behörden glauben wollten. Sie schulden es sich nicht nur selbst, die Sache durchzuziehen, Jane, Sie schulden es all diesen Frauen, die wissen, wie weh es tut, die Erinnerung zu verdrängen, und all denen, die den Mut gefunden haben, offen darüber zu sprechen. Weinen Sie doch nicht.«

Jetzt war seine Stimme wieder ganz sanft; er reichte mir noch ein Taschentuch, und ich putzte mir geräuschvoll die Nase.

»Sie haben nicht zufällig eine Zigarette für mich?«

Er lächelte.

»Wir könnten in den Garten gehen.«

Draußen war es feucht und kalt. Schlammpfützen hatten sich auf dem kümmerlichen Rasen gebildet, Schneeglöckchen welkten in den Blumentöpfen neben der Tür. Ich steckte eine Zigarette zwischen die Lippen und riß ein Streichholz an; es flammte auf und ging sofort wieder aus.

Ich versuchte es noch einmal, indem ich meine Hand schützend vor die Flamme hielt. Diesmal klappte es, und ich sog dankbar den Rauch ein.

»Diese anderen Frauen«, sagte ich schließlich. »Was haben die getan?«

»Die meisten haben sich daran erinnert, daß sie mißbraucht worden waren«, antwortete Alex. »Sie waren nicht Zeugin von Greueltaten, die anderen zugefügt wurden. Allmählich erkennt auch die Wissenschaft, daß das Bewußtsein fähig ist, zu seinem eigenen Schutz eine Amnesie herbeizuführen. Aber die verdrängten Erinnerungen gehen nicht verloren. Sie sind wie Unter-Verzeichnisse in einer geschützten Computerdatei, die mit dem richtigen Paßwort wieder aufgerufen werden können.

Mit manchen Therapieformen kann man diese Informationen zurückholen.«

»Ja, aber was haben diese Frauen getan, als sie sich wieder erinnerten?«

»Manche haben gar nichts getan – abgesehen davon, daß sie natürlich jeden Kontakt zu ihren Peinigern abbrachen.«

»Und die anderen?«

»Sie sind mit ihren Wunden an die Öffentlichkeit getreten. Sie boten denen, die sie mißbraucht haben, die Stirn, manche gingen auch zur Polizei. Sie wollten sich nicht länger nur als Opfer fühlen.«

Ich steckte mir noch eine Zigarette an und wanderte langsam zum Ende des Gartens. Alex machte nicht den Versuch, mir zu folgen, er beobachtete nur, wie ich hin und her marschierte. Schließlich sagte ich: »Sie glauben also, ich sollte Alan damit konfrontieren?«

Er antwortete nicht, sondern sah mich nur an.

»Oder zur Polizei gehen?«

Noch immer schwieg er. Auf einmal spürte ich, wie eine gewaltige Wut in mir aufstieg. Zorn brauste in meinem Kopf. Mir war plötzlich heiß, trotz der kalten Luft.

»Sie haben ja keine Ahnung«, schrie ich Alex ins Gesicht, »Sie haben ja keine Ahnung, was Sie da von mir verlangen, keine Ahnung! Hier geht es um meine Familie.

Mein ganzes bisheriges Leben. Wenn ich so etwas tue, dann gehöre ich nirgendwo mehr hin, dann bin ich endgültig eine Ausgestoßene.« Tränen brannten auf meinen Wangen. »Ich kann doch nicht einfach zur Polizei gehen und denen von Alan erzählen. Er war wie ein Vater für mich. Ich habe ihn geliebt! «

Schließlich hörte ich auf zu toben. Wir beide schwiegen.

Ein paar Gärten weiter hörte ich das dünne, erstickte Gewimmer eines Babys, das seit einer Ewigkeit schrie und nicht aufhören wollte. Ich kramte meine Zigaretten aus der Tasche, zündete eine an, während ich mein Gesicht vergeblich mit einem durchweichten Taschentuch abzuwischen versuchte.

»Hier.«

Alex gab mir ein neues.

»Tut mir leid. Ich plündere Ihren gesamten Taschentuch-vorrat.«

»Schon in Ordnung. Ich habe einen Taschentuchberg.

