»Das hat er gesagt?«

»Ja.«

»Das ist doch alles bloß Show.«

»Du irrst dich«, widersprach sie. »Ich weiß, wie du über ihn denkst, aber ihr seid ihm wirklich wichtig. Ihr seid schließlich die einzige Familie, die er hat. Troy war für ihn so eine Art kleiner Bruder.«

»Du also auch.« Ich fühlte mich plötzlich unendlich müde.

»Was?«

»Er hat dich auch schon auf seine Seite gezogen.«

»So ein Unsinn.«

»Das sagt er auch, aber er lügt. Er steht auf einer Seite und ich auf der anderen. Jetzt noch mehr als vorher. Glaub mir, du kannst nicht auf beiden Seiten stehen, und du kannst auch nicht die Vermittlerin spielen, als wärst du eine Botschafterin der Vereinten Nationen. Du musst dich entscheiden.« Wir schwiegen einen Moment. »Du bist schon übergelaufen, stimmt’s?« Ich merkte selbst, dass ich bereits ein bisschen undeutlich sprach. Mein Kopf schmerzte vom Alkohol und dem ganzen Elend.

»Miranda, du bist meine beste Freundin. Bitte sag so etwas nicht.«

»Entschuldige«, sagte ich. Aber ich konnte es nicht sein lassen. »Du hast ihn sympathisch gefunden, oder?«

»Er hat mir Leid getan.«

Während sie den Kaffee aufbrühte, holte ich die Whiskyflasche aus dem Regal.

»Sieh dir das an«, sagte ich. »Wie habe ich es bloß geschafft, seit vorgestern so viel Whisky zu trinken?«

Ich war fast ein bisschen stolz auf mich, als hätte ich eine Leistung erbracht. Ich griff nach einem benutzten Weinglas, schenkte mir ein und nahm einen großen Schluck.

»Morgen wird es dir ziemlich schlecht gehen«, meinte Laura.

»So oder so«, gab ich ihr zur Antwort.

»Möchtest du, dass ich über Nacht bleibe?«

»Nein. Du warst sehr lieb.«

»Gehst du morgen zur Arbeit?«

»Mir wird nichts anderes übrig bleiben. Es ist ein ganz normaler Arbeitstag.«

»Dann rufe ich dich abends an.«

»Musst du aber nicht.«

»Nein, aber ich werde es trotzdem tun.«

»Was würde ich bloß ohne dich machen?«

Ich trank weiter, bis die Flasche leer war. Wenn ich die Augen schloss, wurde mir sofort schwindlig, sodass ich krampfhaft versuchte, sie ein wenig offen zu halten, auch wenn das Licht wehtat. Ich wankte in mein Schlafzimmer und setzte mich aufs Bett, das für kurze Zeit Troys Bett gewesen war. Inzwischen hatte ich es frisch bezogen, aber ein paar von seinen Sachen waren noch da – seine Uhr auf dem Nachttisch, seine Jacke am Haken an der Tür, seine im ganzen Zimmer verteilten Bücher.

Ich bildete mir sogar ein, dass noch ein wenig von seinem Geruch in der Luft hing. Ich griff nach einem Buch übers Brotbacken, das er wohl gerade gelesen hatte, und presste es an meine Brust.

»Oje«, sagte ich laut. Meine Zunge fühlte sich an, als wäre sie geschwollen. »Oje, Troy. Was soll ich jetzt bloß machen?«

Später, gegen zwei Uhr morgens, torkelte ich ins Bad, um mich zu übergeben. Über die Kloschüssel gebeugt, würgte ich vor mich hin, bis mein Magen nichts mehr enthielt, was er noch von sich geben konnte. Meine Augen brannten, mein Hals schmerzte, und in meinem Schädel pochte es, aber trotzdem fühlte ich mich ein wenig besser. Ich trank drei Becher Wasser und legte mich wieder ins Bett. In meinem Kopf hörte ich Troys Stimme, seine letzten Worte:

»Dann bis später.« Für ihn hatte es kein Später gegeben, er hatte mich nicht mehr gesehen. Ich ihn schon. Ich würde ihn auch in Zukunft sehen. Die ganze Zeit.

23. KAPITEL

In der Nacht war es mir bereits schlecht gegangen, aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, ging es mir noch viel schlechter. Ich würde sterben, und wenn ich tot war, würde man mich konservieren und in einem großen Glas ausstellen. Ein Etikett würde mich als den ersten Mensch ausweisen, der an einem Kater gestorben war. In meinem Zustand bereitete mir sogar das Denken Schmerzen. Alles bereitete mir Schmerzen.

Gegen halb zehn unternahm ich den Versuch aufzustehen, legte mich aber gleich wieder hin. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals einen so schlimmen Kater gehabt zu haben. Ich hatte die üblichen Symptome, aber in extrem verstärkter Form: die trockene, ledrige Zunge, die rasenden Kopfschmerzen, als würde mein Gehirn von kleinen Nagern aufgefressen, das schreckliche Gefühl, mich vergiftet zu haben, das widerliche Schaudern, als würden Krabbeltiere über meine Haut huschen.

Jeder Teil meines Körpers tat mir weh, sogar mein Haar schmerzte. Neu war, dass ich mich immer noch betrunken fühlte, auch wenn mein Zustand ein schlechter Abklatsch der Betrunkenheit vom Vorabend zu sein schien. Von den guten Elementen – falls es überhaupt solche gegeben hatte – war nichts mehr zu spüren, aber der Boden schwankte immer noch, der ganze Raum drehte sich. Deswegen musste ich mich auch sofort wieder hinlegen, was allerdings nicht viel brachte. Ich fühlte mich wie auf einem Wasserbett. Plötzlich musste ich daran denken, dass man zwar nicht an einem Kater, sehr wohl aber an einer Alkoholvergiftung sterben konnte. Ob es das war?

Mir fiel ein, dass ich einen Gesundheitsratgeber besaß. Der erste Haken an der Sache war jedoch, dass ich niemanden hatte, der mir das Buch hätte bringen können, der zweite, dass es bei den Kochbüchern stand, sodass ich, als ich es schließlich doch schaffte, mit schlingerndem Magen durch die Wohnung zu wanken, um es zu holen, an Dingen vorbeikam, die mich an Essen erinnerten. Ich versuchte, jeden Gedanken daran zu verdrängen, aber dann sah ich vor meinem geistigen Auge mit einem Mal eine riesige Schüssel Grießbrei, eine Schreckensvision, die ich erst wieder loswurde, als ich an den Geruch von zu lange gekochtem Kohl dachte. Dann fiel mir Troy ein, und das war noch schlimmer als alles andere.

Ich nahm das Buch mit ins Bett. Zum Thema Alkoholvergiftung gab es keinen Eintrag, dafür aber einen ziemlich langen zum Thema Kater. Das Buch empfahl, viel Wasser zu trinken und in flottem Tempo eine Runde zu joggen,

»auch wenn Ihnen nicht danach zumute ist«. Wenn einem übel war – und mir war sehr übel –, sollte man ein bestimmtes Magnesiumpräparat einnehmen. Also gut, ich beschloss, positiv an die Sache heranzugehen. Vorher hatte ich nur noch den Wunsch gehabt, mich unter der Bettdecke zusammenzurollen und zu sterben. Nun würde ich das Gegenteil versuchen und das Problem in Angriff nehmen, indem ich mir nicht nur dieses Medikament besorgte, sondern dabei auch noch einen Sprint hinlegte. Als Erstes aber würde, ich ein großes Glas Wasser trinken.

Doch das Wasser kam zu spät für meinen trockenen Mund. Es schien über meine ausgedörrte Schleimhaut zu laufen, ohne von ihr aufgenommen zu werden. Außerdem war ich kaum in der Lage, die Beine in meine Shorts zu bekommen. Ich schlüpfte in ein T-Shirt. Die Berührung mit dem Stoff tat meinem Kopf und auch den Armen weh. Langsam band ich die Schnürsenkel meiner Schuhe, musste das erste Mal seit meiner Kindheit wieder bewusst darüber nachdenken, wie das ging. Schließlich schlurfte ich auf den Gehsteig hinaus, in der Hand eine Fünf-Pfund-Note. Das grelle Licht blendete mich, die kalte Luft ließ mich keuchen. Ich weiß nicht, ob es mir dadurch besser ging, auf jeden Fall hatte ich wieder einen etwas klareren Kopf. In gewisser Weise tat der Schmerz gut, und ich fragte mich, ob das eine willkommene Fortsetzung der letzten Nacht war. Der Zustand der Betrunkenheit und Verwirrung, das Gefühl, jeden einzelnen Knochen zu spüren, der ganze Schmerz – vielleicht war das alles besser, als die Augen zu öffnen, in die Sonne zu blicken und mich wirklich dem zu stellen, was Troy sich und uns angetan hatte.

Die Drogerie war nur ein paar hundert Meter entfernt. Ich fragte den Apotheker nach einem Magnesiumpräparat. Wie sich herausstellte, schmeckte es ziemlich widerlich, aber ich lutschte es trotzdem energisch, während ich gleichzeitig versuchte, meinen Heimweg auf eine Art und Weise zu bewältigen, die man annähernd als Joggen bezeichnen konnte. Anschließend ging ich unter die Dusche, zog mich wieder an und legte mich aufs Bett, um nachzudenken. Ich hatte einen metallischen Geschmack im Mund und beim Schlucken das Gefühl, als wäre etwas Borstiges in meinem Hals stecken geblieben. Meine Haut kam mir kalt und feucht vor. Mir war zwar noch übel, aber nicht mehr speiübel. Es stand außer Zweifel, mein Zustand hatte sich tatsächlich ein wenig gebessert. Jetzt konnte der Tag beginnen.

Wie spät war es inzwischen? Ich streckte die Hand nach der Uhr aus, die auf dem Nachttisch lag, Troys Uhr. Viertel nach zehn.

Ich wusste, warum die Uhr sich dort befand. Troys Problem war unter anderem gewesen, dass es in seinem Leben kein Gleichgewicht und keine Kompromisse gegeben hatte. Sogar völlig normales Verhalten hatte für ihn eine Art moralische Herausforderung dargestellt. Er war entweder total aufgedreht, übertrieben lustig und unglaublich enthusiastisch gewesen oder aber apathisch, langsam, distanziert, oft auch wie im Tiefschlaf.

Selbst in seinen guten Phasen hatte er täglich einen langen Nachmittagsschlaf gehalten. Dazu ließ er sich nicht einfach aufs Sofa oder in einen Sessel fallen, nein, er machte die Vorhänge zu, zog sich aus und ging ins Bett. Wenn er Medikamente nehmen musste, verfiel er fast in eine Art Koma. An jenem Tag hatte er sich ausgezogen, seine Uhr auf den Nachttisch gelegt und in meinem Bett geschlafen. Als ich ihn dann abends fand, trug er seine Sachen, nicht aber die Uhr. Vielleicht hatte er sie vergessen. Schließlich war er depressiv gewesen.

Da war noch etwas. Ich schloss die Augen und zwang mich dazu, mir Troy an jenem Balken baumelnd vorzustellen. Der Strick. Es war leicht, sich an ihn zu erinnern; er hatte aus glänzend grünem, sprödem Kunststoff bestanden. Ich sah ihn noch genau vor mir, wie ich seine Fasern mit dem Messer durchtrennte, um Troy zu befreien. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass Selbstmord eine Aktion war, die vorbereitet werden musste. Man musste sie planen, das nötige Material besorgen.

Plötzlich hatte ich wieder einen völlig klaren Kopf. Als ich aufstand, verspürte ich noch einmal einen kurzen Anflug von Übelkeit und Schwindel, aber das ging schnell vorüber. Ich hatte keine Zeit, mich schlecht zu fühlen, es galt, ein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Meine Wohnung war so klein, dass es nicht viel zu durchsuchen gab. Ich konnte mich nicht daran erinnern, den Strick je zuvor gesehen zu haben, aber ich musste sichergehen. Unter der Spüle befanden sich ein Eimer, ein paar Putzlappen, mehrere Flaschen Reinigungsmittel, im Schrank der Staubsauger, ein Besen und ein Wischmopp, ein zusammengerollter Teppich, eine Schuhschachtel mit Schraubenziehern, einem Hammer, Nägeln, Schrauben und ein paar Dübeln. Ich sah auch in den obersten Fächern nach, hinter dem Sofa, unter meinem Bett, einfach überall. Kein Strick.

Womöglich hatte er bloß ein Stück Strick gefunden und die ganze Länge benutzt. Oder er hatte so viel gekauft, wie er brauchte, und die ganze Länge benutzt. Oder …

Ich rief meine Mutter an. Es war schwierig, nicht jeden Satz, den ich mit meiner Mutter, meinem Vater oder meiner Schwester sprach, mit der Frage zu beginnen, wie sie sich fühlten. Wir konnten den Rest unseres Lebens damit verbringen, uns das zu fragen und uns Antworten auf diese Frage zu überlegen. Diesmal fragte ich nur, ob ich vorbeikommen könne, und sie antwortete, ja, das wäre schön.

Unterwegs musste ich noch an etwas anderes denken. Ein paar Monate zuvor war ich in einer U-Bahn der Piccadilly Line mehr als eine Stunde festgesessen. Nach einer Weile wurden wir per Lautsprecherdurchsage gebeten, die Verzögerung zu entschuldigen, und darüber informiert, dass sich im nächsten Bahnhof ein Fahrgast auf den Gleisen befinde. Die naheliegendste Antwort darauf wäre: Na schön, dann seht zu, dass er von dort verschwindet, damit wir alle endlich an unser Ziel kommen. Aber natürlich handelt es sich dabei um einen Euphemismus für einen Selbstmord. Jemand hat sich vor den Zug geworfen und befindet sich nun in der Tat auf den Gleisen, allerdings übel zugerichtet. Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, und einer der Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, war: Schuldet man jemandem etwas, wenn man sich umbringt? Wenn man sich vor eine U-Bahn wirft, dann sieht einen der Fahrer des Zuges unter Umständen nur ein paar Zentimeter vor seiner Nase vorbeisegeln und bekommt aus nächster Nähe all die schrecklichen Geräusche mit, die wahrscheinlich zu hören sind, wenn einen der Zug zermalmt. In den meisten Fällen geht der Fahrer danach in Frührente. Und was ist mit all den Pendlern, die sich eine halbe Stunde lang über die Verspätung ärgern? All die versäumten Zahnarzttermine, die kleinen Kinder, die ratlos vor der Schule warten, die verkochten Mittagessen – schaden sie dem Karma eines Menschen? Ich ließ einen Gedanken zu, den ich bis dahin erfolgreich verdrängt hatte. In meiner Wohnung. Troy hatte sich in meiner Wohnung umgebracht. Ich fragte mich, ob nicht schon allein der Gedanke obszön war, aber ich konnte nicht damit aufhören. Er hatte sich an einem Ort erhängt, an dem die Wahrscheinlichkeit bestand, dass ich ihn finden würde. Seine Leiche hatte dort gebaumelt, sich dort langsam eingependelt, wo ich schlief und aß und mein Leben lebte. Wie hatte er das nur tun können? Ich wäre so gern davon überzeugt gewesen, dass Troy das nicht übers Herz gebracht hätte. Ich liebte Troy und er mich auch – sogar dann, wenn er tief in seiner Depression steckte. Wäre er überhaupt in der Lage gewesen, mir so etwas anzutun? Etwas, das ich nie vergessen würde? Ich versuchte mir einzureden, dass ein Mensch, der sich umbringt, höchstens noch insofern an die Gefühle der anderen denken kann, als er sich sagt, dass sie ohne ihn besser dran sind. Oder war es sogar noch schlimmer? Ich zwang mich, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Ort und die Art von Troys Selbstmord so etwas wie eine Nachricht an mich darstellten: So, Miranda, du hast dir eingebildet, mich zu verstehen. Du hast geglaubt, mir helfen zu können. Tja, nun hast du die Bescherung. So weit ist es mit mir gekommen. Nun schau mal, ob du mir helfen kannst.

Ich rechnete damit, dass meine Mutter bei meinem Anblick wieder zu weinen anfangen würde, aber sie schien mit ihren Gedanken woanders zu sein. Als sie mir die Tür öffnete, kam es mir fast so vor, als würde sie einen Moment lang suchend über meine Schulter schauen, ob nicht noch jemand hinter mir stand.

»Schön, dass du gekommen bist, Miranda«, sagte sie, aber es klang, als spräche sie einen Text, den jemand anders für sie geschrieben hatte. »Dein Vater ist nicht da.«

»Wo ist er denn?«, fragte ich erstaunt, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass er nach alledem schon wieder einen Termin hatte.

»Wo?«, wiederholte meine Mutter leicht benommen, als hätte sie irgendwas genommen.

»Was ist mit Kerry und Brendan?«

»Sie sind auch unterwegs. Möchtest du eine Tasse Tee?«

»Gern. Ich muss vorher nur schnell nach oben.«

Das ist das Gute am Haus der Eltern. Man ist dort immer noch irgendwie daheim. Man kann überallhin, jeden Schrank aufmachen. Ich würde etwas Schreckliches tun, und ich wusste selbst kaum, warum. Es war, als wollte ich mir ein Taschenmesser holen, um damit in einem Abszess an einem meiner Zähne herumzustochern und mir auf diese Weise immer stärkere Qualen zuzufügen, bis mich der Schmerz irgendwann völlig überwältigen und dann verschwinden oder aber ich selbst verschwinden würde.

Nachdem meine Mutter in die Küche gegangen war, rannte ich die Treppe hinauf und in das Zimmer, in dem jetzt Kerry und Brendan wohnten. Mein ganzer Körper stand unter Strom, meine Ohren summten. Ich konnte richtig hören, wie das Blut durch meine Adern pulsierte.

Es war offensichtlich, dass sie nur kurze Zeit in dem Zimmer bleiben würden, sie hatten fast nichts ausgepackt. Auf dem Bett lagen Kerrys Bademantel und ein Nachthemd. Ein Koffer lehnte halb offen an der Wand. Auf dem Tisch in der Ecke standen ein paar Flaschen, Shampoo, Haarspülung, Bodylotion, Parfüm, alles von Kerry. Ich blickte mich um. Eins war seltsam. Kerry hätte genauso gut allein hier wohnen können. Ich konnte kein einziges Ding, kein einziges Kleidungsstück entdecken, das Brendan gehörte. Neben dem Bett stand ein zweiter, geschlossener Koffer. Ich legte ihn flach auf den Boden und öffnete ihn. Brendans Klamotten. Ich würde höchstens eine Minute brauchen. Nacheinander hob ich seine Hemden, Hosen und Unterhosen hoch und stapelte sie verkehrt herum auf dem Boden, damit ich sie hinterher in der richtigen Reihenfolge zurücklegen konnte. Der Koffer war fast leer, als ich auf der Treppe Schritte hörte. Nein, eigentlich spürte ich sie mehr, als dass ich sie hörte. Ich hatte nicht mal mehr Zeit, mich von den Knien zu erheben, so schnell flog die Tür auf. Vor mir stand Brendan. Den Bruchteil einer Sekunde hatte ich gedacht: Na und wenn schon? Als ich dann aber seine Miene sah, dachte ich: Oh, verdammt. Zuerst wirkte er nur überrascht, was ja kein Wunder war, schließlich durchwühlte ich gerade seinen Koffer, hatte seine ganzen Sachen um mich herum ausgebreitet.

»Miranda?«, fragte er. »Was zum …«

Ich versuchte mir etwas einfallen zu lassen, aber mein Gehirn hatte sich in zähen Brei verwandelt.

»Ich hab etwas vergessen«, stammelte ich aufs Geratewohl.

»Ich meine, ähm, ich dachte, du hättest aus Versehen etwas von mir mitgenommen.«

»Nämlich?« Inzwischen wirkte er ziemlich wütend.

Hinter ihm tauchte Kerry auf.

»Brendan?«, fragte sie. Ihr Blick fiel auf mich.

»Den Strick«, antwortete ich. »Ich dachte, du hättest versehentlich meinen Strick mitgenommen.«

24. KAPITEL

»Was?«, fragte Kerry ungehalten. »Was für einen Strick?«

»Lieber Himmel!«, sagte Brendan. »Sieh sie dir an!«

»Was für einen Strick?«, wiederholte Kerry.

Sie trat einen Schritt vor, sodass sie nun, die Hände in die Hüften gestemmt und mit knallrot angelaufenem Gesicht, auf mich herabstarrte. Es war, als wären ihre ganze Zurückhaltung, Ängstlichkeit und Schüchternheit durch Kummer und Wut weggeätzt worden. Ich stand auf. Um mich herum lagen immer noch Brendans Klamotten.

»Ich weiß auch nicht. Ich dachte nur …« Ich sprach den Satz nicht zu Ende.

»Du hast in Brendans Sachen herumgesucht! Was um alles in der Welt hast du dir dabei bloß gedacht?«

»Ich habe meine Wohnung aufgeräumt«, antwortete ich.

»Und? Und?«

»Habe ich das jetzt richtig verstanden?«, fragte Brendan.

»Du wühlst in meinem Zeug herum« – er trat mit dem Fuß nach einem Stapel seiner Klamotten, sodass er umkippte und die Sachen auf dem Boden landeten –, »weil du irgendeinen Strick suchst. Richtig?«

»Ich war einfach durcheinander«, murmelte ich.

»Durcheinander?«, wiederholte Kerry. »Ist dir eigentlich klar, dass gestern unser kleiner Bruder beerdigt worden ist? Und heute tauchst du hier auf, machst dir die Mühe herzufahren, nur um in Brendans Koffer herumzuschnüffeln …«

»Ich glaube, ich gehe jetzt besser«, unterbrach ich sie.

Brendan trat einen Schritt vor, sodass er mir den Weg versperrte.

»Das glaube ich nicht, Mirrie.«

»Lass mich durch.«

»Solange wir dieser Sache nicht auf den Grund gegangen sind, gehst du nirgendwohin.«

»Wir sind alle überreizt.«

»Überreizt?«, schrie Kerry. Für eine so zierliche Person kann sie ziemlich laut werden. »Über reizt?! Du hast sie doch nicht mehr alle!«

»Was ist denn hier los?«

Mein Vater stand in der Tür.

»Nichts«, antwortete ich lahm.

»Ich werde dir sagen, was los ist«, schimpfte Kerry und deutete mit dem Finger auf mich. »Sie! Sie hat Brendans Koffer durchwühlt.«

»Miranda?«, wandte sich mein Vater an mich.

»Sie sucht einen Strick«, fügte Brendan hinzu.

