»Du solltest es dir nicht so zu Herzen nehmen, wenn du sie bestrafen mußt. Die Gören haben es nicht anders verdient, besonders Luz. Wir wissen doch beide, daß sie die anderen dazu angestiftet hat. Es ist mir allerdings schleierhaft, wie sie es immer wieder fertig bringt, die kleine Callina da mit reinzuziehen. Das Kind ist doch sonst so schüchtern! Aber genug davon. Laß uns lieber noch etwas trinken, bevor wir uns in die Festlichkeiten stürzen.«

Alizia löste sich von der Mauer, und Izak war nicht schlecht erstaunt, als er sah, daß sie sich keineswegs vor Gram, sondern vor Lachen schüttelte. Verstehe einer diese Aillard-Frauen!

»Ach, Izak, du hättest Lady Alaynnas Gesicht sehen sollen, als sich der Inhalt des Nachttopfs über sie ergoß. Ich muß jetzt einfach darüber lachen, sonst platze ich in ihrer Gegenwart damit heraus. Es war ja eigentlich für Caleb bestimmt, aber dann hat sie es abgekriegt, und ich kann dir sagen, ‘Zak, sie stand da, als ob die Überwelt über sie zusammenbrechen würde. Und dann kreischte sie los wie von der Skorpionameise gestochen.«

»Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt. Es war ein übler Streich, ganz egal, wen es traf. Und es ist wohl kaum der erste Streich, den Luz angezettelt hat. Wer hat denn die Taubnesselsalbe ins Marmeladenglas

geschmuggelt?

Oder

die

Bettlaken

zusammengebunden? Wenn sie nicht die mit dem höchsten Laran Begabte in ihrer Klasse wäre, hätte man sie schon längst nach Hause geschickt.«

»Ach ‘Zak, nun sei doch nicht so zimperlich. Ich habe meine Turmausbildung zusammen mit Alaynna gemacht, und das eine kann ich dir verraten, wir waren auch keine Unschuldslämmer.

Aber ganz abgesehen davon, ich weiß zufällig, daß es Luz zu Hause alles andere als leicht hat, seit ihre Mutter gestorben ist. Ihr Vater hat sich ziemlich schnell wiederverheiratet, und jetzt hat sie eine ganze Schar von Halbbrüdern und Halbschwestern. Es wird vielleicht noch etwas dauern, bis sie erkennt, daß die Ausbildung im Turm das beste ist, was ihr passieren konnte, aber eines Tages wird sie sehr froh darüber sein.«

»Dieser Tag kann nicht früh genug kommen, wenn du mich fragst.

Erst gestern mußte ich feststellen, daß mir jemand Sand in alle Stiefel gefüllt hat. Wer könnte das wohl wieder gewesen sein?«

»Tja, wer wohl?« kicherte Alizia. »Aber hast du nicht irgendwas von eine Erfrischung gesagt?«

Luz knallte die Zimmertür zu. Dann trommelte sie mit beiden Fäusten dagegen.

Es war so ungerecht, tobte sie innerlich, einfach nur ungerecht. Sie streifte ihre Hausstiefel ab und ließ sie, so fest sie nur konnte, durchs Zimmer segeln. Das Mittsommerfest zu verpassen, schmerzte weitaus mehr als die paar Hiebe. Seit Wochen hatte sie sich darauf gefreut. Ihr Festkleid lag fein säuberlich auf dem Stuhl. Zornig knüllte sie es zusammen und stopfte das Bündel unters Bett. Es war so ungerecht!

Je mehr sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie. Sie warf sich auf das Bett und schluchzte ihren Zorn und ihre Verzweiflung in die Kissen. Wenn Mutter noch leben würde, müßte ich nicht in diesem blöden Turm sein. Ich könnte zu Hause sein, wo sie mich alle lieb haben.

Bei der Erinnerung an ihre Mutter mußte sie auch gleich an ihren Vater denken. Soll er doch in Zandrus kältester Hölle bibbern. Verdient hat er es jedenfalls. Keine sechs Monate hat er nach Moms Tod gewartet und diese dämliche Alton-Ziege geheiratet. Und die hatte nichts Besseres zu tun als mich hierher zu schicken. Und jetzt kann ich nicht aufs Fest gehen!

