Er schwieg einen Moment. Daran hatte ich mich inzwischen schon gewöhnt. War das normal, oder lag es an Brendan? Wenn ich an meine eigenen Freunde dachte, konnte ich sofort sagen, woher ich sie kannte. Entweder von der Schule oder vom College oder weil sie mit jemandem zur Schule gegangen oder mit jemandem verwandt waren, den ich kannte. In Bezug auf Brendan aber äußerten sich alle ein bisschen vage. Er war plötzlich in ihrem Leben aufgetaucht. Wie und woher, wussten sie selbst nicht so recht. Immerhin konnte mir Craig McGreevy zwei weitere Namen und Nummern nennen. Bei der einen ging niemand ran, aber bei der zweiten bekam ich jemanden an die Strippe, der mich an jemanden anderen verwies, der mich seinerseits wieder an jemand anderen verwies und so weiter. Am Ende landete ich bei einem gewissen Tom Lanham, der mich, als ich Brendan erwähnte, sofort fragte:

»Rufen Sie wegen seiner Sachen an?«

»Was für Sachen?«

»Als er ausgezogen ist, hat er ein paar Schachteln zurückgelassen und gesagt, er werde sie bald abholen. Doch das war schon vor ungefähr einem Jahr.«

»Sie haben sich eine Wohnung mit ihm geteilt?«

»Er hat eine Weile hier gewohnt, ist dann aber ziemlich überstürzt ausgezogen, und seitdem hat er sich nicht mehr blicken lassen. Sind Sie eine Freundin von ihm?«

»Ja. Ich versuche herauszufinden, wo er abgeblieben ist.

Vielleicht kann ich Ihnen die Sachen abnehmen. Nachdem ich mich sowieso mit ihm treffen möchte, könnte ich sie ihm bei der Gelegenheit ja geben.«

»Das wäre großartig«, meinte Tom. »Das Zeug steht immer noch in einer Ecke meines Zimmers. Ich weiß nicht, was ich damit tun soll.«

»Könnte ich bei Ihnen vorbeikommen und mit Ihnen reden?«

»Jederzeit. Wie wär’s gleich mit heute Abend?«

Sein Übereifer beunruhigte mich ein wenig. Wie viel Zeug mochte Brendan bei ihm zurückgelassen haben?

»Wo wohnen Sie?«

»In Islington. Ganz in der Nähe der Essex Road. Haben Sie was zu schreiben da?«

Mittlerweile konnte ich keinen Rückzieher mehr machen, also notierte ich mir die Wegbeschreibung, und drei Stunden später stand ich bei ihm vor der Tür. Tom war allem Anschein nach gerade von der Arbeit gekommen und noch im Anzug, hatte bloß seine Krawatte ein wenig gelockert. Sein Haar sah ordentlich gekämmt aus. Vermutlich arbeitete er irgendwo in der Innenstadt. Ich trug noch meinen Overall. Er grinste über den Kontrast.

»Tut mir Leid«, sagte er. »Ich hatte noch keine Zeit, mich umzuziehen.«

Er geleitete mich hinein und bot mir etwas zu trinken an. Ich bat ihn um eine Tasse Kaffee. Bei der Zubereitung betrieb er einen lächerlich großen Aufwand, indem er die eine Tasse extra mit einem kleinen Filter aufbrühte. Das Ergebnis war allerdings sehr gut und so stark, dass ich ein wenig das Gesicht verzog, als ich vorsichtig daran nippte. Sich selbst schenkte Tom ein Glas Wein ein.

»Demnach wissen Sie also auch nicht, wo Brendan sich zurzeit aufhält?«, fragte ich ihn.

»Wieso wollen Sie ihn denn finden?«

»Ich mache mir Sorgen um ihn«, antwortete ich.

Tom lächelte.

»Und ich dachte schon, er würde Ihnen vielleicht Geld schulden.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil er mir Geld schuldet.«

»Wofür?«

»Keine große Sache«, antwortete Tom. »Wir hatten damals vereinbart, dass er sich ein bisschen an den Heiz- und Telefonkosten beteiligen würde, aber irgendwie ist es nie dazu gekommen. Seit diesem Filmjob habe ich nie wieder was von ihm gehört.«

»Filmjob?«, erkundigte ich mich.

»Er hat gesagt, er helfe mit, irgendwelche Drehorte auszusuchen.«

»Wann war das?«

Tom nahm einen Schluck Wein. Er tat mir nicht besonders Leid. Es schien, als würde er das Geld nicht allzu nötig brauchen.

»Vor ungefähr einem Jahr«, antwortete er. »Und Sie wären wirklich so nett, seine Sachen mitzunehmen?«

»Ich könnte sie an ihn weiterleiten.«

»Das wäre großartig«, meinte Tom. »Ich habe schon ein paarmal daran gedacht, sie einfach wegzuwerfen. Inzwischen hat jemand anderer sein Zimmer übernommen, und ich habe sein Zeug in zwei leeren Weinkisten verstaut. Es handelt sich bloß um ein bisschen Krimskrams.«

»Kein Problem. Ich nehme einfach alles mit.«

»Warum machen Sie sich seinetwegen so viel Mühe?«, fragte er.

»Weil er mir auch noch etwas schuldet«, antwortete ich.

»Nur dass es sich in meinem Fall nicht um Geld handelt.«

Tom sah mich neugierig an.

»Worum es sich handelt, geht mich wahrscheinlich nichts an, oder?«

Ich bemühte mich zu lächeln, als wäre das alles nicht besonders wichtig.

»Es ist so ähnlich wie bei Ihnen«, entgegnete ich. »Keine große Sache.«

Er musterte mich immer noch auf eine Weise, die ich leicht irritierend fand.

»Darf ich Sie zum Abendessen einladen?«, fragte er.

»Tut mir Leid, ich …« Einen Moment lang versuchte ich, mir eine Ausrede einfallen zu lassen, aber dann dachte ich mir: wieso eigentlich? »Ich kann leider nicht.«

Ich kam nicht mal in Versuchung. Sein Anzug gefiel mir nicht.

Außerdem wollte ich mir die Sachen ansehen, die Brendan zurückgelassen hatte, als er mich kennen lernte. Die Dinge, die er nicht mehr brauchte. Nachdem wir die beiden Kisten in meinen Wagen geladen hatten, fragte Tom mich nach meiner Telefonnummer. Ich gab sie ihm. Was spielte das noch für eine Rolle? Ich würde sowieso bald eine neue Nummer haben.

Zu Hause leerte ich die Kisten sofort auf meinen Wohnzimmerboden und begann ihren Inhalt zu inspizieren. Auf den ersten Blick sah er recht vielversprechend aus, aber als ich die Sachen näher in Augenschein nahm, entpuppten sie sich schnell als nichts sagend und enttäuschend. Das meiste war wirklich Krimskrams, wie er neben dem Bett jeder beliebigen Person hätte liegen können, sodass ich nicht verstand, wieso Tom die Sachen nicht weggeworfen hatte: ein paar vergilbte Zeitungen, ein Urlaubskatalog für Griechenland, ein paar Taschenbücher, ein einzelner brauner Schnürsenkel, eine Straßenkarte von London, eine Uhr mit Plastikband, ein paar leere Musikkassetten, etliche Briefe: Werbung für Kreditkarten oder besonders günstige Kredite. Die meisten Umschläge waren ungeöffnet. Außerdem fand ich ein paar ausgetrocknete Stifte ohne Kappen, eine Papierschere aus Kunststoff, einen Bierdeckel, einen billigen Taschenrechner, eine kleine Taschenlampe ohne Batterien, jede Menge Büroklammern, eine Plastikflasche mit Augentropfen. Das Ganze war eine Ansammlung banaler Gegenstände. Es schien nichts Persönliches darunter zu sein, nichts, was wirklich mit Brendan zu tun hatte.

Erst ganz zum Schluss entdeckte ich eine handgeschriebene Notiz auf einem linierten Stück Papier, das aussah, als wäre es aus einem Notizbuch herausgerissen worden. Die Notiz war in einer schlampigen, fast kindlich wirkenden Schrift gekritzelt:

»Nan ist im St. Cecilia’s.« Darunter stand eine Adresse in Chelmsford und eine Zimmernummer.

Ich starrte auf das Stück Papier und wünschte, ich hätte es nie gesehen. Hätte jetzt eine Freundin neben mir gesessen – eine Freundin wie Laura –, dann hätte sie mich bestimmt gefragt, was ich da eigentlich machte, und ich hätte wahrscheinlich geantwortet: »Das weiß ich auch nicht so genau.«

Darauf hätte sie sicher gesagt: »Sei doch froh, dass du ihn endlich los bist. Was hast du noch mit ihm zu schaffen?«

Worauf ich vielleicht geantwortet hätte: »Mal angenommen, ich öffne im Zoo versehentlich einen Käfig und lasse ein gefährliches Tier entkommen. Es kratzt und beißt mich, dann ist es weg. Soll ich mich einfach nur freuen, dass ich keinen schlimmeren Schaden davongetragen habe, und mein Leben weiterleben, oder bin ich noch für die Sache verantwortlich?«

Meine Freundin hätte möglicherweise entgegnet: »Du hast ihn nicht auf die Welt losgelassen. Du hattest bloß das Pech, ihm zufällig über den Weg zu laufen. Er hat dir schreckliche Dinge angetan, aber inzwischen ist er wieder aus deinem Leben verschwunden. Willst du wirklich den weiten Weg bis Chelmsford fahren, um aus einem Grund, der dir selbst nicht ganz klar ist, mit jemandem zu reden, den du nicht kennst?«

An diesem Punkt hätte ich wohl lange nachgedacht und dann gesagt: »Ich wünschte, dieser Tom hätte den ganzen Krempel einfach in die Tonne geworfen, dann würde sich die Frage gar nicht stellen. So aber muss ich dauernd an die Leute denken, mit denen ich im vergangenen Jahr auf der Schlittschuhbahn war.

Sie haben gewusst, dass mit Brendan etwas nicht stimmte. Oder hätten es wissen müssen. Sie haben ihn mit mir flirten sehen.

Mit einem oder zwei von ihnen war ich befreundet. Sie hätten mich vor ihm warnen sollen.«

Vielleicht hätte meine Freundin gesagt: »Du machst dir über Leute Gedanken, die du gar nicht kennst, wildfremde Menschen, die du nie zu Gesicht bekommen wirst.«

Und ich hätte geantwortet: »Ja. Blöd, oder?«

Es war, als würde Gott höchstpersönlich versuchen, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Es regnete während der ganzen Fahrt, und ich verpasste die richtige Abzweigung von der A 12, weil ich gerade die Karte auf meinem Schoß studierte. Trotz aller Schwierigkeiten gelang es mir am Ende doch, das St.

Cecilia’s zu finden, ein tristes rechteckiges Gebäude am Ende einer langen Häuserreihe. Ich konnte erst in der nächsten Straße parken, sodass ich völlig durchnässt war, bis ich das Haus erreichte. Das St. Cecilia’s war ein Altersheim. Sobald ich die Schwingtür geöffnet hatte, schlugen mir der Geruch von Reinigungsmitteln und all die anderen Gerüche entgegen, welche diese vergeblich zu überdecken versuchten. Der Empfang war nicht besetzt. Ich blickte mich um. Aus dem Eingangsbereich zweigte ein Gang ab. Eine dicke Frau in einem hellblauen Nylonmantel wischte dort gerade etwas auf. Ich räusperte mich, um sie auf mich aufmerksam zu machen.

»Hallo«, sagte ich, als sie sich zu mir umdrehte. »Gibt es hier im Haus eine Mrs. Block?«

Es war nur ein Versuch. Möglicherweise handelte es sich bei dieser Nan ja um eine Verwandte von Brendan.

»Nein«, antwortete die Frau.

»Ihr Vorname ist Nan.«

»Es gibt hier keine Nan.« Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Ich zog den Brief aus meiner Tasche.

»Sie wohnt in Raum drei. Im Leppard-Flügel.«

Die Frau zuckte mit den Achseln.

»Dann muss es Mrs. Rees sein. Den Gang entlang, die Treppe hinauf, im ersten Stock wieder den Gang entlang, am Fernsehraum vorbei. Es könnte allerdings sein, dass sie beim Fernsehen ist.«

Ich ging nach oben. Im Fernsehraum sahen sich drei alte Frauen und ein alter Mann eine Kochsendung an. Bei ihnen saß noch eine weitere alte Frau, die aber den Kopf zur Seite gedreht hatte.

»Ist eine von Ihnen Mrs. Rees?«, fragte ich.

Sie schauten auf, irritiert über die Störung.

»Sie ist in ihrem Zimmer«, antwortete eine der Frauen.

»Sie geht nicht mehr viel aus.« Offenbar galt ein Aufenthalt im Fernsehraum bei ihnen als Ausgehen.

In Raum drei gab es ein Bett, einen Sessel und einen Tisch in der Ecke, außerdem ein Waschbecken, einen Papierkorb und ein in der rechten oberen Ecke gesprungenes Fenster mit einem schönen Blick auf einen Sportplatz. Mrs. Rees saß mit dem Rücken zur Tür. Ich ging zu ihr. Sie trug einen Morgenmantel.

Ihr Gesicht war dem Licht zugewandt, das von draußen hereinfiel, aber ihr Blick wirkte leer.

»Mrs. Rees?«

Ich stellte mich so hin, dass sie mich sehen konnte, aber sie reagierte nicht. Ich kniete mich neben ihren Sessel und legte eine Hand auf ihren Arm. Sie richtete den Blick auf die Hand, nicht auf mich.

»Ich bin wegen Brendan hier«, erklärte ich. »Brendan Block.

Kennen Sie ihn?«

»Tee«, sagte sie. »Es ist Tee.«

»Nein«, erwiderte ich etwas lauter. »Brendan. Sie wissen schon, Brendan.«

»Es ist Tee«, sagte sie wieder.

»Soll ich Ihnen eine Tasse Tee holen?«, fragte ich.

»Es ist Tee.«

»Mrs. Rees?«

Diesmal antwortete sie nur mit einem Wimmern. Das Ganze war ein Fiasko. Ich wusste nicht mal, ob diese Frau wirklich Mrs. Rees war. Ebenso wenig wusste ich, ob es sich bei Mrs. Rees überhaupt um die Frau handelte, auf die sich die Notiz bezog. Womöglich war sie eine neue Bewohnerin dieses Raums. Ich wusste ja noch nicht mal, ob die Frau, auf die sich die Notiz bezog, wirklich etwas mit Brendan zu tun hatte, und selbst wenn sie etwas mit ihm zu tun hatte, war mir nicht so ganz klar, was ich eigentlich von ihr erfahren wollte. Und falls tatsächlich die richtige Frau vor mir saß, würde sie ganz offensichtlich nicht in der Lage sein, mir irgendetwas zu erzählen. In meiner Verzweiflung stand ich auf und begann im Raum umherzuwandern. Mir fiel auf, dass nichts Scharfkantiges oder Zerbrechliches herumstand, sogar das Geschirr bestand aus Plastik. Über dem Tisch entdeckte ich zwei Fotos, die mit Klebeband an der Wand befestigt waren. Das eine schien ziemlich alt zu sein und zeigte einen schnurrbärtigen Mann in Uniform. Er hatte seine Kappe keck aufgesetzt und lächelte spitzbübisch. Wahrscheinlich ihr Ehemann. Auf dem zweiten Foto war eine Frau zu sehen, die zwei Kinder an der Hand hielt.

Ich nahm es genauer in Augenschein. Es handelte sich um die Frau im Sessel. Auf dem Foto wirkte sie etliche Jahre jünger, ihr Haar war zwar bereits grau, aber längst noch nicht so weiß wie jetzt. Der etwa zehnjährige Junge im schicken Schulblazer, der neben ihr in die Kamera grinste, war unverkennbar Brendan. Ich nahm das Foto von der Wand und hielt es der Frau hin.

»Mrs. Rees«, sagte ich und deutete auf das Foto. »Das ist Brendan.«

Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die Aufnahme.

»Das ist Simon«, sagte sie.

»Simon?«

»Simon und Susan.«

Als ich ihr weitere Fragen zu stellen versuchte, begann sie erneut über Tee zu sprechen. Frustriert machte ich mich daran, das Foto wieder an die Wand zu kleben, aber es hielt nicht mehr, sodass ich es einfach an die Wand lehnte. Dann schlich ich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und kehrte eilig nach unten zurück. Die Frau, die vorhin den Gang geputzt hatte, war verschwunden. Ich entdeckte sie in einem Raum hinter dem Empfang, wo sie gerade kochendes Wasser aus einem Kessel in eine große Tasse schüttete.

»Ich habe Mrs. Rees gefunden«, erklärte ich.

»Ja?«

»Ich muss mit ihrer Tochter Susan sprechen.«

»Mit ihrer Enkelin, meinen Sie.«

»Ja, natürlich. Ich habe etwas Wichtiges für sie. Könnten Sie mir ihre Adresse geben?«

Die Frau starrte mich mit halb geöffnetem Mund an. Ich war nicht sicher, ob sie mich verstanden hatte, aber sie begann bereits mit ihren rissigen Fingern einen Karteikasten durchzugehen.

33. KAPITEL

Susan Lyle wohnte am Ostrand der Stadt, in der Nähe eines Friedhofs. Die Adresse lautete 33 Primrose Crescent. Nummer 33 gehörte zu einer Reihe von beigen und grauen Häusern. Die Vorhänge waren zugezogen, die rote Farbe der Haustür blätterte ab, und als ich läutete, ertönte eine kurze, ziemlich falsch klingende Melodie aus »How Much is that Doggie in the Window?«.

Ich hatte nicht lange darüber nachgedacht, was ich da eigentlich tat, und außerdem angenommen, dass Susan Lyle ohnehin nicht zu Hause sein würde, sodass es mich ziemlich überraschte, als schon nach wenigen Sekunden die Tür aufging und eine Frau vor mir stand, die den ganzen Eingang ausfüllte.

Einen Moment lang war ich völlig geschockt über so viel Masse.

Sie trug blaue Leggings, in denen ihr riesiger Bauch ausgesprochen unförmig aussah, und dazu ein weißes T-Shirt, auf dem in kühnem Pink die Aufschrift prangte: »Do Not Touch!« Das Shirt spannte über ihrer üppigen Brust. Ihr Hals war dick, ihr Kinn legte sich in Falten, an ihren Handrücken bildete das Fett Grübchen. Ich spürte, wie ich rot wurde, und empfand dabei fast so etwas wie Scham. Krampfhaft bemüht, nirgendwo anders hinzusehen als in ihre Augen, die in ihrem breiten weißen Gesicht viel zu klein wirkten, versuchte ich mich auf den Menschen unter dem Berg aus Fett zu konzentrieren.

Auf dem Foto ihrer Großmutter hatte sie mager und x-beinig ausgesehen. Was war ihr im Leben widerfahren, dass sie sich so entwickelt hatte?

»Ja?«

»Susan Lyle?«

»Ja.«

Im Hintergrund heulte ein Kind.

»Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie einfach so überfalle.

Könnte ich vielleicht kurz mit Ihnen reden?«

»Worum geht es? Sind Sie von der Stadt? Das Jugendamt hat sich die Wohnung doch schon angesehen.«

»Nein, nein, ich bin nicht von der Stadt, nichts dergleichen.

Ich bin … mein Name ist Miranda, und ich kenne Ihren Bruder.«

»Simon?« Sie runzelte die Stirn. »Sie kennen Simon?«

»Ja. Vielleicht könnte ich für einen Moment …«

Ich trat einen kleinen Schritt vor, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. In das Geheule, das im Hintergrund zu hören war, mischte sich eine zweite, schrillere Stimme.

»Sie kommen wohl doch besser herein, bevor sie sich gegenseitig umbringen«, sagte sie schließlich, und ich folgte ihr in die Diele, wo die Heizung auf Hochtouren lief, obwohl es draußen ziemlich mild war.