»Einen Strick?«

»Das hat sie zumindest gesagt.«

Brendan begann seine herumliegenden Kleidungsstücke einzusammeln und ordentlich zurück in den Koffer zu legen.

»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen«, sagte ich.

»Ich glaube, du solltest uns das erklären«, erwiderte mein Vater. Aus seiner Stimme sprach Abscheu. Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um.

»Ich habe einfach versucht, Ordnung in meine Sachen zu bringen.«

»Wir waren gerade bei dem Strick«, rief mir Brendan ins Gedächtnis. »Hmm? Du hast heimlich meine Sachen durchwühlt, weil du irgendeinen Strick gesucht hast?«

Ich schwieg.

»Was für einen Strick?«, fragte meine Mutter, die gerade in den Raum trat.

Ich setzte mich auf das ungemachte Bett und schlug die Hände vors Gesicht, als hoffte ich wie ein kleines Kind, mich auf diese Weise unsichtbar machen zu können. Während Kerry meiner Mutter voller Entrüstung berichtete, wobei sie mich ertappt hatten, starrte ich durch einen Spalt zwischen meinen Fingern auf ein Stück Teppich unter der Kommode und versuchte dabei, die Worte meiner Schwester auszublenden.

»Ich erkenne dich überhaupt nicht wieder«, erklärte meine Mutter mit ausdrucksloser Stimme, nachdem Kerry mit ihrem Bericht fertig war.

»Bitte«, sagte ich. »Ich bin ganz durcheinander. Wir sind alle durcheinander.«

»Trotzdem wüsste ich gern«, mischte sich Brendan ein,

»welchen Strick du meinst; denn im Moment bedeutet das Wort

›Strick‹ für uns alle eigentlich nur eins. Hmm?«

Einen Moment lang herrschte im Raum angespanntes Schweigen, dann fuhr er fort: »Ist es das, was du damit meinst?

Den Rest des Stricks? Hmm?«

»Ich meine gar nichts.«

»Und trotzdem hast du dir die Mühe gemacht, extra herzukommen und danach zu suchen.«

»Halt den Mund!«, sagte ich und ließ die Hände sinken.

»Halt den Mund, halt den Mund! Ich komme mir hier vor wie vor Gericht, als würde alles, was ich sage, gegen mich verwendet werden. Starrt mich nicht so an!«

»Wieso glaubst du, dass er hier sein könnte? Hmm? Zwischen meinen Sachen? Gibt es etwas, das du uns sagen möchtest?«

»Nein«, flüsterte ich.

»Für mich besteht jetzt kein Zweifel mehr«, erklärte Kerry.

»Sie ist besessen von Brendan. Sie war es von Anfang an. Ich habe versucht, es zu ignorieren, mir einzureden, es spiele keine Rolle. Ich war ihr gegenüber tolerant und großzügig, oder etwa nicht? Ich dachte, sie würde darüber hinwegkommen. Dabei hätte ich es wissen müssen. Sie konnte ja von gar nichts anderem mehr reden als von ihrer Beziehung, konnte einfach nicht damit aufhören. Sie konnte auch nicht auf eine normale Art freundlich zu ihm sein, nein, sie war entweder wütend und voller Bitterkeit oder aber überfreundlich. Einmal hat sie sich im Bad sogar vor ihm ausgezogen, während ich nebenan für sie gekocht habe, weil ich besonders nett zu ihr sein wollte. Das muss man sich mal vorstellen!«

»Sag ›du‹!« Ich spürte, wie ich langsam hysterisch wurde.

»Sag nicht ›sie‹, wenn ich direkt vor dir sitze!«

Kerry sprach einfach weiter, ohne auf meine Worte zu achten.

Alles, was sich in ihr aufgestaut hatte, brach nun aus ihr heraus.

Ihre Stimme klang hoch und heiser.

»Ich versuchte sogar dann noch Verständnis für sie zu haben, als sie anfing, seltsam zu werden. Als sie das Bad überflutete und es dann Brendan in die Schuhe schieben wollte. Als sie ihm hinterherspionierte und alte Freunde von ihm aufspürte. Wie eine gottverdammte Schnüfflerin! Selbst da dachte ich noch, es würde alles wieder in Ordnung kommen. Inzwischen ist mir klar geworden, wie blöd das von mir war. Wie unglaublich blöd!

Inzwischen wissen wir ja alle, was abläuft. Es geht dabei nicht bloß um Brendan, sondern auch um mich. Ihre ältere Schwester.

Sie war immer schon eifersüchtig auf mich, wollte immer alles kaputtmachen, was ich hatte. Wie das mit Mike. Und jetzt seht sie euch an. Seht sie euch an!« Wieder deutete sie mit dem Finger auf mich. »Troy ist tot. Er hat sich umgebracht. Unser lieber kleiner Bruder hat sich in ihrer Wohnung umgebracht.

Gestern war seine Beerdigung. Hält sie das von irgendwas ab?

Nein. Nichts kann sie stoppen. Schon am nächsten Morgen, am Morgen nach seiner Beerdigung, taucht sie hier auf und fängt an herumzuschnüffeln. Nicht einmal Troys Tod kann sie davon abhalten.«

Sie begann so heftig zu schluchzen, dass ihre schmalen Schultern zuckten. Brendan ging zu ihr und legte ihr den Arm um die Taille.

»Es hat nichts mit dir zu tun, Kerry«, sagte er in sanftem Ton.

»Glaub mir. Du hast gerade von Besessenheit gesprochen. Das ist wahrscheinlich genau das richtige Wort dafür. Ich denke mir das schon eine ganze Weile. Mittlerweile mache ich mir fast Vorwürfe, weil ich nicht eher etwas unternommen habe. Sie verfolgt mich ja regelrecht. Würde sie nicht zur Familie gehören, hätte ich längst die Polizei informiert und um Schutz gebeten. Ich habe von solchen Fällen gelesen. Ich glaube, es gibt sogar einen bestimmten Namen dafür, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Wahrscheinlich ist das Ganze zwanghaft, und sie kann gar nicht anders.«

»Nein«, widersprach ich. »Sag nicht solche Sachen.«

»Miranda«, meldete sich meine Mutter mit ihrer neuen, ausdruckslosen Stimme zu Wort. »Es ist an der Zeit, die Dinge endlich beim Namen zu nennen. Dinge, vor denen wir bisher die Augen verschlossen haben. Ich glaube, ich habe es mir selbst nicht so richtig eingestanden, aber nun, da Troy tot ist, kann ich alles aussprechen. Vielleicht brauchst du professionelle Hilfe.«

»Du verstehst das nicht«, sagte ich. »Keiner versteht es.«

Ich wandte mich an meinen Vater. »Du hältst mich nicht für besessen, oder?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, antwortete er.

»Aber eines weiß ich.«

»Was?«

»Du wirst dich auf der Stelle bei Brendan entschuldigen. Dass in unserer Familie eine Tragödie passiert ist, bedeutet nicht, dass wir jetzt alle Narrenfreiheit haben und uns nicht mehr wie anständige menschliche Wesen zu benehmen brauchen.«

»Aber ich …«

»Egal, was du jetzt sagen willst, ich möchte es nicht hören!«, fiel er mir ins Wort. »Du entschuldigst dich bei Brendan. Hast du mich verstanden? Das ist ja wohl das Mindeste, das wir von dir erwarten können.«

Ich betrachtete einen Moment lang sein eingefallenes Gesicht, die leeren Augen meiner Mutter. Dann stand ich auf und wandte mich an Brendan. Er starrte mich erwartungsvoll an. Ich ballte die Hände zur Faust, bis sich meine Fingernägel tief in meine Handflächen gruben.

»Tut mir Leid«, sagte ich.

Mit einem leichten Nicken nahm er meine Entschuldigung an.

»Mir tut es auch Leid, Mirrie. Vor allem für dich. Ich habe großes Mitleid mit dir.«

Ich wandte mich an meine Eltern.

»Kann ich jetzt gehen?«, fragte ich.

Schweigend setzten wir uns alle gemeinsam nach unten in Bewegung. Kerry schluchzte immer noch leise vor sich hin. An der Haustür blieb ich stehen.

»Ich habe meine Tasche noch oben«, erklärte ich. »Ich hole sie schnell, dann seid ihr mich los.«

Trotz der stechenden Schmerzen in meinem Kopf nahm ich jeweils zwei Stufen auf einmal. Im Zimmer von Brendan und Kerry angekommen, kauerte ich mich auf den Boden und fasste unter die Kommode, schob meine Hand so weit wie möglich in den schmalen Spalt, auf den ich vorhin vom Bett aus gestarrt hatte, und zog den zusammengerollten Rest des grünen Stricks heraus.

25. KAPITEL

Detective Inspector Rob Pryor war nett, ein ganz normaler Mensch, dem man auch draußen in der realen Welt irgendwo begegnen hätte können. Er hatte lockiges blondes Haar und eine entspannte, fast ein wenig träge wirkende Art. Nachdem er mich einigen seiner Kollegen vorgestellt hatte, holte er mir an dem Automaten gleich neben seinem Büro einen Kaffee. Vicky Reeder, die junge Beamtin, die sich nach Troys Selbstmord um mich gekümmert hatte, kam herein und sagte hallo. Dann führte mich Rob – wir waren übereingekommen, uns beim Vornamen zu nennen – in sein Büro, wo er mich als Erstes auf die schöne Aussicht hinwies. Eigentlich waren jenseits der hohen Mauer, die den Parkplatz mit den Polizeiwagen umgab, nur ein paar Bäume zu sehen, aber er wusste genau, um welche Baumarten es sich handelte, und schien sehr stolz darauf zu sein. Vielleicht wollte er mich damit aber auch nur beruhigen, denn als er sich schließlich zu mir umdrehte, fragte er mich, wie es mir gehe.

Als ich ihm antwortete, dass ich völlig am Ende sei, dass wir alle völlig am Ende seien, nickte er und meinte, das könne er gut verstehen.

»Es ist sehr schwer, mit so etwas umzugehen«, fügte er hinzu.

»Seltsam«, sagte ich. »Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Sie erstaunt sein würden, mich zu sehen, aber Sie tun fast so, als hätten Sie mich erwartet.«

Er lächelte mich mitfühlend an.

»Erwartet habe ich Sie nicht gerade«, entgegnete er, »aber Ihr Besuch kommt auch nicht völlig überraschend. Nach einer solchen Tragödie neigen viele der Hinterbliebenen dazu, das Geschehene in Gedanken immer wieder Revue passieren zu lassen. Sie fragen sich, ob sie etwas hätten tun können, um es zu verhindern. Der Gedanke lässt sie nicht mehr los, sie werden ganz besessen davon. Dann brauchen sie jemanden, mit dem sie darüber sprechen können. Manchmal kommen sie her, um mit uns alles noch mal genau durchzugehen, obwohl sie selbst nicht so recht wissen, was sie damit eigentlich bezwecken. Sie empfinden das Ganze so sehr als ein Verbrechen gegen ihre eigene Person, dass sie glauben, es handle sich wirklich um ein Verbrechen.«

»Sie glauben also, ich benutze Sie als eine Art Therapie?«

Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

»Sie haben Ihren Bruder gefunden. Ein solches Erlebnis muss man erst mal wegstecken.«

»Darum geht es nicht«, widersprach ich. »Ich habe Ihnen wichtige Dinge zu sagen.«

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete mich argwöhnisch.

»Was für Dinge?«

Ich erzählte ihm von meinem Verdacht. Ich hatte sogar den Strick mitgebracht. Nachdem ich ihn aus meiner Tasche geholt und auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, zuckte er nur ein wenig mit den Achseln.

»Wie ich schon gesagt habe, es dauert eine Weile, bis man über so etwas hinwegkommt.«

»Das heißt, Sie haben mir überhaupt nicht zugehört.«

»Was genau wollten Sie mir denn sagen, Miranda?«

»Ich habe Troy gekannt«, antwortete ich. »Besser als sonst jemand. Er hatte nicht vor, sich umzubringen.«

»Er litt an schweren Depressionen.«

»Er befand sich gerade in einer guten Phase.«

»Depressionen sind von außen schwer zu beurteilen«, gab er zu bedenken. »Manchmal ist ein Selbstmord das erste erkennbare Symptom.«

»Das Ganze ist nicht bloß so ein Gefühl von mir. Denken Sie an all die anderen Details, die ich erwähnt habe. Beispielsweise die Uhr.«

Er sah mich fragend an.

»Das meinen Sie doch nicht ernst, oder? Ihr Bruder hat vergessen, nach seinem Nachmittagsschlaf die Uhr wieder anzulegen. Und wenn schon? Das passiert mir ständig, und er war noch dazu depressiv. Wenn man depressiv ist, vergisst man eben manche Sachen.«

»Was ist mit dem Strick?«

»Wie meinen Sie das?«

»In meinem Haushalt gab es keinen Strick. Er ist extra gekauft worden. Brendan hat behauptet, nichts davon zu wissen, und dann habe ich das hier bei seinen Sachen gefunden. Wie ich Ihnen bereits erzählt habe, wurde ich von ihm dabei ertappt, wie ich danach suchte.«

»Wissen Sie, Miranda, was das betrifft, muss ich Ihrer Schwester Recht geben. Man sucht nicht einfach in den Sachen anderer Leute herum, ohne vorher deren Erlaubnis einzuholen.

So etwas bringt einen zwangsläufig in Schwierigkeiten.«

»Die habe ich schon«, erklärte ich. »Meine ganze Familie ist schrecklich wütend auf mich.«

»Tja, was soll ich sagen?«

»Aber das macht mir nichts aus«, fuhr ich fort. »Das Wichtigste ist, dass der Sache auf den Grund gegangen wird.«

»Ich verstehe nicht recht, worauf Sie eigentlich hinauswollen.«

Ich schwieg einen Moment. Mir war daran gelegen, meinen Verdacht ruhig und sachlich zu formulieren.

»Ich bin der Meinung, dass Brendan Troy zumindest dazu ermutigt hat, sich umzubringen. Wenn er ihn nicht sogar selbst

…« Ich konnte es nicht aussprechen.

»Sie glauben, es war Mord, getarnt als Selbstmord? Ist es das, was Sie mir sagen wollen?« Robs Ton klang jetzt härter, fast ein wenig sarkastisch. »Und wie stellen Sie sich das konkret vor?«

»Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach. Ich finde, Sie sollten es zumindest als Möglichkeit in Betracht ziehen.«

Wir schwiegen eine ganze Weile. Rob starrte aus dem Fenster, als hätte draußen etwas seine Aufmerksamkeit erregt. Als er sich mir wieder zuwandte, spürte ich eine Barriere zwischen uns.

»Troy hat starke Tabletten genommen«, sagte ich. »Er litt unter schlimmen Schlafstörungen. Wenn er die Medikamente nahm, war er so gut wie ohnmächtig.«

Rob griff nach einer der Akten auf seinem Schreibtisch.

»Ihr Bruder hatte Spuren von Barbiturat im Blut.«

»Genau.«

Er warf die Akte zurück auf den Tisch.

»Wie Sie gerade sehr richtig gesagt haben, nahm er starke Medikamente. Da ist das keineswegs ungewöhnlich. Sagen Sie mir eins, Miranda«, fuhr er fort. »Was würden Sie tun? An meiner Stelle, meine ich.«

»Ich würde Brendan unter die Lupe nehmen.«

»Unter die Lupe nehmen? Einfach so?«

»Wer weiß, was dabei herauskommen würde.«

Rob starrte mich verblüfft an. Er wirkte inzwischen leicht gereizt.

»Wieso haben Sie diesen Brendan so auf dem Kieker?«, fragte er. »Haben Sie ein Problem mit ihm?«

»Das ist eine ziemlich lange Geschichte.«

Nun wurde es ihm definitiv zu viel. Entnervt sah er auf die Uhr.

»Miranda, ich bin ein wenig in Eile …«

»Ich werde mich kurz fassen«, fiel ich ihm ins Wort und berichtete in groben Zügen, was zwischen Brendan und mir vorgefallen war. Während ich sprach, begann es draußen zu dämmern. Es war einer jener düsteren Dezembertage. Als ich fertig war, lag sein Gesicht schon so weit im Halbschatten, dass ich seine Miene nicht mehr genau erkennen konnte.

»Was sagen Sie dazu?«, fragte ich.

»Sie haben eine harte Zeit hinter sich«, antwortete er.

»Eine Trennung von einem Freund.«

»Er war nicht wirklich mein Freund.«

»Und einen Todesfall in der Familie. Es tut mir wirklich Leid, Miranda, aber ich kann nichts für Sie tun.«

»Und Sie finden nicht, dass dieser Mistkerl gefährlich sein könnte?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Rob. »In private Streitigkeiten mische ich mich nicht ein.«

»Bis ein Verbrechen passiert.«

»Das ist richtig. Ich bin nun mal Polizist.«

»Brauchen Sie mehr Beweise? Ist es das?«

»Nein, nein«, entgegnete er rasch. »Ganz bestimmt nicht. Sie haben genug getan.« Er stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Miranda, lassen Sie dem Ganzen ein wenig Zeit. In ein paar Wochen oder Monaten sieht die Sache schon ganz anders aus, das verspreche ich Ihnen.«

»Und Sie werden gar nichts tun?«

Er deutete auf den Aktenberg auf seinem Schreibtisch.

»Ich werde eine ganze Menge tun.«

Laura sah großartig aus. Sie war erst vor ein paar Tagen bei einem Friseur in Clerkenwell gewesen, den man sich eigentlich nur leisten konnte, wenn man vorher einen Kredit aufnahm, aber ich musste zugeben, dass es sich gelohnt hatte. Gesträhnt und auf wild gestylt, leuchtete ihr Haar an diesem grauen Tag wie ein Signalfeuer. Es schien die ganze Bar zu erhellen. Sie war außerdem sehr schick gekleidet. Wir hatten uns gleich nach der Arbeit getroffen, und sie trug einen Hosenanzug und eine weiße Rüschenbluse. Plötzlich wurde ich mir meines eigenen Aussehens auf unangenehme Weise bewusst und versuchte im Fenster einen Blick auf mein Spiegelbild zu erhaschen. Ich hatte das ungute Gefühl, nicht besonders präsentabel auszusehen.

Irgendwie war ich in den letzten Tagen nicht dazu gekommen, mich um mein Äußeres zu kümmern, es war immer etwas anderes wichtiger gewesen. Während ich kurz zuvor die Camden High Street entlanggeeilt war und mir dabei überlegt hatte, was ich Laura sagen wollte und wie ich es am besten formulierte, war mir aufgefallen, dass mich zwei Schulmädchen im Vorbeigehen neugierig anstarrten und dann zu kichern begannen. Erst in dem Moment war mir bewusst geworden, dass ich laut gedacht hatte.

Wenn ich beruflich sehr im Stress bin, kommt es schon mal vor, dass ich ein wenig schlampig herumlaufe. In solchen Zeiten versuche ich mir immer einzureden, dass ich trotzdem noch auf eine knabenhafte Art und Weise gut aussehe. Nun fragte ich mich, ob das Ganze vielleicht gekippt war und ich jetzt womöglich den Eindruck machte, als wäre ich gerade aus einer Anstalt entlassen worden.

Ich trug die Weinflasche an unseren Tisch. Das war noch so ein Punkt. Ich hatte mir vorgenommen, meinen Alkoholkonsum einzuschränken, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, in dieser Hinsicht wirklich schon das Maß verloren zu haben. Aber erst mal musste ich andere Dinge klären. Während ich uns einschenkte, sah Laura mich an und holte dann lächelnd eine Packung Marlboro Lights und ein Feuerzeug aus der Tasche.

»Du hast wieder angefangen«, stellte ich fest.

»Ich hab immer so gerne geraucht.« Mit diesen Worten zog sie eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie sich zwischen ihre glänzend roten Lippen. »Und dann dachte ich plötzlich: Warum eigentlich nicht? Ich werde erst wieder damit aufhören, wenn ich alt bin. Möchtest du auch eine?«

Sie betätigte das Feuerzeug und hielt die Flamme an die Zigarette. Dann stieß sie eine kleine Wolke dichten Rauchs aus.

Fast hätte ich ja gesagt. Der Geruch erinnerte mich daran, wie wir früher ganze Nächte lang getrunken, geraucht und gelacht hatten. Aber ich schüttelte den Kopf. Ich musste unbedingt versuchen gesünder zu leben, auch wenn es nur ein erster schwacher Versuch war. Es fiel mir nicht leicht. Laura sog den Rauch tief in ihre Lungen und schien jeden Zug zu genießen. Ich nahm einen großen Schluck Wein, um mich abzulenken.

»Ich hatte gehofft, wir könnten einen Spaziergang machen«, sagte ich.

Laura sah mit angewiderter Miene aus dem Fenster.

»Bei dem Wetter?«

»Ich brauchte dringend frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen.«

»Da musst du allein gehen«, erklärte Laura mit Nachdruck.

»Ich bin dafür nicht angezogen.«

Ich hatte mir genau überlegt, was ich zu Laura sagen würde, damit es möglichst plausibel und vernünftig klang. Aber irgendwie kam es nicht so rüber, wie ich mir das vorgestellt hatte. Was ich ihr über Troy und Brendan und meinen Besuch bei der Polizei erzählte, wurde zu einer Übung in freiem Assoziieren, bei der ich von einem Thema zum nächsten sprang, weil mir immer wieder etwas Neues einfiel. Als ich fertig war, hatte sich Laura bereits die dritte Zigarette angezündet.

»Das sieht dir gar nicht ähnlich, Miranda«, meinte sie.

Ich holte tief Luft und versuchte, nicht wütend zu werden.

»Ich wollte von dir kein Urteil über meinen psychischen Zustand«, entgegnete ich. »Zumindest noch nicht. Ich wollte bloß, dass du dir anhörst, was ich zu sagen habe. Da fügt sich nämlich eins ins andere.«

»Weißt du, was ich an dir immer am meisten bewundert habe, Miranda? Du warst immer so gut in der Lage, Dinge abzuschließen und hinter dir zu lassen. Jedes Mal, wenn ich im Leben nicht mehr weiterkam, warst du diejenige, zu der ich gehen konnte und von der ich immer einen vernünftigen Ratschlag bekam.«

»Jetzt bin ich diejenige, die zu dir kommt.«

»Du solltest dich mal selber hören«, sagte Laura. »Das mit Troy tut mir so Leid. Aber du solltest dich wirklich mal hören.