Ich bekomme EG-Subventionen dafür.«

Wir gingen zum Haus zurück. An der Tür blieb Alex stehen und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Ich verlange von Ihnen nicht, etwas zu tun. Natürlich müssen Sie das ganz allein entscheiden. Ich habe Sie nur gefragt, ob Sie damit leben können.«

Alex kochte noch eine Kanne Kaffee, und ich ging ins Badezimmer, um mir das Gesicht zu waschen. Ich sah gräßlich aus. Die Wimperntusche floß in kleinen Bächen über mein Gesicht, meine Haare hingen strähnig unter meinem Hut hervor und klebten an den Wangen, meine Augen waren geschwollen, meine Nase war rot von der Kälte. »Reiß dich zusammen«, sagte ich leise zu der Frau im Spiegel und sah zu, wie sich der Mund zu einem freudlosen Lächeln öffnete. »You’ll never get to heaven«, begann ich zu pfeifen, ein Lied, das wir auf Stead immer zusammen gesungen hatten. Aber wenn ich nicht in den Himmel kam, war das auch egal, ich glaubte ohnehin schon lange nicht mehr daran.

Alex hatte eine Dose Kekse auf den Tisch gestellt. Ich nahm einen, tunkte ihn in meinen Kaffee und verzehrte ihn mit Heißhunger. Als ich fertig war, räumte er die Tassen ab und trug sie zur Spüle. Das Gespräch war beendet.

»Danke, Alex«, sagte ich und stieg auf mein Fahrrad.

Als ich Camden Lock erreichte, merkte ich plötzlich, daß ich ihm unbedingt noch etwas sagen mußte, also radelte ich zurück und klopfte an die Tür. Er öffnete fast im gleichen Augenblick und wirkte nicht im geringsten überrascht.

»Ich werde es durchziehen«, sagte ich.

Er rührte sich nicht, musterte mich aber eindringlich.

Dann nickte er.

»So soll es sein«, meinte er.

Das klang beinahe biblisch. Ohne ein weiteres Wort radelte ich davon.

30. KAPITEL

Als das Auto vor dem Haus hupte, war ich bereits seit einer halben Stunde startbereit. Es schneite – wunderschöne große Flocken, die herabsegelten und sich wie Federn auf Bäumen, Häusern und geparkten Autos niederließen. Im Dämmerlicht wirkte London sauber und heiter, und ich saß lange am Fenster, rauchte und dachte nach. Rostige Lieferwagen, Mülleimer, leere Milchfla-schen, alles war rein und weiß. Alle Geräusche sanfter.

Sogar die Fenstergitter am Haus gegenüber glitzerten. Bis heute abend würde sich alles in braunen Matsch verwandelt haben. Heute abend würde Martha bereits neben ihrer einzigen Tochter liegen. Ich war froh, daß sie tot war.

Ich zog den Mantel an, den ich gekauft hatte, bevor ich mich mit Caspar im Highgate Cemetery getroffen und ihn geküßt hatte. Dann setzte ich eine braune Pelzmütze auf, zog mir braune Lederhandschuhe über und ging hinaus zu Claud. Obwohl es für ihn ein beträchtlicher Umweg war, hatte er darauf bestanden, mich abzuholen. Bei diesem Wetter. Er meinte, er wolle sichergehen, daß ich wirklich mitkam.

Anfangs schwiegen wir beide. Ich rauchte und beobachtete, wie London allmählich in ländlichere Gefilde überging. Claud kramte in seinen Kassetten und fuhr dabei mit hundertzehn Stundenkilometern die M l entlang. Die Scheibenwischer schaufelten den Schnee systematisch zu schmalen Schmutzlinien zusammen.

»Na?« sagte ich schließlich.

»Was denn, na?«

»Du weißt schon.«

Claud verzog das Gesicht.

»Alan hat sich die ganze Zeit über in seinem Arbeitszimmer verschanzt, während ich auf Stead war. Und wenn er gerade nicht drin war, hat er die Tür abgeschlossen.«

»Ach je«, seufzte ich.