Sie mußte einfach etwas an die Wand knallen, um sich abzureagieren. Sie sah sich nach etwas Passendem um, und dabei fiel ihr Blick auf einen glatten, runden Stein, den Vater ihr beim Abschied von Valeron geschenkt hatte. »So wirst du immer ein Stück deiner Heimat bei dir haben«, hatte er zärtlich erklärt. Jetzt schloß sich ihre Hand fest um dieses Stück Heimat, und mit aller Kraft schleuderte Luz es in Richtung Kamin.

Es krachte gehörig, wie Luz zufrieden feststellte. Dann aber folgte ein Knarren und Quietschen, und Luz sah überrascht, wie die linke Seite des Kaminverkleidung zurückglitt und einen dunklen Spalt freigab.

Ihr Zimmer befand sich wie die aller anderen Zöglinge im ältesten und kältesten Teil der Burg. Luz hatte mehrere Langwochen gebraucht, um sich nach der trockenen Hitze von Valeron an Schnee und Kälte in Thendara zu gewöhnen. Und diese winzige, feuchte Kammer war natürlich nicht mit ihrem weiten und luftigen Zimmer zu Hause zu vergleichen. Auch das kreidete sie denen an, die sie hierher geschickt hatten. Immerhin besaß der Raum einen Kamin, der eine ganze Wandbreite einnahm. Die Kamineinfassung bestand aus einem weißlich schimmernden Stein; das reiche Schnitzwerk wies verschlungene Pflanzen- und Tiermotive auf.

Luz rutschte vom Bett und schlich zur Feuerstelle hinüber. Ihr Stein war auf eine merkwürdige Schnitzerei geprallt, die ein rundrückiges Tier darstellte, das Luz nicht kannte. Sie hatte die Schnitzereien zuvor noch nie eingehend betrachtet. Jetzt berührte sie dieses Tier und drückte. Nichts rührte sich. Sie versuchte es noch einmal, drückte stärker, und diesmal bewegte sich die Schnitzerei.

Gleichzeitig schloß sich die Kaminwand. Luz drückte erneut, und die Wand öffnete sich.

Sie kauerte sich auf dem Boden nieder, umschlang mit beiden Armen ihre Beine und ließ ihr Kinn auf den Knien ruhen. Eine Geheimtür! Und dahinter vielleicht ein Geheimgang zu einem Versteck, wo sie niemand finden könnte. Das würde ihnen recht geschehen. Diese Aufregung, wenn sie spurlos verschwunden wäre.

Wahrscheinlich würde sie ihr Vater wieder von der Turmschule nehmen, wenn man nicht besser auf sie aufpassen könnte. Sie würde es allen noch zeigen.

Luz steckte ihren Kopf in die dunkle Öffnung und beschwor mit ihren Laran-Kräften ein Glühlicht. Das gehörte zu den einfachsten Übungen, die man ihr hier beigebracht hatte. Im orangenen Schein des Lichtes konnte sie erkennen, daß sich hinter der Öffnung eine Art Tunnel zwischen den Wänden erstreckte. Im Innern befand sich ein weiterer Knauf, den sie jetzt betätigte. Er öffnete und verschloß die Geheimtür von innen. Sie duckte sich und sprang zurück ins Zimmer. Dabei grinste sie über das ganze Gesicht.

Daß man sie ohne Abendessen aufs Zimmer geschickt hatte, war weiter nicht tragisch. Die angehenden Turmschüler wurden ausreichend mit Früchten, Nüssen und Süßigkeiten aus Kireseth-

Honig versorgt. Diese sammelte Luz jetzt zusammen und verstaute sie in ihrer Arbeitsschürze. Dann zog sie einen Wollschlüpfer und Strümpfe an, darüber mehrere dicke Pullover und einen sauberen Rock. Sie streifte die weichen Lederstiefel wieder über und entschied sich schließlich noch für einen dicken Wollschal, den sie um die Schultern schlang und verknotete. Mit der Schürze unter dem Arm verschwand sie in der Öffnung. Dort drückte sie auf den Knauf und stellte mit wachsender Befriedigung fest, wie sich die Geheimtür hinter ihr schloß. Das sollte ihnen eine Lehre sein!

Der Tunnel führte abwärts und erstreckte sich über mehr als zweihundert Schritte. Luz zählte sie. Die Luft war feucht und modrig. Schließlich stieß sie auf eine blanke Metallwand, die sich nahtlos an den Fels des Tunnels fügte. Der Boden verbreitete eine Kälte, die Luz selbst durch die Stiefel noch spüren konnte, aber die Wand fühlte sich warm an. Sie ließ beide Hände über die Oberfläche gleiten, konnte aber keinen Griff oder Knauf entdecken. Dann erinnerte sie sich daran, was Dom Caleb über den Gebrauch des Laran gesagt hatte. Luz atmete tief durch und beruhigte ihre Gedanken.