Ich weiß, wie schlimm eine Trennung sein kann. Ich weiß auch, wie es ist, wenn man von einem Mann verlassen wird. Du erinnerst dich bestimmt, wie dreckig es mir ging, als Saul mit mir Schluss machte. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, fragte mich ständig, was ich falsch gemacht hatte. Es ist mir fast peinlich, es zu erwähnen, aber vielleicht erinnerst du dich, dass ich sogar mit Plänen angekommen bin, um ihn zurückzugewinnen. Erinnerst du dich?«

»Natürlich erinnere ich mich.«

»Tja, du musstest es dir schließlich auch in allen Einzelheiten anhören. Und weißt du auch noch, was du damals zu mir gesagt hast?«

»Laura, es handelt sich um eine völlig andere Situation.«

»Du hast zu mir gesagt, ich soll mich zusammenreißen und nichts unternehmen, was ich später bereuen könnte. Ich soll einfach ein bisschen Zeit vergehen lassen, dann würde die Sache schon ganz anders aussehen, dass könntest du mir versprechen.

Ich hätte dir damals am liebsten eine geknallt, aber du hattest völlig Recht.«

»Es geht hier nicht nur um eine Trennung, und außerdem habe ich Schluss gemacht, wie du sehr genau weißt, aber ich will nicht wieder davon anfangen …«

»Herrgott noch mal, Miranda! Ich habe mit Brendan gesprochen. Er kann das alles genauso wenig verstehen wie ich.«

»Was?«, fragte ich. »Mit Brendan? Du hast mit Brendan über mich gesprochen?«

»Miranda …«

»Du bist zu ihm übergelaufen. So sieht es aus. Nun ist mir alles klar. Du findest, dass er charmant ist? Ein netter Typ? Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen, mit ihm über mich zu sprechen? Was hast du ihm erzählt? Hast du ihm irgendwas von dem erzählt, was ich zu dir über ihn gesagt habe?«

»Miranda, hör auf! Ich bin’s, Laura, deine beste Freundin!«

Ich hielt inne und musterte sie. Sie wirkte an diesem Tag sehr hübsch, aber ein bisschen nervös. Verlegen zog sie an ihrer Zigarette und wich dabei meinem Blick aus.

»Du magst ihn, stimmt’s?«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Er ist ein ganz normaler, netter Typ«, antwortete sie.

»Er macht sich Sorgen um dich.«

»Das reicht«, erwiderte ich. Während ich in meiner Tasche nach Geld wühlte, hatte ich das vage Gefühl, das alles schon mal erlebt zu haben. Schließlich fand ich eine Zehn-Pfund-Note und warf sie auf den Tisch. »Da. Ich melde mich. Tut mir Leid, aber ich kann unter diesen Umständen nicht weiter mit dir reden. So nicht.«

Ich ließ Laura einfach sitzen. Draußen auf dem Gehsteig sah ich mich benommen um. Ich war selbst erstaunt über das, was ich getan hatte. Wie sollte es nun weitergehen? Die feuchte Kälte kroch mir in die Glieder. Gut so. Ich marschierte einfach los, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo ich eigentlich hinwollte.

26. KAPITEL

Es waren noch sechzehn Tage bis Weihnachten und vier bis zur Trauung von Kerry und Brendan. Sie würden auf dem Standesamt heiraten, das nur knapp einen Kilometer vom Haus meiner Eltern entfernt lag. Es war nach wie vor kalt, wurde aber zusehends grauer, feuchter und nebliger. Als ich am Morgen aufwachte, hörte ich Regen gegen die Scheiben prasseln. Ich konnte mich nicht aufraffen, mein warmes Bett zu verlassen.

Mir ging durch den Kopf, dass ich heute in dem leeren und ungeheizten Haus in Tottenham mit halb erstarrten Händen Nägel in Bodendielen hämmern würde, und bei der Vorstellung kuschelte ich mich gleich noch ein Stück tiefer unter meine Bettdecke.

Ich hörte, wie die Post durch den Briefschlitz geschoben wurde und auf dem Boden landete. Knapp zwei Wochen noch, dann würden die Tage wieder länger werden. Ich versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, dass es jenseits dieser dunklen Monate einen neuen Frühling geben würde.

An den Rändern der Vorhänge zeigte sich bereits ein wenig Tageslicht. Ich zwang mich aufzustehen. Nachdem ich in meine Hausschuhe und meinen Bademantel geschlüpft war, sammelte ich die auf der Fußmatte liegenden Briefe ein. Dann machte ich mir eine große Kanne Kaffee, schob zwei Scheiben Vollkornbrot in den Toaster und schaltete das Radio ein. Als das Brot knusprig genug war, bestrich ich die eine Scheibe mit Honig, die andere mit Marmelade, wärmte in der Mikrowelle ein wenig Milch und schenkte mir eine Tasse Kaffee ein.

Ich ließ mich am Tisch nieder und öffnete die Post. Es waren insgesamt neun Weihnachtskarten, darunter eine von einem Typen, an den ich mich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Er schrieb, er hoffe, wir würden uns im neuen Jahr mal wieder sehen. Eine stammte von Callum, dem Mann, der mir auf der Party, zu der mich Laura und Tony uneingeladen mitgenommen hatten, über den Weg gelaufen war. Das schien schon eine Ewigkeit her zu sein, ein Ereignis aus einem anderen Leben. Damals hatte ich geglaubt, die Situation könnte nicht mehr schlimmer, sondern nur besser werden. Ich schob Callums Karte, die mit einer gekritzelten Einladung zu einer Party versehen war, beiseite. Aller Voraussicht nach würde ich es dieses Jahr nicht schaffen, meinerseits Weihnachtskarten zu verschicken oder Partys zu besuchen. Abgesehen von den Karten hatte ich zwei Spendenaufrufe wohltätiger Organisationen bekommen, außerdem eine

Kreditkartenabrechnung, einen Kontoauszug, drei Kataloge und einen Umschlag mit Kerrys Handschrift.

Ich trank meinen Kaffee aus und schenkte mir eine zweite Tasse ein. Dazu aß ich langsam meinen Honigtoast. Erst dann öffnete ich Kerrys Brief. »Liebe Miranda«, stand da. »Brendan und ich dachten, es wäre eine gute Idee, wenn du am Freitag unsere Trauzeugin sein würdest. Bitte lass mich so bald wie möglich wissen, ob du damit einverstanden bist. Kerry.« Das war alles.

Ich schnitt eine Grimasse. Ein merkwürdiger Schmerz begann sich wie eine kleine Spirale um mein rechtes Auge zu legen. Das war bestimmt Brendans Idee gewesen. Mich dazu zu bringen, neben dem glücklichen Paar zu stehen und meinen Namen neben die ihren zu setzen. Für die Kamera zu posieren. Brendan anzulächeln, meinen Schwager, der dann richtig zur Familie gehörte. Ich schob den Teller mit dem restlichen Toast weg. Mir war der Appetit vergangen.

Vielleicht sollte ich einfach nein sagen. Nein, Brendan, ich mache nicht deine gottverdammte Trauzeugin. Ich spiele dein Spiel nicht mehr mit. Nie wieder. Vielleicht sollte ich einfach ganz von der Hochzeit wegbleiben. Ohne mich wären sie sowieso besser dran. Aber natürlich musste ich hin, denn wenn ich es nicht täte, würden sie das nur als weitere hysterische Geste meinerseits auslegen: die verrückte, besessene, liebeskranke, hasserfüllte Miranda, der böse Geist des Festes.

Ich musste hin, weil Kerry außer mir keine Geschwister mehr hatte.

Seufzend stand ich auf und ging zum Telefon.

»Hallo?«

»Mum. Ich bin’s.«

»Miranda.« Ich hatte mich bereits an den ausdruckslosen Ton gewöhnt, mit dem sie seit Troys Tod sprach.

»Hallo. Entschuldige, dass ich so früh anrufe. Ich wollte eigentlich nur schnell mit Kerry sprechen. Sie möchte mich als Trauzeugin.«

»Ja, das hat sie mir erzählt.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich finde, das ist eine sehr großzügige Geste von ihr.«

»Ja. Kann ich mit ihr sprechen?«

»Ich werde sie holen. Obwohl ich dich vorher eigentlich gleich fragen könnte … Wir, Derek und ich, dachten, wir sollten uns vor Freitag alle noch mal treffen. An dem Tag selbst wird es keine Feier geben, das erschien uns nicht richtig. Außerdem werden sie ja sowieso gleich im Anschluss in ihre Flitterwochen aufbrechen. Wir haben an einen kleinen Umtrunk gedacht, nur im engsten Familienkreis, um ihnen Glück zu wünschen. Wir sind der Meinung, dass das wichtig für die beiden ist. Bill und Judy haben schon zugesagt. Hast du morgen Zeit?«

Es war nicht wirklich als Frage gemeint.

»Ja.«

»Gegen sieben. Und jetzt hole ich Kerry.«

Ich sagte meiner Schwester, dass ich ihre Trauzeugin machen würde, worauf Kerry in freundlichem, aber kühlem Ton antwortete, dass sie sich freue. Ich fügte hinzu, dass wir uns dann ja morgen sehen würden, und sie sagte »gut«. Es klang wie ein verbales Achselzucken. Plötzlich tauchte vor meinem geistigen Auge ein Bild auf, das wie ein Sonnenstrahl durch all die Tristesse schnitt: Kerry und ich, umspült von den Wellen an der Küste Cornwalls. Wir saßen beide in großen Gummireifen und ließen uns immer wieder von der Brandung an den Strand werfen, bis wir vor Erschöpfung und Kälte ganz außer Atem waren. Wir müssen zu der Zeit etwa zehn und acht gewesen sein. Ich sehe uns noch genau vor mir, wie wir zusammen lachten und dann ausgelassen kreischten, wenn wieder eine besonders große Welle herandonnerte. Kerry trug ihr Haar damals zu ordentlichen Zöpfen geflochten. Sie hatte als Mädchen ein schüchternes Lächeln, bei dem auf ihren Wangen kleine Grübchen erschienen. Eigentlich lächelte sie immer noch so, dachte ich.

»Ich denke an dich«, stieß ich hervor und wäre dabei am liebsten heulend auf die Knie gefallen.

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

»Kerry?«

»Danke«, sagte sie, und dann, nach einer kurzen Pause:

»Miranda?«

»Ja?«

»Ach, nichts. Wir sehen uns morgen.«

Sie legte auf.

Ich fuhr durch den Nebel zur Arbeit. Häuser und Autos tauchten wie aus dem Nichts vor mir auf, Fußgänger huschten schemenhaft vorüber. Die Bäume am Straßenrand wirkten wie traurige Gespenster. Es war einer jener Tage, an denen es nie so richtig hell wurde und man ständig ein klammes Gefühl hatte, als würde die Feuchtigkeit wie eine eisige zweite Haut an einem kleben.

Das Haus in Tottenham war still und kalt. Meine Schritte hallten auf den Bodendielen, und der Klang des Hammers echote durch den Raum. Ich machte mir viele Tassen bitteren Instantkaffee, nur um meine Hände an einer der fleckigen, abgeschlagenen großen Tassen wärmen zu können, die die Besitzer für uns zurückgelassen hatten. Trotzdem war ich froh zu arbeiten, denn was hätte ich sonst gemacht? Bestimmt keine Weihnachtseinkäufe. Ich konnte mich auch nicht zu meiner Mutter in die Küche setzen und zusehen, wie sie Teigscheiben in Förmchen drückte und dann mit Hackfleisch füllte. Ich konnte nicht mehr mit Laura plaudern, nicht mehr über eine von Troys skurrilen Bemerkungen lachen. Das alles war vorbei. Stattdessen arbeitete ich, bis meine Hände wund waren, und fuhr dann nach Hause, wo ich mich im Wohnzimmer unter den Balken setzte.

Jenen Balken. In dem Moment wünschte ich, die Zimmerdecke würde mit ihrem ganzen Gewicht herunterstürzen und mich unter sich begraben.

Nachdem ich etwa eine Stunde so dagesessen und gelauscht hatte, wie draußen der Regen von den kahlen Ästen tröpfelte, griff ich nach dem Hörer, weil ich das Gefühl hatte, unbedingt mit jemandem reden zu müssen. Ich tippte die ersten paar Zahlen von Lauras Nummer, hielt dann aber abrupt inne. Ich konnte nicht mit ihr reden. Was sollte ich sagen? Hilf mir? Bitte hilf mir, ich habe das Gefühl, wirklich wahnsinnig zu werden?

Ich hatte mich immer an Laura gewandt, wenn es mir schlecht ging, aber nun war sie für mich wie eine verschlossene Tür.

Wenn ich daran dachte, was alles passiert war, wurde mir schlecht. Der Gedanke an die Zukunft verursachte mir ein Gefühl von Schwindel – als würde sich vor mir ein Abgrund auftun.

Gegen acht ging ich schließlich ins Bett, weil ich nichts mit mir anzufangen wusste. Ein altes T-Shirt von Troy ans Gesicht gepresst, lag ich da und wartete darauf, dass es Morgen werden würde. Irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein, denn als ich wieder aufwachte, dämmerte es bereits. In den Lichtkegeln der Straßenlampen sah ich, dass Eisregen fiel.

Abends stand ich pünktlich um sieben bei meinen Eltern vor der Tür. Kerry machte mir auf. Sie trug ein hauchdünnes pinkfarbenes, am Ausschnitt mit kleinen Perlen besetztes Oberteil, das ihr Gesicht blass und kränklich aussehen ließ. Ich küsste sie auf die Wange und trat mit ihr ins Haus.

Die Bauarbeiten waren vorübergehend eingestellt worden. Das klaffende Loch in der Küchenwand war notdürftig mit Brettern zugenagelt, und über dem Seitenfenster bauschte sich eine dicke Polyäthylenfolie. Die Töpfe und Pfannen aus den alten Küchenschränken stapelten sich auf dem Linoleumboden. Die Mikrowelle thronte auf dem Küchentisch. Im Wohnzimmer war der Teppichboden herausgerissen worden, und dort, wo sich vorher das Bücherregal befunden hatte, stand jetzt ein auf Böcke gestellter Tisch mit allerlei Werkzeug. Alles war in dem Moment zum Stillstand gekommen, als Troy von meinem Balken hängend gefunden worden war.

Bill und Judy saßen bereits mit meinen Eltern um das Kaminfeuer herum, das Dad entfacht hatte. Nur Brendan war noch nicht da.

»Er hat einen Termin, wegen irgendeiner Idee«, erklärte Kerry vage.

Als ich meine vom Schicksal gebeutelte Familie so betrachtete, fiel mir auf, dass alle Gewicht verloren hatten. Nur Brendan nicht. Als er ein paar Minuten später eintraf, fiel mir auf, dass er sogar zugenommen hatte. Seine Wangen waren voller, sein fliederfarbenes Hemd spannte über seinem Bauch.

Sein Haar wirkte schwärzer als sonst. Als sich unsere Blicke trafen, neigte er leicht den Kopf und lächelte dabei wie … ja, wie eigentlich? Ein Sieger? Vielleicht wollte er mir auf diese gnädige Art noch einmal kundtun, dass er auf der ganzen Linie gewonnen hatte.

Sein Verhalten gegenüber den anderen war längst nicht mehr so schmeichlerisch wie früher, eher schon eine Spur arrogant.

Als er zu Kerry sagte, dass er einen starken Drink brauche, klang er fast machohaft, und als er meinen Vater wegen des ziemlich mickrigen Feuers aufzog, hatte seine Stimme einen verächtlichen Unterton. Bill sah mit gerunzelter Stirn zu ihm hoch, sagte aber nichts.

Unter anderen Umständen hätten wir Champagner getrunken, aber so holte mein Vater nur eine Flasche Rotwein und für Brendan Whisky.

»Was wirst du denn morgen anziehen?«, wandte ich mich an Kerry.

»Oh.« Sie wurde rot und warf Brendan einen schnellen Blick zu. »Ich hatte eigentlich vor, mein neues rotes Kleid anzuziehen.«

»Klingt gut«, sagte ich.

»Ich bin aber nicht sicher, ob es mir wirklich steht.« Wieder warf sie Brendan, der sich gerade sein zweites Glas Whisky einschenkte, einen nervösen Blick zu. »Ich weiß nicht, ob ich der Typ bin, der so was tragen kann.«

»Du kannst morgen tragen, was du willst«, erwiderte ich.

»Es ist schließlich dein Hochzeitstag. Komm, zeig es mir.«

Wir gingen zusammen hinauf in ihr Zimmer. Das letzte Mal war ich in diesem Raum gewesen, als ich unter der Kornmode den Strick gefunden hatte. Ich schob den Gedanken rasch beiseite und wandte mich zu Kerry. Sie griff in eine große Einkaufstüte, befreite das Kleid aus seiner Seidenpapierhülle.

»Wundervoll«, sagte ich. »Zieh es mal an.« Meine ganze Wut auf Kerry war verraucht, ich empfand für sie nur noch bedingungslose Liebe.

Sie schälte sich aus ihrer Hose, streifte das pinkfarbene Oberteil ab, öffnete ihren BH. Wie dünn und bleich sie war.

Rippen und Schlüsselbein standen deutlich hervor.

»Hier.« Ich reichte ihr das Kleid, und als sie danach griff, bemerkten wir, dass Brendan im Türrahmen stand. Keiner sagte ein Wort. Während Kerry in das Kleid schlüpfte, wurde ihr Kopf für einen Moment von den Falten des Stoffs verhüllt, sodass nur noch ihr magerer Körper zu sehen war, der in seiner Nacktheit und Blässe etwas von einem Opferlamm besaß. Es erschien mir irgendwie pervers, dass sie so vor Brendan und mir stand. Mit einer abrupten Bewegung wandte ich mich ab und starrte aus dem Fenster.

»So«, sagte sie. »Natürlich gehören hohe Schuhe dazu. Und ich werde mein Haar hochstecken und mich schminken.«

»Du siehst wundervoll aus«, erklärte ich, obwohl es nicht stimmte. Das Rot war viel zu kräftig für sie, es ließ sie farblos und unscheinbar wirken.

»Findest du wirklich?«

»Ja.«

»Hmmm«, sagte Brendan. Er musterte sie einen Moment abschätzend, dann huschte ein seltsames kleines Lächeln über sein Gesicht. »Ach ja, unten warten schon alle darauf, mit uns anzustoßen.«

»Wir kommen gleich.«

»Ihr beide vertragt euch also wieder?«

Es war, als hätten seine Worte in mir eine Zündschnur zum Glimmen gebracht, sodass nun eine Flamme der Wut in mir hochschoss. Mit einer heftigen Bewegung drehte ich mich zu ihm um.

»Wir sind Schwestern!«, sagte ich.

Wir starrten uns an. Ich würde ganz bestimmt nicht als Erste den Blick abwenden. In den wenigen Momenten, die wir uns wie gebannt in die Augen sahen, spürte ich in mir nur noch Hass.

Am Freitagmorgen stand ich früh auf, nahm ein Bad, wusch mir die Haare. Anschließend ging ich ins Schlafzimmer und starrte in meinen Kleiderschrank. Was trägt eine Frau zur Hochzeit ihrer Schwester, wenn sie deren Bräutigam hasst und nur wenige Tage zuvor ihr Bruder gestorben ist? Nichts Auffallendes, nichts Knappes, nichts Fröhliches. Andererseits kann man auch nicht in Schwarz auf eine Hochzeit gehen. Ich musste daran denken, wie Kerrys weißes Gesicht aus dem roten Kleid aufgetaucht war. Wie ein Gesicht in einem mit Samt ausgeschlagenem Sarg. Schließlich griff ich nach einem lavendelfarbenen Kleid. Das Oberteil war aus einem feinen Strickstoff, der Rock aus duftigem Chiffon. Eigentlich handelte es sich um ein Sommerkleid, aber wenn ich meine schöne Rohseidenbluse darüberzog, würde es gehen. Ich schminkte mich ein wenig, föhnte mein Haar, legte Ohrringe an, schlüpfte in eine feine Strumpfhose und dann vorsichtig in mein Kleid.

Als ich mich im Spiegel betrachtete, schnitt ich eine Grimasse, weil das Wesen, das ich dort erblickte, so blass und hohläugig aussah.

Ich zog meinen langen schwarzen Mantel an, griff nach dem Geschenk, das ich besorgt hatte, und brach auf. Wir hatten vereinbart, dass wir uns bei meinen Eltern treffen und dann gemeinsam zum Standesamt gehen würden. Es herrschte dichter Verkehr, aber schließlich hatte ich es geschafft. Da vor dem Haus nichts mehr frei war, parkte ich ein paar Türen weiter. Im Laufschritt eilte ich durch den Nieselregen, wobei ich mein Kleid anhob, damit es in den Pfützen nicht zu Schaden kam.

Offenbar warteten sie schon auf mich, denn als ich klopfen wollte, schwang die Tür bereits auf.

»Miranda«, sagte mein Vater.

Verblüfft starrte ich ihn an. Er trug seinen alten karierten Bademantel und war noch nicht rasiert. Hatte ich mich in der Zeit geirrt?

»Wir müssen doch gleich aufbrechen«, sagte ich.

»Nein«, antwortete er. »Nein. Komm herein.«

Meine Mutter saß auf der Treppe. Sie trug ausgebeulte Leggings und einen uralten Rollkragenpulli, den ich schon seit Jahren nicht mehr an ihr gesehen hatte. Als sie uns kommen hörte, hob sie den Kopf. Ihr Gesicht schien nur aus Furchen und Falten zu bestehen.

»Hast du es ihr schon gesagt?«

»Was?«, fragte ich. »Was gesagt? Was ist denn los?«

»Er hat alles abgeblasen.«

»Wie meinst du das?«

»Als Kerry heute Morgen aufgewacht ist, war er nicht da. Um acht hat er sie angerufen und gesagt …« Ihre monotone Stimme versagte. Sie schüttelte sich, als müsste sie erst wieder einen klaren Kopf bekommen, ehe sie weitersprach. »Er hat gesagt, er habe sein Bestes getan, um uns allen zu helfen, aber es habe keinen Sinn. Er sei es leid, uns alle zu stützen, und er könne so nicht weitermachen.«

Ich ließ mich ein paar Stufen unterhalb meiner Mutter auf die Treppe sinken.

»Mein Gott, die arme Kerry.«

»Er hat gesagt«, fuhr sie fort, »er habe bei einer anderen die Chance auf ein neues Glück gefunden, und wir würden bestimmt verstehen, dass er darauf nicht verzichten könne. Er müsse ausnahmsweise mal an sich selbst denken.«

»Er hat eine andere?«, fragte ich benommen. Mir war, als hätte mir jemand einen Schlag auf den Kopf verpasst. Meine Mutter musterte mich argwöhnisch.