Im Wohnzimmer herrschte Dämmerlicht, weil die Vorhänge zugezogen waren, sodass ich eine Weile brauchte, bis ich sämtliche Kinder in dem stickigen, voll gestopften Raum lokalisiert hatte. Im Laufstall saß ganz friedlich ein Baby mit einem Schnuller im Mund, umgeben von einem Berg von Plüschtieren. Die Quelle des Geheuls war ein in einem Hochstuhl festgeschnallter kleiner Junge. Sein Lätzchen war mit etwas Pflaumenfarbenem verschmiert, und auf dem Boden lag eine umgekippte Schüssel. Auf dem Sofa saß ein kleines Mädchen. Sie hielt einen Lutscher umklammert und starrte auf den Fernsehschirm, wo eine Spielshow ohne Ton lief. Als ich einen Blick in die Babytragetasche warf, die auf dem Boden stand, entdeckte ich darin ein weiteres Baby, das trotz des Lärms fest schlief. Es hatte die Hände vor sich ausgestreckt, als würde es sich an einem unsichtbaren Gegenstand festhalten, und seine Augenlider zuckten. Wovon Babys wohl träumten?

»So viele Kinder«, sagte ich munter. Aus einem künstlichen Kamin mit Schutzgitter strömte extrem heiße Luft, und ein Geruch nach Windeln und Raumspray stieg mir in die Nase.

Schlagartig empfand ich ein Gefühl von Beklemmung, als könnte ich nicht mehr richtig durchatmen. »Sind das alle Ihre?«

Sobald ich die Frage ausgesprochen hatte, wurde mir klar, wie dumm sie war, weil das schon rein mathematisch gar nicht sein konnte.

»Nein«, antwortete sie und starrte mich mit milder Verachtung an. »Bloß das eine.« Dann fügte sie voller Stolz hinzu: »Dreimal die Woche kommen nachmittags nach der Schule noch drei größere. Damit verdiene ich recht gut. Ich bin bei der Stadt als Tagesmutter gemeldet.«

Zärtlich befreite sie den schreienden kleinen Jungen aus dem Hochstuhl und wischte ihm mit einer Ecke des Lätzchens über den Mund. »Jetzt aber still«, sagte sie. »Schhh!«

Sofort verstummte er, und sein immer noch verschmierter Mund verzog sich zu einem Lächeln, während er mit einer Hand in ihr dichtes dunkles Haar griff.

Nachdem sie den Kleinen auf ihrer ausladenden Hüfte platziert hatte, wo er sich an sie klammerte wie ein kleiner Koalabär, wandte sie sich wieder an mich: »Was ist nun mit Simon?«

Ich hatte mir nicht überlegt, wie ich anfangen sollte, deswegen kam meine erste Frage viel zu abrupt:

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Sind Sie von der Polizei?«

»Nein.«

»Sozialarbeiterin?«

»Nein, ich bin bloß …«

»Was gibt Ihnen dann das Recht, einfach so in mein Haus zu platzen, die Nase zu rümpfen, als würde es hier schlecht riechen, und mir solche Fragen zu stellen?«

»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht … Ich mache mir nur Sorgen und wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie mir helfen könnten.«

»Hat er Sie sitzen lassen?«

»Was?« Einen schrecklichen Moment lang dachte ich, Brendan wäre mir sogar bei seiner Schwester zuvorgekommen und hätte ihr bereits seine Version der Geschichte erzählt.

»Warum würden Sie sonst zu mir gerannt kommen und mich um Hilfe bitten?« Sie ließ sich mit dem Jungen auf das Sofa sinken. Sofort kletterte das kleine Mädchen ebenfalls auf ihren Schoß und drückte ihr klebriges Gesicht in die Falten von Susans Hals, was diese aber gar nicht zu bemerken schien. Ohne die Kleine eines Blickes zu würdigen, griff sie nach der Fernbedienung und zappte ein paar Programme durch, ehe sie erklärte: »Ich habe ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.

Wir gehen getrennte Wege. Er hat sein eigenes Leben, und ich habe meines. Warum? Wieso interessiert Sie das?«

»Wie gesagt, ich bin eine Bekannte von Simon. Ich kenne ihn nun schon fast ein Jahr.« Ich ließ mich auf der Kante des Sofas nieder. »Ich fürchte, es geht ihm nicht besonders gut.«

»Sind Sie Ärztin?« Sie wischte den Lutscher beiseite, der ihr von dem kleinen Mädchen vor die Nase gehalten wurde, als würde sie nach einer lästigen Fliege schlagen.

»Nein.«

»Wenn er krank ist, soll er zum Arzt gehen. Was erwarten Sie von mir? Er ist schließlich erwachsen.«

»So habe ich es nicht gemeint. Ich wollte damit sagen … nun ja, er hat sich in letzter Zeit ziemlich seltsam verhalten und …«

»Oh, ich verstehe. Sie glauben, er ist krank im Kopf, habe ich Recht? Hmm?« Sie klang plötzlich genau wie Brendan.

»Ich bin nicht sicher. Deswegen wollte ich ja mit Ihnen sprechen.«

»Das können Sie sich sparen. Mit Si ist alles in Ordnung.«

Sie stand so plötzlich auf, dass die Kinder, die auf das weiche Sofa plumpsten, überrascht nach Luft schnappten. Für eine so dicke Frau war sie erstaunlich agil. »Für wen halten Sie sich eigentlich?«

»Ich wollte nicht …«

»Verschwinden Sie!«

»Ich wollte bloß helfen«, log ich.

Ihre Wut schien schlagartig verflogen. »Ich könnte eine Kippe gebrauchen«, erklärte sie, während sie eine Videokassette vom Couchtisch nahm und in den Recorder unter dem Fernseher schob. Zeichentrickfiguren begannen über den Bildschirm zu hasten. Nachdem sie den Ton wieder laut gedreht hatte, holte sie eine Keksdose aus dem Regal und fischte drei Schokobonbons heraus, die sie in drei gierige Hände drückte.

Ich folgte ihr in die Küche, wo sie sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl plumpsen ließ, sich ein großes Glas Limonade einschenkte und eine Zigarette anzündete.

»Ist er in Schwierigkeiten?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich vorsichtig. Je vager und zweideutiger ich blieb, desto weniger brauchte ich sie anzulügen. »Mir geht es eher darum, eventuellen Schwierigkeiten vorzubeugen, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Deswegen bin ich auf die Idee gekommen, Sie aufzusuchen und mal mit jemandem zu reden, der ihn schon kannte, bevor er ins Heim musste.«

»Was?«

»Ich dachte …«

»Ins Heim?« Ihr Lachen klang wie ein hohes, heiseres.

Keuchen. »Woher haben Sie denn diesen Unsinn?«

»Das heißt, er musste nie von zu Hause weg?«

»Nein, wieso auch? Wir hatten doch immer jemanden, der sich um uns kümmerte, erst unsere Mum und dann unsere Nan. Wir waren nie im Heim. Sie sollten aufpassen, was Sie sagen.«

»Ich muss das irgendwie falsch verstanden haben«, erklärte ich in beschwichtigendem Ton.

Sie zog an ihrer Zigarette und blies dann eine blaue Rauchwolke in die Luft.

»Si war kein schlechter Junge«, sagte sie.

»Auf welche Schule ist er gegangen?«

»Overton«, antwortete sie. »Wieso wollen Sie das wissen? Er war im Unterricht immer gut, er hat es bloß gehasst, wenn ihm jemand befahl, was er zu tun hatte, oder ihn kritisierte. Er hätte keine Probleme gehabt, wenn sie ihn nicht …« Sie hielt inne.

»Was?«

»Egal.«

»Haben sie ihn bestraft?«

»Es wird nicht gern gesehen, wenn Jungen wie er zu gescheit sind.«

»Er wurde von der Schule verwiesen?«

Sie drückte die Zigarette aus, kippte den Rest ihrer Limonade hinunter und stand auf. »Ich sehe lieber mal nach, was meine Kleinen da drin treiben.«

Ich starrte sie an. »Was ist dann passiert, Susan?«

»Sie finden bestimmt selbst hinaus.«

»Susan, bitte! Was hat er gemacht, nachdem er von der Schule verwiesen wurde?«

»Wer sind Sie überhaupt?«

»Das habe ich Ihnen doch gesagt. Eine Bekannte von Brendan.«

»Brendan? Brendan? Was soll das?«

»Simon, meine ich natürlich.«

»Ich habe die Nase voll von Leuten, die ihre Nase in unsere Angelegenheiten stecken. Leben und leben lassen, das ist meine Devise. Außerdem glaube ich Ihnen sowieso nicht, dass Sie Si helfen wollen. Sie wollen bloß spionieren!«

Der feindselige Ton, mit dem sie das Wort aussprach, erinnerte mich erneut an Brendan. Er mochte seine Vergangenheit hinter sich gelassen, einen anderen Namen angenommen und sich von Grund auf neu definiert haben, aber irgendwie war er trotzdem mit all seinen Wurzeln verbunden geblieben.

»Verlassen Sie mein Haus«, sagte sie. »Und zwar schnell.

Ziehen Sie Leine, bevor ich die Polizei rufe.«

Also ging ich – hinaus in die frische Luft, wo sich der Himmel nach einem schweren Regenguss gerade wieder aufzuhellen begann. Das bedrohliche Dunkelgrau löste sich in einzelne Wolken auf, und am Horizont konnte man bereits einen Streifen Blau sehen. Ich trank einen Schluck Wasser und schob mir ein Pfefferminzbonbon in den Mund, dann ließ ich den Wagen an.

Ich fuhr dieselben Straßen zurück, die ich gekommen war, aber nach ein paar Minuten hielt ich wieder an. Brendan ließ nie etwas auf sich beruhen, dachte ich grimmig. Nie.

Ich öffnete das Fenster, und als eine Frau vorbeiging, beugte ich mich hinaus und fragte: »Endschuldigen Sie, könnten Sie mir vielleicht sagen, wo die Overton High School ist?«

Anscheinend hatten einige Klassen gerade Schulschluss. Die meisten Kinder, die aus dem Gebäude strömten, waren mit schweren Rucksäcken beladen, ein Teil trug zusätzlich Musikinstrumente oder Sportbeutel. Ich blieb im Wagen sitzen und beobachtete sie eine Weile. Eigentlich wusste ich selbst nicht so recht, was ich hier eigentlich wollte. Dann stieg ich aus und schlenderte zu zwei Frauen hinüber, die sich neben ihren Autos unterhielten.

»Darf ich Sie kurz stören?«, fragte ich.

Sie sahen mich erwartungsvoll an.

»Ich ziehe demnächst in diese Gegend«, erklärte ich. »Und meine Kinder – nun ja, ich wollte Sie fragen, ob Sie diese Schule empfehlen können.«

Eine der beiden zuckte mit den Achseln. »Sie ist ganz in Ordnung«, meinte sie.

»Ist das Unterrichtsniveau gut?«

»Normal, würde ich sagen. Nicht schlecht, aber auch nicht spektakulär. Deine Ellie kommt recht gut klar, oder?«, wandte sie sich an die andere Frau.

»Gibt es viele schwarze Schafe, die die anderen schikanieren?«

»Die gibt es an jeder Schule.«

»Oh«, antwortete ich lahm. Dann fügte ich hinzu:

»Ein Freund von mir ist hier zur Schule gegangen. Lassen Sie mich überlegen … das muss zwölf oder dreizehn Jahre her sein.

Er hat mal was von irgendeinem Zwischenfall erwähnt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich weiß nicht mehr genau, worum es dabei ging. Nur, dass er von einem Vorfall erzählt hat …«

»Keine Ahnung«, sagte eine der beiden Frauen. »Irgendwelche Vorfälle gibt es doch immer.«

»Er hat bestimmt das Feuer gemeint«, mischte sich die andere ein. »Das war natürlich vor unserer Zeit, aber die Leute reden immer noch darüber.«

Ich wandte mich zu ihr um. »Feuer?« Meine Haut begann zu kribbeln.

»Es hat hier mal gebrannt«, erklärte sie. »Man kann es heute noch sehen. Ein ganzes Klassenzimmer ist völlig zerstört worden, außerdem der halbe Computerbereich.«

Sie deutete zu einem flachen Ziegelbau auf der anderen Seite des Hofs, der neuer aussah als der Rest der Schule.

»Du meine Güte«, sagte ich. Mir wurde erst heiß, dann kalt.

»Wie ist das passiert?«

»Das wurde nie so ganz geklärt. Wahrscheinlich zündelnde Kinder. Schrecklich, was ihnen heutzutage so alles einfällt. Da kommt ja Ellie.« Sie winkte einem hoch aufgeschossenen Mädchen mit Zöpfen, das auf uns zusteuerte.

»Der Schuldige wurde also nicht gefasst?«

Aber sie waren schon am Einsteigen. »Einen guten Umzug!«, rief mir die eine noch zu. »Vielleicht sehen wir uns ja bald wieder, falls Sie sich für die Schule entscheiden.«

Ich setzte mich wieder in meinen Lieferwagen und schob mir ein weiteres Pfefferminzbonbon in den Mund. Nachdenklich lutschte ich daran herum, bis es in zwei Hälften zerbrach und sich schließlich ganz auflöste. Dann ließ ich den Wagen an, blieb aber bei laufendem Motor noch eine Weile sitzen und starrte zu dem neuen Klassenzimmer hinüber. Vor meinem geistigen Auge sah ich orangefarbene Flammen emporlodern.

Simon Rees’ Rache. Ich schauderte trotz der Wärme. Es war wie ein Zeichen, das ich inzwischen genau verstand. Als hätte er ein Graffiti an die Wand gesprüht: Brendan war hier.

34. KAPITEL

Don war in vielerlei Hinsicht sein eigener schlimmster Feind. Er rauchte zu viel, schlief unregelmäßig und wirkte zerstreut. Ich gelangte zwar immer mehr zu der Überzeugung, dass Letzteres oft täuschte, aber manchmal stimmte es tatsächlich. Als ich gerade den Boden versiegelte, kam er mit zwei Tassen herein, und ich konnte gerade noch verhindern, dass er größeren Schaden anrichtete. Ich folgte ihm auf den Gang hinaus, wo er mir eine Tasse reichte und laut darüber nachzudenken begann, was in seiner Wohnung noch alles getan werden müsste. Ob ich nicht auch fände, dass die Fensterstöcke schon ein wenig ramponiert aussähen. (Ja, das fand ich auch.) Und ob man gegen die Risse in der Wohnzimmertür etwas tun könne. (Ja, wenn Geld kein Thema war.) Ich atmete den Duft des starken schwarzen Kaffees ein, um den harzigen Geruch des Bodenlacks aus der Nase zu bekommen.

»Was Sie da gerade machen, ist ziemlich gefährlich«, erklärte ich. »Auf diese Weise können die Kosten in Schwindel erregende Höhen schießen.«

»Ja, das habe ich auch schon gehört«, antwortete Don.

»Das Problem ist, dass einem viele Ideen erst kommen, wenn die Arbeit bereits im Gange ist. Geht Ihnen das nicht auch so?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Da könnte man endlos weitermachen«, entgegnete ich.

»Es lässt sich immer etwas zum Reparieren oder Renovieren finden. Ich schätze es, wenn ein Auftrag abgeschlossen ist.«

»Sie wollen nicht mehr Arbeit?«

»Komisch, dass Sie das sagen«, antwortete ich. »Ich habe nämlich das Gefühl, dass ich hier nicht die Einzige bin, die arbeiten sollte. Was ist mit Ihnen?«

Dons Blick wirkte plötzlich listig.

»Was das betrifft, habe ich ein kleines Problem«, sagte er.

»Ich leide nämlich am Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.«

»Ist das eine richtige Krankheit?«

»Eher eine Ausrede mit einem langen Namen. Heute ist der Tag, an dem ich zu Hause arbeite.«

»Zählt das als Arbeit?«

»Ich brauche zwischendrin einen gewissen Leerlauf. Zum Nachdenken, Schreiben und Planen.«

»Was machen Sie die restliche Zeit?«

»Ein bisschen Unterrichten, Termine mit Patienten, allen möglichen anderen Kram.«

»Dafür sehen Sie eigentlich noch zu jung aus«, stellte ich fest.

»Sie meinen, zu unreif?«

»Nehmen Sie es als Kompliment«, erwiderte ich. »Ich wollte damit bloß sagen, dass ich beeindruckt bin.«

»Ich finde es viel beeindruckender, wenn man so was kann wie Sie.«

»Das ist nur halb so toll, wie Sie glauben. Erinnern Sie sich übrigens an den Typen, von dem ich Ihnen erzählt habe, diesen Brendan?«

»Ja.«

»Ich habe seine Schwester aufgespürt. Sie lebt in einer Sozialwohnung in Chelmsford.«

»Sie waren bei ihr?«

»Ja.«

»Warum?«

Da mir darauf keine kurze Antwort einfiel, berichtete ich ihm genau, was ich getan hatte, ebenso, dass Brendan in Wirklichkeit Simon hieß und was er an seiner Schule geliefert hatte.

»Ist das nicht beängstigend?«, schloss ich.

»Haben Sie denn Angst?«

»Ich?« Ich schüttelte den Kopf. »Es geht dabei nicht mehr um mich. Beim nächsten Mal wird es andere treffen. Oder sehen Sie das nicht so?«

»Schwer zu sagen.«

»Sie haben selbst gemeint, dass er gefährlich klingt. Alles deutet darauf hin.«

»Möglich.«

»Er hat seine Schule angezündet. Würden Sie das nicht als Symptom einer geistigen Störung werten?«

»Sie haben mir keine Einzelheiten erzählt. Wurde er wegen der Brandstiftung bestraft? War er danach irgendwie in Behandlung?«

Ich holte tief Luft.

»Das Ganze konnte ihm nie nachgewiesen werden.«

»Hat das seine Schwester gesagt?«

»Nicht explizit, aber zwischen den Zeilen war es deutlich herauszulesen. Sehen Sie denn nicht, dass hier ein klares Muster vorliegt? Alles passt genau ins Bild. Es stimmt doch, dass Brandstiftung im Kindesalter zu den frühen Anzeichen für späteres psychopathisches Verhalten gehört, oder etwa nicht?«

Ich hatte inzwischen meinen Kaffee ausgetrunken, und Don nahm mir sanft die Tasse aus der Hand.

»Diese Unterhaltung läuft ganz und gar nicht so, wie ich das geplant hatte«, bemerkte er.

»Wie meinen Sie das?«

»Eigentlich hatte ich auf eine Gelegenheit gehofft, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich freue, dass Sie hier für mich arbeiten, und wie nett ich es fände, wenn wir mal zusammen auf einen Drink gehen könnten. Ich hatte vorgehabt, gleich hinzuzufügen, dass Sie bestimmt dauernd solche lästigen Angebote bekommen.

Und dann hätte ich mich wahrscheinlich noch entschuldigt, weil es für eine Frau wie Sie bestimmt unmöglich ist, in Ruhe ihre Arbeit zu machen, ohne ständig von Leuten wie mir belästigt zu werden.«

Ich konnte mir ein Lächeln über seine Worte nicht verkneifen.

»Und stattdessen rede ich schon wieder von nichts anderem als diesem Psychopathen.«

»Genau«, antwortete Don. »Hoffentlich habe ich Sie jetzt nicht gekränkt.«

»Ich bin nicht so leicht zu kränken.«

Don sah mich einen Moment an, als versuchte er herauszufinden, ob das der Wahrheit entsprach.

»Sie machen mir ein bisschen Sorgen. Irgendwie scheinen Sie meine Warnungen vom letzten Mal nicht ganz ernst genommen zu haben.«

»Warum macht Ihnen das Sorgen?«

»Sie hätten nicht zu diesen beiden Frauen fahren sollen.«

»Sie glauben, ich habe mich dadurch in Gefahr gebracht?«

Er nahm einen Schluck Kaffee und verzog dann angewidert das Gesicht.