»Keine Sorge, Jane, gemeinsam wird uns schon was einfallen.«

Ich brummte zustimmend, während Birmingham mit seinen ausufernden Wohnblocks vorbeiflog. Noch eine Zigarette. Ich hatte keine Ahnung, was ich zu Alan sagen würde, ich hatte mich noch nicht mal darauf vorbereitet, ihn zu sehen. Eine Weile wühlte ich in meiner Handtasche herum, fand einen Kamm und fuhr mir damit durch die Haare, ehe ich die Pelzmütze wieder aufsetzte. Claud musterte mich aus dem Augenwinkel.

»Nervös?«

Mir fiel ein, daß Claud der einzige Martello war, mit dem ich hier einfach so sitzen konnte.

»Du hast dich sehr fair verhalten«, sagte ich.

Er blickte starr geradeaus.

»Hoffentlich«, entgegnete er nur.

Unter der dünnen Schneedecke wirkte Natalies Grab immer noch ordentlich und neu. In einer steinernen Vase steckten Frühlingsblumen – Schneeglöckchen, gelber Winterling. Ich überlegte, ob sich wohl jemand um das Grab kümmern würde. Daneben klaffte ein häßliches Loch in der Erde. Die letzten kalten Schneeflocken fielen hinein.

Eine kleine Gruppe dunkel gekleideter Trauergäste stand um das Grab und sah zu, wie Marthas vier Söhne mit dem Sarg nahten. Ihre Gesichter waren ernst und schön – so trugen trauernde Söhne die sterblichen Überreste ihrer geliebten Mutter zu Grabe. Vor mir nahm ein Mann seinen Hut ab, und plötzlich erkannte ich, daß es Jim Weston war, in einem unmöglichen langen Mantel. Das letzte Mal hatte ich ihn ebenfalls an einem Grab getroffen. Einer Art Grab jedenfalls. Ich stellte mich ganz an den Rand der Trauergemeinde, um eine zufällige Begegnung mit Alan nach Möglichkeit zu vermeiden. Später würde er mich sicher umarmen und mir zuflüstern, wie schwer ihn dieser Verlust traf. Doch das alles konnte warten. Plötzlich spürte ich, wie jemand meine Schulter berührte, und wandte mich um. Es war Helen Auster.

»Ich wollte mich nur blicken lassen«, erklärte sie mit einem kleinen Lächeln.

Ich umarmte sie kurz, während wieder die vertrauten Worte gesprochen wurden.

Alan hörte ich, ehe ich ihn sah. Als Marthas Sarg in die offene Grube hinabgelassen wurde, zerriß ein lauter Klageschrei die Luft. Alle reckten die Köpfe, und plötzlich sah ich durch eine Lücke im Gedränge, was los war. Alan beugte sich über den Sarg und brüllte laut. Der Wind blies ihm die grauen Haare aus dem Gesicht; trotz der Kälte trug er keinen Mantel, sein schwarzer Anzug war schmuddelig und nicht mal zugeknöpft. Tränen rannen über sein fleckiges Gesicht, und er hob seinen Stock und reckte ihn zum Himmel wie ein improvisierter König Lear.

»Martha!« schrie er. »Martha!«

Seine vier Söhne scharten sich um ihn; groß und aufrecht standen sie neben ihrem dicken, unbeherrschten Vater, der außer sich war vor Kummer, konfus vom Alkohol. Jetzt schlug er die Hände vors Gesicht, und Tränen quollen ihm durch die Finger; er stöhnte und schluchzte ununterbrochen. Wir anderen verharrten schweigend. Das war ein Soloauftritt.

»Vergib mir!« schrie Alan auf einmal. »Es tut mir so leid!«

Claud legte den Arm um ihn; Alan lehnte sich an seinen Sohn, murmelte vor sich hin und weinte weiter. Neben mir begann eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte, leise in ein kleines Taschentuch zu schniefen. Erica, die mit Paul und Dad ein wenig abseits stand, putzte sich geräuschvoll die Nase und stieß einen kurzen, abgehackten Klagelaut aus. Ich dagegen fühlte mich klar und kalt wie das Wetter, denn ich hatte mich vor langer Zeit von Martha verabschiedet. Jetzt war ich im Begriff, ihre letzte Bitte abzuschlagen. Kümmere dich um Alan.

Kalte Erdklumpen prasselten auf den Sarg hinab. Nun lagen Martha und Natalie Seite an Seite. Alan weinte laut.