Sie war begabt, daran konnte kein Zweifel bestehen. Also konzentrierte sie sich auf die Wand, der sie ihren Willen aufzwingen wollte. Nochmals glitten ihre Hände über das glatte, warme Metall, das ihr jetzt lebendig erschien. Insbesondere eine Stelle, die sich rechts von ihr, etwa in Hüfthöhe befand. Luz war Linkshänderin, und so bereitete es ihr einige Schwierigkeiten, mit der rechten Hand danach zu suchen. Sie lenkte alle ihre Gedanken, ihr gesamtes Laran auf diese eine Stelle. Öffne dich! Luz spürte, wie es unter ihren Fingerspitzen mehrmals klickte; dann glitt die Wand nach oben und verschwand in der Decke.

Sie trat hindurch. Ihr Glühlicht flackerte, wurde schwächer und verlöschte dann ganz. Luz schreckte zurück, sah dann aber verzückt, wie an der Oberkante der Wände Lichtstreifen erschienen.

Dazu hörte sie einen sanften Glockenschlag – ein, zwei, dreimal.

Sie stand am Rand eines großen, kreisförmigen Raums. Zweifellos ein Labor des Turms, wenn auch gänzlich verschieden von den anderen. In diesem Raum gab es mehr Metall, als sie je gesehen hatte. Stühle, Bänke, Tische und die Gitterschirme – alles aus Metall.

Vor Freude lachend klatschte sie in die Hände.

Und es war warm. Angenehm warm. Nach den vielen Langwochen voller Schnee und Kälte tat die Wärme besonders gut.

Sie zog Pullover, Wollschlüpfer und Strümpfe aus, und mit nichts weiter als ihrem dünnen Hemdchen und dem Rock bekleidet tanzte sie barfuß im Zimmer umher. Dann fand Luz heraus, daß die Stühle Rollen besaßen und sich drehen ließen, und so wirbelte sie herum, bis ihr davon schwindlig wurde.

Die Matrixgitter waren riesig, aber leer. Luz konnte sich auch kaum einen Sternenstein vorstellen, der dafür groß genug wäre. Die Energie, die sich damit erzeugen ließe, wäre nicht auszudenken. In jedes Pult war eine glatte, glänzende Schreibtafel eingearbeitet, und an einer dünnen Kette hing der dazugehörige Stift. Sie wickelte das Kettchen um ihr Handgelenk. Was für ein hübsches Armband das abgeben würde, dachte sie. Dann kritzelte sie mit dem Stift auf der Tafel und fand heraus, wie man damit schreiben konnte. Sie setzte sich hin und buchstabierte sorgfältig, wenn auch etwas ungelenk, ihren Namen: Soviel war immerhin von Calebs Unterricht hängengeblieben.

Ein lautes, schrilles Klingelzeichen setzte ein und ließ Luz auffahren. An der Wand links von ihr leuchtete ein Feld auf, und eine Stimme wiederholte fortlaufend: »ALARM! EINDRINGLING!

UNBEKANNTER ZUGRIFF! ALARM! EINDRINGLING!« In dem Lichtstreifen huschten Buchstaben von links nach rechts.

Rein äußerlich erschien Luz den meisten Erwachsenen als ziemlich dreistes Kind, das nicht so leicht zu erschrecken war. Dabei wußte sie durchaus, wie es war, wenn man sich fürchtete. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich oft genug in den Schlaf geweint. Aber diese Form der Angst, die einem die Kehle zuschnürte, war selbst ihr neu. Sie wollte schreien, kämpfte aber dagegen an.

Nur ein klägliches Winseln war zu hören. Sie verkroch sich unter einem der Tische und hielt sich beide Ohren zu. Diese Stimme, woher sie auch immer kam, schien ihr mitten ins Gehirn zu fahren.

Es wollte kein Ende nehmen, bis Luz glaubte, jetzt müsse sie schreien. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, kroch unter dem Tisch hervor und stürzte zur Tür zurück. Aber die war jetzt verschlossen, und wie sehr sie sich auch konzentrierte, sie war nicht zu bewegen. Wer konnte sich schon bei diesem Banshee-Geheul konzentrieren?

Die Stimme plärrte eine neue Warnung: »SOFORT

GEGENMASSNAHMEN EINLEITEN! STUFE VIER ERREICHT.«

Immer und immer wieder.