»Du hast es nicht gewusst?« Ich gab ihr darauf keine Antwort, starrte sie nur verblüfft an.

»Schließlich ist sie deine Freundin«, fuhr sie fort.

»Nein«, stöhnte ich. »O nein!«

»Tja«, sagte meine Mutter. »Nun weißt du es.«

»Laura«, flüsterte ich.

Ich ging in Kerrys Schlafzimmer. Sie trug noch ihren Schlafanzug und saß in sehr aufrechter Haltung auf dem Bett.

Als ich mich neben sie setzte und über ihr dünnes, weiches Haar strich, drehte sie sich zu mir und sah mich mit glasigen Augen an.

»Wie dumm von mir«, sagte sie. »Ich habe mir eingebildet, er würde mich lieben.«

»Kerry.«

»Wie unglaublich dumm von mir.«

»Hör zu …«

»Er hat immer nur dich geliebt.«

»Nein.«

»Und dann deine Freundin.«

»Kerry«, sagte ich. »Er ist kein guter Mann. Glaub mir.

Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Du bist ohne ihn besser dran, und ich bin sicher, du wirst …«

»Sag jetzt bloß nicht, dass ich einen Besseren finden werde«, flüsterte sie mit zornig funkelnden Augen.

»Entschuldige.«

»Alles ist ruiniert«, fuhr sie leise fort. »Es war schon ruiniert, als Troy sich umbrachte. Brendan hat nur noch die letzten paar Steine umgestoßen. Nun ist gar nichts mehr übrig.«

Ich musste daran denken, wie Brendan über meine Familie hinweggetrampelt war, mit seinen Stiefeln all unsere Hoffnungen zertreten hatte. Seufzend legte ich den Arm um meine ältere Schwester, deren dünner Körper nach Schweiß, Puder und Blumen roch. Ihr rotes Samtkleid hing in der Ecke.

Während ich sie an mich zog und auf den Scheitel küsste, spürte ich Tränen an meiner Wange, konnte aber nicht sagen, ob es meine oder ihre waren.

Manche Dinge kommen einem rückblickend wie ein Traum vor.

Dies aber war kein Traum, auch wenn es mir im Nachhinein erschien wie ein Moment außerhalb der Zeit – ein Moment, an den ich mein Leben lang würde denken müssen.

Ich wachte auf, und obwohl noch nicht richtig Tag war, erfüllte ein weiches Licht den Raum. Rasch sprang ich aus dem Bett, zog die Vorhänge zurück und starrte auf eine Welt aus Schnee. Es fielen immer noch große Flocken, lautlos glitten sie auf der anderen Seite des Glases nach unten. Ich schlüpfte schnell in ein paar warme Sachen, lief die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Alles war dick verschneit, die Straße, die Autos, die Mülltonnen, die Gartenmauern. Die weiße Pracht war noch fast unberührt, nur hie und da entdeckte ich Abdrücke von Katzenpfoten oder kleinen Vogelkrallen. Das Gewicht des Schnees drückte die Äste der Bäume nach unten, und während ich den verschneiten Gehsteig entlangmarschierte, gingen zu meinen Füßen immer wieder kleine Schneeschauer nieder.

Flocken blieben in meinen Wimpern hängen und schmolzen auf meinen Wangen. Die Welt war monochrom, wie eine alte Fotografie, und perspektivisch verkürzt. Es gab keinen Horizont mehr, nur noch das stete Rieseln der herabfallenden Flocken. Es waren auch keine Geräusche zu hören, abgesehen vom leichten Knirschen des Schnees unter meinen Sohlen. Alles wirkte gedämpft, geheimnisvoll und wunderschön. Ich hatte das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein.

Es war noch immer nicht richtig hell, und auf der Heath war außer mir kein Mensch unterwegs. Ich konnte keine Fußabdrücke entdecken, und auch meine eigenen wurden schnell wieder zugeschneit. Die zugefrorenen Teiche waren unter einer weißen Schicht versteckt, die Fußwege nur an ihrer besonders glatten Schneedecke zu erkennen.

Ich ging den Hügel hinauf und blieb dort eine Weile stehen.

Was mir in dem Moment durch den Kopf ging? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wickelte ich mich bloß noch fester in meinen Mantel, schlug den Kragen hoch und sah zu, wie um mich herum der Schnee fiel. Schon bald würden hier viele Menschen sein – Spaziergänger, aber vor allem Kinder. Sie würden sich Schneeballschlachten liefern, Schneemänner bauen und vor Vergnügen kreischend mit dem Schlitten den Hügel hinuntersausen. Vorerst aber war ich noch ganz allein. Ich streckte die Zunge heraus und ließ eine Flocke darauf zergehen.

Ich legte den Kopf zurück, bis ich vor lauter Schnee nichts mehr sehen konnte.

Als ich den Hügel wieder hinunterwanderte, entdeckte ich weiter unten die ersten Leute. Aus der Ferne wirkten sie wie verwischte Striche auf einer weißen Leinwand. Und dann sah ich eine Gestalt langsam den Weg entlanggehen, der meinen kreuzte. Im Näherkommen erkannte ich, dass es sich um eine Frau handelte. Sie hatte einen dicken Mantel an, einen großen Hut tief in die Stirn gezogen, einen Schal um die untere Hälfte ihres Gesichts geschlungen. Trotzdem erschien mir etwas an ihr vertraut. Plötzlich fühlte ich ein schmerzhaftes Ziehen in der Herzgegend und blieb abrupt stehen. Vielleicht spürte sie meinen Blick, denn sie blieb ebenfalls stehen, nahm ihren Hut ab und legte eine Hand über die Augen, um besser sehen zu können. Schneeflocken landeten auf ihrem dunklen Haar. Ein paar Sekunden lang stand sie völlig reglos da, genau wie ich.

Am liebsten hätte ich ihren Namen gerufen: »Laura! Laura!«

und wäre zu ihr hingelaufen, um ihr Gesicht richtig sehen zu können. Sie schien es ebenfalls zu mir hinzuziehen, sie machte einen unsicheren halben Schritt nach vorn, den Hut noch immer in ihrer behandschuhten Rechten, hielt dann aber zögernd inne.

Ich hatte mich meinerseits noch nicht von der Stelle bewegt.

Dann setzte Laura ihren Hut wieder auf und begann von neuem den Weg entlangzugehen, nun aber in die andere Richtung, weg von mir. Nach einer Weile verschwamm ihre Gestalt in der Ferne. Ich sah ihr nach, bis sie sich im Weiß auflöste, wie ein einsamer Geist.

Irgendwie vergingen die Tage und Wochen. Was man auch tut, die Zeit vergeht. Dann passierte etwas.

Ich träumte, dass ich fiel, dass ich durch die Luft stürzte, und dann schreckte ich mit wild klopfendem Herzen hoch. Das Telefon klingelte. Während ich schlaftrunken nach dem Hörer tastete, bekam ich so halb mit, dass es draußen dunkel war.

Ich murmelte ein verschlafenes Hallo. Jemand begann in mein Ohr zu singen. Einen Moment lang glaubte ich, dass das alles noch Teil meines Traums war, ein Traum im Traum, aber dann ergaben die Worte langsam einen Sinn. »Happy birthday to you, happy birthday to you …«

Ich setzte mich auf und umklammerte den Hörer. Hinter der gnadenlos fröhlichen Melodie waren andere Geräusche zu hören: Stimmengewirr, Musik, lautes Gelächter.

»Happy birthday, liebste Miranda …«

»Nicht«, murmelte ich.

»Happy birthday to you!«

Ich verdrehte den Kopf, um einen Blick auf meinen Wecker zu werfen. Aus 12:01 wurde gerade 12:02.

»Ich wollte der Erste sein, der dir gratuliert. Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass ich es vergessen würde, oder? Das könnte ich nie vergessen.«

»Ich möchte nicht …«

»Der achte März. Hast du gewusst, dass das der internationale Tag der Frau ist?«

»Ich lege jetzt auf, Brendan.«

»Du bist immer in meinen Gedanken. Es vergeht keine Stunde, ohne dass ich an dich denke. Und ich bin auch immer in deinen Gedanken, stimmt’s?«

»Du bist betrunken.«

»Bloß guter Laune. Und allein.«

»Aber Laura …?«

»Ich bin allein, und ich denke an dich. Nur an dich.«

»Lass den Scheiß«, sagte ich und legte auf. Leider nicht schnell genug, denn ich hörte ihn gerade noch sagen: »Schlaf gut, Miranda. Süße Träume.«

27. KAPITEL

Es war unglaublich und unverzeihlich, aber ich kam tatsächlich zu spät in die Kirche. Ich hatte mir Gedanken gemacht, was ich anziehen sollte und ob das überhaupt eine Rolle spielte, und plötzlich war mir bewusst geworden, dass ich schon seit fünfundvierzig Minuten auf der Kante meines Betts saß und die Wand anstarrte, wobei ich selbst nicht so recht wusste, worüber ich eigentlich nachgedacht hatte. Die Kirche befand sich in New Maiden, wo Lauras Eltern lebten, und war viel weiter entfernt, als ich angenommen hatte, sodass ich mehrmals umsteigen musste. Am Ende geriet ich derart in Panik, dass ich kopflos aus dem Bahnhof stürmte, prompt eine falsche Abzweigung nahm und mich zu meiner Überraschung am Rand eines Golfplatzes wiederfand, wo Männer in farbenfrohen Pullovern den schönen Frühlingsmorgen genossen.

Die Kirche hatte zwei Türen, die beide geschlossen waren.

Drinnen hörte ich die Leute ein Kirchenlied singen, das ich von meinen früheren Schulgottesdiensten kannte. Ich wusste nicht, durch welche Tür ich gehen sollte. Schließlich entschied ich mich für den kleineren Seiteneingang. Ich hatte Angst, das Gebäude an einer exponierten Stelle zu betreten, wo alle mich anstarren würden. Als ich die Tür aufzuschieben versuchte, spürte ich Widerstand. Als sie schließlich doch nachgab, wurde mir klar, dass die kleine Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt war. Ein bärtiger Mann in einem dunklen Trenchcoat trat zur Seite, um mich hineinzulassen.

Ich befand mich auf halber Höhe des Kirchenschiffs, wo mir eine Säule die Sicht nach vorn versperrte. Als das Lied zu Ende war, begann jemand, den ich nicht sehen konnte, zu sprechen.

Ich blickte mich nach vertrauten Gesichtern um, aber es schien sich um eine Ansammlung von Fremden zu handeln, sodass ich mich einen Moment lang fragte, ob ich wohl in die falsche Kirche geplatzt war, aber dann entdeckte ich eine junge Frau, die mit Laura und mir am College gewesen war. Unsere Blicke trafen sich, aber ich konnte mich nicht an ihren Namen erinnern.

Hoffentlich würden wir uns hinterher nicht über den Weg laufen. Ganz weit hinten sah ich Tony, der hager und gequält wirkte, aber auch seltsam verlegen, als befände er sich auf einer Veranstaltung, für die er keinen Eintritt bezahlt hatte. Ich hatte mich bisher überhaupt nicht auf die Predigt konzentriert und zwang mich jetzt zuzuhören. Anfangs drangen nur einzelne Phrasen in mein Bewusstsein, die nicht viel Sinn zu ergeben schienen: »glückliche junge Frau«, »in der Blüte der Jugend«,

»Frühlingsmorgen«. Aus dem etwas gekünstelten Tonfall des Pfarrers schloss ich, dass er Laura nicht persönlich gekannt, sondern nur von ihr gehört hatte.

»Manchmal würden wir Gott am liebsten Fragen stellen«, sagte er gerade. »Wir würden ihn gerne fragen, warum guten Menschen schlimme Dinge passieren. Warum unschuldige Kinder leiden müssen. Und warum diese hübsche, fröhliche junge Frau durch einen so grausamen und unnötigen Unfall sterben musste. Solch ein Unfall ist immer schlimm, aber für eine Frau wie Laura, die frisch verheiratet war, ist es wirklich ein fast unerträglich grausames Schicksal.«

Durch den Nebel meiner Verwirrung und meines Kummers traf es mich wie ein Messerstich. »Frisch verheiratet.«

Das hatte ich nicht gewusst. Dann hatten sie also geheiratet.

Laura hatte geheiratet.

»Und deswegen«, fuhr der Pfarrer fort, »müssen unsere Gedanken und Gebete nicht nur bei Lauras Eltern Jim und Betty sein, sondern auch bei Brendan, ihrem frisch gebackenen Ehemann.«

Jetzt sah ich ihn. Wenn ich mich ein wenig zur Seite neigte, hatte ich einen guten Blick auf die Trauernden in der ersten Reihe, auch wenn ich sie natürlich nur von hinten sah. Eine grauhaarige, nach vorn gebeugte Frau, neben ihr ein grauhaariger Mann, der den Arm um sie gelegt hatte, und auf ihrer anderen Seite, sehr aufrecht sitzend, den Blick nach vorn gerichtet, Brendan. Ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck genau vorstellen. Er war bestimmt der überzeugendste Trauernde in der ganzen Kirche, der Weltmeister im Trauern.

Bestimmt wirkte sein Blick bekümmert, aber auch nachdenklich.

Als der Pfarrer eben seinen Namen erwähnte, hatte Brendan ihm wahrscheinlich einen kurzen Blick zugeworfen, gequält den Mund verzogen und dazu bescheiden genickt. Ich beobachtete, wie er sich Lauras Mutter zuwandte. Ganz genau. Obwohl er selbst so litt, dachte er noch an die anderen. Welch ein Star!

Nun wurde ein weiteres Lied angestimmt, dann las ein Onkel Lauras ein Gedicht vor, und anschließend erklärte der Pfarrer, dass nur die Angehörigen den Sarg zum Grab begleiten würden.

Die übrigen Trauergäste sollten sich im Haus der Eltern versammeln. Es sei nicht weit zu gehen, die Gottesdienstordnung enthalte eine kleine Karte. Da ich keine solche Gottesdienstordnung besaß, würde ich der Menge folgen müssen. Das alles erinnerte mich sehr an unsere früheren Schulgottesdienste – die Lieder, die Erklärungen, die vorgeschriebene Reihenfolge beim Verlassen der Kirche. Als der Sarg schließlich an mir vorbeigetragen wurde, brachte ich ihn kaum mit Laura in Verbindung. Ich machte mir nur darüber Gedanken, wie schwer er wohl war, und wie die Träger ausgewählt wurden. Ob es sich dabei um Verwandte und Freunde handelte oder aber um Angestellte des Beerdigungsinstituts. Obwohl Laura meine beste Freundin gewesen war, hatte ich ihre Eltern nie kennen gelernt. Sie hatte sich während ihres letzten Schuljahrs wegen einer Jungengeschichte mit ihnen entzweit, sodass ich die beiden nun, als sie dem Sarg aus der Kirche folgten, zum ersten Mal sah.

Seltsamerweise hatte Lauras Mutter, die rundgesichtig und füllig war, keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Tochter. Laura schien das Abbild ihres Vaters gewesen zu sein, der noch immer ein gut aussehender Mann war. Er besaß ein hageres Gesicht mit markanten Wangenknochen. In seinem dunklen Anzug schien er sich nicht besonders wohl zu fühlen. Vielleicht hatte er ihn sich von jemandem ausgeliehen.

Hinter ihnen ging Brendan. Mir blieb fast die Luft weg, so attraktiv sah er aus. Alles an ihm passte. Er hielt seine Hände ineinander verkrampft, als würde er sich angestrengt bemühen, seinen Schmerz nicht zu zeigen. Sein schwarzer Anzug war makellos. Dazu trug er ein weißes Hemd und eine prächtige purpurrote Krawatte, die er zu einem großen Knoten gebunden hatte. Sein Haar wirkte ein wenig zerzaust, was einen Kontrast zu seiner extrem gepflegten, korrekten Kleidung bildete, aber trotzdem dazupasste, als ein Zeichen seines Kummers und seiner Leidenschaft, ein Hauch von eleganter Lässigkeit. Sein Gesicht war sehr blass, der Blick seiner dunklen Augen starr nach vorn gerichtet, sodass er mich nicht sah.

Die Prozession zog den Mittelgang entlang und durch die Tür ins Freie. Drinnen wurde nach einer Weile verlegenes Füßescharren und Gemurmel laut, weil alle länger als nötig warteten, um ganz sicher zu sein, dass sämtliche Familienmitglieder die Kirche verlassen hatten. Da ich als Letzte gekommen war, stand ich als eine der Ersten wieder vor der Tür und blinzelte benommen in die Sonne. Das grelle Licht blendete mich, aber erst nach einer Weile wurde mir bewusst, dass ich weinte. Drinnen in der Kirche war mir alles irgendwie zu viel gewesen, aber als ich nun den Friedhof mit der Masse von Gräbern sah, machte mich der Gedanke, dass das alles einmal Menschen gewesen waren und Laura nun zu ihnen gehörte, derart traurig, dass ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Schon wieder. Meine Augen gewöhnten sich langsam daran. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

»Miranda?«

Ich drehte mich um. Vor mir stand die Frau, deren Namen ich vergessen hatte. Laura hatte während ihres ersten Jahrs am College im selben Haus gewohnt wie sie. Lucy. Sally. Paula.

»Hallo«, sagte ich.

Sie umarmte mich herzlich. Kate. Susan. Es war ein kurzer, schlichter Name gewesen. Tina. Jackie. Jane.

»Es tut so gut, ein vertrautes Gesicht zu sehen«, sagte sie.

»Es ist ziemlich lange her, dass ich Laura zum letzten Mal gesehen habe. Ich dachte, ich würde gar niemanden kennen.«

Lizzie. Frances. Cathy. Jean. Alice. Nein.

Ich brachte nicht mehr als ein Schulterzucken zustande.

»Ist es nicht unfassbar traurig?«, fragte sie. »Ich kann es noch immer nicht glauben.«

»So geht es mir auch«, antwortete ich. Ich hätte sie sofort nach ihrem Namen fragen und mich entschuldigen sollen. Nun war es zu spät. Julia. Sarah. Jan. Vielleicht würde sich jemand anderer zu uns gesellen und sie beim Namen nennen. Blieb nur zu hoffen, dass ich sie niemandem vorstellen musste.

»Kommst du noch mit zu ihren Eltern?«, erkundigte sie sich.

»Ich weiß nicht so recht.«

»Du musst unbedingt mitkommen«, drängte sie mich.

»Wenigstens für eine halbe Stunde. Ich würde mich so gern ein bisschen mit dir unterhalten.«

»Na gut«, antwortete ich. Sie hielt eine Karte in der Hand, auf welcher der Weg verzeichnet war. Einer göttlichen Eingebung folgend, fragte ich sie, ob ich einen Blick darauf werfen dürfe, woraufhin sie mir die Karte reichte. Ich drehte sie um. In der rechten oberen Ecke stand mit Füller der Name »Sian«.

Natürlich. Wie hatte ich das vergessen können? Ich war sehr erleichtert. Endlich hatte in meinem Leben mal wieder etwas geklappt.

»Das ist schon seltsam«, stellte sie gerade fest. »Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich auf der Beerdigung eines Menschen in meinem Alter.«

»Ja, Sian«, antwortete ich, nur um ihr zu zeigen, dass ich ihren Namen noch wusste. »Das ist wirklich seltsam.«

Ich sagte nichts von Troy. Sein Tod war für mich etwas so Intimes und Kostbares, dass er für mich kein normales Gesprächsthema darstellte, über das ich mich mit Menschen unterhalten wollte, die ich kaum kannte und wahrscheinlich niemals wiedersehen würde. Sian erzählte, dass sie Laura zuletzt vor über einem Jahr gesehen habe. Gemeinsame Freunde hätten ihr berichtet, dass sie vor kurzem klammheimlich geheiratet habe, wenn auch nur standesamtlich.

»Sie hat einen Typen geheiratet, von dem ich noch nie gehört habe«, fügte sie hinzu. »Es muss alles ganz schnell gegangen sein.«

Am liebsten hätte ich gar nichts dazu gesagt, aber ich wusste, dass sich dann mit hundertprozentiger Sicherheit jemand zu uns gesellt und von Brendan und mir angefangen hätte, sodass ich wieder ins Hintertreffen geraten wäre.

»Ich kenne ihn«, sagte ich. »Es ist tatsächlich sehr schnell gegangen.«

»Es muss der sein, der hinter dem Sarg herging.«

»Ja, genau.«

»Ich fand ihn sehr gut aussehend«, bemerkte Sian. »Ich kann verstehen, warum sie sich in ihn verliebt hat.«

»Wenn du möchtest, stelle ich ihn dir vor«, bot ich ihr an.

Sian wirkte ein wenig verlegen.

»Ich habe damit nicht gemeint …«, begann sie, sprach den Satz aber nicht zu Ende.

Im Haus drängten sich die Menschen. Allerdings hielt ich vergeblich nach Tony Ausschau, der einzigen Person, die ich gern gesehen und in den Arm genommen hätte. Auf einem Tisch standen Sandwiches, gekochte Eier, Dips, aufgeschnittenes Gemüse und Chips bereit. Zum Trinken gab es Tee, Kaffee, Wein und Saft. Ich stellte mir vor, wie Lauras Mutter die Vorbereitungen überwacht hatte. Zur Hochzeit war sie nicht eingeladen gewesen, aber nun, ein paar Wochen später, hatte sie die Beerdigung organisiert. Ich blickte mich nach bekannten Gesichtern um. Tony konnte ich noch immer nirgendwo entdecken. Wahrscheinlich hatte er sich gleich nach der Kirche davongestohlen. Lauras Eltern führten gerade eine sehr alte Dame quer durchs Wohnzimmer in eine Ecke und halfen ihr, in einem Sessel Platz zu nehmen. Ich überlegte, ob ich ihnen mein Beileid aussprechen sollte, fragte mich aber, wie ich das anstellen sollte, ohne mich in unangenehmen Erklärungen zu verlieren, sagte mir dann jedoch, dass ich trotzdem mit ihnen sprechen sollte. Während ich noch darüber nachdachte, wurde mir plötzlich bewusst, dass mich jemand aus nächster Nähe anstarrte. Ich blickte mich um. Es dauerte einen Moment, bis mir einfiel, woher ich das Gesicht kannte. Es war der Detective, Rob Pryor.

»Was um alles in der Welt tun Sie denn hier?«, erkundigte ich mich.

Ohne meine Frage zu beantworten, reichte er mir eine Tasse Tee.