»Kalt«, stellte er fest. »Sie sollten da ein bisschen vorsichtig sein. Es ist meist keine so gute Idee, sich zu sehr in das Leben anderer Menschen einzumischen.«

»Ich hab Ihnen ja gesagt«, erwiderte ich in etwas heftigerem Ton, »dass Brendan gefährlich ist. Oder sind Sie anderer Meinung?«

»Manche meiner Kollegen erstellen für Sozialarbeiter Gutachten über gefährdete Kinder. Hin und wieder kommt so ein Kind ums Leben, und dann wird den Sozialarbeitern, den Psychiatern und der Polizei vorgeworfen, sie hätten von der Gefährdung des Kindes gewusst und trotzdem nichts unternommen. Was die Presse in einem solchen Fall nicht erwähnt, sind die unzähligen anderen Kinder, die ebenfalls in dieser Grauzone von Armut, Schutzlosigkeit, Gefährdung und Hoffnungslosigkeit leben. Trotzdem überstehen es die meisten von ihnen mehr oder weniger unbeschadet. Es gibt keine magische Checkliste, Miranda. Sie glauben gar nicht, wie viele von den Leuten, mit denen ich zu tun habe, auf der Kippe stehen. Bei den meisten kann man alle Kästchen ankreuzen. Sie sind als Kinder schikaniert, geschlagen und sexuell missbraucht worden. Und ja, viele von ihnen haben wahrscheinlich auch Brände gelegt. Egal, was die Experten in ihren Profilen schreiben, das macht einen trotzdem noch nicht automatisch zu Jack the Ripper. Das Wichtigste ist doch, dass dieser Typ aus Ihrem Leben verschwunden ist und Sie sich seinetwegen keine Gedanken mehr zu machen brauchen.«

»Mal angenommen, Sie hätten einen Wagen verkauft und bekämen im Nachhinein eine Mitteilung, dass es lebensgefährlich sei, damit zu fahren, weil die Bremsen nicht mehr richtig funktionierten – würden Sie das Ganze einfach vergessen, Don? Würden Sie sich deswegen keine Gedanken machen?«

Don wirkte irritiert.

»Ich weiß nicht, Miranda. Ich muss sagen, dass ich Sie dafür bewundere. Sie verhalten sich in diesem Fall wie eine barmherzige Samariterin. Noch dazu für jemanden, den Sie gar nicht kennen. Zwei Punkte wären mir trotzdem noch wichtig: Erstens: Man kann Menschen nicht mit Autos vergleichen. Und zweitens: Was genau wollen Sie eigentlich unternehmen?«

»Ganz einfach«, sagte ich. »Ich möchte herausfinden, ob er inzwischen eine neue Freundin hat. Falls ja, dann ist sie in Gefahr, und ich muss sie warnen.«

»Sie wird Ihnen dafür nicht unbedingt dankbar sein«, gab Don zu bedenken. »Eine solche Geste könnte falsch verstanden werden.«

»Das macht nichts«, antwortete ich. »Ich bin hart im Nehmen.«

»Und Sie könnten sich dadurch in Gefahr bringen.«

Als er das sagte, lief ein Schaudern durch meinen Körper, aber nicht vor Angst, eher vor Aufregung. Ich hatte das seltsame Gefühl, aus meinem alten Leben und allem, was mich lähmte, herauszutreten.

»Das spielt keine Rolle«, entgegnete ich.

»Werden Sie auf sich aufpassen?«

»Ja«, antwortete ich, meinte damit aber nein. Ich würde nicht auf mich aufpassen, mich von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Ich wollte Brendan finden, ohne dass er mitbekam, dass ich ihn gefunden hatte. Das war schwieriger, als ich dachte. Ich rief eine alte Freundin von Laura an, die ich auf der Beerdigung gesehen hatte. Ich vermutete, dass sie mit ihm in Kontakt war. Als ich meinen Namen nannte, klang sie plötzlich ziemlich verlegen und reserviert. Anscheinend hatte sie irgendwelche Geschichten über Brendan, Laura und mich gehört. Einen Moment lang fragte ich mich, ob die Leute wohl Mitleid mit mir hatten. Glaubten sie vielleicht, dass ich auf irgendeine Weise für alles verantwortlich war? Ich schob den Gedanken schnell wieder beiseite. Nachdem ich ihr erklärt hatte, dass ich mich mit Brendan in Verbindung setzen wolle, erkundigte ich mich, ob er noch unter Lauras Nummer zu erreichen sei. Sie wusste es nicht, riet mir aber, bei Lauras Eltern nachzufragen.

Ich tat, wie mir geheißen, und bekam Lauras Mutter an die Strippe. Sie klang müde und sprach sehr langsam, als hätte ich sie mitten am Tag aus dem Bett geholt. Wahrscheinlich nahm sie irgendwelche Medikamente. Wie meine Mutter. Ich nannte meinen Namen und sagte ihr, dass ich eine alte Freundin von Laura sei.

»Ja«, antwortete sie. »Ich glaube, Laura hat mal Ihren Namen erwähnt.«

»Ich war auf der Beerdigung. Es tut mir so Leid. Eine schreckliche Sache.«

»Danke.« Sie sagte das, als hätte ich ihr ein Kompliment gemacht.

»Ich würde mich gern mit Brendan in Verbindung setzen«, fuhr ich fort, »und dachte mir, Sie könnten mir vielleicht sagen, wo er zurzeit erreichbar ist.«

»Nein, tut mir Leid«, antwortete sie.

»Er wohnt nicht mehr in Lauras Wohnung?«

»Nein«, antwortete sie. »Die Wohnung steht zum Verkauf.«

»Ich möchte Ihnen wirklich nicht auf die Nerven fallen, aber könnten Sie mir vielleicht seine Adresse geben?«

»Wir haben schon eine ganze Weile keinen Kontakt mehr mit ihm. Er hat gemeint, er brauche Abstand.«

Ich fand es unglaublich, dass Brendan seinen Schwiegereltern keine Adresse hinterlassen hatte. Was würde mit Lauras Vermögen passieren? Würde er die Hälfte bekommen? Oder alles? Aber das waren keine Fragen, die ich Lauras trauernder Mutter stellen konnte. Nun fiel mir nur noch eine Möglichkeit ein, und zwar eine, bei der ich von vornherein ein ungutes Gefühl hatte. Ich rief Detective Inspector Rob Pryor an, und er klang in der Tat alles andere als erfreut, von mir zu hören.

»Keine Angst«, sagte ich. »Ich habe bloß eine ganz einfache Frage. Sie sind doch inzwischen mit Brendan befreundet. Ich muss mich mit ihm in Verbindung setzen. Können Sie mir sagen, wo er sich im Moment aufhält?«

»Warum?«

»Was meinen Sie mit ›warum‹? Ist das wichtig?«

»Immerhin haben Sie mich mal aufgefordert, gegen ihn zu ermitteln, und zwar wegen – was war es noch mal? – Mord?

Warum wollen Sie ihn sprechen?«

»Was sind Sie? Seine Empfangsdame? Ich brauche lediglich seine Adresse.« Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. »Na schön«, fügte ich hinzu. »Ich habe ein paar Sachen für ihn. Er hat sie in einer Wohnung zurückgelassen, in der er mal kurz gelebt hat.«

»In Ihrer Wohnung?«

»Nein, in einer anderen.«

»Wie sind Sie dann an die Sachen gekommen?«

»Warum interessiert Sie das?«, fragte ich. »Was geht Sie, das überhaupt an?«

»Ich weiß nicht, was mit Ihnen los ist, Miranda, aber ich finde, Sie sollten endlich mit diesem Unsinn aufhören.«

»Ich möchte bloß seine Adresse.«

»Tja, von mir bekommen Sie sie jedenfalls nicht.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich werde ihm sagen, dass Sie angerufen haben.«

»Danke.«

»Aber rufen Sie mich nicht mehr an.«

Ich legte auf. Das war nicht besonders gut gelaufen.

35. KAPITEL

Warum klingeln Telefone eigentlich immer, wenn man gerade in der Wanne liegt? Ich beschloss, nicht ranzugehen, aber es läutete derart hartnäckig weiter, dass ich mich schließlich doch in ein Handtuch wickelte und ins Wohnzimmer hastete. Als ich die Hand nach dem Hörer ausstreckte, hörte es zu läuten auf.

Fluchend kehrte ich ins Bad zurück. Kaum hatte ich mich wieder in das wohlig warme Wasser gleiten lassen, begann das Telefon erneut zu klingeln. Diesmal war ich schneller.

»Hallo?«

In der kurzen Pause, die nun folgte, wusste ich mit einem Mal ganz genau, wer am anderen Ende der Leitung war. Ich verzog das Gesicht und wickelte mich noch fester in mein Handtuch.

»Mirrie?«

Allein schon der Klang seiner Stimme, die Art, wie er dieses Wort aussprach, verursachte mir wieder das vertraute Gefühl von Ekel und Beklemmung. Es war, als wäre die Luft im Raum plötzlich stickig und schmutzig, sodass ich kaum noch atmen konnte. Innerhalb von Sekunden trat mir der Schweiß auf die Stirn. Ich wischte ihn mit einem Zipfel meines Handtuchs weg.

»Ja.«

»Ich bin’s.«

»Was willst du?«

»Was ich will?«

»Hör zu …«

»Es geht doch wohl eher um das, was du willst.«

»Nein, ich …«

»Beziehungsweise, was du für mich hast.«

Ich umklammerte den Hörer und schwieg.

»Rob hat mich gerade angerufen«, fuhr er fort. »Wie ich höre, suchst du nach mir.«

Aus meiner Kehle drang eine Art Stöhnen.

»Du willst mich sehen.«

»Nein.«

»Rob hat gesagt, du willst mir etwas geben. Etwas, das ich irgendwo zurückgelassen habe. Ich frage mich, was das sein könnte.«

»Nichts Wichtiges.«

»Es muss wichtig sein, wenn du dir deswegen solche Umstände machst, Hmm, Mirrie?«

»Ein Buch«, stammelte ich lahm.

»Ein Buch? Was für ein Buch denn?« Als ich ihm keine Antwort gab, fuhr er fort: »Könnte es vielleicht sein, dass das Buch nur ein Vorwand ist? Du kannst einfach nicht loslassen, stimmt’s?«

Einen Moment verschwamm alles vor meinen Augen.

»Hör mit dem Scheiß auf«, sagte ich dann. »Ich bin’s, Miranda. Sonst kann uns niemand hören. Du weißt, was ich über dich weiß. Du weißt es, und ich weiß, dass du es weißt, und jeden Tag denke ich daran, was du Troy und Laura und Kerry angetan hast, und wenn du glaubst …«

»Schhh!«, sagte er in beschwichtigendem Ton. »Du brauchst Hilfe. Rob ist auch dieser Meinung. Er macht sich deinetwegen große Sorgen. Seiner Meinung nach gibt es einen Namen für das, was du hast. Für dein Syndrom.«

»Syndrom?

Syndrom?

Ich möchte dir bloß dieses

gottverdammte Buch schicken.«

»Das Buch. Natürlich. Das Buch, an dessen Titel du dich nicht erinnern kannst.«

»Du gibst mir jetzt deine Adresse, und dann will ich nie wieder was von dir hören!«

»Das glaube ich nicht.« Ich wusste genau, wie er jetzt lächelte.

»Lieber Himmel!« Am liebsten hätte ich vor Wut laut aufgeheult. »Hör zu …«

Aber die Leitung war bereits tot, Brendan hatte aufgelegt. Ich starrte einen Moment lang benommen auf den Hörer in meiner Hand, dann knallte ich ihn entnervt auf das Basisteil.

Ich kehrte in das lauwarme Wasser zurück, ließ heißes nachlaufen, hielt mir die Nase zu und tauchte unter. Ich hatte das Gefühl, vor Wut gleich zu platzen.

Als ich wieder auftauchte, um Luft zu holen, kam mir plötzlich ein Gedanke, der mich aus dem Bad springen und nackt zum Telefon laufen ließ. Ich wählte die 1471 und wartete, bis die Computerstimme mir die Nummer des Anrufers nannte. Ich hatte vergessen, einen Stift bereitzuhalten, sodass ich mir die Zahlen merken musste. Um sie ja nicht zu vergessen, sang ich sie immer wieder vor mich hin, während ich in meinen Schubladen nach Stift und Papier wühlte, und notierte sie schließlich auf eine einzelne Spielkarte, die mir in die Finger kam. Dann wählte ich nochmals die 1471, nur um sicherzugehen.

Es war eine 7852er Nummer. Wo war das? Irgendwo in Süd-London vielleicht. Auf jeden Fall handelte es sich um einen Stadtteil, in dem ich selten anrief, so viel stand fest. Ich zog den Stöpsel aus der Wanne und zog mir was an. Dann begann ich mein Adressbuch nach den besagten vier Zahlen durchzusehen.

Ich hoffte, auf diese Weise herauszufinden, in welchem Teil von London Brendan sich mittlerweile aufhielt, kam aber bald zu dem Schluss, dass es eine bessere Methode geben musste. Ich holte das Telefonbuch und fuhr mit dem Zeigefinger über die Reihen der Namen und Nummern. Früher oder später würde ich auf die entsprechende Vorwahl stoßen. Die konzentrierte Suche war anstrengend, und die Zahlen begannen mir schon vor den Augen zu verschwimmen, als ich endlich fündig wurde: Brackley. Das war von mir aus nicht allzu weit.

Und jetzt? Ich konnte ja schlecht aufs Geratewohl in Brackley herummarschieren und nach ihm suchen. Vielleicht sollte ich einfach die Nummer anrufen und – tja, und was? Noch einmal mit Brendan sprechen? Das konnte ich nicht, allein schon der Gedanke daran ließ mich schaudern. Ich schenkte mir ein großes Glas Rotwein ein und setzte mich vor meinen Laptop. Zwei Minuten, ein paar Suchmaschinen, und schon hatte ich es: Crabtrees, ein Café in Brackley. Ich beglückwünschte mich zu meiner Hartnäckigkeit und nahm darauf einen Schluck Rotwein.

Dann warf ich einen Blick auf die Uhr: kurz nach halb acht.

Nun, da ich wusste, dass es sich um ein Café handelte, wagte ich es doch, dort anzurufen. Es läutete endlos, und als ich gerade wieder auflegen wollte, ging jemand ran.

»Ja?«

»Ist dort das Crabtrees?«

»Ja. Das öffentliche Telefon. Mit wem möchten Sie denn sprechen?«

»Ähm – könnten Sie mir vielleicht die Öffnungszeiten sagen?«

»Was?«

»Ich wollte nur fragen, wie lange das Café geöffnet hat.«

»Das weiß ich nicht genau. Ich bin heute das erste Mal hier.

Das Café ist neu, und ich wollte es mal ausprobieren – ich glaube, draußen auf dem Schild stand, dass sie morgens um acht aufmachen.«

»Verstehe. Vielen Dank.«

»Es ist aber kein Pub.«

»Nein?«

»Man bekommt keinen Alkohol – bloß Cappuccino und Latte und alle möglichen Kräutertees, die wie Stroh schmecken.«

»Danke.«

»Und vegetarisches Essen. Aus biologischem Anbau.«

»Sie haben mir sehr geholfen …«

»Alfalfa und solches Zeug. Ich dachte immer, Alfalfa wäre nur was für Kühe.«

Ohne nachzudenken schüttete ich den Wein in die Spüle, griff nach meiner Jeansjacke und brach auf. Nach Brackley geht keine U-Bahn, sodass ich den Wagen nahm. Es war ein milder Abend, der Himmel leuchtete golden, und in dem sanften Licht wirkten sogar die tristesten Straßen ein wenig heimeliger.

Das Crabtrees lag im schickeren Teil des Viertels, zwischen einem Laden, in dem es Kerzen und Windspiele gab, und einer Bäckerei, die damit warb, das Brot genauso zu backen, »wie es die alten Römer machten«. Ich parkte ein Stück entfernt, damit Brendan mich nicht aussteigen sah, falls er sich hier irgendwo rumtrieb.

Kurz darauf schlenderte ich langsam an dem Café vorbei und fühlte mich trotz meines aufgestellten Jackenkragens schrecklich sichtbar – wie die peinliche Parodie eines Privatdetektivs. Womöglich saß Brendan an einem Fenstertisch und sah mich. Ich warf hastige Blicke durch das Glas, konnte ihn aber nicht entdecken. Zögernd kehrte ich um und ging noch einmal vorbei. Das Café war so gut wie leer und Brendan nirgendwo zu sehen.

Ich entschloss mich hineinzugehen. Es war hell erleuchtet und roch nach Kaffee, Vanille, Gebäck und Kräutern. Nachdem ich mir einen Birnensaft und einen großen Haferkeks bestellt hatte, zog ich mich in eine Ecke zurück. Was, wenn er jetzt hereinkam? Ich hätte eine Zeitung mitbringen sollen, dann hätte ich mich wenigstens dahinter verstecken können. Ich hätte ein Loch hineinschneiden und durchspähen können, irgendwas in der Art. Selbst ein Buch zum Drüberbeugen wäre besser gewesen, als hier wie auf dem Präsentierteller zu sitzen.

Trotzdem war es in dem Café schön warm und sauber, sodass ich mir einen Moment lang gestattete, mich zu entspannen. Mir wurde bewusst, dass ich mich todmüde fühlte, allerdings auf eine Art, die nicht durch Schlaf zu kurieren war. Ich ließ den Kopf in die Hände sinken und spähte durch meine Finger auf die Straße. Eine Menge Leute gingen vorüber. Keine Spur von Brendan.

Nachdem ich eine halbe Stunde lang an meinem Haferkeks genagt und kleine Schlucke von dem Saft getrunken hatte, zahlte ich und fragte die junge Frau hinter dem Tresen, wie lange das Café noch geöffnet habe.

»Bis neun«, antwortete sie. Sie hatte seidiges blondes Haar, eine Menge Sommersprossen auf dem Nasenrücken und ein nettes, offenes Lächeln. Sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem zarten Handgelenk. »Nur noch sieben Minuten. Gleich habe ich es geschafft.«

»Und wann machen Sie morgens auf?«

»Um acht.«

»Danke.«

Ich wusste, dass es lächerlich war, aber um acht war ich wieder da, diesmal mit einer Zeitung bewaffnet. Ich bestellte einen Milchkaffee und eine Brioche und bezog wieder an dem Tisch in der Ecke Stellung, damit Brendan mich nicht gleich sah, wenn er hereinkam. Diesmal arbeiteten hinter der Theke zwei Frauen mittleren Alters, und in der Küche werkelte ein Mann.

Ich blieb anderthalb Stunden und bestellte zwei weitere Tassen Kaffee, dann ging ich erschöpft und nervös von dem vielen Koffein nach draußen und setzte mich in den Lieferwagen. Ich rief Bill an und informierte ihn, dass ich ein paar Tage nicht zur Arbeit kommen würde. Anschließend hinterließ ich eine Nachricht auf Dons Anrufbeantworter, in der ich mich für mein Nichterscheinen entschuldigte und versprach, bald wiederzukommen. Wann genau das sein würde, sagte ich nicht, weil ich es selbst noch nicht wusste und außerdem nicht über die Aussichtslosigkeit meines Unterfangens nachdenken wollte.

London war eine riesige Stadt, in der es von Menschen nur so wimmelte. Wer sich dort verstecken wollte, wurde unter Umständen nie gefunden. Vielleicht war Brendan nur zufällig vorbeigekommen und würde nie wieder in dem Café auftauchen, während ich hier in einer Ecke saß, verschanzt hinter einer Zeitung, und mit wild klopfendem Herzen auf etwas wartete, das nie eintreten würde. Genauso gut konnte er aber direkt gegenüber an einem Fenster im ersten Stock sitzen und auf die Straße herunterblicken. Oder er kam gerade den Gehsteig entlang, und wenn ich mich nicht beeilte, würde ich ihn verpassen. Vielleicht wurde ich auch langsam verrückt: Wieso sonst saß ich in gebückter Haltung in einem Lokal, versteckte mich in meinem Lieferwagen und wanderte durch die Straßen eines Stadtviertels, das kilometerweit von meiner Wohnung entfernt war?

Ich ging in den Kerzenladen und verbrachte eine ganze Weile damit, mir eine Glasschale und ein paar wie Seerosen aussehende Schwimmkerzen auszusuchen, während ich zwischendrin immer mal wieder auf die Straße spähte. Danach besorgte ich mir beim Bäcker nebenan einen Laib dunkles Sauerteigbrot, das so teuer war, dass ich mich einen Moment lang fragte, ob beim Preis vielleicht das Komma um eine Stelle verrutscht war. Anschließend schlenderte ich ganz langsam die Straße auf und ab. Im Schaufenster einer Buchhandlung entdeckte ich einen Band über Fußmärsche in und um London.