Luz drückte sich an die verschlossene Tür. Der Raum wurde von Minute zu Minute kälter, und auch ihre Körpertemperatur sank.

Warum kam denn niemand, um sie zu retten? Sie schrie und trommelte gegen die Tür. Plötzlich ein Knall. Luz fuhr herum und starr vor Schrecken sah sie, wie sich in dem Gitterschirm ein gespenstischer Matrixstein bildete. Bei jedem Atemzug von ihr nahm er konkretere Gestalt an. In seinen azurblauen Facetten brachen sich goldene Strahlen. Sie fror entsetzlich, aber ihre Kleider lagen auf der anderen Seite des Raums. Sie konnte sich vor Angst nicht rühren.

Der Schirm richtete sich auf und drehte sich langsam zu ihr. Was war das? Luz hätte schwören können, in dem Kaleidoskop aus Blau ein Gesicht zu erkennen. Ein gierig grinsendes Gesicht! Licht flammte auf und züngelte in ihre Richtung, schwach reflektiert von ihrem eigenen Sternenstein, den sie in einem kleinen Beutel aus Seide um den Hals trug. Sie spürte, wie der gefräßige Blick sie verschlingen wollte; ihr blieb noch Zeit für einen letzten, mentalen Hilfeschrei – dann zog die Matrixenergie sie in den Stein hinein.

Der

Schrei

erstarb.

Die

Stimme

verkündete:

»GEGENMASSNAHME DURCHGEFÜHRT. ZURÜCK ZU STUFE

EINS.« Der Lichtstreifen an der Wand wurde schwächer und verlöschte dann ganz. Die Kälte löste sich auf und die Wärme kehrte wieder. Von dem Eindringling blieben nur ein paar schmutzige Kleidungsstücke neben einem Tisch zurück.

Am Morgen nach dem Mittsommerfest herrschte Katerstimmung.

Nur wer unbedingt mußte, wie die Dienerschaft, stand auf. So dauerte es mehrere Tage, bis man Luz Valeron Verschwinden bemerkte. Die gesamte Burg wurde nach ihr abgesucht. Zwar fand man in einem unbenutzten Lagerraum die sterblichen Überreste von Lord Fergus’ Lieblingshund, aber von dem kleinen, rothaarigen Mädchen fehlte auch weiterhin jede Spur. Man dehnte die Suche auf die Stadt und schließlich auf die gesamte Umgebung aus, aber auch das blieb erfolglos. Ihr Vater kam sofort nach Thendara angereist. Er war bestürzt und aufgebracht, daß seinem ältesten Kind so etwas zustoßen konnte. Zumindest war sie nicht tot, so viel stand fest. Ihr Sternenstein wurde von den Überwachungsschirmen des Turms nach wie vor registriert. Das bedeutete auch, daß sie sich irgendwo innerhalb der Burg aufhalten mußte. Aber wo genau, konnte keiner sagen.

Jeder nahm an, daß es ein Trick war, ein Streich, den sich Luz ausgedacht hatte. Ihre Kameraden, die normalerweise mit ihr unter einer Decke steckten, wurden verhört, bis sie in Tränen ausbrachen, aber auch sie hatten keine Ahnung, wo Luz sein könnte. Schließlich gab man die Suche auf, und ihr Vater kehrte nach Valeron zurück.

Sie würde schon wieder auftauchen, wenn sie es für richtig halten würde, und keinen Tag früher.

Es waren bereits mehrere Monate seit ihrem Verschwinden vergangen, als sich ein mächtiger Wintersturm nördlich von Thendara anbahnte. Von den Schirmen konnten die Arbeiter im Turm ablesen, daß ein Schneesturm von solchem Ausmaß die ganze Stadt und ihre Umgebung lahmlegen würde. Alizias Gruppe versammelte sich im Nordturm. Unter der Leitung der Bewahrerin Alaynna wollten sie versuchen, den Sturm nach Osten in die kaum besiedelten Alton-Berge umzuleiten.

Sie begannen ihre Arbeit an einem der kleineren Matrixschirme, einem geflochtenen Holzgestell mit einem kleinen, etwa handgroßen Sternenstein. Als Überwacher bemerkte Izak Ardais die Kälte als erster. Er erkannte, daß der blaue Stein die Wärme im Raum ganz allmählich in sich aufsaugte und an den Kräften aller Anwesenden zehrte. Sein Atem kondensierte, als er versuchte, Kontakt mit dem Stein aufzunehmen. Jeder in seiner Gruppe befand sich in tiefem Rapport mit dem Stein; ihre Geistwesen rangen in der Überwelt mit dem Sturm. Eiseskälte durchfuhr Izak. Er mußte hilflos mitansehen, wie der Sternenstein gefror, einen Riß bekam und dann in tausend Stücke zersprang. Ein scharfkantiger Splitter ritzte ihm die Wange auf.