»Ich hatte eigentlich auf etwas Stärkeres gehofft«, sagte ich.

»Es gibt nichts Stärkeres.«

»Schade.«

»Ich weiß, was Sie sagen werden«, bemerkte er.

Ich nahm einen Schluck von dem Tee. Er war so heiß, dass ich mir fast den Mund verbrannte.

»Was werde ich denn sagen?«

»Ich habe damit gerechnet, Sie hier zu treffen«, fuhr er fort, ohne auf meine Frage einzugehen. »Und ich glaube, es ist wichtig, dass ich Sie ein bisschen bremse.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

»Ich habe das Ganze genau unter die Lupe genommen«, sagte Rob. »Lauras Tod war ein schrecklicher Unfall. Sonst nichts.«

»Ach, hören Sie doch auf, Rob!«, erwiderte ich. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie weiter Rob nenne?«

»Nein, natürlich nicht. Aber Sie wollten gerade etwas sagen.«

»Ja, dass Sie aufhören sollen, mich für dumm zu verkaufen.

Dass das ein Unfall war, glauben Sie doch wohl selber nicht.«

»Ich weiß, was Sie meinen«, räumte er ein. »Als ich davon hörte, musste ich sofort an Sie denken. Deswegen habe ich ja auch herumtelefoniert und mit dem zuständigen Kollegen gesprochen.«

»Vergessen Sie das alles«, erwiderte ich. »Denken Sie einfach mal nach: Ich komme mit meinem Verdacht wegen Troy zu Ihnen. Sie tun ihn als Hirngespinst ab. So weit, so gut. Dann lässt Brendan meine Schwester wegen meiner besten Freundin Laura sitzen. Ein paar Monate später ist Laura tot. Sehen Sie da nicht ein Muster?«

Rob seufzte.

»Tut mir Leid«, erwiderte er. »An Mustern bin ich nicht besonders interessiert. Was für mich zählt, sind Fakten, und die lassen sich nicht einfach so beiseite fegen. Laura ist durch einen Unfall gestorben.«

»Wie viele Fünfundzwanzigjährige ertrinken in der Badewanne?«, fragte ich.

»Sie kam von einer Party«, antwortete Rob. »Sie war betrunken.

Nach einer Meinungsverschiedenheit mit Mr. Block brach sie frühzeitig von der Party auf und kehrte allein nach Hause zurück.

Sie ließ sich ein Bad einlaufen. Als sie in die Wanne steigen wollte, rutschte sie aus, schlug mit dem Kopf gegen irgendeine Kante und ertrank. Da das Wasser noch lief, ging irgendwann die Wanne über. Knapp zwanzig Minuten nach Mitternacht merkte Thomas Croft, der ein Stockwerk tiefer wohnt, dass Wasser durch die Zimmerdecke kam. Er rannte nach oben, stellte fest, dass die Wohnungstür nicht abgeschlossen war, und entdeckte Mrs. Block tot in der Badewanne.«

Ich fand es ganz furchtbar, dass er Laura »Mrs. Block« nannte.

Brendan hatte es erneut geschafft, mit seinen schmutzigen Händen in das Leben eines anderen Menschen einzugreifen. Ich warf einen Blick in die Runde, um sicherzugehen, dass uns niemand zuhörte.

»Genau dasselbe hat er gemacht, als er und Kerry in meiner Wohnung lebten.«

»Was?«

»Er hat absichtlich die Badewanne überlaufen lassen. Das ist eine Nachricht.«

»Eine Nachricht?«

»An mich.«

Rob Pryor betrachtete mich fast mitleidig.

»Mrs. Blocks Tod war eine Nachricht an Sie?«, fragte er.

»Sind Sie wahnsinnig?«

»Es ist leicht, einer Frau, die sich gerade ein Bad einlässt, irgendwas an den Kopf zu knallen«, erklärte ich. »Und sie dann unter Wasser zu halten.«

»Das stimmt«, musste Rob mir Recht geben.

»Und es war eine große Party, stimmt’s?«, fuhr ich fort.

»Da wimmelte es bestimmt nur so von Leuten. Im Haus. Im Garten. Glauben Sie, da hat jemand darauf geachtet, was Brendan gemacht hat?«

Rob runzelte genervt die Stirn.

»Von der Seldon Avenue, wo die Party stattfand, bis zu ihrer Wohnung braucht man zu Fuß zwanzig Minuten, vielleicht sogar fünfundzwanzig. Hätte jemand die Party verlassen, um sie zu töten, wäre er ungefähr eine Stunde weg gewesen.«

»Vielleicht hat er ein Taxi genommen«, erwiderte ich ein bisschen lahm.

»Ich dachte, Ihre Theorie baut darauf auf, dass niemand seine Abwesenheit bemerkt hat«, sagte Rob. »Ihr Mörder ruft also ein Taxi, und es trifft ein, ohne dass die Leute auf der Party etwas davon mitbekommen. Und dann? Hat er den Taxifahrer gebeten zu warten, während er rasch ins Haus lief und den Mord beging?«

»Vielleicht ist er ihr gefolgt? Dass Laura nicht mehr da war, ist ja auch niemandem aufgefallen.«

»Ach, ich vergaß«, sagte Rob, und genau in dem Moment legten sich Hände auf meine Schultern. Als ich mich umblickte, war sein Gesicht schon ganz nah vor meinem. Er küsste mich auf beide Wangen, zog mich viel zu eng an sich. Brendan.

»Oh, Miranda, Miranda«, flüsterte er mir ins Ohr. »Was für eine schreckliche Sache! Lieb, dass du gekommen bist. Das bedeutet mir sehr viel. Laura hätte es auch sehr viel bedeutet.«

Er warf einen Blick zu Rob Pryor. »Rob ist seit der Sache mit Troy ein guter Freund von mir.« Er wandte sich wieder zu mir.

»Es tut mir Leid, Mirrie. Es tut mir so Leid. Ich scheine allen Unglück zu bringen.« Ich schwieg, mir fehlten einfach die Worte. »Ich muss mit dir reden, Mirrie.« Er lächelte mich an, sah mir in die Augen. Irgendwie kam er mir immer ein bisschen zu nahe, ich spürte schon wieder seinen warmen Atem auf meinen Wangen. »Du verstehst mich. Besser als sonst jemand.

Und dann auch noch dieser seltsame Zufall. Hat Rob es dir schon gesagt?« Er sah fragend zu Rob hinüber, der den Kopf schüttelte. »Ungefähr zu der Zeit, als es passierte – das mit Laura, ich kann es einfach nicht aussprechen – … weißt du, was ich da gerade gemacht habe?«

»Nein, natürlich nicht, woher sollte ich das wissen?«

»Weil ich mit dir telefoniert habe«, antwortete er. »Ich habe dir gratuliert. Zu deinem Geburtstag.«

Liebster Troy,

an eins muss ich ganz oft denken: Als du ungefähr neun warst, hast du mich mal um vier Uhr morgens aus dem Bett geholt, weil du unbedingt wolltest, dass ich mir mit dir zusammen den Morgenchor der Vögel anhöre. Völlig verschlafen bin ich im Bademantel in den Garten hinausgestolpert, obwohl es eisig kalt war und das Gras total nass. Ich dachte, ich würde bloß ein paar Minuten draußen bleiben, um dir einen Gefallen zu tun, und dann ganz schnell wieder in mein warmes Bett schlüpfen.

Du warst passend gekleidet, mit Jeans, Gummistiefeln und einer dicken Jacke, und du hattest Dads Fernglas um den Hals hängen. Wir standen im Morgengrauen am hinteren Ende des Gartens, und plötzlich – als wäre ein Schalter umgelegt worden

– begannen die Vögel zu singen. Rund um uns herum setzte ein richtiges Konzert ein. Ich habe dich angesehen, und da war so unglaublich viel Freude in deinem Gesicht, dass ich ganz vergaß, wie kalt mir eigentlich war. Du hast mir die Vögel in den Bäumen gezeigt, sodass ich bald in der Lage war, den offenen Schnäbeln und pulsierenden Kehlen die jeweiligen Laute zuzuordnen. Wir blieben eine Ewigkeit draußen, und hinterher sind wir in die Küche gegangen, und ich habe uns heiße Schokolade und Rührei gemacht. Du hast mit vollem Mund gesagt: »Ich wünschte, es könnte die ganze Zeit so sein.«

Natürlich kannst du diesen Brief nicht lesen, aber ich schreibe dir trotzdem, weil du der einzige Mensch bist, mit dem ich wirklich reden möchte. Ich rede die ganze Zeit mit dir. Ich habe schreckliche Angst davor, mich eines Tages dabei zu ertappen, dass ich aufgehört habe, mit dir zu reden, denn das würde bedeuten, dass du tot bist.

28. KAPITEL

»Ich weiß eigentlich gar nicht so genau, warum ich hier bin«, sagte ich.

Die Frau, die mir gegenübersaß, gab keine Antwort, sah mich nur an, bis ich den Blick abwandte. Verlegen starrte ich einen Moment auf meine ziemlich verkrampft ineinander verschränkten Hände in meinem Schoß. Auf dem niedrigen Tisch zwischen uns stand eine Schachtel Papiertaschentücher bereit. Mein Blick wanderte zum Fenster. Draußen in der Sonne blühten ein paar Märzenbecher. Ihr Gelb erschien mir grell und aufdringlich. Ich fühlte mich seltsam benommen, als hätte ich einen völlig leeren Kopf. Außerdem war ich ein wenig gehemmt. Die ganze Situation war mir irgendwie peinlich.

Wenigstens lag ich nicht auf einer Couch.

»Wo soll ich anfangen?«

Wenigstens sagte sie nicht: »Beginnen Sie am Anfang.«

Katherine Dowling war trotz ihrer Falten und ihres grau melierten Haars eine gut aussehende Frau. Ich schätzte sie auf Ende vierzig, Anfang fünfzig. Sie hatte freundliche braune Augen, ausgeprägte Wangenknochen, ein energisches Kinn. Ihr Gesicht war ungeschminkt, ihre Kleidung unauffällig: Sie trug einen Rock, der ihr bis über die Knie reichte, alte Wildlederstiefel, einen weiten hellgrauen Pulli, musterte mich eindringlich, als versuchte sie, in mich hineinzusehen, und ich wusste nicht so recht, ob mir das gefiel. Verlegen rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her, fuhr mir über die Wange, hüstelte leise, warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr – Troys Uhr –

an meinem Handgelenk. Noch dreiundvierzig Minuten.

»Erzählen Sie mir, was Sie hergeführt hat.«

»Ich habe sonst niemanden, mit dem ich reden kann«, antwortete ich. Mir fiel selbst auf, wie wackelig meine Stimme klang, aber das war mir ganz recht so – ich wollte von meinem Kummer überwältigt werden, ihn hemmungslos aus mir herauslassen, wie es mir sonst nur nachts gelang. Manchmal wachte ich in den frühen Morgenstunden auf und spürte, dass mein Kissen nass geweint war. »Die Menschen, mit denen ich gern sprechen würde, sind nicht mehr da.«

»Nicht mehr da?«

»Tot.« Ich spürte, wie mein Hals sich zuschnürte. »Mein kleiner Bruder und meine beste Freundin.« Ich zwang mich, ihre Namen laut auszusprechen. »Troy und Laura. Er hat sich umgebracht, zumindest behaupten das alle, auch wenn ich glaube … ich glaube – egal, jedenfalls habe ich ihn gefunden, in meiner Wohnung. Er hat sich erhängt. Dabei war er fast noch ein Kind. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich ihn vor mir.

Bloß manchmal, wenn ich ganz bewusst versuche, mich an ihn zu erinnern, weiß ich plötzlich nicht mehr, wie er ausgesehen hat. Laura ist erst vor ein paar Wochen gestorben. In ihrer Badewanne. Sie ist in beschwipstem Zustand mit dem Kopf gegen irgendeine Kante gefallen und ertrunken. Ist das nicht eine sinnlose Art zu sterben? Sie war noch so jung, ungefähr in meinem Alter. Das letzte Mal, als ich sie sah, haben wir nicht miteinander gesprochen. Ich frage mich die ganze Zeit, ob das vielleicht nicht passiert wäre, wenn ich damals etwas zu ihr gesagt, etwas anders gemacht hätte. Ich weiß, das klingt wahrscheinlich blöd, aber es geht mir nicht aus dem Kopf.«

Katherine Dowling beugte sich ein wenig vor. Eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn. Sie schob sie hinters Ohr, ohne den Blick von mir abzuwenden.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass ich nie wieder mit ihnen zusammen sein werde«, fuhr ich fort, während ich das erste Taschentuch aus der Schachtel zog. »Natürlich weiß ich, dass es so ist, aber ich kann es trotzdem nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben«, wiederholte ich hilflos.

»Es erscheint mir völlig unmöglich.«

Ich nahm ein weiteres Taschentuch und wischte mir damit über die Augen.

»Der Tod von lieben Menschen«, begann Katherine Dowling,

»ist eine Erfahrung, die wir im Leben alle mal …«

»Das ist seine Uhr«, unterbrach ich sie und hielt ihr mein Handgelenk hin. »Er hat sie neben meinem Bett liegen lassen, und jetzt trage ich sie, und jedes Mal, wenn ich einen Blick darauf werfe, denke ich mir, das ist die Zeit, die er nicht mehr hat. All diese Sekunden, Minuten und Stunden, die so gleichmäßig dahinticken. Ich dachte immer, wir würden zusammen alt werden, ich könnte ihm helfen. Ich hätte ihm mehr helfen sollen, meinem lieben kleinen Bruder.«

Mittlerweile hatte ich richtig zu weinen begonnen und konnte die Worte nur noch schluchzend hervorstoßen.

»Tut mir Leid«, sagte ich. »Aber das erscheint mir alles so ungerecht.«

»Ungerecht Ihnen gegenüber?«

»Nein. Nein! Ich bin schließlich nicht tot, oder? Ich gehöre zu den Glückspilzen. Nein, ungerecht ihnen gegenüber, meine ich.«

Ich redete weiter, aus mir quoll ein wüstes Durcheinander aus Erinnerungen und Gefühlen. Troy, Brendan, Laura, Kerry, meine Eltern, Nick. Eine Leiche, die von einem Balken baumelte, Anrufe mitten in der Nacht, geflüsterte Worte, die wie Gift in mein Ohr tröpfelten, abgesagte Hochzeiten, Beerdigungen, erst seine, dann ihre … Hin und wieder hielt ich inne und weinte in den feuchten Berg aus Taschentüchern hinein, den ich inzwischen in der Hand hielt. Meine Wangen brannten, meine Nase lief, meine Augen fühlten sich verschwollen an.

»Ich bin wie ein Typhusvirus«, erklärte ich irgendwann.

»Wie einer der spanischen Soldaten, die den amerikanischen Indianern Seuchen brachten, ihre neue Welt vergifteten, ich bin wie …«

»Wie meinen Sie das, Miranda?«, unterbrach Katherine Dowlings ruhige Stimme meine Tirade.

»Ich bin die Überträgerin«, stieß ich hervor. »Sehen Sie das denn nicht? Es ging ihnen allen einigermaßen gut. Ich habe ihn in meine Welt gelassen, das ist mein Problem, und damit musste ich selbst fertig werden. Aber es war zugleich auch ihre Welt, und er hat sie infiziert, sie zerstört, ihr Leben ruiniert. Ich lebe noch. Sehen Sie mich an. Hier sitze ich mit einer Therapeutin und arbeite daran, einen Weg zu finden, um mich wieder besser zu fühlen. Verstehen Sie, genau das ist das Problem.«

»Hören Sie mir zu, Miranda«, sagte sie. »Hören Sie mir jetzt mal gut zu.«

»Nein«, antwortete ich. »Warten Sie. Ich muss das erst mal klären, für mich selbst und für alle anderen. Es ist doch so: Auf dieser Welt gibt es schlimme Dinge, nicht wahr? Ich fühle mich deswegen furchtbar schlecht. Ihre Aufgabe als Therapeutin ist es, mich dahin zu bringen, dass ich mich nicht mehr so schlecht fühle. Aber vielleicht sollte ich lieber versuchen, etwas gegen die schrecklichen Dinge auf dieser Welt zu unternehmen.«

»Nein«, entgegnete sie.

»Das Ganze hat etwas Narzisstisches. Ich gebrauche jetzt einfach diesen Ausdruck, auch wenn er vielleicht nicht ganz passt. Ich meine, mal angenommen, zu Ihnen kommen Leute, die an Depressionen leiden, weil sie die Armut und die Ungerechtigkeit und das ganze Leid auf dieser Welt nicht ertragen können, und Sie hätten eine Pille, nach deren Einnahme die Leute aufhören würden, sich um den Zustand der Welt zu sorgen. Würden Sie sie ihnen geben? Würden Sie als Therapeutin diese Pille herausgeben, die die Menschen dazu bringt, das Unrecht auf dieser Welt gleichgültig hinzunehmen, statt hinauszugehen und etwas dagegen zu tun?«

Katherine Dowling schwieg eine ganze Weile. Wahrscheinlich bereute sie bereits, worauf sie sich da eingelassen hatte. Ich putzte mir die Nase und setzte mich aufrechter hin.

»Was Sie gerade durchmachen«, sagte sie und deutete mit dem Finger auf mich, »nennt man Trauer. Hören Sie mich?«

»Er hat mich sogar zu seinem gottverdammten Alibi gemacht«, murmelte ich. »Mein Gott, wie muss er gelacht haben!«

»Jetzt hören Sie mir mal zu!«, sagte sie bestimmt. Ich lehnte mich zurück. »Oft helfe ich den Leuten, die zu mir kommen, Muster zu finden, Ordnung ins Chaos zu bringen, ihr Leben als eine Art Geschichte zu sehen, damit sie es besser verstehen können. Zu Ihnen hingegen werde ich jetzt so ziemlich das Gegenteil sagen: Sie schaffen ein Muster, das gar nicht existiert.

Ihnen erscheint es wichtig, eine Bedeutung zu finden, eine Erklärung, mit der sich alles auf einen Nenner bringen lässt. Sie suchen nach Verantwortlichen, weisen sich selbst und anderen die Schuld zu. Miranda, Sie haben in den letzten Monaten zwei geliebte Menschen verloren. Und Sie haben eine schmerzhafte und beunruhigende Phase mit einem Mann durchgemacht, diesem Brendan. Und weil diese Dinge gleichzeitig passiert sind, bringen Sie sie miteinander in Verbindung, als wäre das eine die Ursache für das andere. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Und wie ich sie miteinander in Verbindung bringe!«

»Mein Vorschlag wäre jetzt, dass wir erst mal über das reden, was Ihnen mit diesem Brendan geschehen ist. Ich glaube wirklich, das könnte hilfreich sein. Oder aber, wir sprechen über Ihren Verlust und darüber, warum Sie solche Schuldgefühle empfinden. Wir werden uns dabei jedoch auf Sie konzentrieren

– darauf, was nach diesen traumatischen Erlebnissen in Ihrem Inneren vorgeht. Wir werden uns nicht damit auseinander setzen, warum diese beiden jungen Leute so kurz nacheinander sterben mussten. Sie sind tot. Nun müssen Sie trauern.« Ihr Ton wurde sanfter. »Sie müssen sich selbst gestatten zu trauern, statt krampfhaft nach Erklärungen zu suchen.«

»Aber wenn …«

»Das braucht seine Zeit«, fiel sie mir ins Wort. »Es gibt keinen einfachen Weg.«

Ich zwang mich, über ihre Worte nachzudenken.

»In letzter Zeit hatte ich manchmal das Gefühl, verrückt zu werden«, sagte ich schließlich. Ich hing inzwischen so schlaff in meinem Sessel, dass ich mir vorkam wie eine Stoffpuppe.

»Früher führte ich ein Leben, das ich verstand. Die Dinge ergaben einen Sinn. Ich konnte absehen, was als Nächstes passieren würde, und entsprechend planen. Jetzt habe ich das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben. Alles könnte geschehen. Alles um mich herum erscheint mir feindselig und aus dem Gleichgewicht. Es ist wie ein Albtraum, aus dem ich nicht aufwachen kann. Es geht einfach immer weiter.«

»Darüber sollten wir ebenfalls sprechen«, erwiderte sie.

»Vorausgesetzt, Sie möchten überhaupt wiederkommen.«

Ich nickte. »Ja. Ich denke schon.«

»Gut. Nächste Woche um dieselbe Zeit, wenn Ihnen das recht ist. Und wenn Sie nun einen Blick auf die Uhr Ihres Bruders werfen, werden Sie feststellen, dass unsere Zeit um ist.«

Bevor ich mir irgendwelche Ausreden überlegen konnte, zog ich meine Joggingsachen an und wagte mich ein weiteres Mal in den Frühlingsnachmittag hinaus. Ich lief zur Heath, joggte den Hügel hinauf, von dem aus ich Laura zum letzten Mal gesehen hatte, blieb diesmal aber nicht stehen. Ich rannte, bis meine Beine und Lungen schmerzten und ich Seitenstechen bekam.

Als ich wieder zu Hause war, stellte ich mich unter die Dusche und machte mir anschließend eine Schüssel Pasta mit Olivenöl, fein geschnittenen Frühlingszwiebeln und Parmesankäse.

Während ich aß, blickte ich mich in meiner Wohnung um. Alles wirkte trist und vernachlässigt. In letzter Zeit war ich bloß noch apathisch durchs Leben gestolpert, hatte nach der Arbeit nur herumgesessen und aus dem Fenster gestarrt, um dann um neun ins Bett zu gehen. Ich hatte jede Nacht zehn oder elf Stunden geschlafen, manchmal sogar länger, und war trotzdem wie erschlagen aufgewacht, mit schweren Augenlidern und bleiernen Gliedern, eingehüllt in einen Nebel aus Müdigkeit.

Ich musste daran denken, wie Katherine Dowling mit dem Finger auf mich gezeigt hatte. »Das ist Trauer.« Ich hatte mich von meiner Trauer völlig vereinnahmen lassen, sie war in alle Poren gedrungen und hatte mich jeder Hoffnung beraubt.

Ich stand auf und stellte meine Schüssel in die Spüle. Dann füllte ich einen Kübel mit heißem Wasser und begann die Fenster zu putzen, um das Licht wieder hereinzulassen.

29. KAPITEL

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf, und noch ehe ich die Augen öffnete, wusste ich, dass es draußen warm und schön war. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich nicht müde und erschöpft, sondern wach und voller Tatendrang. Obwohl Samstag war und ich nicht zur Arbeit musste, stand ich sofort auf.