Ich ging hinein und kaufte es. Dann stöberte ich in einem Eisenwarenladen herum, bis mich die vorwurfsvollen Blicke des Mannes hinter dem Verkaufstresen wieder hinaustrieben. In einem Schreibwarengeschäft erstand ich einen linierten Notizblock und einen Stift, außerdem ein paar Bonbons, damit ich etwas zu lutschen hatte, während ich weiter Wache hielt.

Schließlich kehrte ich wieder ins Crabtrees zurück, das sich langsam zu füllen begann.

Inzwischen waren auch ein paar Kellner eingetroffen, die aussahen wie Studenten, ebenso die hübsche junge Frau vom Abend zuvor. Obwohl gerade großer Mittagsandrang war und sie einen gehetzten Eindruck machte, schien sie mich wiederzuerkennen, denn sie nickte mir kurz zu, als ich eine Bohnensuppe und ein Glas Mineralwasser bestellte. Ich zog mich in meinen Winkel zurück und blätterte das Buch mit den Fußmärschen durch, während ich ganz langsam meine Suppe löffelte. Als ich fertig war, holte ich mir noch eine Tasse Tee.

Jedes Mal, wenn die Tür aufging, beugte ich mich zum Boden hinunter, als müsste ich meine Schnürsenkel binden, und spähte dann vorsichtig hoch, um zu sehen, wer hereinkam. Um kurz nach zwei begann ich noch einmal ziellos die Straßen auf und ab zu trotten, obwohl mir schon die Füße wehtaten und ich furchtbar genervt war, weil ich mir der Aussichtslosigkeit meines Unterfangens immer mehr bewusst wurde. Ich sagte mir, dass ich ausharren würde, bis das Café schloss. Falls sich bis dahin nichts getan hatte, wollte ich die ganze Aktion abbrechen.

Als ich gegen halb fünf ins Café zurückkehrte, wirkte die junge Frau ein wenig überrascht, mich schon wieder zu sehen.

Ich ließ mir eine Kanne Tee bringen und dazu ein Stück Zitronenkuchen.

Um sieben bestellte ich Gemüselasagne und einen grünen Salat, doch nachdem ich ein paar Minuten lustlos darin herumgestochert hatte, beschloss ich zu gehen. Ich holte den Lieferwagen und parkte ihn mit Blick auf das Café, um im Dämmerlicht zu warten, bis sie dichtmachten. Eine Weile saß ich einfach nur so da und starrte auf die Silhouetten der Gebäude hinaus, die sich dunkel vor dem Abendhimmel abzeichneten. Ich fühlte mich sehr weit weg von Zuhause. Verloren. Aus einem Impuls heraus rief ich noch einmal bei Don an, und als er ranging, sagte ich ganz schnell, ehe ich es mir anders überlegen konnte: »Sie haben doch beim letzten Mal etwas von einem Drink erwähnt. War das ernst gemeint?«

»Ja«, antwortete er, ohne zu zögern. »Wann haben Sie Zeit?

Jetzt gleich?«

»Nein, jetzt geht es nicht. Vielleicht morgen?«

»Großartig.«

Er schien sich wirklich zu freuen, und eine Ahnung dieser Freude blieb bei mir im Wagen, nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte – ein klein wenig Sonnenlicht in der Düsternis.

Ich muss eingedöst sein, denn als ich plötzlich hochfuhr, stellte ich fest, dass es fast schon dunkel war und der Verkehr auf der Straße merklich nachgelassen hatte, auch wenn vor dem Pub ein paar Häuser weiter immer noch ein Grüppchen von Leuten stand. Es war kurz vor neun, mein ganzer Körper fühlte sich steif an, mir tat alles weh, und ich hatte Durst. Ich startete den Wagen, schaltete das Licht ein, legte den Rückwärtsgang ein, löste die Handbremse, warf einen Blick in den Rückspiegel und erstarrte.

Wenn ich ihn im Spiegel sehen konnte, sah er mich dann auch? Nein, bestimmt nicht. Für ihn war ich bloß ein Streifen Gesicht, zwei Augen. Ich schaltete den Motor und die Scheinwerfer wieder aus und ließ mich ein Stück nach unten gleiten. Gleich darauf ging er an meinem Lieferwagen vorbei, nur einen halben Meter von mir entfernt. Ich hielt die Luft an. Er blieb vor der Tür des Crabtrees stehen, wo die junge Frau gerade das »Geöffnet«-Schild auf die »Geschlossen«-Seite drehte. Als sie Brendan entdeckte, hellte sich ihre Miene auf, und sie hob eine Hand zum Gruß, ehe sie ihm die Tür aufmachte. Ich setzte mich ein bisschen aufrechter hin und beobachtete, wie er sie in den Arm nahm. Sie schmiegte sich an ihn, und er küsste sie erst auf die Augen und dann auf den Mund.

Sie war sehr schön, Brendans neue Freundin. Und sehr jung –

bestimmt nicht älter als ein- oder zweiundzwanzig. Sie schien völlig vernarrt in ihn zu sein. Ich beobachtete, wie sie die Hände in sein dichtes Haar schob und sein Gesicht noch einmal zu sich heranzog. Genervt schloss ich die Augen und stöhnte laut auf.

Was auch immer Don und mein gesunder Menschenverstand mir sagten, ich konnte es nicht sein lassen – nicht, nachdem ich die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihre strahlenden Augen gesehen hatte.

Die Frau holte ihren Mantel und schloss die Tür ab. Sie winkte jemandem zu, der sich noch im Café befand, dann gingen sie und Brendan Arm in Arm in die Richtung, aus der er gekommen war. Ich wartete, bis sie fast außer Sichtweite waren, stieg dann aus und folgte ihnen. Vor einem Eingang zwischen einem Fahrradladen und einem rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelgeschäft blieben sie stehen und lösten sich voneinander. Das Mädchen suchte in ihrer Tasche nach ihrem Schlüssel. Demnach war es ihre Wohnung, dachte ich. Typisch.

Brendan war immer der Kuckuck in den Nestern anderer Leute.

Sie drückte die Tür auf, und die beiden verschwanden im Haus.

Kurz darauf ging in einem Zimmer im ersten Stock das Licht an. Einen Moment lang sah ich Brendan im Schein einer Lampe am Fenster stehen. Er zog die Vorhänge zu.

36. KAPITEL

Es war nicht gerade ein normales erstes Rendezvous: Wir stöberten in einer ehemaligen Kirche in Hackney herum, die man vor ein paar Jahren in ein Reclamation Centre umgewandelt hatte. Aber vielleicht war es besser so – es hat ohnehin immer etwas Peinliches, sich von Angesicht zu Angesicht in einem Pub gegenüberzusitzen, billigen Wein zu trinken und einander auf den Zahn zu fühlen, indem man höfliche Fragen stellt. Don stand im vorderen Teil der Kirche, wo sich früher der Altar befunden hatte, und bewunderte gerade eine Metallbadewanne mit stämmigen Füßen, während ich im hinteren Teil ein paar steinerne Wasserspeier betrachtete. Abgesehen von dem Mann, der uns hereingelassen, sich jedoch wieder in sein Büro in der Seitenkapelle zurückgezogen hatte, waren wir allein. Alles war in mattes farbiges Licht getaucht, und wenn wir miteinander sprachen, hallten unsere Stimmen in dem großen Raum wider.

»Warum kenne ich das noch nicht?«, rief er und deutete auf die ihn umgebenden Steinblöcke, die großen Holzschränke, die Porzellanwaschbecken, die an der Wand lehnten, die Kisten voller Messingtürklinken und -vorhängeschlösser.

»Weil Sie nicht für eine Baufirma arbeiten.«

»Ich möchte das alles haben. Sehen Sie sich diese Gartenbänke an. Oder dieses Vogelbad.«

Während ich ihn quer über den Raum angrinste, durchströmte mich plötzlich ein ungeheures Glücksgefühl, und mir wurde vor Erleichterung fast schwindlig.

»Sie haben doch gar keinen Garten«, gab ich zu bedenken.

»Stimmt. Haben Sie einen?«

»Nein.«

»Tja dann. Geben Sie mir einen Rat, was ich nehmen soll.«

»Wie wär’s mit einer Kirchenbank?«

»Einer Kirchenbank?«

»Sie würde ausgezeichnet in Ihr Wohnzimmer passen.«

Er kam den Gang herunter, betrachtete aber nicht die alte hölzerne Kirchenbank mit den geschnitzten Armlehnen, sondern mich. Ich spürte, wie ich rot wurde. Er legte seine Hände auf meine Schultern.

»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie wundervoll sind?«

»In einer Kirche noch nie«, antwortete ich, wobei mir fast die Stimmte versagte.

Und dann küsste er mich. Wir lehnten uns gegen einen Holzofen, der sechshundertneunzig Pfund kostete. Ich schob die Hände unter seine Jacke und sein Hemd, spürte seine warme Haut, die Form seiner Rippen. Dann ließen wir uns auf der Kirchenbank nieder, und als ich ihn ansah, lächelte er.

Hinterher genossen wir den schönen warmen Abend, indem wir uns in den Garten eines Pubs setzten, etwas zu trinken bestellten und unter dem Tisch Händchen hielten.

Dann gingen wir noch Indisch essen. Ich sprach den ganzen Abend kein einziges Mal über Brendan. Ich war es leid, dass er sich in jeden meiner Gedanken hineinfraß und sogar aus der Ferne ständig präsent war, indem er in meinem Schädel obszönes Zeug vor sich hin flüsterte. Deswegen schob ich ihn einfach beiseite. Auch Troy und Laura schob ich beiseite. Ich ließ sie erst wieder in meinen Kopf, als ich Don vor seiner Wohnung abgesetzt hatte und nach Hause fuhr. Obwohl es eigentlich gar nicht mehr mein Zuhause war – nur noch der Ort, wo ich lebte. Draußen hing bereits das »Verkauft«-Schild, und auch drinnen spürte man, dass sich niemand mehr um die Räume kümmerte.

Die Geister kehrten zurück, aber an diesem Abend fühlte ich mich nicht ganz so elend, weil ich endlich dabei war, etwas zu unternehmen. Ich hatte eine Aufgabe, ein Ziel, eine Mission.

Und ich hatte einen Mann, der mich wundervoll fand: Das nahm der Einsamkeit gleich einiges von ihrem Schrecken.

Am nächsten Morgen fand ich mich Punkt acht wieder im Crabtrees ein, aber sie war nicht da. Stattdessen stand hinter dem Tresen ein Mann, den ich auch schon vom Sehen kannte.

Ich setzte mich auf einen der Barhocker, bestellte mir einen Kaffee und Zimtgebäck und fragte ihn, ob die junge Frau, von der ich gestern bedient worden sei, auch bald komme, weil ich eventuell meinen Schal vergessen hätte und hoffte, dass sie ihn gefunden hatte.

»Naomi? Die kommt heute gar nicht.«

»Wann arbeitet sie denn wieder?«

»Keine Ahnung. Sie arbeitet in der Regel nur zwei- bis dreimal die Woche hier. Im wirklichen Leben studiert sie Medizin. Von einem Schal hat sie aber nichts erwähnt. Wenn Sie möchten, kann ich gerne mal nachschauen.«

»Nicht nötig. Ich komme ein anderes Mal wieder«, antwortete ich.

An der Bushaltestelle herrschte gerade Hochbetrieb, und ich mischte mich unter die wartenden Leute. Die Haltestelle lag nur ein paar Meter von dem Haus entfernt, in das Naomi und Brendan am Vorabend verschwunden waren. Die Vorhänge im ersten Stock waren noch zugezogen. Ich stand dort fünfzehn Minuten, trat von einem Fuß auf den anderen und sah zu, wie die Busse eintrafen und wieder abfuhren. Schließlich wurden die Vorhänge aufgezogen, wenn ich auch nicht sehen konnte, von wem. Wenn ich nur lange genug wartete, würde einer von beiden herauskommen. Falls es sich um Brendan handelte, würde ich an der Tür klopfen und hoffen, dass sie mich hineinließ. Falls Naomi als Erste ging, würde ich versuchen, sie einzuholen und mit ihr zu sprechen. Falls sie gemeinsam herauskamen – nun, darüber würde ich nachdenken, wenn es so weit war.

Am Ende war es Brendan, der als Erster das Haus verließ. Er trug eine weite schwarze Hose, eine graue Wolljacke und einen silberfarbenen Rucksack über der Schulter. Ich drückte mich an die Bushaltestelle, weil ich befürchtete, dass er mir direkt in die Arme laufen würde, aber zum Glück ging er auf der anderen Straßenseite vorüber. Sein Gang wirkte beschwingt, und er pfiff vor sich hin.

Ich wartete, bis er außer Sichtweite war, dann überquerte ich die Straße und steuerte auf die Tür zu. Nervös fuhr ich mir mit der Hand durchs Haar, holte tief Luft und läutete. Eine ganze Weile kam keine Reaktion, und ich fragte mich, ob sie womöglich schon lange vor Brendan das Haus verlassen hatte, aber dann hörte ich jemanden die Treppe herunterkommen. Die Tür ging nur einen Spalt weit auf. Naomi war im Bademantel und hatte ein Handtuch um ihr Haar geschlungen. In diesem Aufzug wirkte sie noch jünger als sonst.

»Ja?«, fragte sie und spähte zu mir heraus. »Kann ich …?«

Verblüfft hielt sie inne. Offenbar hatte sie mich erkannt.

»Sind Sie nicht die Frau aus dem Crabtrees?«, fragte sie.

»Ja. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so überfalle. Ich würde gern kurz mit Ihnen sprechen.«

»Das verstehe ich nicht. Was tun Sie hier? Woher wissen Sie überhaupt, wo ich wohne?«

»Darf ich kurz reinkommen? Dann könnte ich es Ihnen erklären. Es dauert wirklich nur ein paar Minuten.«

»Wer sind Sie?«

»Bitte lassen Sie mich kurz …«

»Sagen Sie mir erst, wie Sie heißen.«

»Miranda«, antwortete ich. Ich sah, wie ihre Augen sich weiteten, und fluchte innerlich. »Sie haben vielleicht schon von mir gehört.«

»O ja. Von Ihnen habe ich allerdings schon eine ganze Menge gehört«, erwiderte sie in feindseligem Ton. »Ich glaube, Sie gehen jetzt besser wieder.«

Sie wollte die Tür zuschieben, aber ich hielt mit der Hand dagegen.

»Bitte. Bloß ganz kurz«, sagte ich. »Es ist wichtig. Ich wäre nicht hier, wenn es nicht wichtig wäre.«

Sie starrte mich an, biss sich zögernd auf die Lippe.

»Es dauert wirklich nicht lang«, beteuerte ich. »Aber ich muss Ihnen unbedingt etwas sagen. Bitte!«

Schließlich ließ sie mich achselzuckend hinein.

»Obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, was Sie mir zu sagen haben könnten.«

Ich folgte ihr die Treppe hinauf in ihr winziges Wohnzimmer.

Auf dem Tisch stand ein Marmeladenglas mit einem ausladenden Strauß Glockenblumen, daneben lagen ein paar medizinische Bücher. Über dem Stuhl hing eine Herrenlederjacke. Naomi stemmte die Hände in die Hüften und musterte mich, bot mir aber keinen Platz an.

»Ich weiß nicht, was Sie alles über mich gehört haben«, begann ich.

»Mir ist bekannt, dass Sie mit Ben zusammen waren«, erklärte sie. Ich blinzelte sie einen Moment verwirrt an. Demnach nannte er sich jetzt also Ben. »Und ich weiß, dass Sie es nicht akzeptieren konnten, als er das Ganze beendete. Dass Sie ihm eine Weile das Leben zur Hölle gemacht haben.«

»Was ist mit Laura?«, fragte ich. »Hat er Ihnen auch von ihr erzählt?«

»Natürlich. Laura war seine Frau. Ihr Tod hat ihm das Herz gebrochen.« Ich sah, wie sich ihre sanften grauen Augen mit Tränen füllten. »Er hat mir alles erzählt. Der arme Ben.«

»Und das mit Troy? Das hat er Ihnen sicher auch gesagt, oder?«, fragte ich schroff.

»Er hat deswegen immer noch Albträume.«

»Naomi, hören Sie mir zu. Sie wissen nicht, worauf Sie sich da einlassen. Brendan – Ben – irgendwas stimmt mit ihm nicht. Ich meine … er tickt nicht ganz richtig.«

»Wie können Sie es wagen! Ausgerechnet Sie! Er hat in seinem Leben mehr gelitten, als ein Mensch eigentlich ertragen kann, aber es hat ihn trotzdem nicht verbittert oder verschlossen gemacht. Er spricht sogar nett über Sie. Er versteht, warum Sie sich so benommen haben.«

»Das meiste, was er sagt, ist erfunden.«

»Nein.«

»Doch, Naomi, er lügt. Aber das ist noch nicht alles.«

Mir war fast übel, so frustriert und elend fühlte ich mich.

»Ich möchte nichts mehr davon hören.«

Nun hielt sie sich tatsächlich die Ohren zu. Ich sprach lauter.

»Ich glaube, Sie sind in Gefahr.«

»Sie sprechen über den Mann, den ich liebe.«

»Hören Sie mir zu. Bitte hören Sie sich an, was ich zu sagen habe. Dann gehe ich wieder. Aber bitte hören Sie mir zu, Naomi. Bitte.«

Ich legte meine Hand auf ihren Arm. Als sie ihn wegzuziehen versuchte, verstärkte ich meinen Griff.

»Ich glaube nicht, dass sie dir zuhören will. Niemand will dir mehr zuhören, stimmt’s? Hmm? Und jetzt lass sie sofort los.«

Ich drehte mich um.

»Brendan«, sagte ich.

»Ben«, sagte Naomi. »Oh, Ben!«

Sie lief zu ihm und schlang die Arme um ihn.

»Ich frage mich, wie du mich gefunden hast. Das war bestimmt nicht einfach.«

Ich warf einen schnellen Blick zu Naomi. Der einzig klare Gedanke, den ich in dem Moment fassen konnte, war, dass ich sie in meinem Bemühen, sie zu retten, womöglich noch mehr in Gefahr gebracht hatte.

»Ich wollte nicht, dass du da hineingezogen wirst«, sagte Brendan zu ihr. »Ich wollte dich beschützen. Jetzt mache ich mir große Vorwürfe. Ist mit dir alles in Ordnung?«

»Oh, du brauchst mich nicht zu beschützen!« Sie blickte zärtlich zu ihm auf und berührte ihn leicht an der Wange.

»Außerdem bin ich selbst schuld. Ich habe ihr aufgemacht.«

»Ich gehe jetzt«, erklärte ich.

»Tu das«, antwortete Brendan. Er trat ein paar Schritte auf mich zu, bis er auf mich herabblicken konnte. Die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Meine arme Mirrie.«

37. KAPITEL

Drei Tage später bekam ich einen Anruf von Rob Pryor.

»Ich dachte, wir beide reden nicht mehr miteinander«, meinte ich fröhlich.

»Jetzt müssen wir reden«, entgegnete er.

Sein ernster Ton beunruhigte mich ein wenig.

»Ist was mit Naomi passiert?«

»Nein«, antwortete er. »Mit Naomi ist nichts passiert. Ich konnte kaum fassen, dass Sie bei ihr waren. Dass Sie sie beobachtet haben.«

»Mir blieb nichts anderes übrig«, sagte ich. »Ich empfand es als meine moralische Pflicht.«

»Ich möchte, dass Sie zu mir aufs Revier kommen.«

»Weswegen?«

»Wegen dieser ganzen Sache mit Ihnen und Brendan. Das kann so nicht weitergehen.«

»Ich weiß, was Sie meinen«, antwortete ich. »Ich fühle mich wie mit einem Virus infiziert.«

»Wir müssen das klären.«

»Wann soll ich kommen?«

»Lassen Sie uns vorher noch etwas anderes besprechen.