Die Kälte ließ allmählich nach. In diesem Moment hätte Izak schwören können, er habe ein kleines Mädchen lachen gehört. Ein vergnügtes, schadenfrohes Lachen. Es war absurd, aber es klang wie Luz Valeron. Aber das war unmöglich. Wie hätte sie sich im Innern des Matrixsteins befinden können?

Er schob den Gedanken beiseite und kümmerte sich um seine Freunde. Der Verlust des Sternensteins war schwerwiegend, aber zum Glück war die Rückstromenergie weniger stark als erwartet und nirgends war Feuer ausgebrochen. Als sich der erste Riß in dem Stein zeigte, löste sich auch der Rapport, wodurch Schlimmeres verhütet wurde. Sie litten alle mehr oder weniger stark an Unterkühlung, einige auch an Erfrierungen. Aus dem ganzen Turm eilten Arbeiter herbei, um ihren Kollegen zu helfen.

Einer von ihnen säuberte Izaks Schnittwunde. »Avarra sei Dank, daß der Splitter Sie nicht weiter oben erwischt hat, oder es wäre buchstäblich ins Auge gegangen. Die Wunde ist auch nicht sehr tief und muß nicht genäht werden. Wenn Sie in den nächsten Tagen nicht gerade Grimassen schneiden, wird nicht einmal eine Narbe zurückbleiben.«

Izak nickte und bedankte sich bei seinem Kollegen. Alizia saß in Decken gehüllt neben ihm und hielt eine Tasse mit heißem Jaco in der Hand. Ihre Finger hatte sie mit Taubnesselsalbe eingeschmiert.

Jetzt wandte sich Izak ihr zu. »Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Ich habe die Aktion wie immer überwacht. Und dann war da plötzlich diese Kälte hier im Raum. Als ob wir uns mitten im Sturm befänden.«

Draußen begann es zu schneien. Der Wind pfiff um Giebel und Türme der alten Burg. Alizia schaute verwirrt aus.

»Ich hab’ es noch keinem erzählt, ‘Zak, aber kurz vor der Stein zersprang und der Rapport abbrach, habe ich etwas ganz Merkwürdiges gehört. Du wirst mich für verrückt erklären, aber ich habe Luz lachen hören.«

Izak riß die Augen auf und starrte sie schockiert an.

»Du hast es also auch gehört, nicht wahr?« sagte Alizia. Er nickte.

»Alizia, wenn es Luz wirklich geschafft hat, in einen Matrixstein zu gelangen, dann sind wir vor nichts mehr sicher. Nicht auszudenken, was sie noch für Streiche spielen kann!«

Alaynna di Asturien humpelte so würdevoll, wie es die Frostbeulen an ihren Füßen zuließen, herein.

»Ich höre wohl nicht recht! Ausgerechnet ihr beiden glaubt, dieses Kind hätte den Unfall verursacht? Ihr solltet es besser wissen.

Hastur allein besitzt die Macht, in einen Matrixstein zu schlüpfen und von innen heraus zu wirken. Selbst der mächtigste Bewahrer in der gesamten Geschichte des Turm vermochte das nicht, ganz zu schweigen von einem unausgebildeten Kind. Ich verbiete euch, solchen Unsinn gegenüber anderen zu wiederholen. Habt ihr mich verstanden? Was passiert ist, war ein Unfall, nichts weiter. Wir haben die Stärke des Sturms unterschätzt. Und wir können nur froh sein, daß keiner zu Tode gekommen ist.«

Alizia und Izak waren sprachlos.

»Ich ziehe mich jetzt in meine Gemächer zurück. Und bevor ihr das gleiche tut, möchte ich, daß ihr die anderen Zöglinge befragt und herausfindet, wer heute morgen Sand in meine Schuhe gefüllt hat. Diese Kindereien müssen endlich aufhören.«

Mit diesen Worten drehte sie sich um und rauschte aus dem Zimmer. Als sie zur Tür heraus war, ertönte aus dem Nichts ein schwaches Kinderlachen. Alizia und Izak schauten sich an, dann schüttelte Alizia den Kopf.