Ich zog mein Bett ab, stopfte die Wäsche in die Maschine und schaltete sie ein. Dann schlüpfte ich in meine Joggingsachen.

Ich lief wieder zur Heath, diesmal aber in den Teil, in dem die Bäume so dicht stehen, dass man so tun kann, als gäbe es die Stadt und die Millionen Menschen um einen herum nicht. Die Sonne schien schräg und noch winterlich bleich, besaß aber durchaus schon Kraft. Zwischen den Büschen blühten Christrosen und Schlüsselblumen, die Bäume trieben frische grüne Blätter aus. Ich lief, so schnell ich konnte, bis meine Beine zu schmerzen begannen und mir der Schweiß von der Stirn rann. Es kam mir vor, als würde mein Körper sich durch die Bewegung entgiften, mein Blut schneller fließen und mein Herz kräftiger schlagen. Alle meine Poren schienen sich zu öffnen.

Auf dem Heimweg machte ich beim Bäcker Halt und kaufte einen Laib noch warmes Vollkornbrot. Nach dem Duschen schlüpfte ich in einen Jeansrock und eine Bluse. Zum ersten Mal seit Troys Tod legte ich seine Uhr an, ohne dass mir dabei die Tränen in die Augen stiegen. Ich bereitete mir eine Tasse Pfefferminztee zu und brach ein Stück Brot von dem Laib. Ich aß es einfach so, kaute langsam und bewusst. Anschließend putzte ich die Wohnung, verstaute alte Zeitungen und Zeitschriften in einer Schachtel und öffnete die Fenster, um den schönen Tag hereinzulassen.

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, zog ich eine Jacke an und ging zur U-Bahn.

Kerry saß bereits hinter ihrem Schreibtisch, als ich das Reisebüro betrat. Sie war gerade mit einer Kundin beschäftigt, die Prospekte durchblätterte und ihr dabei ständig Fragen stellte, sodass sie mich nicht gleich entdeckte. Als sie schließlich aufblickte, spiegelten sich auf ihrem Gesicht in rascher Abfolge verschiedene Emotionen wider: Überraschung, Unbehagen, Schmerz, Freude. Das alles dauerte nur wenige Sekunden, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf ihre Kundin. Ihre Miene glättete sich wieder zu geschäftsmäßiger Freundlichkeit.

Ich beobachtete sie, wie sie sich über den Tisch beugte und mit einem Finger, dessen Nagel zartrosa lackiert war, auf verschiedene Bilder deutete. Sie sah viel besser aus, als ich erwartet hatte. Ihr Gesicht wirkte rosig und wieder ein wenig voller, nicht mehr so verhärmt und fleckig, wie ich es in Erinnerung gehabt hatte. Sie ließ sich auch die Haare, die in Wellen um ihr zartes Gesicht fielen, wieder wachsen.

»Hättest du Lust auf eine Tasse Kaffee?«, fragte ich sie, nachdem die Frau mit einem Stapel Prospekte abgezogen war und ich ihren Platz eingenommen hatte. Ich roch Kerrys Parfüm, einen feinen, süßen Duft. Ihre Haut schimmerte seidig, ihre Lippen glänzten, und an ihren Ohrläppchen funkelten kleine Goldstecker. Alles an ihr wirkte stilvoll, zart und gepflegt. Ich warf einen Blick auf meine nicht ganz sauberen, abgekauten Fingernägel und merkte bei der Gelegenheit, dass die Manschetten meiner Bluse schon ein wenig ausgefranst waren.

Kerry zögerte, warf einen Blick auf die Uhr. »Ich weiß nicht, ob das jetzt möglich ist.«

»Gehen Sie ruhig!«, rief eine Frau am Schreibtisch neben ihr.

»Bald herrscht hier wieder Hochbetrieb, dann haben Sie keine Zeit mehr.«

Sie sah mich an und nickte.

»Ich hol schnell meinen Mantel.«

Wir gingen in das nächste Café, ein Stück die Straße entlang.

Auf dem Weg dorthin sprachen wir kein Wort. Nachdem wir uns im unteren Stockwerk niedergelassen hatten, das gemütlich mit Sofas und Sesseln eingerichtet war, sahen wir uns über den Rand unserer Kaffeetassen unsicher an. Ich machte eine Bemerkung über ihre neue Mietwohnung, worauf sie sagte, sie sei jede freie Minute damit beschäftigt, sich dort wohnlich einzurichten. Dann herrschte wieder peinliches Schweigen.

»Tut mir Leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe«, sagte ich schließlich.

»Du hattest sicher viel zu tun.«

Ich wischte ihre freundlichen Worte beiseite.

»Das war nicht der Grund.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte.«

»Miranda …«

»Kurz nachdem er, du weißt schon … kurz nachdem Brendan dich verlassen hatte, hast du zu mir gesagt, nun sei alles ruiniert, nun habe er die letzten paar Steine umgestoßen. Irgendwas in der Art.«

»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.« Sie stellte ihre Tasse ab.

»Natürlich nicht. Wieso auch? Ich habe keine Ahnung, warum es mir so im Gedächtnis haften geblieben ist, vielleicht wegen meines Berufs – jedenfalls sah ich ihn vor meinem geistigen Auge alles dem Erdboden gleichmachen, bis wir alle vor den Ruinen unseres Lebens standen. Genau das hat er uns angetan.«

»Du solltest nicht so viel über ihn nachdenken, Miranda«, sagte sie. »Du solltest ihn loslassen.«

»Was?« Ich starrte sie an.

»Ich habe ihn längst losgelassen«, fuhr sie fort. »Er ist kein Teil meines Lebens mehr. Ich möchte nie wieder einen Gedanken an ihn verschwenden.«

Ich war verblüfft über ihre Worte.

»Aber alles, was passiert ist …«, stammelte ich. »Mit dir und mir. Der ganzen Familie. Mit Troy.«

»Das hat nichts damit zu tun.«

»Und Laura.«

»Glaubst du, das mit Laura hat mich kalt gelassen?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Glaubst du, ich habe eine Spur Schadenfreude empfunden, als ich davon hörte? Weil das Schicksal auf diese Weise Rache an den beiden genommen hatte?«

»Nein«, wiederholte ich. »Natürlich nicht.«

»Habe ich aber. Zumindest für einen Moment. Ich hasste Laura so sehr, dass ich ihr nur das Schlimmste wünschte, und als es dann tatsächlich passierte, empfand ich eine Sekunde lang ein Gefühl von Triumph, aber dann fühlte ich mich sofort ganz schrecklich, als wäre ich irgendwie dafür verantwortlich.« Ihr Gesicht hatte kurz einen wilden, leidenschaftlichen Ausdruck angenommen, wurde aber gleich wieder traurig. »Irgendwann war ich dann so weit, dass ich mir nur noch dachte: Was hat das eigentlich mit mir zu tun? Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir es einfach hinter uns lassen müssen.«

»Hast du denn gar nicht das Bedürfnis, darüber zu reden?«, fragte ich.

»Ich konzentriere mich lieber auf meine Zukunft.«

»Du hast wirklich nicht das Bedürfnis, darüber nachzudenken?

Zu verstehen, was passiert ist?«

»Zu verstehen?« Sie blinzelte mich fragend an. »Unser Bruder hat sich umgebracht. Mein Verlobter hat mich verlassen. Was gibt es da zu verstehen?«

»Aber …«

»Ich sage ja nicht, dass ich es nicht schrecklich fand. Aber meiner Meinung nach war beides ziemlich eindeutig. Deswegen weiß ich auch nicht, was es da noch zu reden geben sollte.«

Ich saß einen Augenblick schweigend da. All die Turbulenzen, die Wellen aus Emotionen, aus Hass und Verzweiflung, die über unsere Familie hereingebrochen waren, lagen nun als ruhiger, dunkler Teich vor mir.

»Und was ist mit uns?«, fragte ich schließlich.

»Mit uns?«

»Ja, mit dir und mir, den beiden Schwestern.«

»Was sollte mit uns sein?«

»Du hast mich gehasst.«

»Nein, das habe ich nicht«, widersprach sie.

»Du hast mir die Schuld an allem gegeben.«

»Am Anfang vielleicht.« Sie griff nach ihrer Tasse und leerte sie. »Aber das ist längst vorbei. Geht es dir gut? Du siehst ein bisschen …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

»Das Ganze hat mich ziemlich mitgenommen.«

»Natürlich.«

Ich konnte es einfach nicht dabei bewenden lassen.

»Oh, Kerry, ich möchte so gern, dass wir uns wieder vertragen!« Mir wurde bewusst, dass ich wie eine Zweijährige klang, und fügte hinzu: »Ich dachte, zwischen uns wären noch ein paar Sachen zu klären. Klarzustellen.«

»Meiner Meinung nach liegt alles ziemlich klar auf der Hand.«

»Ich hoffe, du weißt inzwischen, dass ich nie in Brendan verliebt war. Keine Sekunde. Ich habe ihn verlassen und …«

»Bitte, Miranda«, unterbrach sie mich in angewidertem Tonfall. »Lassen wir das.«

»Nein, hör mir zu, ich möchte doch nur, dass du verstehst, dass ich zwischen euch beiden nie etwas kaputtmachen wollte.

Ich wollte, dass du glücklich wirst, das musst du mir glauben. Er war derjenige, der …« Ich hielt inne.

»Wie du schon gesagt hast, es spielt keine Rolle mehr. Das ist vorbei. Er ist kein Teil unseres Lebens mehr. Ich wollte bloß wissen, ob es dir gut geht und zwischen uns wieder alles in Ordnung ist. Es wäre schrecklich, wenn er es geschafft hätte, uns einander zu entfremden.«

»Du hast Recht«, antwortete sie leise. Dann beugte sie sich ein wenig vor, und ihr Gesicht nahm plötzlich einen anderen Ausdruck an. »Ich sollte dir wohl etwas erzählen.«

»Was denn?«

»Es kommt mir fast wie ein Sakrileg vor. Nach Troy und – du weiß schon. Jedenfalls dachte ich, ich könnte nie wieder glücklich sein. Und dann ist es so schnell passiert.« Sie wurde rot. »Ich habe jemanden kennen gelernt.«

»Du meinst …«

»Einen netten Mann«, fuhr sie fort. »Er ist ein ganzes Stück älter als ich, und es scheint ihm wirklich etwas an mir zu liegen.«

Ich legte meine Hand auf die ihre. »Das freut mich sehr«, sagte ich herzlich und fügte dann hinzu: »Ich hoffe, es ist niemand, den ich kenne?«

Mein dummer Versuch, einen Witz zu machen, kam nicht an.

»Nein. Er arbeitet in einem Krankenhaus, als Manager auf der unteren Führungsebene. Sein Name ist Laurence. Du musst ihn bald mal kennen lernen.«

»Ja, unbedingt.«

»Er weiß über alles Bescheid …«

»Natürlich.«

»Und er ist ganz anders als … du weiß schon.«

»Ja. Gut. Großartig.«

»Mum und Dad sagen, sie mögen ihn.«

»Gut«, antwortete ich ein weiteres Mal, weil mir nichts anderes einfiel. »Wunderbar. Ich freue mich so für dich.«

»Danke.«

Ich besorgte einen großen Strauß aus Tulpen, Narzissen und Iris und nahm einen Bus, der nur ein paar hundert Meter von meinen Eltern entfernt hielt. Das Haus war endlich wieder ohne Baugerüst, die Eingangstür in einem glänzenden Dunkelblau gestrichen. Ich klopfte und lauschte: Sie waren bestimmt zu Hause. Mittlerweile schienen sie gar nichts mehr zu unternehmen. Sie gingen in die Arbeit, und hinterher saß meine Mutter im Haus und sah fern, während mein Vater draußen im Garten Vogelkästen an die Obstbäume nagelte oder stundenlang Unkraut aus den Rabatten zupfte.

Auf mein Klopfen kam keine Reaktion. Ich ging um das Haus herum und drückte die Nase an das Küchenfenster. Drinnen blitzte alles neu und ungewohnt. Arbeitsflächen aus Edelstahl, weiße Wände, Halogenstrahler an der Decke. Auf dem Tisch lag eine zusammengefaltete Zeitung, daneben standen Dads Lieblingstasse und ein Teller mit Orangenschalen. Alles schien seinen gewohnten Gang zu gehen, und doch hatte sich alles von Grund auf verändert.

Ich fischte den Schlüssel heraus, den ich immer noch besaß, und schloss die Hintertür auf. In der Küche fand ich eine Vase für meinen Strauß. Nachdem ich sie mit Wasser gefüllt und die Blumenstiele hineingezwängt hatte, stellte ich fest, dass mein Vater ein paar Orangenstücke auf dem Teller zurückgelassen hatte, und verspeiste sie, während ich gedankenverloren in den Garten hinausstarrte, in dem noch vor wenigen Monaten totales Chaos geherrscht hatte. Inzwischen war er neu bepflanzt und machte einen sehr gepflegten Eindruck. Plötzlich hörte ich Schritte auf der Treppe.

»Hallo?« Es war die Stimme meiner Mutter. »Ist da jemand?«, rief sie aus der Diele. »Wer ist da?«

»Mum? Ich bin’s.«

»Miranda?«

Meine Mutter war im Bademantel. Ihre Haare wirkten fettig, ihr Gesicht ein wenig verquollen, als hätte sie geschlafen.

»Bist du krank?«, fragte ich.

»Krank?« Sie fuhr sich übers Gesicht. »Nein. Bloß ein bisschen müde. Derek ist in die Stadt gefahren, um Gartenschnur zu besorgen, und da dachte ich mir, ich könnte vor dem Mittagessen noch ein kleines Nickerchen machen.«

»Ich wollte dich nicht aufwecken.«

»Das macht nichts.«

»Ich hab dir ein paar Blumen mitgebracht.«

»Danke.« Sie warf einen schnellen Blick auf den Strauß, ohne ihm wirklich Beachtung zu schenken.

»Soll ich uns Kaffee oder Tee machen?«, fragte ich.

»Das wäre schön.« Sie ließ sich auf der Kante eines der Stühle nieder.

»Und was?«

»Was?«

»Tee oder Kaffee?«

»Was dir lieber ist. Mir ist es egal.«

»Kaffee«, antwortete ich. »Und dann könnten wir einen Spaziergang machen.«

»Das geht nicht, Miranda. Ich muss … nun ja, ich muss einiges erledigen.«

»Mum …«

»Es tut so weh!«, brach es aus ihr heraus. »Nur wenn ich schlafe, tut es nicht weh.«

Ich nahm ihre Hand und drückte sie an mein Gesicht.

»Wenn ich nur irgendwas tun könnte«, sagte ich, »irgendwas, damit es dir besser geht.«

Sie zuckte mit den Achseln. Hinter uns begann der Kessel zu pfeifen.

»Es ist zu spät, um etwas zu tun«, erwiderte sie.

»Ich hab sie geliebt«, sagte Tony. Er war bereits bei seinem dritten Bier angelangt und begann etwas undeutlich zu sprechen.

Alles an ihm wirkte ein wenig vernachlässigt – seine eingefallenen Wangen waren stoppelig, seine Haare zu lang und leicht fettig, sein Hemd hatte vorn einen Kaffeefleck, und seine Nägel mussten dringend mal wieder geschnitten werden. »Ich habe sie geliebt«, wiederholte er.

»Ich weiß.«

»Was hab ich bloß falsch gemacht?«

»So kann man das nicht sehen«, entgegnete ich lahm.

»Ich hab es ihr vielleicht nicht oft genug gesagt, aber sie wusste es trotzdem.«

»Ich glaube …«, begann ich.

»Und dann«, fiel er mir ins Wort, hob sein Glas und leerte es.

»Und dann, als sie einfach so davonlief und mir nur einen Zettel auf dem Tisch hinterließ, habe ich ihr den Tod gewünscht, und sie ist gestorben.«

»Aber nicht, weil du es ihr gewünscht hast. Diese Verbindung besteht lediglich in deinem Kopf.«

»Dein gottverdammter Brendan. Er hat ihr den Kopf verdreht, ihr alles Mögliche versprochen.«

»Was denn?«

»Ach, du weißt schon – Romantik und Leidenschaft, die Ehe, Babys. All das, weswegen wir uns in den letzten paar Monaten immer gestritten hatten.«

»Aha«, sagte ich.

»Letztendlich wäre ich bestimmt einverstanden gewesen. Das hätte sie doch wissen müssen.«

Wortlos nahm ich einen Schluck von meinem Wein. Ich musste an Lauras Lachen denken, ihren zurückgeworfenen Kopf, ihre weißen, schimmernden Zähne, ihre dunklen, vor Lebensfreude funkelnden Augen.

»Und nun ist sie tot.«

»Ja.«

Am Sonntag lief ich wieder. Elf Kilometer durch leichten Nieselregen. Anschließend traf ich mich zum Kaffeetrinken mit Carla, die Laura ebenfalls gekannt hatte und der es eine Art schmerzhaftes Vergnügen zu bereiten schien, eine Stunde lang immer wieder auszurufen, wie schrecklich das alles doch sei.

Später saß ich eine Weile über den Firmenbüchern. Ich fühlte mich rastlos und überdreht, wusste mit meiner freien Zeit nichts anzufangen. Einerseits wollte ich niemanden sehen, andererseits aber auch nicht allein sein. Nachdem ich meine alte Post durchforstet hatte, befreite ich meinen Schrank von sämtlichen Klamotten, die ich schon seit über einem Jahr nicht mehr getragen hatte. Dann ging ich noch meine E-Mails durch und löschte alle, die ich nicht behalten wollte.

Schließlich rief ich Bill auf seinem Handy an und teilte ihm mit, dass ich gern etwas mit ihm besprechen würde. Statt zu fragen, ob das nicht bis morgen Zeit habe, antwortete er, er sei gerade in Twickenham, komme aber gegen sechs zurück. Wir verabredeten uns in der Nähe von King’s Cross in einer Bar, die früher eine richtige Spelunke gewesen war, sich inzwischen aber in ein schickes Lokal mit einer reichen Auswahl an Cocktails, Eistees und verschiedenen Kaffeezubereitungen verwandelt hatte.

Ich schlüpfte in eine Jeans und ein weißes Hemd und war eine Viertelstunde zu früh in der Bar. Als Bill eintraf, begrüßte er mich mit einem Kuss auf die Stirn und ließ sich dann mir gegenüber nieder. Er bestellte einen gewürzten Tomatensaft und ich eine Bloody Mary, um mir Mut zu machen. Wir stießen miteinander an, und ich fragte ihn, wie sein Wochenende verlaufen sei. Er hob einen Finger.

»Worum geht’s, Miranda?«

»Ich möchte aufhören, für dich zu arbeiten«, erklärte ich.

Nachdenklich nahm er einen Schluck Saft, dann antwortete er:

»Klingt nicht schlecht.«

»Was?!« Er lächelte mich so lieb an, dass mir die Tränen kamen. »Da nehme ich meinen ganzen Mut zusammen, um dir das zu sagen«, meinte ich blinzelnd, »und du antwortest bloß, dass es nicht schlecht klingt.«

»Ich halte es wirklich für eine gute Idee.«

»Tut es dir denn gar nicht Leid, mich gehen zu lassen?«

»Du brauchst einen Neuanfang.«

»Ja, das habe ich mir auch gedacht.«

»Weit weg von allem, was mit der Familie zu tun hat.«

»Du bist kein normales Familienmitglied.«

»Danke.«

»Nein, ich habe das positiv gemeint.«

»Ich weiß.«

»Mein Leben kommt mir vor wie ein riesiges Chaos. Ich muss mich endlich aus dem ganzen Schlamassel befreien.«

»Was wirst du tun?«

»Vielleicht bewerbe ich mich bei einem Innenausstatter, irgendwas in der Richtung. Kontakte habe ich inzwischen ja genügend. Soll ich die dreimonatige Kündigungsfrist einhalten?

Oder wie machen wir das? Und wirst du mir ein schönes Empfehlungsschreiben mit auf den Weg geben?«

»›Ich kenne Miranda Cotton schon, seit sie einen Tag alt war

…?‹ Etwas in der Art?«

»So ungefähr.« Ich musste vor Rührung schon wieder schlucken und spielte verlegen mit meinem Glas herum.

»Nun lass uns nicht sentimental werden, Miranda. Wir können uns doch trotzdem sehen. Es ist ja nicht so, dass du die Stadt verlässt.«

»Vielleicht doch.«

»Was? Du willst aus London wegziehen?«

»Vielleicht.«

»Oh.« Er hob sein Glas. »Viel Glück. Manchmal ist es wirklich das Beste, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Dieser Meinung war ich schon immer.«

»Ich weiß. Bill?«

»Ja?«

»Ich habe Brendan nie geliebt. Es war nicht so, wie alle dachten.«

Bill zuckte mit den Achseln.

»Ich mochte ihn nie besonders. Mich nervte die Art, wie er immer meinen Arm drückte, wenn er mit mir sprach, und mich in jedem Satz dreimal beim Namen nannte.«

»Dann glaubst du mir?«

»Im Großen und Ganzen«, antwortete er mit einem halben Lächeln. »Mehr oder weniger.«

»Danke.« In meinen Augen brannten schon wieder Tränen. Ich fühlte mich vor lauter Dankbarkeit ganz schwach.

»Ich glaube, ich brauche noch eine Bloody Mary.«

»Ich fahre jetzt heim. Trink, so viel du willst, aber denk dran, dass wir morgen früh um acht mit dem neuen Haus anfangen.«

»Ich werde pünktlich da sein.«

Er stand auf und küsste mich wieder auf die Stirn. »Pass auf dich auf.«

30. KAPITEL

Ich machte Nägel mit Köpfen. Es kostete mich einige Überwindung, aber ich schaffte es: Ich bot meine Wohnung zum Kauf an. Ich tat es wie eine Schlafwandlerin – ohne nachzudenken. Letztendlich war es mir egal, ob sich ein Käufer finden würde oder nicht, und genau deswegen lief es besser als alles, was ich bisher im Leben angepackt hatte. Ein junger Mann mit Klemmbrett erschien, sah sich um und verkündete begeistert, wie gefragt so etwas sei. Er erklärte, seine Firma bekomme drei Prozent Provision. Zwei, entgegnete ich. Er zögerte den Bruchteil einer Sekunde, dann erklärte er sich einverstanden. Gleich am nächsten Tag kam eine Frau zur Besichtigung. Sie erinnerte mich an mich selbst, auch wenn sie einen etwas vermögenderen, erwachseneren Eindruck machte.