Helen hakte mich unter, und wir trennten uns von den übrigen, verließen den Weg und wanderten ein Stück zwischen den Grabsteinen.

»Sie sehen nicht gut aus«, bemerkte sie.

»Es ging mir auch nicht gut. Aber ich glaube, jetzt wird es besser. Und was macht die Untersuchung?«

Sie lächelte. »Ich wollte es Ihnen erzählen. Wir haben eine Verwendung für eine der Listen gefunden. Am Montag veröffentlichen wir eine Erklärung. Alle männlichen Gäste, die sich am 27. Juli, dem Tag nach der Party, als man Natalie zum letztenmal gesehen hat, auf Stead oder in der Umgebung aufgehalten haben, sollen eine Blutprobe abgeben, damit eine DNS-Analyse gemacht werden kann.«

»Um den Vater festzustellen?«

»Vielleicht.«

»Und den Mörder?«

»Es wäre kein zwingender Beweis.«

»Trotzdem klingt es nach einem Schritt in die richtige Richtung.«

»Das glauben wir auch.«

Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her.

Inzwischen war außer uns niemand mehr auf dem Friedhof. Ich zwang mich zu fragen: »Und wie geht es Ihnen, Helen?«

»Mir?« Offensichtlich hatte ich sie aus der Fassung gebracht.

»Sie wissen sicher Bescheid, oder?« meinte sie zögernd.

»Ja.«

Helen machte halt und setzte sich auf einen Sockel, auf dem eine steinerne Urne stand, halb bedeckt von einem steinernen Tuch. Fast schuldbewußt blickte sie zu mir empor.

»Was wollen Sie hören?«

»Helen, ich verlange ganz bestimmt keine Rechtfertigung von Ihnen. Es interessiert mich nur, wie es Ihnen geht.«

»Mir? Ich bin total verwirrt. Mein Leben ist völlig auf den Kopf gestellt.« Sie zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche, faltete es mit kältestarren Fingern umständlich auseinander und putzte sich die Nase. »Ich verhalte mich unprofessionell. Ich zerstöre meine Ehe. Ich schwöre Ihnen, ich habe so was noch nie getan, und ich fürchte, Barry – das ist mein Mann – muß es früher oder später erfahren. Andererseits, so scheußlich das vielleicht klingt

– ich bin gleichzeitig auch glücklich und finde alles furchtbar spannend. Na klar, das muß ich Ihnen ja nicht erzählen. Sie wissen selbst am besten, wie Theo ist.«

»Ja.«

»Auf einmal sehe ich viele Dinge ganz anders, entdecke neue Möglichkeiten. Ich fühle mich manchmal wie in einer Art Rausch.«

»Was haben Sie vor?«

»Meine Pläne ändern sich dauernd. Wahrscheinlich warte ich erst mal, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. Dann sage ich meinem Mann, was los ist, ziehe aus, und irgendwann können Theo und ich zusammenleben.«

»Hat Theo das gesagt?«

»Ja.« Wieder blickte sie schuldbewußt zu mir empor.

»Sie sehen nicht gerade aus, als würde Ihnen das gefallen.«

»Es ist weniger eine Frage des Gefallens.« Ich ließ mich neben Helen auf der Kante des Sockels nieder, was äußerst unbequem war. »Sehen Sie, ich will Ihnen keine guten Ratschläge aufdrängen. Vielleicht haben Sie ja vollkommen recht, und es kommt wirklich so. Ich denke nur, Sie sollten vorsichtig sein mit der Familie Martello. Die Martellos sind faszinierend und äußerst anziehend, aber ich fürchte, manchmal führen sie einen auch an der Nase herum.«

»Aber Sie gehören doch auch dazu.«

»Ja, ich weiß, und alle Kreter lügen.«

»Wie bitte?«

»Nicht so wichtig. Ich weiß auch nicht, was ich sagen will. Machen Sie keinen Höhenflug ohne Fallschirm.

Irgendwas in der Art.«

»Aber Sie haben Theo geliebt, oder nicht?«

»Woher wissen Sie das?«

Sie antwortete nicht.

»Passen Sie nur auf, daß Sie sich nicht Ihr Leben und Ihre Karriere kaputtmachen«, sagte ich.