»Ich hab’ nichts gehört. Du etwa?«

JANNI LEE SIMNER

Gleich in Leben und Tod

Janni Simner sagt von sich: »Im Gegensatz zu vielen anderen Darkover-Autorinnen ziehe ich weder Kinder groß, noch bin ich mit irgendeinem Computerprogrammierer verheiratet. Immerhin habe ich die zwei obligatorischen Katzen (eine davon mußte ich mir für diese Gelegenheit bei meiner Schwester borgen).« Alle Achtung vor so viel Anpassungsfähigkeit!

Sie arbeitet als Lektorin für Washington University Publications. Und als ob sie meine Frage »In Washington D. C. oder Seattle, Washington State?« geahnt hätte, erklärte sie, »Das ist übrigens in St. Louis.« Ihre Aufgabe besteht hauptsächlich im Redigieren von Manuskripten, aber auch im Betreuen größerer Projekte. Gelegentlich schreibt sie Artikel und Berichte für das hauseigene Mitteilungsblatt.

»Und falls bei meinem Vornamen noch irgendwelche Unklarheiten bestehen«, fügt sie hinzu, »ich bin weiblichen Geschlechts und werde im November 1990 dreiundzwanzig« Sie begann ihr Studium zunächst mit dem Hauptfach Chemie, sattelte aber dann auf Englisch um, da es schon zu viele arbeitslose Diplomchemiker gibt. Die Fähigkeit, einen druckreifen englischen Satz zu Papier zu bringen, scheint hingegen immer seltener zu werden. Ja, ja, die lieben Computer …

Darian und Ryll liefen nebeneinander durch die Felder, sprachen aber nicht, ja selbst ihre Gedanken hielten sie voreinander verschlossen. Gemeinsam war ihnen die leicht schlurfende Gangart, und im Gleichschritt berührten ihre Füße die weiche Erde.

Als die Sonne die ersten Strahlen über den Bergrücken sandte, unterbrach Darian das Schweigen. »Es tut mir leid, Bruder.«

Ryll schaute nicht auf. »Du kannst ja nichts dafür. Eigentlich sollte ich ja froh sein fortzukommen.«

»Bist du aber nicht, stimmt’s.«

»Nein. Ich habe immer noch gehofft, Vater würde mich auch etwas liebhaben.«

»Mich würde er auch wegschicken, wenn er könnte.«

»Ich weiß«, sagte Ryll und blickte neidisch auf das Kupferarmband an Darians Handgelenk.

»Cherillys Gesetz besagt, daß nur Sternensteine Unikate sind«, hatte die Amme Maura König Ridenow vor zwölf Jahren erklärt. »Alles andere, sei es nun Mensch, Tier oder Pflanze, besitzt irgendwo ein genaues Duplikat. Und nur in den seltensten Fällen ist dieses Duplikat ein Zwilling. Selbst zwischen Zwillingen bestehen normalerweise geringfügige Unterschiede.«

Der König schaute sie ungeduldig an. »Ja, ja, das begreife ich schon. Aber wer von den beiden wurde zuerst geboren?«

»Dieser hier kam zuerst zur Welt«, sagte Maura und hob einen der beiden Säuglinge hoch. Ein dünnes Kupferkettchen hing lose an seinem Handgelenk. »Aber sicherlich haben beide gleichzeitig das Bewußtsein erlangt.«

Der König betrachtete das kleine, rote Baby in Mauras Arm, dessen Bruder noch auf dem Wickeltisch lag. Die meisten Männer wären hocherfreut gewesen; seine Frau hatte ihm nicht einen, sondern zwei Söhne geschenkt. Sie war allerdings bei der Geburt gestorben, und diesen Preis war König Ridenow, im Gegensatz zu den meisten Männern, nicht einfach so bereit zu zahlen.

»Diese Kette – damit soll ich sie auseinanderhalten?«

»Jawohl, damit und …« Maura unterbrach sich. Ridenow war kopfblind. Die Gedanken seiner Kinder würden ihm immer verschlossen bleiben.

»Und was noch?«

»Ach, nichts. Das Armband muß genügen.«

»Also gut. Haltet mir die Kinder vom Leib und seht zu, daß sie keinen Ärger machen.« Ohne die Säuglinge eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ er den Raum.

Von Anfang an war die Ähnlichkeit zwischen beiden Knaben unheimlich. Sie lachten über die gleichen Witze, langten im selben Augenblick nach dem selben Stück Brot, gaben auf Fragen gleichzeitig identische Antworten.