Außerdem hatte sie einen richtigen Beruf, sie war Ärztin. Ich versuchte, die Wohnung mit ihren Augen zu sehen: Nachdem in letzter Zeit so vieles entfernt worden war, hatte sie fast etwas Minimalistisches, sodass die Beleuchtung viel besser zur Geltung kam und die Räume größer erschienen, als sie in Wirklichkeit waren.

Die Frau sagte, die Wohnung habe eine gute Atmosphäre.

Lächelnd fügte sie hinzu, anscheinend besitze sie gutes Feng Shui. Ich musste an Troy denken, wie er an dem Balken gebaumelt hatte, holte tief Luft und stimmte ihr zu. Eine halbe Stunde später rief der Makler an und informierte mich darüber, dass Rebecca Hanes ein Angebot gemacht habe, das nur zehntausend Pfund unter dem von mir verlangten Preis liege. Ich sagte nein. Er entgegnete, der Markt sei im Moment ein wenig schwach, worauf ich antwortete, das sei mir egal. Zehn Minuten später meldete er sich erneut und erklärte, sie habe die volle Summe geboten, wolle dafür aber sofort einziehen. Ich erwiderte, ich ließe mich nicht drängen und würde erst in einem Monat ausziehen. Er meinte, das könnte ein Problem geben, rief jedoch nach ein paar Minuten wieder an und sagte, es sei in Ordnung. Nachdem ich aufgelegt hatte, fiel mein Blick auf mein Spiegelbild, und ich fragte mich, ob das vielleicht das Geheimnis des Erfolgs war. Oder gar das Geheimnis des Lebens? Wenn einem weniger daran liegt als der anderen Person, dann gewinnt man. War das wirklich ich?

Ich war schon ziemlich weit damit fortgeschritten, mein altes Leben aufzugeben, hatte aber noch nichts unternommen, um für ein neues zu sorgen. Ich holte meinen alten Schulatlas aus dem Regal und schlug die Karte »Südengland und Wales« auf.

Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich im Hinblick auf mein neues Leben eine existenzielle Freiheit besaß. Außerhalb Londons hatte ich keine besonderen familiären Bindungen. Ich war nicht festgelegt, kein Ort bedeutete mir mehr als ein anderer. Sollte ich die Grenze zwei Zentimeter rund um London ziehen? Fünf Zentimeter? Zehn Zentimeter? Würde ich gern am Meer leben? Und wenn ja, an welchem? In einer kleinen oder einer großen Stadt? Oder direkt auf dem Land? Auf einer Insel?

In einem Cottage mit Reetdach? Auf einem Hausboot? In einem ausrangierten Leuchtturm? Meine Freiheit schien wie ein Abgrund vor meinen Füßen zu klaffen. Es war ein Schwindel erregendes, fast schon beängstigendes Gefühl. Außerdem stimmte die Reihenfolge nicht. Ich musste mir erst mal Gedanken über meine Arbeit machen, herumtelefonieren, einen neuen Job finden. Zum Glück konnte ich das Ganze langsam angehen. Ich hatte mir einen Monat Zeit erkauft, indem ich zu einer netten Frau biestig gewesen war.

Ich fasste einen Entschluss: Ich würde mich jeden Tag mit zwei Leuten in Verbindung setzen, die mir unter Umständen bei meiner Jobsuche weiterhelfen könnten. Nachdem ich mich mit einem Blatt Papier hingesetzt und fünf Minuten nachgedacht hatte, stand auf meiner Liste ein einziger Name, ein Typ namens Eamonn Olshin, der gerade sein Architekturstudium abgeschlossen hatte. Ich rief ihn an und bat ihn, sich mit mir zu treffen, denn ich wolle mich beruflich verändern, vielleicht könne er mir ein paar Tipps geben. Zu meiner Überraschung war Eamonn ausgesprochen freundlich. Ich betrachtete die Welt um mich herum nun schon so lange als feindselig und tückisch, dass ich es bereits merkwürdig fand, wenn sich jemand einfach nur freute, von mir zu hören. Eamonn erklärte, es sei komisch, dass ich anriefe, weil er nämlich schon eine ganze Ewigkeit vorhabe, sich endlich mal wieder bei mir zu melden. Auf seine Frage, wie es mir denn so gehe, antwortete ich ziemlich ausweichend.

Spontan lud er mich gleich für denselben Abend ein; er gebe ein kleines Essen für ein paar Freunde und fände es nett, wenn ich auch käme. Mein erster Impuls war, nein zu sagen, erstens, weil ich den Rest meines Lebens allein in einer Höhle verbringen wollte, und zweitens, weil es mir irgendwie erbärmlich vorkam, als wäre ich krampfhaft auf der Suche nach neuen Freunden.

Aber letztendlich war ich das. Vielleicht nicht krampfhaft, aber doch auf der Suche. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf.

An wen hätte ich mich in einer solchen Situation normalerweise gewandt? Laura. Ich versuchte, nicht allzu verzweifelt zu klingen, als ich seine Einladung annahm.

Eamonn wohnte in Brixton. Ich wollte meine Lässigkeit unter Beweis stellen, indem ich ein wenig verspätet kam, hatte dann aber tatsächlich Schwierigkeiten, die Adresse zu finden, und tauchte ziemlich spät auf. Mein Plan war außerdem gewesen, ganz cool in die kleine Party hineinzuschneien, aber nachdem ich fünf Leute nach dem Weg gefragt hatte und im Laufschritt durch irgendwelche Seitenstraßen gehastet war, lag die Wohnung auch noch im obersten Stockwerk, sodass mir der kalte Schweiß auf der Stirn stand, als ich schließlich kurz vor neun völlig aufgelöst und wie ein Walross keuchend dort eintraf.

Von den acht Leuten, die rund um den Tisch saßen, kamen mir drei oder vier vage bekannt vor. Eamonn stellte sie mir nacheinander vor, allen voran seine Freundin Philippa, worüber ich ziemlich erleichtert war. Anscheinend hatte er mich tatsächlich nur eingeladen, weil er sich freute, mich mal wieder zu sehen. Die anderen Namen bekam ich kaum mit. Bis ich mich wieder gefangen hatte, war die Vorstellungsrunde vorüber.

Sie waren bereits bei der Hauptspeise angelangt. Ich erklärte, ich würde sie sicher schnell einholen, nahm mir dann aber nur eine kleine Portion Lasagne. Ich setzte mich neben Eamonn, und wir sprachen kurz über meine Pläne. Er meinte, ich würde bestimmt keine Schwierigkeiten haben, etwas zu finden, ging aber offenbar davon aus, dass ich etwas in London suchte. Als ich ihm erklärte, dass ich die Stadt verlassen und eventuell aufs Land ziehen wolle, starrte er mich verblüfft an.

»Wohin?«, fragte er. »Warum?«

»Ich brauche einen Tapetenwechsel«, antwortete ich.

»Natürlich«, stimmte er mir zu. »Gönn dir ein Wochenende auf dem Land. Da gibt es tolle Angebote. Ein paar Tage ist das sicher wunderbar. Aber doch nicht für länger. Jeder vernünftige Mensch lebt in London. Der Rest von England ist bloß dazu da

…« Er hielt inne, als könnte er sich nicht erinnern, wozu der Rest eigentlich da war. »Ich weiß auch nicht, zum Wandern oder so. Meistens fliegt man nur drüber weg, wenn man anderswohin reist.«

»Ich meine es ernst«, erwiderte ich.

»Ich auch«, gab Eamonn zurück. »Wir können es uns nicht leisten, dich zu verlieren. Denk an die vielen Leute, die sich als blinde Passagiere auf Schiffen, in Containern und unter Lastwagen verstecken, nur um nach London zu gelangen. Und du willst freiwillig der Stadt den Rücken kehren! Das darfst du nicht.«

Philippa sah ihren Freund mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Sie hat gesagt, dass sie es ernst meint.«

Wahrscheinlich fand sie, dass Eamonn zu nett zu mir war.

Leicht eingeschnappt erklärte er, er werde seinen Chef fragen, ob er irgendwelche Leute kenne, die »nicht gut genug waren, um es in London zu schaffen«. Wir unterhielten uns noch eine Weile, dann ging uns langsam der Gesprächsstoff aus. Mein anderer Tischnachbar stupste mich von der Seite an. Er war einer von denen, die mir irgendwie bekannt vorkamen. Natürlich hatte ich mir seinen Namen nicht gemerkt. Leider erinnerte er sich an meinen.

»Miranda«, sagte er. »Freut mich total, dich mal wieder zu sehen.«

»David! Blimey!« Gerade noch rechtzeitig war es mir wieder eingefallen. Er trug sein Haar inzwischen kürzer, und der kleine Oberlippenbart war auch neu.

Er drohte mir neckend mit dem Zeigefinger. »Weißt du noch, wo wir uns das letzte Mal gesehen haben?«

»Es liegt mir auf der Zunge …«

»Beim Schlittschuhlaufen im Alexandra Palace. Du bist ziemlich oft auf deinem Hintern gelandet.«

Eine Welle der Übelkeit stieg in mir hoch. O ja. Er hatte zu der Clique gehört, mit der ich an dem Tag unterwegs gewesen war, als ich Brendan kennen lernte. Ausgerechnet ihn musste ich hier treffen. Was hatte ich eigentlich verbrochen, dass Gott mich derart strafte?

»Stimmt«, sagte ich.

David lachte.

»Das war ein netter Nachmittag«, meinte er. »Eigentlich sollte man so was viel öfter machen, aber irgendwie schafft man es nie. Haben wir beide nicht so eine Art Conga auf dem Eis getanzt?«

»Ich glaube nicht, dass ich dazu schon in der Lage war, ich

…«

Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. Ich dachte: Bitte, lieber Gott, nein.

»Hast du nicht …?« Er hielt einen Moment inne. »Jemand hat mir erzählt, du hättest etwas mit dem Typen gehabt, der damals auch dabei war.«

Ich blickte mich rasch um, stellte zu meiner Erleichterung jedoch fest, dass zwischen den anderen eine angeregte Diskussion über die Vor- und Nachteile des Landlebens im Gange war.

»Ja«, antwortete ich. »Ganz kurz.«

»Wie hieß er noch mal?«

Konnte er nicht endlich den Mund halten?

»Brendan«, antwortete ich. »Brendan Block.«

»Ach ja, genau. Seltsamer Typ. Ich hab ihn bloß ein paarmal getroffen. Er war ein alter Freund von einem der Jungs, aber …«

David lachte. »Man hört erstaunliche Geschichten über ihn.«

Wir schwiegen einen Moment. Ich wusste genau, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, das Thema zu wechseln. Ich konnte David fragen, in welchem Teil von London er lebe, was er beruflich mache, ob er solo sei, wo er in Urlaub hinfahre, alles, nur nicht das, wovon ich genau wusste, dass ich es gleich sagen würde.

»Zum Beispiel?«

»Ich weiß auch nicht«, antwortete David. »Seltsames Zeug eben. Er macht Sachen, die wir anderen nicht machen würden.«

»Du meinst, tolle Sachen?«

»Ich meine Sachen, die sich ein normaler Mensch höchstens mal in seiner Phantasie ausmalt. Dieser Brendan dagegen geht hin und tut es.«

»Ich kann dir nicht so ganz folgen.«

David schien sich plötzlich ein wenig unbehaglich zu fühlen.

»Ihr seid nicht mehr zusammen, oder?«

»Wie gesagt, es war nur was ganz Kurzes.«

»Ich habe die Geschichte von jemandem gehört, der mit ihm am College war.«

»Er hat in Cambridge studiert, oder?«

»Vielleicht später, diese Sache ist irgendwo in den Midlands passiert, glaube ich. Wenn ich es richtig verstanden habe, ließ Brendan damals alles ziemlich schleifen. Er machte so gut wie gar nichts. Seine Vorstellung von harter Arbeit beschränkte sich anscheinend darauf, die Essays der anderen zu kopieren. Einer seiner Dozenten war irgendwann derart genervt, dass er ihm eine glatte Sechs gab. Brendan wusste, wo der Mann wohnte, fuhr hin und sah seinen Wagen vor dem Haus stehen. Der Dozent hatte eins der Fenster einen Spalt weit offen gelassen.

Brendan zog sich Gummihandschuhe an – du weißt schon, wie man sie zum Abspülen verwendet – und verbrachte einen Abend damit, die ganze Hundescheiße in der Gegend einzusammeln und durch den Spalt in das Auto zu schieben.«

»Das ist ja widerlich!«, sagte ich.

»Aber auch erstaunlich, findest du nicht? Wie ein Stunt in einer Fernsehshow. Stell dir mal vor, du kommst am Morgen runter, öffnest deine Wagentür, und eine Tonne Hundescheiße quillt dir entgegen! Und dann darfst du den Wagen auch noch sauber machen. Ich meine, versuch mal, diesen Geruch wieder rauszubekommen!«

»Das ist nicht mal lustig«, erklärte ich. »Es ist einfach nur grauenhaft.«

»Ich kann auch nichts dafür«, meinte David. »Mein Freund war er ja nicht. Es gibt da noch eine andere Geschichte über einen Hund. Allerdings erinnere ich mich nicht mehr so genau an die Einzelheiten. Ich glaube, sie hatten irgendwo ein Haus gemietet, und ein Nachbar ging ihnen auf die Nerven, ein alter Mann, der einen von diesen zotteligen, räudigen Hunden besaß.

Das Vieh lief im Garten herum und trieb mit seinem ständigen Gekläffe alle in den Wahnsinn. Brendan hatte ein Händchen für Tiere. Mein Freund sagte, der wildeste Rottweiler konnte auf einen zustürmen, aber nach ungefähr fünf Sekunden kraulte Brendan ihn am Hals, und der Hund wälzte sich lammfromm auf dem Boden herum. Brendan schnappte sich also diesen Hund und verfrachtete ihn in den Lastwagen irgendeiner Baufirma, der kurz darauf wegfahren sollte. Die anderen Leute, die es mitbekamen, dachten, dass er nur Spaß machte und den Hund wieder herausholen würde, aber das tat er nicht. Der Fahrer stieg in den Wagen und fuhr los, während man den Hund hinten wie wild bellen hörte. Wahnsinn!«

»Der alte Mann hat seinen Hund nicht mehr zurückbekommen?«

»Brendan behauptete, er habe testen wollen, ob Hunde wirklich aus großer Entfernung wieder nach Hause fänden, wie man es so oft in der Zeitung liest. Er sagte, er habe diese Berichte eindeutig widerlegt.«

Als ich erneut einen Blick in die Runde warf, stellte ich fest, dass die anderen inzwischen verstummt waren.

»Wie grausam!«, bemerkte eine Frau auf der anderen Seite des Tisches.

»Ich muss zugeben«, räumte David ein, »dass es nicht so lustig rüberkommt, wie ich dachte. Der Typ galt immer als ziemlicher Spaßvogel, aber wenn man die Zielscheibe seines Humors ist, sieht das bestimmt anders aus. Besser, man kennt ihn nur vom Hörensagen.« Er blickte sich verlegen um. »Oder gar nicht.«

Die anderen begannen sich wieder zu unterhalten. David lehnte sich zu mir herüber und fügte im Flüsterton hinzu: »Es ist bestimmt kein Spaß, wenn er einen auf dem Kieker hat. In dem Fall sollte man lieber seine Fenster schließen, wenn du weißt, was ich meine.«

»Eins begreife ich nicht«, entgegnete ich. »Wie kann man mit so jemandem befreundet sein?«

»Ich hab’s dir doch schon gesagt«, antwortete David, inzwischen ein wenig beschämt. »Ich kenne ihn gar nicht so gut.«

»Sein Verhalten klingt jedenfalls psychopathisch.«

»Ein paar von den Geschichten waren ein bisschen extrem, aber wenn ich persönlich mit ihm zusammentraf, schien er immer ganz in Ordnung zu sein. Die Leute, denen er so übel mitgespielt hatte, kannte ich nicht. Außerdem weißt du bestimmt viel mehr über ihn als ich. Du warst schließlich mit ihm …

zusammen.«

Im Bett. Das hatte David sagen wollen. Ich holte tief Luft. Nun konnte ich mich nicht länger am Riemen reißen. Ich kochte vor Wut, auch wenn ich nicht so recht wusste, gegen wen ich meinen Zorn eigentlich richten sollte. Ich bemühte mich um einen ruhigen Ton.

»Ich wünschte, ich hätte diese angeblich so lustigen Geschichten über Brendan gehört, bevor ich mit ihm zusammenkam.«

»Sie hätten dich womöglich abgeschreckt.«

»Allerdings!«

»Du bist schließlich erwachsen«, meinte David. »Da liegt es an einem selbst, mit wem man sich einlässt, oder?«

»Ich hatte von alldem doch keine Ahnung«, entgegnete ich.

»Herrgott noch mal! Ich dachte, ich wäre mit Freunden unterwegs. Jetzt komme ich mir vor, als wäre mir ein Wagen mit schlecht funktionierenden Bremsen angedreht worden.«

»So war das überhaupt nicht. Ich hab euch an dem Tag lediglich miteinander reden sehen. Dass ihr zusammen wart, erfuhr ich erst später.«

»Hast du gefunden, dass wir gut zusammenpassen?«

»Ich hätte ihn nicht für dich ausgesucht, Miranda. Aber spielt das jetzt noch eine Rolle? Du hast doch gesagt, dass ihr bloß ganz kurz zusammen wart.«

»Ich glaube schon, dass es eine Rolle spielt«, widersprach ich.

»Weißt du, woran ich gerade denke? Ich denke daran, wie mehrere Menschen, die ich für meine Freunde hielt, seelenruhig zusehen, wie ich mich mit jemandem zu unterhalten beginne, der ohne mit der Wimper zu zucken, einen Wagen mit Hundescheiße füllt, nur weil er zu Recht eine schlechte Note bekommen hat.«

»Tut mir Leid«, antwortete David zerknirscht. »So habe ich das damals nicht gesehen.«

»Wessen Freund war er?«

»Wie?«

»Du hast gesagt, er sei ein alter Freund von einem der Jungs gewesen. Von welchem?«

»Warum möchtest du das wissen?«

»Einfach so.«

David überlegte einen Moment.

»Jeff«, sagte er dann. »Jeff Locke.«

»Hast zu seine Telefonnummer?«

David grinste schief.

»Möchtest du dich wieder mit ihm treffen?«

Ich sah ihn an. Das Grinsen verschwand. Er begann in seinen Taschen herumzuwühlen.

31. KAPITEL

Als ich aufwachte, war ich schweißgebadet, und mein Herz klopfte wie wild. Ich hatte geträumt, aber mein Traum löste sich in Bruchstücke auf und entglitt mir. Ich versuchte eine Ecke davon zu fassen zu kriegen. Es hatte etwas mit Ertrinken zu tun gehabt. Nicht in Wasser, sondern in einer zähflüssigen, schleimigen Substanz. Am Ufer hatten Leute gesessen und sich lächelnd miteinander unterhalten, während nicht weit entfernt jemand verzweifelt um sich schlug und ihnen Hilfe suchende Blicke zuwarf. Es waren viele Leute gewesen, viele Gesichter, unter anderem das meiner Mutter und das einer alten Schulfreundin, deren Namen ich vergessen hatte. Und plötzlich befand sich dort am Ufer auch mein eigenes Gesicht. Mit prickelnder Haut lag ich im Bett und versuchte mehr von dem Traum zurück in mein Bewusstsein zu holen. Etwas, das mit Troy zu tun hatte. Vor meinem geistigen Auge konnte ich jetzt wieder sein kalkweißes Gesicht sehen und seinen Mund, der etwas zu rufen versuchte, aber keinen Laut herausbrachte.

Ich setzte mich auf, zog mir die Bettdecke fest um die Schultern. Es war kurz nach vier, aber zwischen meinen halb offenen Vorhängen fiel immer noch der orangefarbene Schein der Straßenlampen und das bläuliche Licht des Mondes herein.

Ich wartete darauf, dass meine Panik nachlassen würde. Es war doch bloß ein Traum gewesen, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Es hatte nichts zu bedeuten: Bilder, die nachts völlig willkürlich auftauchten. Trotzdem hatte ich Angst davor, wieder einzuschlafen und erneut erleben zu müssen, wie Troy stumm um Hilfe rief.

Ich wälzte mich aus dem Bett, zog meinen Bademantel an und tappte ins Bad. Im Spiegel sah ich, dass meine Stirn schweißnass und mein Haar feucht geschwitzt war. Nachdem ich mir mit einem Handtuch das Gesicht abgerieben hatte, ging ich in die Küche, bereitete mir eine Tasse heiße Schokolade zu und kehrte mit dieser sowie einer Ausgabe von London von A –

Z ins Bett zurück. Ich schlug die entsprechende Seite auf und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die winzigen Buchstaben, das Netz aus Straßen. Nachdem ich gefunden hatte, was ich schon halb befürchtete, legte ich den Plan weg und ließ mich mit geschlossenen Augen auf mein Kissen sinken. Bald würde es hell sein, die Vögel würden zu singen beginnen, und auch alle übrigen Geräusche des Morgens würden einsetzen.

Ich musste spätestens um halb neun in Bloomsbury sein. Um halb sieben stand ich auf, zog Shorts und ein ärmelloses Trikot an und darüber ein Sweatshirt. Der Verkehr war noch nicht sehr dicht, sodass ich bis zur Seidon Avenue in E8 nur fünfzehn Minuten brauchte. Der Name war irreführend, es handelte sich keineswegs um eine Allee – was »Avenue« ja eigentlich bedeutete –, sondern um eine breite Straße mit Wohnblöcken und Reihenhäusern auf beiden Seiten. Ich parkte direkt gegenüber Nummer 19. Nachdem ich noch mal einen Blick auf den Stadtplan geworfen hatte, um sicherzustellen, dass ich die Route hundertprozentig im Kopf hatte, schlüpfte ich aus meinem Sweatshirt und stieg aus dem Wagen. Es war noch recht kühl, und ein leichter Dunst lag wie ein Schleier über dem Horizont.

Zum Aufwärmen joggte ich ein paar Minuten auf der Stelle, dann lief ich zweimal die Straße auf und ab, um mich für den eigentlichen Lauf bereit zu machen.

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr – 7:04 –, holte noch mal tief Luft und startete in ziemlich schnellem Tempo los: ein Stück die Straße entlang, nach rechts in eine Parallelstraße, dann wieder nach rechts, durch eine kleine Gasse mit Gestrüpp auf der einen und Häusern auf der anderen Seite. Die Gasse führte zu einer großen Wohnanlage. Ich sprintete um die Seite mit den Notausgängen herum, bog auf den Parkplatz ein und lief auf der anderen Seite wieder hinaus, eine weitere Gasse entlang, vorbei an kleinen Geschäften und einer Eisenbahnbrücke.