Sie sah mich an, mit einem Gesicht, das mich fatal an ein trauriges kleines Mädchen erinnerte. »Ich dachte, Sie würden mir einfach gratulieren, mir Glück wünschen oder so.«

Auf einmal begann sie zu weinen, und ich nahm sie tröstend in den Arm.

»Es ist so blöd und peinlich, daß ich es kaum über die Lippen bringe«, schluchzte sie. »Ich hatte diese Vorstellung, wir könnten Freundinnen sein, daß diese Geschichte uns irgendwie näherbringen würde.«

»Aber, aber«, sagte ich und nahm ihr tränennasses Gesicht in die Hände. »Wir sind uns doch schon viel nähergekommen.«

»Nein, ich meinte mehr als das. So wie Schwestern.«

Ich drückte sie an mich. »Ich brauche eine Freundin mehr als eine Schwester«, flüsterte ich.

Über das Zusammentreffen mit Alan hätte ich mir keine Sorgen zu machen brauchen; er wollte weder mich noch sonst jemanden sehen. Als ich wieder im Haus war, verkroch er sich wie ein riesiger Einsiedlerkrebs, dessen Schutzpanzer zerbrochen ist, in sein Arbeitszimmer. »Ich will schreiben«, sagte er nur.

In der Küche und im Wohnzimmer wimmelte es von Trauergästen; manche kannte ich, andere sah ich zum erstenmal. Ich glaubte Lukes Adlernase und die hohen Backenknochen zu erspähen, aber was hätte er hier zu suchen gehabt? Auch Jim Weston kam angeschlurft; man sah ihm an, wie unbehaglich er sich in seinem engen braunen Anzug mit dem breiten Revers fühlte, in dem er wie ein entlassener Soldat wirkte. Er packte mich am Ärmel und murmelte irgend etwas, aber ich verstand ihn nicht. Um mich herum herrschte ein einziges Stimmengewirr, von dem ich nur unzusammenhängende Laute vernahm. Ich beobachtete, wie Münder sich öffneten und schlossen. Leute wischten sich die Augen. Manche lachten. Stopften sich Sandwiches in den Mund. Hoben mit Daumen und Zeigefinger zierliche Teetassen. Körper stießen gegen meinen.

Mir war heiß, meine Beine juckten in der Strumpfhose, meine Handflächen schwitzten, unter meinem linken Auge zuckte unsichtbar ein Muskel. Ich spürte die Vorboten übler Kopfschmerzen. Vor mir stand Theo mit gerunzelter Stirn, Paul hielt mich an der Schulter und flüsterte mir etwas ins Ohr – es ging um Dad und darum, daß wir bald aufbrechen mußten. Der Pfarrer – ein junger Mann mit einem Adamsapfel, der hektisch über seinem Stehkragen auf und ab hüpfte – schüttelte mit verschwitzten Händen andere verschwitzte Hände und faselte irgend etwas davon, daß Martha endlich Frieden gefunden hätte. Luke –

es war tatsächlich Luke – fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei, und jemand reichte mir ein Glas Wasser.

Peggy war ganz in Grau gekommen, Erica in Dunkelblau.

Dad saß auf einem Stuhl bei der Verandatür; gelegentlich beugte sich ein Hut zu ihm herab und hob sich nach einer Weile wieder auf normale Höhe. Dad wirkte alt, elend und traurig.

Ich zog meinen Mantel wieder an, ging hinaus in den Garten und begann ziellos umherzulaufen, wobei ich den Rest aus der Packung rauchte. Erst als ich sah, daß die Gäste in ihre Autos stiegen und wegfuhren, traute ich mich ins Haus zurück.