Miranda, haben Sie einen Anwalt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich denke, es wäre ratsam, wenn Sie irgendeine Art juristischen Beistand hätten.«

»Ich habe in meinem Leben nur ein einziges Mal einen Anwalt zurate gezogen. Das war, als ich meine Wohnung kaufte.«

Das Ganze kam mir total lächerlich vor, aber Pryor gab nicht auf. Er fragte mich, ob es in meinem Bekanntenkreis nicht einen Anwalt oder eine Anwältin gebe. Ich dachte einen Moment nach, dann kam mir Polly Benson in den Sinn. Sie war am College das wildeste Partygirl von uns allen gewesen, was durchaus etwas hieß. Pryor riet mir, sie mitzubringen. Ich hielt das für keine so gute Idee, weil ich schon seit einer Ewigkeit keinen Kontakt mehr mit Polly hatte, aber Pryor war so hartnäckig, dass ich langsam misstrauisch wurde.

»Gibt es irgendein Problem?«, fragte ich.

»Wir werden das alles in Ruhe klären«, entgegnete er.

»Aber es wäre für Sie bestimmt hilfreich, wenn Sie sich mit jemandem beraten könnten. Rufen Sie mich an, wenn Sie mit Ihrer Bekannten gesprochen haben. Dann vereinbaren wir einen Termin.«

Also rief ich Polly an. Nachdem sie begriffen hatte, wer ich war, stieß sie einen Freudenschrei aus. Was für eine Überraschung, sie freue sich wahnsinnig über meinen Anruf, wir müssten uns unbedingt auf einen Drink treffen. Wann ich denn mal Zeit hätte. Ich hörte etwas klappern, offenbar suchte sie auf ihrem Schreibtisch nach dem Terminkalender. Ich antwortete, das sei eine großartige Idee, aber vorher müsse ich noch etwas mit ihr bereden. Ich fragte sie, ob sie mich eventuell zu einer Besprechung begleiten könne. Es handle sich um einen Termin mit einem Detective, aber es sei nicht so, wie sie jetzt wahrscheinlich denke. Sie sagte sofort zu, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. So wie man es sich von einer Freundin wünschte. Kein Problem, antwortete sie, selbstverständlich werde sie mich begleiten. Ich erklärte, ich würde sie wie eine ganz normale Klientin dafür bezahlen, woraufhin sie lachend meinte, das solle ich gleich wieder vergessen, außerdem könnte ich mir das sowieso nicht leisten. Dann wollte sie wissen, worum es bei der Sache gehe, und ich erzählte ihr die Zwei-Minuten-Version der Brendan-Geschichte. Sie murmelte ein paarmal mitfühlend vor sich hin.

»Was für ein Mistkerl«, stellte sie fest, als ich fertig war.

»Aber du weißt nicht, worum es konkret geht?«

»Brendan hat sich mit diesem Detective angefreundet.

Vielleicht hat er sich irgendwie über mich beschwert.« Lachend fügte ich hinzu: »Oder er will ein Geständnis ablegen.«

»Vielleicht hat er Einwände gegen das, was du über ihn erzählt hast«, meinte Polly. »Man muss mit solchen Sachen sehr vorsichtig sein.«

»Trotzdem verstehe ich nicht, warum ich juristischen Beistand brauche. Das macht mir schon ein bisschen Sorgen«, gestand ich.

»Es kann auf keinen Fall schaden, wenn ich dabei bin«, erklärte sie.

Ich war nicht sicher, ob meine Frage damit wirklich beantwortet war, aber wir vereinbarten einen Termin für den nächsten Tag und fanden in der Woche auch gleich noch einen Abend, an dem wir beide Zeit hatten, uns auf einen Drink zu treffen.

Ich informierte Pryor, der keine Einwände hatte, sodass ich –

ohne recht zu wissen, wie mir geschah – am nächsten Nachmittag vor dem Polizeirevier stand und mich mit einer meiner alten College-Freundinnen unterhielt. Ich hatte versucht, mich ein wenig schick zu machen, indem ich in eine dunkle Jacke und eine schwarze Hose geschlüpft war, aber Polly kam direkt aus ihrer Kanzlei und befand sich schon rein optisch auf einem ganz anderen Niveau der Geschäftsmäßigkeit. Sie trug einen grauen Nadelstreifenanzug und sah mit ihrem rabenschwarzen glatten Haar und ihrer braunen Haut einfach umwerfend aus. Wir umarmten uns.

»Es tut mir Leid, dass ich mit diesem Unsinn deine kostbare Zeit verschwende. Eigentlich müssten wir in einer Minute wieder draußen sein.«

Ein uniformierter Beamter führte uns in Pryors Büro, das bereits voller Menschen zu sein schien. Brendan war in Begleitung einer ebenfalls sehr formell gekleideten Frau mittleren Alters, die Pryor uns als Deirdre Walsh vorstellte, Brendans Anwältin. Sie musterte mich leicht irritiert, als hätte sie jemand ganz anderen erwartet. Ich stellte ihnen Polly vor und gab mir große Mühe, nicht in Brendans Richtung zu sehen.

Pryor fragte, ob sie über die Situation Bescheid wisse.

»Ich habe sie aufgeklärt«, antwortete ich. »Aber ich weiß ja selbst nicht genau, worum es eigentlich geht.«

Pryor, Brendan und Walsh sahen sich an. Sie führten definitiv etwas im Schilde. Pryor fingerte einen Moment nervös an einer Akte auf seinem Schreibtisch herum. Dann schlug er sie auf.

»Auf Mr. Blocks Bitte hin«, begann er, »handelt es sich hierbei um ein inoffizielles Treffen.«

»Was soll das heißen?«, fragte ich.

»Das werden Sie gleich hören«, antwortete Pryor und nahm ein Blatt aus der Akte. »Wir wissen alle mehr oder weniger, was passiert ist. Trotzdem dürfte es sinnvoll sein, die wichtigsten Vorfälle kurz durchzugehen.« Er schürzte die Lippen und zögerte einen Moment, ehe er weitersprach.

»Letztes Jahr hatten Sie beide eine kurze intime Beziehung, die von Mr. Block beendet wurde.«

»Das stimmt nicht«, protestierte ich.

»Bitte, Miss Cotton, lassen Sie mich einfach …«

»Nein. Ich werde nicht ruhig hier sitzen und zu einer solchen Lüge nicken. Es war ganz einfach. Ich habe Brendan dabei erwischt, wie er mein Tagebuch las …«

»Bitte, Miss Cotton, Miranda, lassen Sie mich erst mal weitermachen. Sie können sich hinterher dazu äußern.«

Ich biss die Zähne zusammen und schwieg.

»Mr. Block zufolge hat er die Beziehung beendet. Durch eine vielleicht etwas unglückliche Fügung kam er anschließend mit Ihrer Schwester zusammen und hatte dann eine Beziehung mit einer gemeinsamen Freundin …«

»Sie war meine Freundin«, stellte ich richtig.

»Eine Beziehung«, fuhr Pryor fort, als hätte er meinen Einwand nicht gehört, »die tragisch endete.«

»Für Laura«, bemerkte ich. »Nicht für Brendan.«

Deirdre Walsh stieß eine Art wütenden Seufzer aus. Als ich sie ansah, funkelte sie zornig zurück.

»Miranda, bitte«, sagte Pryor.

Polly beugte sich zu mir herüber und legte mir eine Hand auf den Arm. Ich nickte. Pryor sprach weiter.

»Ich werde die vielen Konfliktsituationen, zu denen es kam, während Brendan mit Ihrer Schwester verlobt war, nicht im Einzelnen zur Sprache bringen, sondern stellvertretend nur die Gelegenheit erwähnen, als Sie dabei erwischt wurden, wie Sie in Brendans Zimmer seine Sachen durchwühlten.«

Ich wandte mich zu Polly um. Davon hatte ich ihr nichts erzählt. Sie verzog keine Miene.

»Mr.

Block räumt ein, dass seine Trennung von Ihrer Schwester ein schmerzhafter Prozess war, aber zumindest stand er danach nicht mehr mit Ihrer Familie in Verbindung. Was jedoch nur dazu führte, dass Ihr unberechenbares Verhalten ihm gegenüber noch extremer wurde. Da wären beispielsweise die wilden Anschuldigungen zu nennen, die Sie gegen ihn erhoben.

Sie sprachen darüber mit mehreren Personen, unter anderem …

nun ja, unter anderem mit mir. Sie beharrten sogar dann noch auf Ihren Behauptungen, als ich mir die Mühe machte, Ihnen zu erklären, dass diese Anschuldigungen – beispielsweise im Hinblick auf Lauras Tod – nachweislich falsch waren.«

»Das stimmt einfach nicht«, widersprach ich. »Es hing alles davon ab, wie lange man bis zu Lauras Wohnung braucht, und Sie haben sich die falsche Strecke angesehen. Ich habe das überprüft: Wenn man zu Fuß unterwegs ist und den direkten Weg durch die Wohnsiedlung nimmt, geht es viel schneller. Es ist also ohne weiteres möglich, dass Brendan ihr gefolgt ist und kurz darauf wieder auf der Party war.«

Im Raum herrschte einen Moment Schweigen. Dann meldete sich Deirdre Walsh zum ersten Mal zu Wort.

»Entschuldigen Sie, Miss Cotton, ich bin nicht sicher, ob ich das jetzt richtig verstanden habe. Sie sind die Strecke selbst abgegangen und haben gemessen, wie lange man dafür braucht?«

»Irgendjemand musste es ja tun«, antwortete ich.

»Entschuldigung«, sagte Polly zu den anderen, lehnte sich zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Ich glaube, es wäre besser, du würdest nicht Punkt für Punkt auf diese Vorwürfe eingehen, sondern erst mal warten, bis der Detective fertig ist.«

»Warum?«, fragte ich.

»Bitte.«

»Na schön«, sagte ich und wandte mich wieder Pryor zu.

Er nahm ein weiteres Blatt aus seiner Akte.

»Sagt Ihnen der Name Geoffrey Locke etwas?«

Ich überlegte einen Moment. Der Name kam mir tatsächlich bekannt vor.

»Ach, Sie meinen Jeff? Er ist ein Bekannter von mir.«

»Sie haben ihn wegen Mr. Block angerufen.«

»Ich wollte mich mit Brendan in Verbindung setzen.«

»Haben Sie im Telefonbuch nachgesehen?«

»Da stand er nicht drin.«

»Leon Hardy?«, fuhr Pryor fort.

»Mit dem habe ich nur ganz kurz telefoniert.«

»Weswegen?«

»Ich wollte mich mit Brendan in Verbindung setzen.«

»Craig McGreevy?«

»Ich weiß nicht, was es bringen soll, dass Sie hier alle diese Namen vorlesen.«

»Tom Lanham haben Sie sogar besucht.«

»Tut mir Leid, ich verstehe nicht, wo das Problem liegt.«

Ich warf einen Blick zu Brendan hinüber. Auf seinem Gesicht lag der Hauch eines Lächelns. So ähnlich hatte er mich angesehen, als wir uns zum ersten Mal trafen und ich mir einbildete, dass er mich wirklich mochte. Ich sah Pryor an. Er lächelte nicht.

»Sie haben nicht nur mit Lanham gesprochen. Sie haben Dinge mitgenommen, die Mr. Block gehörten.«

Ich wandte mich wieder zu Polly um. Sie sah mich nicht an.

»Ich hatte vor, mich mit Brendan zu treffen«, erklärte ich.

»Bei der Gelegenheit wollte ich ihm die Sachen geben.

Lanham war daran gelegen, sie loszuwerden. Wenn Sie mit ihm gesprochen haben, dann wissen Sie ja auch, dass Brendan sich aus dem Staub gemacht hat, ohne seine Miete zu bezahlen.«

Pryor sah erneut in seine Akte.

»Mr. Blocks Großmutter, Victoria Rees, leidet unter schwerer Demenz. Sie haben Sie in ihrem Pflegeheim besucht.«

»Ja.«

»Dachten Sie, sie könnte Ihnen Mr. Blocks Adresse geben?«

»Ich wollte etwas über seine Kindheit erfahren. Aus verschiedenen Gründen.«

»Seine Schwester haben Sie ebenfalls besucht«, fuhr Pryor fort. »Und ihr beleidigende und indiskrete Fragen gestellt.«

»So würde ich es nicht nennen.«

»Nach all den Tragödien, die über ihn hereingebrochen sind, versucht Mr. Block gerade, sein Leben wieder auf die Reihe zu bringen. Er hat eine neue Beziehung. Sie sind an seine neue Partnerin herangetreten. Sie haben ihr nachspioniert und sie bedroht.«

»Ich habe sie nicht bedroht.«

»Ich habe mit Mr. Block und seiner juristischen Vertreterin vereinbart, dass ich dieses Treffen arrangieren und in seinem Namen mit Ihnen sprechen würde. Trotzdem möchte ich Mr. Block jetzt bitten, uns kurz zu erklären, wie er das alles aus seiner Perspektive sieht.«

Brendan hüstelte.

»Es tut mir Leid, Mirrie«, begann er. »Ich empfinde wirklich Mitleid mit dir. Aber ich fühle mich durch dein Verhalten schon seit längerem …« Er legte eine Pause ein, als wäre das alles so schmerzlich, dass er kaum darüber sprechen konnte. »…

verletzt. Bedroht. Belästigt. Beunruhigt.«

»Ha! Mein Herz blutet für dich«, erwiderte ich wütend.

»Miranda!«, sagte Polly in scharfem Ton.

»Ich möchte noch eins hinzufügen«, erklärte Pryor. »Ms.

Walsh und Mr. Block sind mit diesen Informationen zu mir gekommen. Vieles davon war mir bereits bekannt. Ich muss sagen, dass es sich hierbei um einen eindeutigen Fall von Belästigung handelt, und verweise in diesem Zusammenhang auf das entsprechende Gesetz von 1997.«

»Was zum Teufel meinen Sie damit?«, fragte ich. »Behauptet Brendan wirklich, ich hätte ihn belästigt?«

»Hören Sie zu, Miss Cotton«, antwortete Pryor. »Als Polizeibeamter kenne ich mich mit diesen Dingen aus, und für mich besteht kein Zweifel daran, dass hier ein Fall von Belästigung vorliegt. Ich möchte das sowohl Ihnen als auch Ihrer Anwältin in aller Deutlichkeit sagen. Als ich diese Akte hier zum ersten Mal las, hätte ich Sie am liebsten sofort verhaftet. Ihre Anwältin wird Ihnen bestätigen, dass es sich hierbei um ein Vergehen handelt, das mit sechs Monaten Gefängnis oder einer Geldstrafe bis zu fünftausend Pfund oder beidem geahndet werden kann. Es stünde durchaus in meiner Macht, Sie auf der Stelle festzunehmen und bei Ihnen eine Hausdurchsuchung durchführen zu lassen.«

Ich war derart geschockt, dass ich vor Bestürzung und Wut kaum etwas herausbrachte.

»Das ist doch eine absolute Farce!«, stammelte ich schließlich.

»Ich habe doch bloß … Jedenfalls habe ich Brendan in keinster Weise belästigt. Ich habe lediglich mit ein paar von seinen Freunden gesprochen.«

»Was unter Belästigung im Einzelnen zu verstehen ist, wird in dem entsprechenden Gesetz nicht genau definiert«, erklärte Deirdre Walsh. »Wenn man der Meinung ist, belästigt zu werden, und eine ernst zu nehmende Person wie beispielsweise ein Richter das auch so sieht, dann liegt erwiesenermaßen Belästigung vor. Ich muss sagen, dass mir noch nie ein eindeutigerer Fall untergekommen ist.«

»Ms. Walsh hat Recht«, pflichtete Pryor ihr bei. »Meiner Meinung nach sollten gegen Sie rechtliche Schritte eingeleitet werden. Ich betrachte Sie als potenzielle Gefahr für Mr. Block.

Ihm aber war daran gelegen, das Ganze auf inoffiziellem Weg zu regeln. Käme dieser Fall vor Gericht, würde sofort eine einstweilige Verfügung gegen Sie verhängt werden. Mr. Block ist bereit, sich mit einer schriftlichen Erklärung von Ihnen zufrieden zu geben. Sollten Sie dazu nicht bereit sein, werden wir das Ganze noch einmal überdenken müssen.«

»Sie meinen, dann werden Sie mich verhaften?«

»So ist es«, antwortete Pryor.

»Das ist doch kompletter Wahnsinn«, erklärte ich. »Wenn hier jemand belästigt worden ist, dann ich. Ich habe mit Brendan Schluss gemacht, und daraufhin hat er sich in meine Familie gedrängt, in mein Leben. Eigentlich sollte ich eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirken.«

Nun folgte eine lange, peinliche Pause.

»Sie gehen auf eine sehr unkonventionelle Weise an die Sache heran«, stellte Pryor schließlich fest. »Ich glaube, Sie sollten sich jetzt kurz mit Ihrer Anwältin beraten. Wir werden Sie beide einen Moment allein lassen.«

Die drei erhoben sich. Ich musste aufstehen, damit sie vorbeikamen. Pryor zog die Tür hinter sich zu, aber die Innenwand seines Büros bestand aus Glas. Während sie alle drei zur Kaffeemaschine gingen, unterhielten sie sich miteinander.

Deirdre Walsh warf einen Blick über die Schulter und ertappte mich dabei, wie ich ihnen nachsah. Polly starrte auf den Teppich.

»Damit hatte ich nicht gerechnet«, sagte ich.

Sie drehte sich zu mir um. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

»Ich bin nicht sicher, ob ich dafür die Richtige bin«, erklärte sie. »Du brauchst vielleicht jemanden mit mehr Erfahrung.«

»Ich möchte nur deinen Rat, Polly.«

Sie biss sich auf die Lippe.

»Ist es wahr, was sie sagen?«, fragte sie. »Ist das alles wirklich passiert?«

»Es ist zumindest nicht direkt unwahr«, antwortete ich.

»Aber die Umstände waren … ich meine, nehmen wir beispielsweise mal ihren Vorwurf, ich hätte Brendans Sachen durchwühlt. Er wohnte zu dem Zeitpunkt im Haus meiner Eltern, es war also keineswegs so, dass ich bei ihm eingebrochen bin. Und diese ganzen Telefonate waren überhaupt nicht der Rede wert, du weißt doch, wie das ist, wenn einen A an B verweist und B sagt, man soll C anrufen, und so weiter. Ich habe bloß versucht, ihn zu finden. Die Vorstellung, ich hätte Brendan belästigt, ist einfach absurd. Meiner Meinung nach ist dieser Mann sehr gefährlich. Was hätte ich denn tun sollen?«

Polly stand auf. Sie wich meinem Blick noch immer aus.

»Ich hätte mich nicht darauf einlassen dürfen«, erklärte sie.

»Wir kennen uns. Deswegen bin ich in diesem Fall nicht objektiv. Aber mir war nicht klar … Hör zu, Miranda, wenn du mich fragst, brauchst du – abgesehen von allem anderen – erst mal professionelle Hilfe.«

»Du meinst, von einem Therapeuten? Ich war schon in Behandlung. Bei einer Psychologin.«

»Das hast du mir gar nicht gesagt«, bemerkte Polly. »Und so einiges andere auch nicht.«

»Ich habe mit ihr über meine Gefühle nach dem Verlust meines Bruders und meiner besten Freundin gesprochen.«

»Das hättest du mir sagen sollen.«

»Wieso? Weil du dann alles, was ich dir erzählt habe, als Symptom irgendeiner psychischen Störung hättest abtun können?« Polly widersprach mir nicht. »Ich werde mich mit ihrem Vorschlag auf keinen Fall einverstanden erklären«, fügte ich hinzu.

Polly schüttelte energisch den Kopf.

»Hör auf, Miranda. Sie haben dir ein sehr großzügiges Angebot gemacht.«

»Das sollen sie erst mal vor Gericht beweisen.«

»Miranda!« Polly packte mich so fest am Arm, dass ich fast aufgeschrien hätte. »Wenn du vor Gericht gehst, wirst du verlieren. Glaub mir, bei einem Kreuzverhör zu den Punkten, die der Detective vorgelesen hat, wirst du nicht gut abschneiden.