Nur für König Ridenow bestand ein Unterschied. Wurde bei Tisch ein Glas Wein umgestoßen, schaute er immer erst nach dem Kupferarmband, bevor er reagierte. Bei Darian ließ er es bei ein paar ermahnenden Worten bewenden, aber war Ryll der Schuldige, wurde er vom Tisch verwiesen und obendrein höchstwahrscheinlich geschlagen. Zwar liebte Ridenow Darian auch nicht mehr als Ryll, aber im Fall des älteren Zwillings brachte er mehr Geduld auf.

Schließlich würde er eines Tages die Domäne führen und mußte darauf sorgfältig vorbereitet werden.

Am liebsten hätte Ridenow Ryll sofort in Pflege gegeben, sobald dieser laufen konnte. Aber der König hatte es sich mit den meisten anderen Adelsfamilien verdorben, und die Spannungen zwischen ihm und Syrtis ließen erst leicht nach, als die Zwillinge bereits zwölf waren. Ridenow ergriff sogleich die Gelegenheit und arrangierte, Ryll nach Syrtis zu schicken.

»Schau nicht so finster drein«, fuhr König Ridenow Ryll an, als die Zwillinge von ihrem Spaziergang zurückkehrten. Daß Darians nachdenkliche und traurige Miene Rylls Gesichtsausdruck wiederspiegelte, entging dem König.

Ryll rannte verärgert davon. Ich wünschte, ich wäre der Erstgeborene.

Ich wünschte, ich hätte die Kupferkette an meinem Handgelenk. Ich wünschte … Ein furchtbarer Gedanke stieg in ihm auf. Er verlangsamte seinen Schritt und ging jetzt sehr bedächtig zur Küche.

Darian musterte beim Mittagessen seinen Zwillingsbruder eindringlich. Ryll hatte sich schon den ganzen Tag hinter seinen Gedankenbarrieren verschanzt. Ich kann es ihm noch nicht einmal übel nehmen. Es ist einfach ungerecht. Wir sind uns doch so ähnlich, Ryll und ich. Obwohl ich es nicht so ruhig hinnehmen würde. Wäre ich an seiner Stelle, ich würde schon dafür sorgen, daß man mich nicht wegschickt.

Selbst wenn es auf Rylls Kosten geschehen müßte.

Darian schenkte sich noch ein Glas Wein ein. Es überraschte ihn, daß die Wände keineswegs so festgefügt und lotrecht erschienen. Er versuchte aufzustehen, aber der Boden schwankte und seine Beine ließen ihn im Stich. Ryll beugte sich über ihn, und in seinem Gesicht war so wenig zu lesen wie in seinen verbarrikadierten Gedanken.

Das Zimmer begann sich vor Darians Augen zu drehen, dann wurde es dunkel.

Ridenow wußte, daß es Ryll unglücklich machte, in Pflege gegeben zu werden. Dennoch war er erstaunt, daß der Junge sich jetzt aufs Lügen verlegte.

»Ich bin nicht Ryll; ich bin Darian. Könnt Ihr das nicht erkennen?«

Ist Ryll wirklich so dumm zu glauben, er könne mich ohne Darians Armband derart täuschen? Ich mag vielleicht kopfblind sein, aber ich habe immer noch Augen, um zu sehen. Er will sicherlich nur ausnützen, daß sein Bruder heute nachmittag in die Berge ausgeritten ist.

Mit Hilfe mehrerer Diener zwang Ridenow seinen Sohn aus dem Haus.

Dort werde ich auf keinen Fall bleiben, beschloß Darian auf dem Weg nach Syrtis. Ich werde fortlaufen, werde ein Geächteter. Und wenn es sein muß, werde ich mein Geburtsrecht mit Gewalt wiedererlangen. Solche Gedanken waren nicht einmal so weit hergeholt. Es gab zahlreiche Legenden über Söhne, die etwas Vergleichbares getan hatten. Aber Darians Entschluß geriet bereits am ersten Tag in Syrtis ins Wanken, als der König ihn in seine Privatgemächer bat. König Ridenow hatte Darian oft genug in ähnlicher Weise zu sich berufen, um ihn in Fragen der Führung und Verteidigung der Ländereien, die er eines Tages erben sollte, zu unterweisen.

Syrtis begrüßte Darian mit einem Lächeln. »Wie war die Reise?«

erkundigte er sich.

Darian wollte gereizt erwidern, besann sich aber eines Besseren.