Wir waren eine seltsame, provisorische Gemeinschaft ohne gemeinsames Ziel. Paul und Erica fuhren bald nach dem Begräbnis zurück nach London. Am nächsten Morgen brachen Jonah und seine Familie auf, und Theo brachte Frances zum Bahnhof. Fred und Lynn, die sehr besorgt wirkte, blieben noch. Und Claud war natürlich auch noch da. Aber was hatten wir eigentlich alle hier zu suchen? Marthas materielle Hinterlassenschaften brauchten nicht geordnet zu werden. Am Morgen des Begräbnisses sahen wir ihre Schubladen und Schränke durch. Jedes Kleidungsstück war gewaschen, zusammengefaltet und ordentlich verstaut. Manches lag in Pappkar-tons, auf denen Martha in ihrer klaren, selbstbewußten Handschrift den Bestimmungsort vermerkt hatte. Ihr Arbeitszimmer schien leer, aber nur, weil es so gut aufgeräumt war. Ich wußte, daß Martha ihr letztes Buch ein paar Monate vor ihrem Tod beendet und ihre letzten Wochen systematisch genutzt hatte. Sie hatte Notizen und eine Menge alten Papierkram weggeworfen. Nachdem wir ein paar Schubladen aufgezogen hatten, war klar, daß jede Akte, jede Heftmaschine und auch sonst alles dort lag, wo es hingehörte. Das war Marthas letzte große Geste. Sie hatte dafür gesorgt, daß wir ihren Geist in keinem Winkel des Hauses unvorbereitet erwischten. Ehe sie gestorben war, hatte sie alles unterschrieben und versiegelt und uns genauso hinterlassen, wie sie es wollte. Diese Erkenntnis war das einzige, was mir an diesem Tag ein Lächeln entlockte.

Die Brüder hatten nichts zu tun. Sie sprachen nicht viel –

Fred war kaum nüchterner als sein Vater –, aber ich glaubte, daß sich keiner von ihnen vorstellen konnte, Alan allein im Haus zurückzulassen. Wie sich herausstellte, sollten sie das auch nie tun.

Das Mittagessen war eine trostlose Angelegenheit. Brot, Käse, Wein und eine seltsam heitere Konversation, in die sich sogar Alan gelegentlich einschaltete. Wir balancierten auf einem schmalen Grat zwischen zwei Leben. Das anerkannte alte, von Martha wohlorganisierte, war noch nicht abgelegt, und davon, wie das neue sein mochte, sprach niemand. Keiner konnte es sich vorstellen.

Glaubten wir etwa, irgendwann könnten wir alle gehen und Alan sich selbst überlassen?

Als wir fertig waren, hinderte Claud seinen Vater mit fast körperlich spürbarer Überredungskunst daran, wieder nach oben in sein Arbeitszimmer zu fliehen.

»Du, ich und Jane machen einen kleinen Spaziergang«, sagte er.

Erschrocken blickte Alan uns an, und ich war kaum weniger überrascht.

»Wir gehen spazieren?« wiederholte ich fragend.

»Ja, es ist wunderbar frisch draußen«, meinte Claud fröhlich.

Ich sah aus dem Fenster und konnte nur dräuende Wolken entdecken.

»Kommt, wir holen unsere Mäntel«, fuhr er fort.

Eifrig half er Alan mit Regenmantel, Hut, Schal und Stiefeln und drückte ihm seinen alten Stock in die Hand.

Wir zogen alte Mäntel an, die noch an der Garderobe hingen (mit Schaudern stellte ich fest, daß ich einen von Martha trug), dann gingen wir – Alan zwischen uns –

hinaus.

Während wir über den Rasen marschierten, erzählte Claud von einem Spaziergang, den er tags zuvor unternommen hatte. Er hatte in einer Esche an der Auffahrt ein Eulennest entdeckt, das er uns gern zeigen wollte.

Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»So ein Mist, jetzt hab ich doch glatt das Fernglas vergessen. Könntest du vielleicht schnell zurücklaufen und es holen, Janey?«

Anscheinend waren wir wieder verheiratet.

»Wo ist es denn?«

»In der Stiefelkammer. Die ich natürlich abgeschlossen habe.«

»Wozu denn das?« fragte Alan.

»Moment, ich gebe dir meine Schlüssel«, sagte Claud, während er in den verschiedenen Taschen wühlte. »Oh, tut mir leid, ich hab wohl meinen Schlüsselbund verlegt. Dad, könntest du Jane deine Schlüssel geben?«

Wortlos zog Alan einen großen Schlüsselbund aus der Tasche und gab ihn Claud, der ihn mir ohne erkennbare Gemütsbewegung – abgesehen vielleicht von einer leichten Gereiztheit, weil er so vergeßlich war – in die Hand drückte. Man sagt ja immer, daß Ärzte gleichzeitig auch Schauspieler sein müssen.

»Bis gleich«, sagte ich, drehte mich um und rannte über die Wiese zurück.