Sie werden dich verurteilen, das kann ich dir versprechen. Wenn du den falschen Richter erwischst, landest du womöglich für ein paar Monate in Holloway. Möchtest du das wirklich? Das verfolgt dich den Rest deines Lebens, jedes Mal, wenn du ein Formular ausfüllst, jedes Mal, wenn du dich um einen Job bewirbst oder ein Visum beantragst.« Der mitleidige Blick, mit dem Polly mich musterte, machte mich rasend. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber es tut mir sehr Leid. Miranda, lass mich fünf Minuten lang deine Anwältin sein. Wir müssen ihr Angebot auf jeden Fall akzeptieren. Wie es auch aussehen mag, sie lassen dich definitiv mit einem blauen Auge davonkommen.

Bist du einverstanden, wenn ich sie jetzt wieder hereinrufe?«

Ich konnte vor Wut kaum sprechen. Meine Haut fühlte sich heiß und feucht an, mein Mund dagegen völlig ausgetrocknet.

»Meinetwegen«, antwortete ich.

Auf dem Weg nach draußen sah ich Brendan auf dem Gang stehen. Er unterhielt sich gerade mit Rob Pryor. Als er meinen Blick bemerkte, lächelte er. Er hob den rechten Zeigefinger und bewegte ihn leicht hin und her, als wäre er ein Lehrer und ich ein unartiges Kind. Dann ließ er den Finger an seinem Hals entlanggleiten. Was meinte er damit? Wollte er auf diese Weise ein Messer andeuten, mit dem jemandem die Kehle aufgeschlitzt wurde? Oder die Schlinge um Troys Hals? War das eine Warnung? Leg dich bloß nicht mit mir an.

»Hast du das gesehen?«, fragte ich Polly.

»Was?«

Außer mir schien es nie jemand zu sehen.

Als wir wieder draußen im grellen Sonnenlicht standen, meinte Polly, ich könne sehr froh sein, so glimpflich davongekommen zu sein. Ich hatte eine von Deirdre Walsh vorbereitete Erklärung unterschrieben, in der ich versprach, jede weitere Kontaktaufnahme mit Brendan oder seinen Freunden und Familienmitgliedern zu unterlassen. Polly hatte sich außerdem in meinem Namen entschuldigt und erklärt, ich hätte unter sehr großem Druck gestanden und sei deswegen bereits in psychiatrischer Behandlung. Nun streckte sie mir zum Abschied die Hand hin.

»Das macht mir alles nichts aus«, sagte ich. Polly starrte mich verwirrt an. »Es ist sowieso kompletter Schwachsinn«, fuhr ich fort. »Eigentlich war von vornherein klar, dass Brendan bei so was besser abschneiden würde als ich. Jemand, der sich so gut aufs Lügen versteht wie Brendan, wird es immer schaffen, jemanden wie mich als Lügnerin hinzustellen. Ich glaube, du hast mir einen guten Rat gegeben. Ich musste dieses Dokument unterschreiben. Ich sollte dir also dafür danken, dass du mich vor Schlimmerem bewahrt hast. Aber eins muss ich dich unbedingt noch fragen: Glaubst du mir?«

Polly zögerte.

»Glaubst du mir, oder glaubst du mir nicht?«

Sie machte eine verlegene Handbewegung.

»Woher soll ich denn wissen, ob du die Wahrheit sagst?«

»Weil du meine Freundin bist«, antwortete ich. »Wenn du eine wirkliche Freundin wärst, würdest du mich kennen und mir vertrauen.«

»Tut mir Leid, Miranda«, entgegnete sie. »Sogar Freunde können krank werden.«

Ich gab ihr die Hand. Noch am selben Abend rief Polly mich an und erklärte mir, sie müsse unseren geplanten Drink leider absagen, ihr sei etwas dazwischengekommen.

38. KAPITEL

Ich ging in den nächsten Zeitungsladen und besorgte mir einen Notizblock. Sie hatten nur einen in einem schrecklichen Lilaton, aber was spielte die Farbe schon für eine Rolle? Zehn Minuten später setzte ich mich an meinen Tisch und schlug den Block auf. Der erste Kugelschreiber, den ich fand, funktionierte nicht.

Ich musste mehrere Schubladen durchwühlen, ehe ich einen zweiten fand. Entnervt fasste ich einen weiteren Entschluss: Sobald ich ein neues Zuhause für mich gefunden hatte, egal, wo, würde ich hundert – nein, zweihundert – Stifte kaufen und sie in der ganzen Wohnung verteilen. Ich würde sie in sämtlichen Schubladen deponieren, in allen Regalfächern und Schränken, hinter Büchern und Sofas, in den Taschen meiner Mäntel und Jacken, damit ich immer einen greifbar hatte.

Dabei war ich im Moment gar nicht in der richtigen Stimmung. Ich machte mir erst mal eine Tasse Kaffee. Bei der Gelegenheit widerlegte ich die Behauptung, wenn man auf etwas warte, dauere es besonders lange. Ich stellte einen Topf mit kaltem Wasser auf den Herd und starrte ihn gedankenverloren an, und in null Komma nichts hörte ich das Pfeifen und sah den Deckel wackeln. Als der Kaffee fertig war, legte ich die Hände um die heiße Tasse und genoss die Wärme, während ich aus dem Fenster starrte, ohne etwas wahrzunehmen. Dann wandte sich mein Blick wieder dem Wohnzimmer zu. Bald würde alles in Kisten verpackt und irgendwo eingelagert sein, um später wieder ausgepackt und irgendwo anders aufgestellt zu werden. Obwohl im Moment noch alles so wie immer aussah, fühlte ich mich bereits wie eine Emigrantin, die ihr ganzes altes Leben hinter sich lassen würde.

Vorher aber hatte ich noch ein, zwei Dinge zu erledigen, und das hier war das Allerwichtigste. Ich kehrte an den Tisch zurück und begann zu schreiben.

Liebe Naomi,

wenn Sie diese Worte lesen, bedeutet das zumindest, dass Sie den Umschlag nicht gleich in den Müll geworfen haben, und das ist ja schon mal was wert.

Wie Sie wahrscheinlich wissen, werde ich, falls Sie diesen Brief an Brendan/Ben oder die Polizei weitergeben – das läuft auf dasselbe hinaus –, verhaftet und wegen Belästigung angeklagt. Zumindest hat man mir damit gedroht. Ich hoffe, Sie werden es nicht tun. Ich möchte nicht ins Gefängnis. Aber falls Sie den Brief tatsächlich weitergeben, könnten Sie ihn bitte vorher lesen? Ich möchte auch, dass Sie folgendes Versprechen zur Kenntnis nehmen: Dies ist meine letzte Nachricht an Sie. Ich werde mich nie wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. Nun liegt es an Ihnen.

Ich will mein Verhalten Ihnen gegenüber nicht rechtfertigen.

Das wäre alles viel zu kompliziert, und wahrscheinlich würde ich sowieso nicht die richtigen Worte finden, um es Ihnen zu erklären.

Ich kann jetzt nur versuchen, mich so klar wie möglich auszudrücken. Man hat mich beschuldigt, eine Gefahr für Brendan darzustellen. Zufällig bin ich der Meinung, dass es sich andersherum verhält. Wenn ich nachts aufwache, befürchte ich bei jedem Knacken, das ich höre, er könnte gekommen sein, um mich kaltzumachen. Das ist natürlich nicht Ihr Problem. Ich habe um mich selbst Angst, bin aber ziemlich sicher, dass Sie sich in noch größerer Gefahr befinden als ich. Vielleicht nicht heute, vielleicht auch nicht morgen, aber eines Tages, wenn etwas schief läuft, wie es in jeder Beziehung mal passiert. Ich glaube nicht, dass Brendan es ertragen kann, wenn irgendetwas nicht so läuft, wie er es geplant hat.

Was soll ich Ihnen schreiben? Eigentlich wollte ich Ihnen eine Art Checkliste schicken. Glauben Sie, dass er Ihnen die Wahrheit sagt? Sorgt er sich um Sie, oder kontrolliert er Sie?

Verschweigt er Ihnen etwas? Gibt es in seinem Verhalten Anzeichen für Wut? Gewalttätigkeit? Wissen Sie, was er tut, wenn er nicht mit Ihnen zusammen ist? Wie viel wissen Sie wirklich über ihn? Glauben Sie, was er Ihnen erzählt?

Aber das ist alles Unsinn. Vergessen Sie, was ich gerade geschrieben habe. Sie werden es selbst merken.

Ich wünsche Ihnen Glück und dass Sie nie in eine Situation geraten, in der Sie es für nötig halten, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Ich ziehe gerade aus meiner Wohnung aus und weiß noch nicht, wo ich hingehen werde, aber für den Fall, dass Sie doch irgendwann den Wunsch haben sollten, Verbindung mit mir aufzunehmen, werde ich diesem Brief die Telefonnummern mehrerer Leute beifügen. Jemand von ihnen müsste in der Lage sein, den Kontakt mit mir herzustellen.

Ich fürchte, Ihr Leben steht im Moment nicht unter einem guten Stern. Trotzdem wünsche ich Ihnen Glück.

Miranda

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, steckte ich den Brief in einen Umschlag, adressierte ihn c/o Crabtrees, ging zu dem Briefkasten an der Ecke und warf ihn ein.

Es ist eine Lebensregel, dass man, um eine verloren gegangene Socke wiederzufinden, bloß die zweite Socke wegzuwerfen braucht. Und wenn Sie wissen möchten, warum Sie einen bestimmten Brief nicht einwerfen sollten, wird Ihnen der Grund genau in dem Moment klar werden, in dem Daumen und Zeigefinger den Umschlag loslassen. Als ich den Brief an Naomi auf die anderen Briefe fallen hörte, wurde mir schlagartig bewusst, dass es eine weitere Möglichkeit gab, die ich nicht bedacht hatte. Bei Brendan war das meistens der Fall.

Ich war davon ausgegangen, dass Naomi den Brief ungelesen wegwerfen oder aber lesen und den Inhalt für sich behalten würde. In beiden Fällen würde ich nichts hören. Sie konnte ihn natürlich auch Brendan weitergeben, der ihn dann seinerseits an die Polizei leiten würde, sodass ich in ein, zwei Tagen sehr unangenehmen Besuch von Beamten bekommen konnte.

Jetzt aber fiel mir noch eine weitere Möglichkeit ein. Naomi würde den Brief Brendan geben, aber der würde ihn nicht an die Polizei weiterleiten, sondern ihn lesen und erkennen, dass ich unbelehrbar war. Zu Naomi würde er sagen, dass es sich nicht lohne, deswegen etwas zu unternehmen, aber insgeheim würde er beschließen, dass sehr wohl etwas geschehen müsse.

Ich blieb fünfundvierzig Minuten neben dem Briefkasten stehen, bis ein roter Lieferwagen anhielt und ein Postbeamter mit einem großen grauen Leinensack ausstieg. Ich erklärte ihm, dass ich versehentlich einen falschen Brief eingeworfen hätte, den ich unbedingt zurückhaben müsse. Er löste einen Riegel an der Seite des säulenförmigen Briefkastens und leerte Dutzende von Briefen in seinen Sack. Dann sah er mich an, wie mich in letzter Zeit so viele Menschen angesehen hatten – als wäre ich wahnsinnig –, und schüttelte den Kopf.

39. KAPITEL

»Hallo! Miranda?«

Seine Stimme schallte durchs Treppenhaus, und dann hörte ich seine Schritte. Er nahm jeweils zwei Treppenstufen auf einmal.

Ich strich noch ein letztes Mal vorsichtig mit dem Glanzlack über die Fußleiste, dann legte ich den Pinsel auf dem Deckel des Farbkübels ab.

»Die Farbe ist noch feucht«, warnte ich ihn, als er zur Tür hereinkam. Er war gerade damit beschäftigt, seine Krawatte zu lockern. »Bitte fass nichts an.« Ich stand auf und ging durch den leeren Raum auf ihn zu.

»Nur dich«, antwortete er. Er legte die Hände auf meine schmerzenden Schultern und küsste mich hingebungsvoll. Ich spürte, wie sich meine verspannten Muskeln langsam lösten, und dachte dabei: Wie ist es nur möglich, sich gleichzeitig erregt und geborgen zu fühlen, jemanden so gut zu kennen und trotzdem das Gefühl zu haben, dass es da noch eine Menge zu entdecken gibt?

»Na, läuft’s bei dir heute gut?«, fragte ich.

»Das Beste ist, dass ich ganze fünfzig Minuten Zeit habe, bevor ich wieder zurück in die Arbeit muss. Ich habe uns ein paar Sandwiches mitgebracht.«

»Können wir uns damit noch ein bisschen Zeit lassen?«

Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn eine schmale Treppe in den Speicher hinauf, vorbei an frisch gestrichenen Wänden und noch unbehandelten Brettern. Der kleine Raum dort diente mir im Moment als Schlafzimmer. Unter dem Fenster lag eine Matratze, und meine Kleidung war in Holzkisten gestapelt.

Während ich Don Jacke und Krawatte abnahm, knöpfte er meinen Overall auf, und wir grinsten uns an wie zwei Idioten, weil wir an einem ganz normalen Mittwochmittag hier im Speicher standen und im Begriff waren, in einem leeren Haus Liebe zu machen. Durch die Jalousie fiel Licht. Ich hängte seinen Anzug ordentlich über einen Bügel. Er warf meinen farbverschmierten Overall in eine Ecke des Raums.

»Ich würde am liebsten den ganzen Tag hier bleiben«, erklärte ich ein wenig später und streckte mich genüsslich auf meiner Matratze aus, während Don sich neben mir auf einen Ellbogen stützte und über mein Haar streichelte.

»Gegrilltes Gemüse mit Mozzarella oder Bauern-Cheddar mit Pickles?«

»Von jedem die Hälfte?«

»Einverstanden.«

»Lass sie uns in der Küche essen, dann kann ich dir zeigen, was ich geschafft habe, seit du das letzte Mal hier warst.«

Ich hatte versucht, meinen Wohnsitz von London aufs Land zu verlegen. Ich hatte alle Brücken hinter mir abgebrochen, Bills Firma verlassen, in Rekordzeit meine Wohnung verkauft und meine Sachen eingelagert. Gleichzeitig hatte ich alle Leute angeschrieben, die ich in der Branche kannte, erste unverbindliche Gespräche geführt und all meine Optionen in Betracht gezogen. Als potenzielle Orte für meinen Neuanfang hatte ich Wales und Lincolnshire in Betracht gezogen und ein paar Tage lang sogar die Bretagne, wo anscheinend viele Engländer verzweifelt darauf warteten, dass eine ehemalige, zur Innenausstatterin avancierte Malerin und Tapeziererin ihre pittoresken alten Bauernhäuser aufmotzte. Aber genau wie bei Alice, die beim Durchschreiten des Spiegels feststellt, dass sie rückwärts gehen muss, um voranzukommen, kam bei meinen ganzen Bemühungen das genaue Gegenteil von dem heraus, was ich eigentlich angestrebt hatte. Bei meinem Versuch, mich aus dem großen, sich drehenden Rad der Stadt zu lösen, war ich irgendwie direkt in seiner Nabe gelandet.

Ich wohnte zurzeit gleich südlich von King’s Cross in einem hohen, schmalen Haus, das ich komplett renovierte, während der Besitzer für neun Monate in Amerika weilte. Als er mir den Job angeboten hatte – eine extravagante modernistische Umwandlung der Art, wie sie mir immer vorgeschwebt hatte, mit freier Logis als zusätzlichem Anreiz –, hatte ich das Gefühl gehabt, einfach nicht nein sagen zu können. Eine solche Gelegenheit bekam ich womöglich nie wieder. Ich hatte mich von unten nach oben vorgearbeitet – die alte Küche herausgerissen und stattdessen ein Labor für Nahrungszubereitung eingerichtet, einen minimalistischen Wintergarten angefügt, das Wohnzimmer zum Garten hinaus geöffnet, das kleinste der Schlafzimmer in ein nobles Badezimmer umgewandelt. Acht von den neun Monaten waren inzwischen vergangen. Nun musste nur noch der Speicherraum, in dem ich schlief, verputzt, gestrichen und zum Himmel geöffnet werden.

»Du hast hier wirklich tolle Arbeit geleistet.« Don schob sich das letztes Stück Sandwich in den Mund und schlüpfte in seine Jacke.

»Es ist schön geworden, oder?«

»Und jetzt bist du fast fertig.«

»Ja.«

»Miranda?«

»Ja.«

»Danach …«

Aber in dem Moment begann oben im Schlafzimmer mein Handy zu klingeln, sodass wir uns eilig voneinander verabschiedeten. Als ich im Speicher nach meinem Telefon griff, hörte ich unten die Tür zufallen. Rasch trat ich unter das Dachfenster. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte und mir den Hals verrenkte, konnte ich ihn vielleicht noch sehen.

Eiligen Schrittes ging er die Straße entlang. Er hatte seine Krawatte vergessen.

Am frühen Abend drehten wir eine Runde mit dem Fahrrad und kehrten in einem Café ein. Obwohl es bereits kühl wurde, tranken wir unseren Kaffee im Freien. Wir waren nun schon fast ein Jahr zusammen, hatten alle vier Jahreszeiten miteinander erlebt. Er hatte mir geholfen, die kritischen Tage zu überstehen

– Troys Todestag, Weihnachten, Lauras Todestag. Ich hatte ihn meinen verwirrten Eltern vorgestellt, ihn zu Kerry und ihrem Verlobten mitgenommen, ebenso zu all meinen Freunden. Er ließ es sich gefallen, dass ich ihn um drei Uhr morgens aufweckte, um mit ihm über die Dinge zu sprechen, über die ich tagsüber nicht reden wollte. Er war mit mir durch Baustofflager gewandert und hatte sich bemüht, Interesse für die verschiedenen Holzarten zu zeigen, oder mir die Leiter gehalten, während ihm von oben Farbe aufs Haar tropfte. Im Moment radelte er neben mir her, und ich betrachtete ihn liebevoll.

Offenbar spürte er meinen Blick, denn er hob den Kopf und scherte gleichzeitig ein wenig aus. Mein Herz zog sich zusammen.

Als wir wieder in seiner Wohnung waren, bereitete er ein Abendessen für uns zu, während ich auf der alten Kirchenbank saß, die er im Reclamation Centre gekauft hatte, und ihm zusah.

Nachdem er sich zum Essen hingesetzt hatte, nahm er eine kleine Gabel voll, schob den Teller aber gleich wieder weg.

»Ähm – was ich heute Nachmittag sagen wollte …«

»Ja?«

»Du weißt schon, wegen deiner weiteren Pläne. Na ja, ich habe mir gedacht – du könntest doch bei mir einziehen.«

Ich setzte zu einer Antwort an, aber er hielt mich mit einer Handbewegung zurück.

»Moment. Das ist jetzt ganz falsch rübergekommen. ›Du könntest doch bei mir einziehen.‹ Das wollte ich gar nicht sagen.

Ich meine, natürlich kannst du bei mir einziehen, aber eigentlich wollte ich damit etwas ganz anderes ausdrücken. Und wenn ich sage, ich habe mir gedacht, du könntest bei mir einziehen, dann klingt das, als wäre es mir gerade erst eingefallen. Dabei denke ich an nichts anderes mehr.«

»Du verwirrst mich.«

»Das liegt daran, dass ich so aufgeregt bin.« Er holte tief Luft und sagte dann: »Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mit dir zusammenzuleben.« Nervös drehte er den Stiel des Weinglases zwischen seinen Fingern hin und her. »Ich wünsche mir, dass du meine Frau wirst, Miranda.«

Glück blubberte in mir hoch wie eine unterirdische Quelle, die den Weg an die Oberfläche gefunden hatte. Ein unerwartetes, unverdientes Glück, das in mein durch Verluste geprägtes Leben getreten war, als ich ihn kennen lernte.

»Ich möchte Kinder mit dir haben …«, fuhr er fort.

»Don«, sagte ich.

»Ich möchte mit dir alt werden. Nur mit dir. Mit niemand anderem als mit dir. So, jetzt weißt du es.«

»Oh«, antwortete ich.

»Ich habe so was noch nie gesagt.« Er schnitt eine Grimasse und rieb sich die Augen. »Eigentlich wärst du jetzt mit einer Antwort dran, glaube ich.«

»Hör zu, Don«, begann ich.