Schließlich ging es nach links in eine Sackgasse und durch eine schmale Passage auf eine Fußgängerbrücke, die über die Bahnlinie führte. Inzwischen wusste ich genau, wo ich mich befand. Ich war hier schon Dutzende Male gewesen, nein, hunderte Male. Ich rannte die Straße entlang, bog nach rechts ab und blieb keuchend stehen. Kirkcaldy Road. Lauras Straße.

Lauras Haus. Ich blickte zu ihrem Fenster hoch. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, aber es brannte kein Licht. Ich warf einen Blick auf die Uhr. 7:11. Sieben Minuten.

Ich wartete ungefähr eine Minute, dann lief ich die gleiche Strecke zurück. Diesmal brauchte ich nur etwas mehr als sechs Minuten. Wenn man mit dem Auto den größeren Straßen folgte, benötigte man wahrscheinlich gut zwanzig Minuten, weil die Strecke dann wesentlich länger war: Man musste einen Bahndamm entlangfahren, eine Brücke überqueren und ein paar große Baustofflager umrunden. Zu Fuß aber konnte man den direkten Weg durch die kleinen Gassen zwischen den Häusern nehmen, der für einen Polizisten, der mit dem Streifenwagen herumfuhr, nicht zu sehen war. Auf diese Weise brauchte man etwa ein Viertel der Zeit, auf keinen Fall fünfundzwanzig Minuten.

Um acht sperrte ich die Wohnung in Bloomsbury auf. Bill hatte mir einen Schlüssel gegeben. Ich würde die Bodendielen abschleifen, was nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung war, weil es sich dabei um eine laute und extrem staubige Angelegenheit handelte. Nachdem ich sämtliche Regale mit Laken abgedeckt hatte, setzte ich Ohrenschützer und eine Gesichtsmaske auf und bewegte mein Schleifgerät drei Stunden lang gleichmäßig in dem großen Wohnzimmer auf und ab, bis unter dem Dreck mehrerer Jahrzehnte die schöne honigfarbene Maserung des Holzes zum Vorschein kam.

Als ich endlich fertig war, kauerte ich mich auf den Boden und fuhr mit einem Finger über das Holz, das neue Muster und Strukturen aufwies. Nun brauchte es nur noch versiegelt zu werden. Ich stand auf, zog mir Ohrenschützer und Gesichtsmaske vom Kopf und schüttelte mich wie ein gerade aus dem Wasser kommender Hund. Dann öffnete ich die großen Fenster, um die Frühlingsluft und die Geräusche der Stadt hereinzulassen. Nachdem ich einen Großteil des Sägemehls mit dem Besen entfernt hatte, saugte ich den Boden noch gründlich ab, wobei ich darauf achtete, dass ich mit der Düse in alle Ecken und Winkel gelangte. Anschließend zog ich die Laken von den Bücherregalen und begann sie ebenfalls abzusaugen, indem ich mit der Düse zwischen den einzelnen Bänden entlangfuhr und die Oberseite der Bücher von einer feinen Staubschicht befreite.

Der Mann besaß seltsame Bücher. Das unterste Regalfach enthielt die üblichen Nachschlagewerke – zwei dicke Atlanten, mehrere Wörterbücher und Enzyklopädien, ein großes Buch über Raubvögel, ein weiteres über seltene Bäume, aber als ich mit dem Staubsauger das nächste Fach in Angriff nahm, entdeckte ich dort Titel wie Suchtverhalten, Mütterliche Ambivalenz, Psychotische Zustände bei Kindern, Erotische Obsession aus dem Blickwinkel der Forensik und einen dicken grünen Band mit dem Titel Das Handbuch der klinischen Psychopharmakologie. Ich schaltete den Staubsauger aus, zog ein Buch mit dem Titel Erotomanie und die Sexualisierung der Folter heraus und schlug es an einer beliebigen Stelle auf.

»Innerhalb der Struktur der Destruktion«, stand da, »gilt es prinzipiell zu differenzieren zwischen den Komplexitäten dieser Konstellation …« Ich rieb über mein staubiges Gesicht. Was um alles in der Welt sollte das heißen? Da schwirrte einem ja schon nach einem halben Satz der Kopf. Ich ließ mich auf dem Boden nieder und blätterte weiter. Karl Marx wurde zitiert: »Es gibt nur ein einziges Mittel gegen geistiges Leiden, und das ist körperlicher Schmerz.« Stimmte das?

Hinter mir bewegte sich etwas. Überrascht blickte ich mich um. Ich hatte angenommen, dass der Wohnungseigentümer in der Arbeit war. Wie sich nun herausstellte, war er nicht nur zu Hause, sondern trug zu allem Überfluss auch noch einen altmodischen gestreiften Flanellschlafanzug. Es war mir unbegreiflich, wie es ihm gelungen war, die Schleifaktion, die ich in seiner Wohnung veranstaltet hatte, einfach zu verschlafen.

Er sah aus, als wäre er gerade aus einem monatelangen Winterschlaf erwacht. Das Wort »zerzaust« reichte nicht aus, um den Zustand seiner langen dunklen Locken zu beschreiben.

Dass er sich nun mit der Hand durchs Haar fuhr, machte es noch schlimmer.

»Ich bin auf der Suche nach einer Zigarette«, erklärte er.

Ich reichte ihm eine Packung, die ich im Bücherregal entdeckt hatte.

»Feuer bräuchte ich auch.«

Auf einer Lautsprecherbox fand ich eine Schachtel Streichhölzer. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm ein paar Züge und blickte sich dann im Raum um.

»Sagen Sie jetzt bitte nicht, dass ich in der falschen Wohnung bin«, meinte ich.

»Sie sind nicht Bill«, stellte er sehr richtig fest.

»Nein«, antwortete ich. »Er hat den Auftrag an mich weitergegeben.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Habe ich Sie aufgeweckt? Mir war nicht klar, dass Sie hier sind.«

Er starrte mich verblüfft an. Anscheinend war ihm selbst auch nicht so ganz klar, dass er hier war.

»Ich bin gestern sehr spät ins Bett gekommen«, erklärte er.

»Dafür habe ich meinen ersten Termin heute erst um zwölf.«

Ich sah erneut auf die Uhr.

»Ich hoffe, es ist nicht weit«, sagte ich. »Sie haben nämlich nur noch fünfunddreißig Minuten.«

»Es ist ganz in der Nähe«, antwortete er.

»Sie werden wahrscheinlich trotzdem zu spät kommen.«

»Das geht nicht«, entgegnete er. »Auf mich wartet ein ganzer Saal voller Leute, denen ich was erzählen soll.«

»Sie halten einen Vortrag?«

Er zog wieder an seiner Zigarette, schnitt eine Grimasse und nickte.

»Finden Sie das Buch interessant?«, fragte er.

»Ich habe nur …« Ich starrte einen Moment auf das Buch in meiner Hand, dann schob ich es zurück an seinen Platz.

»Kaffee?«, fragte er.

»Nein, danke.«

»Ich habe damit eigentlich gemeint, ob Sie mir vielleicht welchen machen könnten! Während ich mich anziehe?«

Ich war versucht zu antworten, dass ich nicht sein Butler sei, aber hier handelte es sich offensichtlich um einen Notfall.

Er nahm einen Schluck Kaffee, der kochend heiß war, und verzog das Gesicht.

»Sie haben noch fünfundzwanzig Minuten«, erinnerte ich ihn.

»Ich muss bloß quer über den Platz.« Inzwischen bekam er die Augen schon ein bisschen weiter auf. »Sie haben gute Arbeit geleistet.« Er betrachtete den Boden. »Was nicht heißen soll, dass ich mich mit solchen Sachen auskenne.«

»Das meiste macht die Maschine«, antwortete ich. »Sie müssen entschuldigen, dass ich in Ihren Büchern herumgeschnüffelt habe.«

»Dafür sind sie doch da.«

»Sind Sie Arzt?«

»Gewissermaßen.«

»Interessant«, murmelte ich lahm. Ich musste an Brendans Hundescheißeaktion denken. Und an meinen Traum.

Bruchstücke daraus stiegen aus meiner Erinnerung empor wie kleine, zur Wasseroberfläche gleitende Fische.

»Mein Name ist Don.«

»Ich weiß. Ich heiße Miranda.« Vorsichtig nippte ich an meinem Kaffee. Er schmeckte leicht nach Schokolade. »Sie beschäftigten sich mit Geisteskrankheiten?«

»Das ist richtig.«

»Bestimmt nervt es Sie schrecklich, wenn Ihnen die Leute immerzu blöde Fragen stellen, aber darf ich Sie trotzdem was fragen?«

»Worum geht’s?«

»Um jemanden, von dem ich gehört habe. Einen Freund von einem Freund.« Ich schob mir ein Stück Shortbread in den Mund. »Von einem Freund«, fügte ich mit belegter Stimme hinzu.

»Ja, klar«, meinte er mit einem leichten Lächeln.

»Ich weiß eigentlich nicht viel über ihn.« Was ja sogar stimmte.

Ich erzählte Don von Brendan. Ich fing mit der Hundescheiße an, und als ich bei der Geschichte mit dem überfluteten Bad angelangt war und gerade sagte: »Und dann kam sie nach Hause und stellte fest, dass ihre Wanne übergelaufen war, obwohl sie genau wusste, dass sie das Wasser …«, unterbrach mich Don mit einer Handbewegung.

»Moment«, sagte er. Er zündete sich eine zweite Zigarette an.

»Was?«

»Das sind Sie, nicht wahr?«, fragte er. »Die Frau?«

»Ähm, ja, Sie haben Recht.«

»Gut.«

»Gut?«

»Ich befürchtete schon einen Moment, Sie wären die Person, die die Hundescheiße in den Wagen gestopft hat.«

»Das war ein Mann.«

»Sie hätten das Geschlecht ändern können. Um mich in die Irre zu führen.«

»Ich weiß, wie erbärmlich das alles ist«, erwiderte ich.

»Erzählen Sie weiter.«

Also erzählte ich. Obwohl die Zeit bis zu seinem Vortrag langsam knapp wurde, berichtete ich ihm die ganze Geschichte

– sogar, dass Brendan mir anlässlich seiner Verlobung mit meiner Schwester ins Ohr geflüstert hatte, er müsse daran denken, wie er in meinem Mund gekommen sei. Zum Schluss erzählte ich ihm von Troy und Laura – aber sehr schnell, damit ich nicht wieder weinen musste. Als ich fertig war, griff ich nach meiner Tasse und leerte sie.

»Was halten Sie davon?«, fragte ich. Aus irgendeinem Grund hämmerte mein Herz wie wild.

»So ein Mist«, antwortete er.

»Und das ist das Ergebnis, zu dem Sie nach reiflicher Überlegung gelangt sind?«

»Seien Sie froh, dass Sie ihn los sind.«

Ich schnaubte verächtlich.

»Darauf wäre ich selbst auch gekommen. Ich möchte von Ihnen wissen, ob der Mann ein Psychopath ist. Könnte es sich bei einem solchen Menschen um einen Mörder handeln?«

Er hob abwehrend die Hände.

»Es ist noch ziemlich früh am Morgen«, erklärte er.

»Ich finde ehrlich gesagt, dass es schon ziemlich spät am Morgen ist.«

»Ich möchte Sie nicht mit hochtrabenden Formulierungen nerven, indem ich Ihnen antworte, dass ich erst mal meine eigenen Untersuchungen durchführen müsste, um mich zu dieser Frage äußern zu können. Genauso wenig möchte ich mit irgendwelchen medizinischen Fachausdrücken um mich werfen.

Der wesentliche Punkt ist, dass es so herum nicht funktioniert.

Ich kann einfach nicht sagen, dass dieses Verhaltensmuster bedeutet, dass er ein Mörder ist …«

»Ein Mörder sein könnte«, unterbrach ich ihn.

»Es funktioniert andersherum«, fuhr er fort. »Mal angenommen, ein Täter hätte bestimmte Arten von Gewalttaten begangen. In diesem Fall würde es mich nicht überraschen, in seiner Vorgeschichte auf die Sorte Verhalten zu stoßen, die Sie beschrieben haben.«

»Na bitte, da haben wir es ja«, meinte ich.

»Nein, so einfach ist das nicht«, widersprach er. »Zwar lassen sich bei den meisten Mördern tatsächlich schon früher Anzeichen von gestörtem Verhalten erkennen. Andererseits aber legt eine sehr große Anzahl von Menschen gestörtes Verhalten an den Tag, ohne jemals die Grenze zu überschreiten.«

»Aber falls er die Grenze überschritten hat, wovon ich ausgehe, auch wenn außer mir niemand dieser Meinung ist, war’s das dann? Ist er fertig? Oder ist er immer noch gefährlich?«

Don nippte an seinem Kaffee.

»Sie stapeln hier eine Hypothese auf die nächste«, stellte er fest.

»Ich befinde mich nicht vor Gericht«, gab ich zurück.

»Ich kann aufeinander stapeln, was ich möchte. Mich interessiert nur, ob es denkbar ist, dass er sich endgültig ausgetobt hat.« Ich hörte selbst, wie wacklig meine Stimme klang, und versuchte durch Husten davon abzulenken.

Don schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Das kann man alles erst im Nachhinein sagen. Wenn Menschen etwas getan, ein Verbrechen begangen haben und dafür eingesperrt worden sind, dann kommen die Psychologen und Psychiater aus ihren Löchern gekrochen, um ihre Tests durchzuführen und mit großer Autorität ihre Urteile zu verkünden. Bezeichnenderweise klaffen die Meinungen der Experten oft weit auseinander. Sie werden zu jedem beliebigen Punkt Pro- und Kontra-Stimmen finden.«

»Danke«, antwortete ich resigniert. Als ich mich ihm zuwandte, bemerkte ich, dass er ein schmales Gesicht und kastanienbraunes Haar hatte und mich mit einem sehr freundlichen Blick musterte.

»Halten Sie sich von ihm fern«, fügte er hinzu.

»Mache ich.«

»Kommen Sie klar?«

»Das wird sich zeigen.« Rasch ging ich zum Fenster und schloss es. Im Raum war es gleich viel stiller. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Noch vier Minuten.«

»Dann sollte ich jetzt wohl besser gehen«, sagte er. »Sie sehen aber nicht glücklich aus.«

»Wahrscheinlich wird es nächstes Mal irgendjemand Fremden treffen, aber das macht es auch nicht besser.« Ich begann die Laken einzusammeln. »Man kann doch nicht einfach am Ufer sitzen bleiben und die Leute ertrinken lassen.«

Einen Moment lang sah er aus, als wollte er etwas sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen.

»Worüber werden Sie sprechen?«, fragte ich.

Er runzelte die Stirn.

»Ein psychologisches Syndrom, das nur ganz selten vorkommt. Sehr, sehr selten. Nur etwa vier Leute auf der Welt haben es jemals gehabt.«

»Wieso halten Sie dann einen Vortrag darüber?«

Er überlegte einen Moment.

»Wenn ich anfangen würde, mir solche Fragen zu stellen«, entgegnete er dann, »wo käme ich da hin?«

Ich ging noch einmal zu der Therapeutin, Katherine Dowling.

Eine ganze Weile saß ich schweigend da, versuchte eine Entscheidung zu treffen. Sollte ich mich mit der Welt oder mit meinem eigenen Kopf auseinander setzen? Ich sah auf meine Uhr. Es waren bereits mehr als zehn Minuten vergangen. Ich erzählte ihr meinen Traum.

»Was bedeutet das für Sie?«

»Ich möchte gern weiter zu Ihnen kommen«, antwortete ich,

»aber erst in ein paar Wochen. Oder ein paar Monaten.«

»Warum?«

»Ich muss erst ein paar Dinge klären.«

»Aber deswegen sind Sie doch hier, dachte ich.«

»Hier kann ich sie nicht klären.«

Nach einer halben Stunde ging ich wieder. Sie berechnen einem trotzdem den vollen Preis.

Du hast dich nicht umgebracht, stimmt’s? Natürlich nicht. Ich hätte keine Sekunde daran zweifeln dürfen. Du hast dich nicht umgebracht, und Lauras Tod war kein Unfall. Ich habe es immer gewusst. Die Frage ist nur, was soll ich jetzt tun, Troy?

Ich kann doch nicht einfach gar nichts tun, oder?

Nein. Natürlich kann ich das nicht.

Eigentlich sollte ich selbst Angst haben, aber seltsamerweise habe ich keine. Kein bisschen. Ehrlich gesagt ist mir meine eigene Sicherheit inzwischen völlig egal. Ich habe das Gefühl, mitten in einem wilden Sturm am Rand einer Klippe zu stehen, und es ist mir egal, ob ich hinunterfalle oder nicht. Manchmal kommt es mir fast vor, als würde ich gerne fallen.

Ich hoffe, es hat nicht lange gedauert. Ich hoffe, du hast es nicht mitbekommen, ich könnte es nicht ertragen, wenn du es mitbekommen hättest.

32. KAPITEL

Ich konnte es nicht lassen. Ich war wie eine Biene, die einen Honigtopf umschwirrte. Nein, das stimmt nicht. Honigtöpfe sind gut für Bienen. Ich war wie ein Honigtopf, der wusste, dass irgendwo eine Biene herumschwirrte. Ich war wie eine Motte, die von einer Flamme angezogen … Nein, das stimmt erst recht nicht. Ich hatte mal einen Freund, der Biologie studierte und sich besonders für Insekten interessierte, was ein Teil unseres Problems war. Als wir uns das allererste Mal trafen, klärte er mich darüber auf, dass Nachtfalter und Motten nicht wirklich von Flammen angezogen würden. Das sei ein Mythos. Ein Motten-Mythos. Seine Worte. Wir waren beide in der Studentenvereinigung, und er wirkte an dem Tag total genervt.

Natürlich war unsere Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, auf Dauer mit einem Typen zusammen zu sein, der einem Mädchen zur Begrüßung erst mal eine interessante Tatsache über Motten erzählte. Das Komische daran ist, dass mir heute, ungefähr fünf Jahre später, zu diesem Jungen noch genau zwei Dinge einfallen: sein Name – er hieß Marc – und die interessante Tatsache, die er mir über Motten erzählte und die bewirkte, dass ich mich gar nicht erst richtig in ihn verliebte. Dass ich mir die Sache mit den Motten gemerkt habe, liegt wohl daran, dass ich sie wirklich ziemlich interessant fand.

Ich war damals der festen Überzeugung gewesen, dass Marc Unrecht hatte. Als Argument führte ich an, ich sei mal mit meiner Familie beim Zelten gewesen, und die Lampe, die mein Vater an einer der Stangen befestigte, habe eine Wolke aus Mücken, Motten und Nachtfaltern angezogen. Marc schüttelte den Kopf. Das sei eine Illusion, meinte er. Sie würden lediglich versuchen, sich nach dem Mond auszurichten, indem sie immer im gleichen Winkel zu den Mondstrahlen flogen. Bei einer nahe gelegenen Flamme gelinge ihnen das nur, indem sie sie umkreisten. In der Praxis aber würden sie ihre Kreise immer enger ziehen, letztendlich also spiralenförmig auf die Flamme zufliegen. Es handle sich nicht um Anziehung, sondern um einen Navigationsfehler. Ich weiß noch, dass ich einen Moment über seine Erklärung nachdachte. Wahrscheinlich war ich an dem Tag auch ein bisschen genervt. »Gut tut ihnen das aber nicht«, sagte ich schließlich. »Am Ende landen sie trotzdem in der Flamme.« Worauf Marc antwortete: »Na und? Es sind doch nur blöde Falter.« Das war ein weiteres schlechtes Vorzeichen.

Er empfand kein Mitgefühl für Tiere.

Wie auch immer, Fakt ist jedenfalls, dass Motten nicht wirklich von Flammen angezogen werden. All die Lieder und Gedichte haben Unrecht. Fakt ist aber auch, dass die Flamme nicht gerade zur Erhaltung des Mottenbestands beiträgt. Ich hatte im Moment viel Arbeit, musste mich um eine neue Bleibe kümmern und im Hinblick auf mein Leben wichtige Entscheidungen treffen – Entscheidungen, bei denen man am besten eine Münze wirft, weil man mit rationalen Überlegungen sowieso nicht weiterkommt. Obwohl ich also weiß Gott genug anderes zu tun gehabt hätte, durchwühlte ich die Taschen sämtlicher Jacken, die in meinem Schrank hingen, bis ich schließlich die Nummer fand, die David mir auf die abgerissene Ecke einer Zeitung gekritzelt hatte, die Nummer des Typen von der Schlittschuhbahn, der Brendan gekannt hatte. Jeff Locke.

»Brendan Block? Der Typ, der immer so seltsame Pizzas bestellt hat?«

»Du warst also auch der Meinung, dass er irgendwas Seltsames an sich hatte?«

»Auf jeden Fall.«

»Du hättest mich vor ihm warnen sollen.«

»Man kann doch nicht rumlaufen und wie ein Polizist die Leute belehren. Hat er inzwischen nicht geheiratet?«

»Sie ist gestorben.«

»Wer? Du meinst, seine Frau?«

»Sie war eine Freundin von mir«, antwortete ich.

»Das tut mir Leid.«

»Schon gut. Wie hast du ihn kennen gelernt?«

Er musste einen Moment überlegen. »Ich glaube, durch einen Typen namens Leon. Seine Nummer habe ich leider nicht, aber ich weiß, wo er arbeitet.«

»Spreche ich mit Leon Hardy?«

»Ja.«

»Ich versuche Brendan Block ausfindig zu machen.«

»Ach, den. Ich kenne ihn nur ganz flüchtig, aber ich glaube, Craig kennt ihn näher.«

»Craig?«

»Craig McGreevy. Er arbeitet für die Idiosyncratic Film Distribution Company in Islington.«

»Bitte entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Miranda Cotton, ich bin eine alte Freundin von Brendan Block. Ich müsste ihn dringend erreichen. Können Sie mir da vielleicht weiterhelfen?«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete er. »Ich habe ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, aber ich kann Ihnen eine Nummer geben.«

Als er mir daraufhin meine eigene Nummer vorlas, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.

»Dort habe ich es schon versucht«, antwortete ich. »Da wohnt er nicht mehr. Fällt Ihnen vielleicht sonst noch jemand ein, der mir weiterhelfen könnte? Wie haben Sie Brendan kennen gelernt?«