Erster Stock, zweiter Stock, die steile Treppe hinauf, die zum großen Speicher führte. Meine Beine zitterten so sehr, daß ich Angst hatte hinzufallen. Ich mußte mehrere Schlüssel ausprobieren, ehe ich den passenden gefunden hatte, dann endlich stieß ich die Tür auf und trat in Alans Reich. Es war ihm heilig, und tatsächlich hatte es, direkt unter dem Dach, eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Kirchenschiff. Auf jeder Schräge waren Fenster, durch die sanftes graues Licht fiel und den Raum nur schwach erhellte, bis ich den Lichtschalter betätigte. Ich war nicht oft hier gewesen. In diesem Raum schrieb Alan seine Bücher – oder tat zumindest so, als schriebe er. Wäre der Raum leer gewesen, hätte er sehr groß gewirkt. Aber vollgestopft, wie er war, kam man kaum durch. Briefe, Rechnungen, Quittungen, Briefe von Verlagen und Universitäten, Reklamesendungen, Flugblätter, Anfragen von Studenten, alte Zeitungen, Postkarten von Alans Söhnen, Einladungen, ungeöffnete Briefumschläge. Auf gut Glück sah ich mir einen Poststempel an: 1993. Ich betrachtete die Bücherstapel, die unordentlich, halb umgekippt überall herumlagen; die zerknüllten Papiertaschentücher in der Ecke; die lange Reihe gebrauchter Kaffeetassen, in denen sich bereits Schimmel bildete; die fast leere Whiskyflasche auf dem Fenstersims.

Nur Alans Schreibtisch war ordentlich – der einzig aufgeräumte Platz im ganzen Zimmer. Wie ein Panzer thronte darauf seine uralte deutsche Schreibmaschine.

Daneben ein Becher mit Stiften und Kugelschreibern und ein leerer Notizblock. Auf dem Regal über dem Schreibtisch drängten sich Dutzende Exemplare von The Town Drain in einer babylonischen Sprachenvielfalt. Der Titel hatte sich immer gegen eine Übersetzung gesperrt.

Ich zog ein paar Schubladen auf: Notizbücher mit fragmentarischen Entwürfen, unbenutzte Postkarten, Farbbänder für die Schreibmaschine, Reißzwecken, eine Heftmaschine, alte Batterien und etliche Gegenstände, deren Verwendungszweck sich mir nicht erschloß. Ich blickte mich um. An einer Wand stand ein Aktenschrank aus grauem Metall, an einer anderen eine Reihe niedriger Schränke. Niemand hebt Tagebücher in einem Aktenschrank auf. Also öffnete ich die Schranktüren. Hinter der ersten fand ich eine Reihe großer Pappschachteln. Auf sie konnte ich bei Bedarf später zurückkommen. Im nächsten Schrank stapelten sich alte Akten, im dritten befand sich lediglich ein großer Karton, auf dem stand: Arthur’s Bosom (provisorischer Titel). Ich spähte hinein, entdeckte aber nur ein paar Blätter mit Alans breiter Handschrift.

Dialogfetzen, noch nicht zusammengefügte Sätze, Beschreibungen, die im Sand verliefen. Dies war also der großartige Roman, Alans langerwartetes Comeback, das Meisterwerk, für das er regelmäßig die Stufen empor-klomm. Wider meinen Willen überkam mich Mitleid. Das Leben konnte unerträglich hart sein.

Der vierte Schrank war mit Zeitungen und Zeitschriften vollgestopft, wahrscheinlich alte Buchbesprechungen und Interviews. Aber im nächsten fand ich endlich, was ich suchte. Dutzende kartonierter Notizbücher standen aufgereiht in den Fächern. Ich zog eines davon heraus. Es war von 1970. Ich blätterte es rasch durch: Die Seiten waren dicht beschrieben mit den Ereignissen des Tages.

Ich nahm ein anderes heraus und noch eins. Überall das gleiche. Zumindest diese Art des Schreibens hatte Alan beibehalten. Von unten aus weiter Ferne hörte ich Stimmen und Geschirrgeklapper. Garantiert würde niemand heraufkommen.

Es war nicht schwer, den Band zu finden, den ich suchte.