»Ich höre.«

Ich beugte mich vor, nahm sein wundervolles, kluges, liebes Gesicht in beide Hände und küsste ihn erst auf die Augenlider und dann auf den Mund.

»Ich liebe dich«, sagte ich. »Ich liebe dich sehr. Sehr, sehr, sehr. Nur dich.«

»Das ist gut«, antwortete er.

»Kannst du ein bisschen warten?«

»Warten?«

»Ja.« Ich wich seinem Blick nicht aus.

»Natürlich kann ich warten – aber bedeutet das, dass du dir nicht sicher bist? Was mich betrifft, meine ich?«

»Nein. Das bedeutet es überhaupt nicht.«

»Was dann?«

»Ich bin mir meiner Gefühle für dich absolut sicher. Früher habe ich mich immer gefragt, woran man wohl erkennt, dass es der Richtige ist. Inzwischen weiß ich es.«

»Warum willst du dann warten?«

»Das ist ziemlich kompliziert«, antwortete ich ausweichend.

»Hast du Angst?«

»Du meinst, mich zu binden oder so was?«

»Nicht direkt. Aber vielleicht hast du nach allem, was du durchgemacht hast, das Gefühl, dass es falsch ist, glücklich zu sein.«

»Nein, das ist es nicht.«

»Oder vielleicht glaubst du, dass du immer noch in Gefahr bist und damit jeder, der mit dir zusammen ist, ebenfalls. Wir haben darüber schon ein paarmal gesprochen – dass du das Gefühl hattest, die anderen anzustecken. Ist es das? Hast du Angst, dass jeder, den du liebst, sterben muss?«

»Du bist der Psychologe«, antwortete ich.

»Ich habe damit nämlich kein Problem«, erklärte er. »Das ganze Leben ist ein Risiko. Man muss sich nur entscheiden, auf welche Art von Risiko man sich einlassen möchte. Ich habe mich schon vor langer Zeit entschieden. Jetzt musst du es auch tun.«

Ich legte meine Hände über seine, drehte seine Handflächen nach oben und küsste sie. »Ich habe mich entschieden«, sagte ich.

»Du weinst ja«, stellte er fest. »In dein Essen.«

»Tut mir Leid.«

»Natürlich werde ich warten.«

Ich habe einen Mann kennen gelernt. Don. Ich wünschte, du könntest ihn auch kennen lernen. Ich glaube, du würdest ihn mögen. Er würde dich bestimmt mögen. Das ist ein ganz seltsames, beunruhigendes Gefühl – ach, ich weiß auch nicht, irgendwie kommt es mir einfach nicht richtig vor, dass ich wieder jemanden liebe. Ich hätte nie gedacht, dass mir das noch mal passieren würde – nicht nach alldem. Ich dachte, das wäre für mich endgültig vorbei. Und manchmal – nein, eigentlich sogar ziemlich oft – habe ich plötzlich das panische Gefühl, dass es wirklich nicht richtig ist. Glücklich zu sein, meine ich, obwohl du nicht mehr bei mir bist, Laura nicht mehr lebt und Mum und Dad völlig am Ende sind und so viele Menschen gelitten haben.

Durch meine Schuld. Zumindest denke ich das. Ich habe alle mit diesem ganzen Schrecken angesteckt. Du würdest über diesen Satz wahrscheinlich süffisant grinsen, ich sehe dein Gesicht förmlich vor mir, aber ich habe trotzdem Recht. Du wirst mir immer fehlen, Troy. Jede Minute jedes Tages jeder Woche jedes Jahres, das mir noch bleibt. Wie kann ich mir da erlauben, wieder glücklich zu sein? Vielleicht ist das gar nicht möglich.

Wir werden sehen.

40. KAPITEL

Meine Augen waren fest geschlossen, mein Atem ging stoßweise. Mein Herz schlug so schnell, dass mein ganzer Körper zu surren schien. Ich schwitzte. Den Schmerz spürte ich kaum, auch wenn ich wusste, dass er da war. In meinem Gesicht, im Bereich des Kinns. Ich schmeckte Blut, warm und metallisch. Mein Hals hatte auch etwas abbekommen. Meine Rippen schmerzten, wahrscheinlich hatte ich Blutergüsse. Meine Augen waren noch immer geschlossen, aus Angst vor dem, was ich sehen würde. Ich hörte jemanden kommen, spürte die Schritte auf der Treppe. Die Finger, die mich schließlich berührten, strichen nur ganz sanft über mein Gesicht und meine Wangen, ließen mich aber trotzdem zusammenzucken. Ich machte die Augen nicht auf, murmelte bloß etwas vor mich hin.

»Um Gottes willen, Miranda!«, sagte die Stimme. »Ich habe Glas splittern gehört … Was zum Teufel? Miranda?«

Ich öffnete die Augen. Das Licht schmerzte. Don. Dons liebes Gesicht blickte besorgt auf mich herab. Dann lief er zum Fenster. Ich murmelte wieder etwas, aber Don verstand mich nicht. Er kam zurück, beugte sich über mich.

»Er hat gesagt, er wolle mich umbringen.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Wer?«

»Er hat mir wehgetan«, sagte ich. »Wehgetan.«

Seine Miene verfinsterte sich. »War er es? Brendan?«

»Er hat gesagt, er wolle mich fertig machen.«

»Was hat er getan?«

Ich spürte, wie er erneut sanft mein Gesicht berührte, mir übers Haar streichelte, meine Bluse öffnete, um die Verletzungen näher in Augenschein zu nehmen.

»Du blutest.«

Ich stöhnte. Er blickte sich um.

»Da ist Blut auf dem … Was zum Teufel hat dir dieser Mistkerl angetan? Ich rufe die Polizei. Und einen Krankenwagen.«

»Nein«, protestierte ich und richtete mich halb auf. Der Schmerz ließ mich zusammenzucken. »Nein … es ist nicht …«

»Was redest du denn da?«, entgegnete Don fast wütend.

»Tut mir Leid, Miranda. Da kann ich nicht auf dich hören.«

Sein Handy piepste dreimal kurz, als er die Nummer eingab.

Als ich mich zurücksinken ließ, hätte ich fast aufgeschluchzt, nicht nur vor Schmerz, sondern auch, weil mir vor dem graute, was jetzt kommen würde.

Ich war nicht mehr dabei, als die Polzeibeamten den Raum durchsuchten, das Blut von der Wand tupften, Haare vom Teppich aufsammelten und das Messer in eine Plastiktüte steckten. Dafür war ich dankbar. Ich hätte dabei das Gefühl gehabt, die Situation nach Troys Tod noch einmal durchleben zu müssen. Don erzählte mir später davon. Er hatte eigentlich mit mir ins Krankenhaus fahren wollen, aber einer der Polizeibeamten hatte ihn gebeten dazubleiben und mitzuhelfen, die Gegenstände am Tatort zu identifizieren, damit sie wüssten, was davon mir gehörte, was Don und was »fremd« war. Viel, viel später erzählte mir Don, er habe es – trotz seiner Sorge um mich – sehr interessant gefunden, wie die Experten von der Spurensicherung mit all ihren besonderen Handschuhen, Pinzetten und Skalpellen hantierten, Beweisstücke in Plastiktüten verstauten und mit Etiketten versahen, von allem Aufnahmen machten. Für ihn sei es eine ziemlich aufregende Erfahrung gewesen, sich innerhalb der Absperrung zu befinden, die den Tatort von der Welt draußen abgrenzte.

Währenddessen wurde ich in Begleitung einer Polizeibeamtin ins Krankenhaus gebracht. Die Polizistin war für mich wie eine VIP-Eintrittskarte, die bewirkte, dass ich mich nicht am Ende der Schlange anzustellen brauchte. Ich wurde durch einen Wartebereich voller Leute geführt, die sich trotz ihrer diversen Verletzungen für mich interessierten – eine junge Frau, die von zwei Krankenschwestern und einer uniformierten Beamtin begleitet wurde. Was mir wohl Schlimmes widerfahren war? Sie selbst würden bestimmt stundenlang warten müssen. Bei mir dauerte es kaum zwei Minuten, und schon wurde ich von einem jungen Arzt und einer Krankenschwester untersucht. Eine Minute später machte der junge Arzt einem älteren Platz, der einen weißen Mantel und eine gepunktete Krawatte trug. Ich war ziemlich nervös, wie meist, wenn man mit Ärzten zu tun hat.

Er untersuchte mein Gesicht und das Innere meines Mundes.

»Womit wurden Sie geschlagen?«, fragte er.

»Mit einer Wand«, antwortete ich.

»Wissen Sie, wer es getan hat?«

Ich nickte. Er wandte sich an die Beamtin.

»Sie werden das fotografieren müssen. Den Hals auch.«

»Es ist schon jemand unterwegs«, antwortete sie.

»Wir werden eine Röntgenaufnahme machen, aber der Wangenknochen ist aller Wahrscheinlichkeit nach gebrochen.«

Ich stieß einen Schmerzensschrei aus, weil er leicht mit einem Finger gegen meine Wange gestupst hatte, als wollte er seine Theorie testen. Er leuchtete mir mit einer kleinen Taschenlampe in Augen und Ohren. Dann hielt er einen Finger hoch und forderte mich auf, auf die Spitze zu schauen, während er ihn bewegte.

»Hat er sich sexuell an Ihnen vergriffen?«, fragte er.

»Nein.«

Trotzdem bat er mich, mich auszuziehen, damit er mich untersuchen konnte. Die Beamtin nannte mir ihren Namen – sie hieß Amy O’Brien – und fragte mich, ob es mir etwas ausmache, wenn sie bei der Untersuchung anwesend sei. Ich schüttelte den Kopf. Während ich mich auszog, erklärte sie, dass sie meine Kleidung als Beweismaterial benötigen würden, und bat mich, sie gleich mitnehmen zu dürfen.

»Was soll ich denn dann anziehen?«

»Wir besorgen Ihnen ein Nachthemd«, mischte sich der Arzt ein.

»Vielleicht könnte Ihnen Ihr, ähm …«, begann Amy.

»Mein Freund.«

»Meinen Sie, er könnte Ihnen ein paar Sachen hierherbringen?«

»Ja, bestimmt.«

Nach dem Röntgen wurde ich fotografiert und anschließend in ein Einzelzimmer gebracht. Auf dem Tisch stand eine Vase ohne Blumen, und durchs Fenster sah man die Häuserwand gegenüber. Der Arzt erklärte, sie wollten mich eine Nacht zur Beobachtung dabehalten. Amy fügte hinzu, sobald ich mich besser fühlte, würden sie gern meine Aussage aufnehmen. Je eher, desto besser. Ich antwortete, das könnten wir sofort machen. Es ging alles ganz schnell. Innerhalb einer Stunde klopfte ein Detective an meine Tür, zog seine Jacke aus und holte einen Stapel Papier aus seiner Tasche. Er hieß Seb Brett und war extrem blass, als würde er sich die ganze Zeit im Dunkeln aufhalten. Er zog sich einen kleinen Tisch an mein Bett, und nun ging alles ganz langsam. Ich kam mir vor, als wäre ich wieder in der Schule. Er schrieb sich erst mal meinen Namen, meine Adresse und mein Geburtsdatum auf. Dann schob er seine Finger ineinander und bog sie mit einer abrupten Bewegung nach hinten durch, sodass seine Gelenke krachten wie trockene Holzstöckchen. Ein unangenehmes Geräusch.

»So«, sagte er. »Nun bitte von Anfang an.«

Es bestand kein Zeitdruck, kein Mangel an Papier. Ich erzählte ihm die Geschichte in allen Einzelheiten: Wie Brendan an der Tür geklingelt und sich gewaltsam Zutritt zur Wohnung verschafft hatte; wie er mich am Hinterkopf gepackt und mein Gesicht gegen die Wand geknallt hatte; wie er plötzlich aus irgendeiner Tasche ein Messer zog und es mir an den Hals drückte. Wie ich ihn anflehte, mir nichts zu tun, woraufhin er lächelnd antwortete, nun werde er mich endlich kaltmachen.

Dann hörte ich plötzlich die Wohnungstür. Brendan sprang erschrocken auf und rannte davon, wohin, konnte ich nicht sehen. Obwohl das Ganze nur ein paar Minuten gedauert hatte, brauchte ich zwei Stunden und vierzehn Seiten Papier, um meine Aussage zu machen. Am Ende fühlte ich mich total erschöpft, aber Detective Brett bat mich, alles noch mal durchzulesen und am Ende jeder Seite zu unterschreiben. In Seb Bretts runder, sauberer Handschrift klangen meine Worte irgendwie ganz anders. Er hatte aufgeschrieben, was ich gesagt hatte, bloß manches ein wenig anders formuliert. Obwohl es inhaltlich genau stimmte, kam es mir ein bisschen so vor, als wäre es von einem Computer in eine andere Sprache übertragen und dann von einem anderen Computer wieder ins Englische rückübersetzt worden. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, sodass ich auch fürs Durchlesen sehr lang brauchte. Als ich etwa die Hälfte geschafft hatte, klopfte es an der Tür. Instinktiv spürte ich, dass dieses Klopfen nichts Gutes verhieß. Es war Rob Pryor.

»Miranda«, sagte er. »Ich habe es gerade gehört. Ich bin sofort rübergekommen. Wie fühlen Sie sich?«

»Miserabel«, antwortete ich.

»Kein Wunder.« Er kam zum Bett und griff nach den Seiten, die ich bereits gelesen hatte. »Darf ich?«

Ich warf einen Blick zu Brett hinüber, der lediglich mit den Achseln zuckte. Also ließ ich ihn. Nun konnte ich mich erst recht nicht mehr konzentrieren. Während Rob die Seiten las, mit denen ich fertig war, versuchte ich mich durch den Rest zu kämpfen, verlor aber immer wieder den Faden, sodass er mich schnell eingeholt hatte. Jedes Mal, wenn ich mit einem Blatt fertig war, nahm er es mir sofort aus der Hand. Beim Lesen stieß er hin und wieder ein spöttisches »Ts-ts-ts«-Geräusch aus, das mich rasend machte. Als ich ihm die letzte Seite reichte, gab er sie mir gleich wieder zurück.

»Sie müssen weiter oben unterschreiben, da, wo der Text endet«, erklärte er.

»Warum?«

»Damit nicht irgendein böser Polizist zwischen Text und Unterschrift einfügen kann: ›Und dann wachte ich auf und stellte fest, dass alles nur ein Traum war.‹ Was Sie ja dann mit Ihrer Unterschrift bestätigen würden.«

Ich unterschrieb gleich neben dem letzten Wort, das »Polizei«

lautete.

»Wie haben Sie so schnell davon erfahren?«, fragte ich.

»Mr. Block wird bereits verhört. Er hat mich angerufen.«

»Aber was haben Sie damit zu tun?«

»Wie Sie sehr genau wissen, hatte ich im Rahmen meiner Arbeit schon öfter mit ihm zu tun, und deswegen dachte ich mir, eine gewisse Kontinuität wäre von Vorteil …«

»Das klingt, als wäre er Ihr Klient.«

»Ganz und gar nicht«, entgegnete er schroff.

Ich wandte mich an Brett.

»Ist das überhaupt zulässig? Pryor ist ein Freund von Brendan.«

Brett sah ihn fragend an. Pryor ging zu ihm, und die beiden sprachen eine Weile im Flüsterton miteinander, sodass ich kaum etwas verstand. Das ging ein paar Minuten so, wobei Brett mehrmals ziemlich verwirrt dreinblickte. Am Ende nickte er und sah mich an.

»DI Pryor hat mich gefragt, ob er kurz mit Ihnen sprechen kann. Sind Sie damit einverstanden?«

»Worüber wollen Sie mit mir reden?«

»Es dauert bloß eine Minute«, antwortete Pryor.

»Ich glaube das einfach nicht«, wandte ich mich an Brett.

»Wissen Sie überhaupt, wer dieser Mann ist? Genauso gut könnten Sie Brendans Anwalt zu mir hereinschicken, damit er mich mal kräftig in die Mangel nimmt. Und das, nachdem das Ganze gerade erst passiert ist. Das ist doch wirklich … ich bin erst vor ein paar Stunden von diesem Wahnsinnigen angegriffen worden!«

»Ich habe Seb gerade von Ihrer früheren Verbindung mit Mr. Block erzählt.«

»Und?«

Pryor setzte sich neben mein Bett. Es war fast, als würde Brendan selbst auf dem Stuhl sitzen. Seine Nähe verursachte mir ein Gefühl von Übelkeit. Er musterte mich eindringlich. Ich erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Das sieht aber nicht schön aus, Miranda«, meinte er schließlich. »Das tut bestimmt weh.«

Ich gab ihm keine Antwort.

»Um welche Zeit hat das Ganze stattgefunden?«, fragte er.

»Sie haben doch gerade meine Aussage gelesen.«

»Ihr Freund hat heute Abend um – wann war es noch mal? –, um fünf nach sieben bei der Polizei angerufen.«

Ich sagte noch immer nichts. Ich würde mich von ihm nicht in ein Gespräch verwickeln lassen.

»Ihr Freund«, wiederholte Pryor. »Er ist irgend so eine Art Doktor, oder?« Ich zuckte nur mit den Achseln. Er beugte sich vor, sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Wissen Sie, was?«

»Nein«, antwortete ich. »Was?«

»Ich glaube Ihnen nicht.«

»Was?«

»Hat er Ihnen geholfen? Ihr Freund? Er wäre dazu durchaus in der Lage, stimmt’s? Ein paar Blutergüsse, ein paar schöne Schrammen, das macht viel her, richtet aber nicht viel Schaden an.«

»Was zum …?«, stammelte ich. »Was sagen Sie da?«

»Er hatte ein Messer«, erklärte Brett. »Er hat es fallen lassen.

Wir überprüfen gerade die Fingerabdrücke.«

»Sie haben zusammengewohnt«, entgegnete Pryor. »Falls auf dem Messer wirklich seine Fingerabdrücke sind, könnten sie noch von damals stammen.«

»Wir haben nie zusammengewohnt«, widersprach ich.

»Was zum Teufel soll das?«

Sein Gesicht war jetzt so nah vor meinem, dass ich ihn fast riechen konnte. »Er hat ein Alibi«, erklärte er.

Ich holte tief Luft. Es fiel mir sehr schwer, mich zu beherrschen.

»Das interessiert mich nicht«, sagte ich schließlich. »Warum erzählen Sie mir das? Ich war dort, ich weiß, was ich weiß.«

»Wollen Sie denn gar nicht hören, wer sein Alibi ist?«

»Na schön. Wer?«

»Seine Freundin, Naomi Stone.« Er sah mich triumphierend an. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck schon. »Das scheint Sie nicht besonders zu treffen«, fügte er hinzu.

»Vielleicht habe ich mich inzwischen daran gewöhnt, dass mir nie jemand glaubt«, antwortete ich. »Wie gesagt, ich war dort.

Er hat mir das Messer an die Kehle gehalten. Sehen Sie her.«

Ich hob mein Kinn.

Er klatschte leise in die Hände.

»Oh, sehr gut«, sagte er. »Eine reife schauspielerische Leistung. So würdevoll. Nicht übertrieben. Ziemlich überzeugend. Aber Sie haben darin schließlich auch schon Übung.«

Ich versuchte mich zu konzentrieren. Lass dich nicht von ihm provozieren.

»Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen, dass Sie sich irren und Brendan tatsächlich gefährlich sein könnte?«

»Egal, was Sie sagen«, entgegnete Pryor. »Er kann Sie nicht angegriffen haben. Er war zu Hause. Er war auch noch zu Hause, als die Polizei bei ihm angerufen hat. Laut Ms. Stone hat er das Haus den ganzen Abend nicht verlassen.« Er griff nach meiner Aussage und warf noch einmal einen Blick darauf. »Sie erwähnen ein dunkelblaues Hemd. Als ich ihn vor ein paar Minuten sah, trug er ein braunes.«

»Er kann sich umgezogen haben«, erwiderte ich. »So was kommt vor, ob Sie es glauben oder nicht.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Mr. Block macht gerade seine Aussage. Ein paar Telefonate, dann können wir diese Farce beenden. Wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen …« In dem Moment wurde Pryor vom Klingeln seines Handys unterbrochen. Mit einem genervten Seufzer zog er es aus der Tasche. »Ja?«

Plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. »Was sagen Sie da?« Er warf mir einen raschen Blick zu. Seine Augen wirkten plötzlich seltsam glasig. »Ja, ich komme sofort.«

Nachdem er das Gespräch beendet hatte, murmelte er Brett etwas zu, stürmte dann aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Brett schnitt eine Grimasse. Ich glaube, im Großen und Ganzen war er auf meiner Seite. Er folgte Pryor. Endlich war ich mal ein paar Minuten allein. Ich ließ mich auf mein Kissen sinken, starrte zur Decke und versuchte meinen Kopf von alldem zu befreien. Plötzlich hatte ich das Gefühl, mich in einer ganz anderen Welt zu befinden, in der mich diese Ereignisse und Probleme nicht mehr betrafen. Als die Tür wieder aufging, wandte ich nur leicht den Kopf. Es war eine weitere Polizeibeamtin. Sie setzte sich in die Ecke, unternahm aber keinen Versuch, ein Gespräch mit mir anzufangen. Ich versuchte zu schlafen, aber das war hoffnungslos. Trotzdem schloss ich die Augen, damit sie mich in Ruhe ließen.

Etwa nach einer Stunde ging die Tür erneut auf, und jemand trat an mein Bett.

»Sind Sie wach?«

Ich schlug die Augen auf. Brett.

»So halb«, antwortete ich. »Was ist los? Sie sehen so fröhlich aus.«

»Entschuldigung«, sagte er. »Wie fühlen Sie sich?«

»Ich weiß nicht so recht.«

»Morgen wird es schlimmer sein.«

»Ja, das hat mir der Arzt auch schon gesagt. Sie haben mir Tabletten gegen die Schmerzen gegeben.« Wir schwiegen einen Moment. »Was ist passiert? Was war denn plötzlich mit Pryor los?«

Auf Bretts Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

»Er ist im Augenblick kein sehr glücklicher Mann«, antwortete er. »Meine Kollegin hat mit Naomi Stone gesprochen. Nur um zu sehen, ob sie sich wegen des Alibis auch wirklich sicher ist. Sie hat Ms. Stone von den Haaren erzählt, die am Tatort gefunden wurden. Und von dem Messer.«

»Und?«

»Sie hat ihr Alibi zurückgezogen. Und es kommt noch besser: Wir haben das dunkelblaue Hemd gefunden.«

»Wo?«

»Es war nicht bei seinen anderen Sachen, sondern steckte ganz unten in einer Mülltüte vor seinem Haus. Es hat ein paar Flecken. Sie müssen zwar erst noch genauer untersucht werden, aber wir wissen bereits, dass es sich um Blut handelt.

Menschliches Blut.«

»Meines?«

»Wir werden sehen. Ich habe zu Rob Pryor gesagt, dass er kommen und sich bei Ihnen entschuldigen soll.«

»Was hat er geantwortet?«

»Dass er zu einem wichtigen Termin muss. Es ist noch nicht offiziell, aber ich glaube, ich kann Ihnen trotzdem schon verraten, dass wir morgen früh Anklage gegen Mr. Block erheben werden.« Er nahm meine Hand. »Wir lassen Sie jetzt allein.«

Brett und die Polizistin verließen den Raum. Bevor sie die Tür hinter sich zuzogen, schalteten sie das Licht aus. Ich dachte noch eine Weile über alles nach, versuchte meine Gedanken zu ordnen, aber inzwischen war ich so müde, dass ich bald in einen traumlosen Schlaf sank.

41. KAPITEL

Ich verbrachte viel Zeit damit, einen geeigneten Ort auszuwählen. Zuerst dachte ich an einen Platz mit vielen Menschen, Oxford Street oder Trafalgar Square. In einer Menschenmenge konnte man sich zumindest verlieren, namenlos und unsichtbar werden. Aber ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Als Nächstes zog ich eine Autobahnraststätte in Betracht, wo man auf einem Parkplatz stehen oder an einem Ecktisch neben einem Fenster sitzen und Doughnuts essen und dazu bitteren Kaffee trinken konnte. Aber an einer solchen Raststätte machten zu viele Menschen Halt, und schon ein Einziger genügte. Vielleicht vor einer U-Bahn-Station in irgendeinem Vorort, an der Endstation, wo London langsam ausläuft, man aber trotzdem noch nicht auf dem Land ist. Oder irgendwo auf einer sumpfigen Wiese. Ich konnte die Strecke vorher abfahren und dann eine detaillierte Wegbeschreibung formulieren: die M11 bis Junction 10, dann die A 505 in östlicher Richtung. Eine Mülldeponie, eine Wäscherei in einer tristen Kleinstadt, ein Rastplatz an einer Schnellstraße, ein Wald in der Nacht …

An einem schönen und klirrend kalten Neujahrstag stand ich ganz früh auf. Bevor ich ging, küsste ich Don auf die Wange, aber nur ganz sanft, damit er nicht aufwachte. Dann blickte ich noch einen Moment auf ihn hinunter. Ja. Er war der Richtige.

Ich nahm den Wagen und lenkte ihn stadtauswärts. Die Straßen waren fast leer. Ich fuhr über die Blackfriars Bridge, von wo ich die Kuppel von Saint Paul’s im eisigen Licht leuchten sah, dann weiter durch New Cross, Blackheath und auf die A 2. Kurz nach Gravesend legte ich einen kurzen Zwischenstopp ein, um zu tanken. Ich war schon im Begriff, dem Mann an der Kasse meine Kreditkarte zu geben, als ich es mir anders überlegte und bar bezahlte. An der Tankstelle nahm ich mir auch gleich noch einen Becher Kaffee mit, den ich im Wagen trank, bevor ich weiterfuhr. Ich war inzwischen ganz ruhig. Im strahlenden Licht dieses schönen Wintertags sah ich die Dinge plötzlich mit neuer Klarheit und Schärfe.

Ich bog auf die M 2 ein und nahm ein paar Kilometer später die Ausfahrt Richtung Sheerness. Ich konnte bereits die Medway-Mündung sehen, die Sumpfebene und die Grüppchen schäbiger Häuser, zwischen denen sich ein paar kahle Bäume im Wind bogen. Über alldem spannte sich ein weiter, wolkenloser Himmel. Bald setzte ich auf die Insel Sheppey über. Ich hielt an und warf einen Blick auf meine Landkarte, ehe ich weiterfuhr.

Am Kreisverkehr rechts, nach ein paar Meilen wieder rechts, eine holprige kleinere Straße entlang, dann links auf die Kirche zu, deren Turm schon kilometerweit zu sehen war. An der Kirche parkte ich und warf einen Blick auf die Uhr. Zehn. Ich musste noch drei Kilometer gehen und hatte dafür eine knappe Stunde Zeit.

Als ich die Wagentür öffnete, schlug mir eisige Kälte entgegen, und ich konnte die wehmütig klingenden Schreie der Seevögel hören. Ich zog meine warme Jacke an, vermummte mich mit Schal und Wollmütze und schlüpfte in Handschuhe.

Trotzdem hatte ich das Gefühl, als würde mir der scharfe Wind die Haut von den Wangen reißen. Ich marschierte los. Wäre Don jetzt bei mir gewesen, hätte er mir die Namen der Vögel nennen können, die über mir in der Luft kreisten oder im Sturzflug aufs Wasser herabschossen. Ich rieb meine Hände aneinander, um die Durchblutung anzuregen. Außer mir war kein Mensch zu sehen. Ein paar Schafe knabberten an Grasbüscheln, und hin und wieder stelzte ein Vogel auf langen Beinen vorsichtig über eine Schlammfläche. Ich kehrte dem Meer den Rücken zu und marschierte auf das landeinwärts gelegene Sumpfgebiet zu.

Nach etwa vierzig Minuten sah ich am Horizont einen Punkt auftauchen, der schnell größer wurde. Aus dem Punkt wurde eine Gestalt, die auf mich zukam. Eine Frau in einem dicken Mantel. Sie trug eine Mütze, aber ein paar Strähnen ihres blonden Haars waren entwischt und wehten über ihre bleichen Wangen. Keine von uns winkte oder verlangsamte ihre Schritte.

Wir gingen einfach weiter aufeinander zu, bis wir nur noch ein paar Schritte voneinander entfernt waren.

»Naomi«, sagte ich.

»Hallo.«

»Alles gut gegangen?«

»Ich habe aufgepasst. Wie Sie gesagt haben.«

Ich hatte sie seit jenen Tagen vor Gericht nicht mehr gesehen.

Damals hatte ich mich krampfhaft bemüht, nicht zu ihr hinzuschauen. Trotzdem war ich mir ihrer Anwesenheit ständig bewusst gewesen. Einmal waren sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde begegnet, woraufhin wir beide ganz schnell wieder weggeschaut hatten, als hätten wir uns verbrannt.

Sie hatte abgenommen und war auffallend blass. Außerdem wirkte sie älter, Jahre älter als die Frau mit dem offenen, lieben Gesicht, die ich im Crabtrees kennen gelernt hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie ihre Unschuld verloren hatte. Binnen weniger Monate waren ihr all ihre Illusionen geraubt worden. Brendan hatte ganze Arbeit geleistet.

»Sollen wir ein Stück gehen?«, fragte ich sie. Naomi nickte.

Wir wanderten den Pfad zurück, den sie gekommen war.

Anfangs mussten wir hintereinander gehen, dann wurde der Weg breiter. Wir erreichten einen Campingplatz, der in seiner Verlassenheit fast gespenstisch wirkte. Von hier führte der Weg weiter zum Deich. Vor uns lag das weite Mündungsgebiet, auf der anderen Seite die flache Küste Kents. Am Rand des Wassers lagen Kieselsteine und Muschelstücke, aber auch alte Dosen, zerbrochene Flaschen, zerfetzte Plastiktüten.

»Hatten Sie Probleme, sich unbemerkt davonzustehlen?«

»Es gibt im Moment eigentlich niemanden, der darauf achtet, was ich tue.« Ihre leise Stimme klang ausdruckslos.

»Und bei Ihnen?«

»Ich habe zu Don gesagt, dass ich mir ein Haus ansehe. Ein potenzielles neues Arbeitsprojekt.«

»Oh.«

Ein paar Minuten lang hörte man nur das Knirschen des gefrorenen Grases unter unseren Füßen. Ich war mir sicher, dass wir gerade beide an dasselbe dachten – jene seltsame Stunde, in der wir uns getroffen hatten, um wie zwei Hexen die Köpfe zusammenzustecken, im Flüsterton Pläne zu schmieden und verstohlen ein paar Dinge auszutauschen. Sie hatte aus ihrer Tasche eine kleine Plastiktüte mit ein paar dunklen Haaren hervorgeholt, die sie aus Brendans Bürste gezogen hatte, außerdem das in weiche Papiertücher gehüllte Tranchiermesser mit der gezackten Klinge, das sie mir vorsichtig reichte, um ja nicht den hervorlugenden Griff zu berühren. Dann hatte sie ein dunkelblaues Hemd herausgeholt und vor uns ausgebreitet. Ich hatte ihr meinen linken Zeigefinger hingehalten, in den sie, widerstrebend und nervös auf ihrer Unterlippe kauend, mit einer Sicherheitsnadel hineinstach. Aus meiner Fingerspitze quoll ein dunkler Tropfen Blut, den ich in Kragennähe über das Hemd verteilte. Anschließend rieb ich noch ein paarmal mit dem Finger über den Stoff.

»Darf ich Sie was fragen?«, brach Naomi jetzt das Schweigen.

»Klar.«

»Wie haben Sie das mit Ihrer Wange damals so hinbekommen? Sie haben bei der Verhandlung noch schrecklich ausgesehen, obwohl das Ganze doch schon Wochen zurücklag.«

Das schien alles so lange her zu sein.

»Als ich Don draußen kommen sah, knallte ich mein Gesicht gegen die Wand, so fest ich konnte, als würde mich jemand an den Haaren halten und dagegenschleudern. Das habe ich so lange wiederholt, bis ich vor lauter Blut nichts mehr sehen konnte.«

»Wie haben Sie das bloß geschafft?«, flüsterte sie.

»Ich habe an Troy gedacht – auch an Laura, aber hauptsächlich an Troy. Da fiel es mir plötzlich ganz leicht; einen Moment lang tat es mir sogar irgendwie gut. Es war überhaupt kein Problem.«

Naomi nickte, als könnte sie mich verstehen.

»Sie müssen mir auch etwas erzählen«, sagte ich. »Ich hatte bisher nie die Zeit, Sie danach zu fragen.«

»Ja?«

»Wie haben Sie die Wahrheit über Brendan herausgefunden?«

»Sind Sie sicher, dass Sie das wissen wollen? Es könnte vielleicht schmerzhaft …«

»Sagen Sie es mir.«

»Er hat mir berichtet, was er mit Troy gemacht hat, und gesagt, er würde mit mir dasselbe tun, wenn ich ihn verließe.«

Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und ich spürte ein Brennen hinter den Augen. Ich blinzelte in den Wind, blieb aber nicht stehen. Irgendwie ist es leichter, über schreckliche Dinge zu sprechen, wenn man sich bewegt und den Blick dabei auf einen Punkt in der Ferne richtet.

»Er hat Ihnen wirklich davon erzählt?«

»Ja.«

»Warum?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht aus demselben Grund, warum er den Strick behalten hat? Aus einer Art wahnhaften Selbstsicherheit heraus? Manches werden wir wahrscheinlich nie erfahren, oder?«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Aber warum sind Sie dann nicht zur Polizei gegangen?«

»Ich musste daran denken, wie es Ihnen ergangen war. Ich wusste nicht, ob man mir glauben würde.«

»Was genau hat er gesagt?«

»Dass er ihn mit Tabletten voll gepumpt und dann an dem Balken aufgehängt hat. Dass er ihn einfach sterben ließ.«

»Was noch?«

»Er hat gesagt –« Sie wandte sich kurz zu mir, dann richtete sie den Blick wieder auf den Weg. »Er hat gesagt, Troy habe noch versucht, etwas zu sagen.«

»Was?« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.

»Er hat versucht, Ihren Namen zu sagen.«

Ich lief weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Es ist schwer zu verstehen, wie man es schafft weiterzugehen, wenn der Schmerz so groß ist, dass man eigentlich nur noch den Wunsch verspürt, sich zusammenzukrümmen, die Arme um den Körper zu schlingen und wie ein Baby zu schreien. Er hatte versucht, meinen Namen zu rufen, weil er glaubte, dass ich bald nach Hause käme. Ich hatte ihm versprochen zu kommen. Er hatte gehofft, ich könnte ihn noch retten. Aber ich war spät dran. Ich kam nicht.

»Geht es einigermaßen?«

Ich brachte ein zustimmendes Geräusch zustande.

»Ich nehme an, das hat ihm gehört.« Naomi zog eine Hand aus der Jackentasche und hielt mir ein Lederarmband mit drei matten Holzkugeln hin.

Ich nahm das Armband. »Ja, das hat ihm gehört. Seit er klein war. Er hat es sich gekauft, als wir mal alle zusammen in Italien im Urlaub waren. Es ist bloß ein billiges Ding.«

Trotzdem drückte ich es kurz an meine Wange, ehe ich es mir übers Handgelenk streifte.

»Mein Wagen parkt nicht weit von hier«, sagte Naomi.

Wir blieben stehen und sahen uns an.

»Was werden Sie tun?«, fragte ich.

Naomi blickte sich um, als befürchtete sie, im Schilf oder in dem langen, wogenden Gras könnte sich jemand verstecken und uns hören.

»Ich habe den Blick gesehen, mit dem er mich vor Gericht gemustert hat«, antwortete sie. »Als ich gegen ihn ausgesagt habe. Er hat mich angelächelt. Sie wissen ja, wie er dann lächelt.

In dem Moment wusste ich ganz genau, was ich tun würde. Ich gehe aus London weg. Fange irgendwo ein ganz neues Leben an.«

»Können Sie das einfach so?«

»Warum nicht? Ich habe keine Familie. Vielleicht war das der Grund, warum ich mich so in Brendan verliebt habe – ich dachte, wir zwei Waisen könnten uns in der bösen Welt gegenseitig beschützen.« Sie stieß ein hartes Lachen aus, das eher wie ein Bellen klang, und schüttelte dann den Kopf, als könnte sie die traurigen Gedanken auf diese Weise loswerden.

»Eines Tages wird er wieder auf freiem Fuß sein und versuchen, mich zu finden.«

»So schnell wird er dazu keine Gelegenheit haben.«

»Nein, aber ein paar Jahre sind schnell um. Wie viele werden es sein? Was glauben Sie?«

»Er hat zehn bekommen, also wird er nach fünf oder sechs wieder draußen sein – ein mit Sicherheit vorbildlicher Häftling, der alle ganz schnell für sich einnehmen wird. Aber Pryor hat gesagt, sie werden wegen Laura und Troy noch einmal ermitteln, vielleicht … na ja, wer weiß. Vielleicht bleibt er doch länger hinter Gittern.«

»Vielleicht, vielleicht nicht.«

»Wo werden Sie hingehen?«, fragte ich.

Sie musterte mich einen Moment eindringlich, als versuchte sie, sich mein Gesicht einzuprägen.

»Ins Ausland. Aber wahrscheinlich ist es besser, ich sage Ihnen nicht, wohin.«

»Da mögen Sie vielleicht Recht haben.«

»Ich weiß, dass ich Recht habe.«

»Viel Glück«, sagte ich. »Ich werde an Sie denken.«

»Was werden Sie tun?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Mir bleiben sechs Jahre. Die werde ich genießen, Tag für Tag, und versuchen, genauso sehr zu lieben, wie ich gehasst habe. Danach – wir werden sehen.«

»Oh«, sagte sie leise. »Dann warten Sie also noch immer?«

Ich verzog das Gesicht. Doch sie hatte natürlich Recht. Ich wartete immer noch auf Brendan, und wenn er kam, würde ich für ihn bereit sein – wie ein Soldat, der es sogar im Schlaf spürt, wenn sein Feind sich nähert.

»Wir werden uns niemals wiedersehen, oder?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Dann müssen wir jetzt Abschied nehmen«, sagte ich und lächelte sie zum ersten Mal an.

Wir streckten beide gleichzeitig den Arm aus. Unsere Hände berührten sich, und wir starrten uns in die Augen. Es war, als würde man in einen Abgrund blicken.

»Es war möglicherweise falsch, oder?«, fragte sie. »Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre, wenn ich mich vor jemandem rechtfertigen müsste, und ich weiß nicht, was ich dann sagen würde. Höchstens, dass ich es getan habe, um …«

»Um Ihr Leben zu retten«, fiel ich ihr ins Wort.

»Ich hoffe es«, antwortete sie. »Und Sie? Werden Sie es Ihrem

… Ihrem Freund sagen?«

»Don? Das sollte ich wohl. Aber ich werde es nicht tun. Ich behalte es lieber für mich.«

Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Wir ließen beide die Hand sinken.

»Passen Sie auf sich auf«, meinte sie.

»Sie auch.«

Sie drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Ich sah ihrer immer kleiner werdenden Gestalt nach, bis sie nur noch ein Punkt am Horizont war, der sich schließlich in nichts auflöste. Dann drehte ich mich ebenfalls um, stemmte mich gegen den Wind und ging, begleitet von den am Himmel kreisenden Vögeln, über das triste Marschland zurück zu der alten grauen Kirche. Dort stieg ich wieder in mein Auto, fuhr die kleine Straße entlang, bis ich auf die größere stieß, die mich zur Autobahn führte, zurück in die brodelnde Stadt, in der mein Leben auf mich wartete.

Atemlos rannte ich die Treppe hinauf, zurück zu Don.

»Ich bin wieder zu Hause«, sagte ich. Wie schön das klang.

Sicherheitshalber wiederholte ich es. »Zu Hause.«

»Du hast mir gefehlt.«

»Jetzt bin ich ja wieder da«, antwortete ich und küsste ihn.

Liebster Troy,

ich glaube, ich muss dich jetzt loslassen. Ich weiß nicht, wie ich es ohne dich schaffen soll, aber ich werde es versuchen. Es tut mir Leid.

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