Ich schlug ihn auf, ein Stück Papier flatterte heraus und landete zu meinen Füßen. Eilig blätterte ich die Seiten um, aber als ich beim 1. Juli ankam, bot sich mir ein gänzlich unerwartetes Bild: Überreste herausgerissener Seiten. Von Anfang Juli bis September war alles weg. Dann gingen die Eintragungen weiter wie zuvor. Ich war wie gelähmt. Fast reflexartig bückte ich mich und hob das Stück Papier auf, das aus dem Buch gefallen war: ein vergilbtes liniertes DinA-4-Blatt, in der Mitte gefaltet. Ich klappte es auf. Es sah aus, als wäre es hastig aus einem Notizblock gerissen worden. Kein Zweifel, es war Natalies Handschrift, mit blauem Kugelschreiber. Ich kannte ihre Schrift noch immer genausogut wie meine eigene. Der Brief lautete folgendermaßen:

Ich weiß nicht, was es bringen soll, daß Du mir aus dem Weg gehst. Wir wohnen im selben Haus! Du weißt, was Du mir angetan hast. Du weißt, was jetzt passiert. Glaubst Du vielleicht, Du kannst sowieso nichts tun? Glaubst Du, Du kommst ungeschoren davon? Okay, Du brauchst nicht mit mir zu sprechen. Aber Du sollst wissen, daß ich tun werde, was ich tun muß, auch wenn es die ganze Familie zerstört. Ich werde alles verraten. Wenn ich mich danach umbringen muß, ist es mir auch egal. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich dachte, eine Familie wäre dazu da, um einen zu beschützen.

Natalie.

Mit einem Schlag war ich völlig ruhig. Ich faltete Natalies Brief wieder zusammen und legte ihn zurück zwischen die Seiten des Tagebuchs. Dann drehte ich mich um – und vor mir im Türrahmen stand Alan. Noch immer trug er seinen weiten Mantel und die Gummistiefel, die seine Schritte auf dem Treppenteppich gedämpft hatten. Er atmete schwer vor Anstrengung.

»Ich denke, den Feldstecher findest du eher unten.«

»Ich habe nicht den Feldstecher gesucht. Wo ist Claud?«

»Unten. Wenn du schon in mein Arbeitszimmer einbrichst, Jane, dann solltest du nicht so unvorsichtig sein und das Licht anknipsen. Was hast du hier zu suchen, Jane? Aha, du hast dich in meine großartigen Werke vertieft.«

»Ich habe dich gesehen, Alan.«

»Ach, wirklich?«

»Ich habe gesehen, wie du Natalie getötet hast. Ich habe gesehen, wie du sie erwürgt hast. Ich hatte es vergessen, aber jetzt erinnere ich mich wieder daran. Und ich habe auch den Beweis gefunden.«

»Was meinst du mit ›gesehen‹? Und was für ein Beweis soll das sein?«

Er trat auf mich zu. Ich versuchte, mich an ihm vorbei-zudrängen, aber er packte mein Handgelenk, und das Buch fiel polternd zu Boden. Vor Schmerz schrie ich laut auf, aber Alan stieß mich rücksichtslos auf einen Stuhl. Ich wollte aufstehen, aber er hinderte mich daran, indem er seine Hand auf meinen Hals drückte. Dann packte er meine Kehle mit beiden Händen.

»Ist es das, was du gesehen hast? War es ungefähr so?«

Ich brachte keinen Ton heraus. Ich konnte nicht atmen.

Von Krämpfen geschüttelt, rang ich nach Luft. Dann ließ er mich plötzlich los. Während ich hustete und keuchte, bückte er sich langsam und hob das Tagebuch auf. Im Handumdrehen fand er Natalies Brief, faltete ihn auf und las ihn. Als er fertig war, legte er ihn zurück, klappte das Buch zu und reichte es mir.

»Du hast deine Tochter vergewaltigt und getötet«, sagte ich.

»Aber ich habe dich gesehen.«

Da begann Alan laut zu schluchzen. Er schlug sich immer wieder an den Kopf, Rotz und Speichel liefen über sein Gesicht.

»Du hast es getan, stimmt’s Alan?« schrie ich. »Du hast deine Tochter gefickt und sie dann umgebracht, nicht wahr?«