Wenn er wirklich davonlaufen wollte, würde es seine Flucht nur erschweren, wenn er sich störrisch und unglücklich zeigte. »Danke, sehr angenehm. Das Wetter war gut und der Wind stand günstig.«

»Ich freue mich, daß du bei uns bleiben wirst«, meinte Syrtis. »Du weißt vermutlich, daß ich selber keine Söhne habe.«

Und mein Vater hat genau einen Sohn zu viel, dachte Darian verbittert, unterdrückte aber den Gedanken sofort. König Syrtis war nicht kopfblind; anders als sein Vater konnte er Gedanken lesen.

Aber der König schien nichts bemerkt zu haben. »Wenn du irgend etwas brauchst, dann laß es mich bitte wissen. Du bist mir in meinem Haus willkommen.«

König Syrtis’ Güte verunsicherte Darian. Sein eigener Vater hatte sich ihm gegenüber zwar nie so grausam wie zu Ryll gezeigt, war aber stets kühl und sachlich geblieben. Ich werde wohl doch ein wenig hier bleiben. Später wird noch genug Zeit sein, mein Geburtsrecht zu beanspruchen.

Seine wahre Identität behielt er aber für sich. Sein Vater hatte sich geduldig gezeigt, weil er Darian, der Erstgeborene, war. Wenn Syrtis freundlich zu ihm war, weil er ihn für Ryll hielt, sollte es ihm nur recht sein.

Ganz gegen seine Erwartung fühlte sich Darian in Syrtis wohl. Der König behandelte ihn, als ob er zur Familie gehörte. Sein Vater hatte ihm dagegen immer das Gefühl vermittelt, im Weg zu sein, selbst wenn er sich im entlegensten Winkel der Ridenow-Burg verkroch.

Darian durfte ungehindert Burg Syrtis und die Umgebung erkunden. In den Ausläufern der Kilghard-Berge fand er einen Felsvorsprung, von dem aus er zu den Ridenowschen Besitzungen hinüberschauen konnte. Hier konnte es geschehen, daß er König Syrtis’ wohlwollende und verständnisvolle Art vergaß und es zuließ, daß der alte Zorn wieder in ihm aufstieg. Wenn er so nach Ridenow blickte, fragte er sich, ob sein Vater nun Ryll in Ackeranbau und Verwaltung der Domäne unterrichtete, ohne die Veränderung zu bemerken.

Darian wollte es herausfinden. Er lehnte sich an den Fels zurück und schloß die Augen. Sein Geist löste sich von seinem Körper und flog nach Hause.

Ryll saß auf der Bettkante – auf Darians Bett! – und reinigte sein Schwert. Überrascht sah er auf, als er Darians Anwesenheit bemerkte. Und einen Augenblick lang schien es so, als ob er aufstehen und seinen Bruder umarmen wolle. Dann aber schreckte er zurück.

»Was willst du hier?« fragte er mit versteinerter Miene.

»Das ist mein Zimmer«, entgegnete Darian. »Oder hast du das schon vergessen?«

»Es hilft dir wenig, hier herumzugeistern. Deswegen wirst du noch lange nicht zurückkehren können.«

»Quält dich denn dein Gewissen überhaupt nicht, daß du mich verdrängt und meinen Platz eingenommen hast?«

»Nein, denn ich weiß, daß Du genauso gehandelt hättest.«

Darian holte aus, wollte seinem Bruder dafür ins Gesicht schlagen, mußte aber erkennen, daß dies bei der rein geistigen Anwesenheit nicht möglich war. Ryll erhob sich vom Bett.

»Verschwinde aus meinem Zimmer!« Er versuchte, seine Stimme ruhig zu halten, aber seine Gesichtsfarbe verriet die innere Erregung. Darian erwiderte den Blick herausfordernd; er schäumte vor Wut. Vielleicht hätte er sich nicht so sehr von seinen Emotionen leiten lassen sollen, sagte er sich später. Hätte er einen klaren Kopf behalten, hätte er womöglich erkennen können, daß Ryll ihm nur etwas anhaben konnte, wenn er sich schwach zeigte. So aber stieß Ryll Darian aus der Zimmertür. Und da Darian das Imaginäre der Situation vergaß, stürzte er tatsächlich – zunächst zurück in seinen Körper und dann real von dem Felsvorsprung herab. Er spürte noch, wie sein Körper auf dem Fels aufschlug; dann wurde alles schwarz vor seinen Augen.

Darian wußte nicht, wie lange er bewußtlos dagelegen hatte.

Fieberträume schüttelten ihn immer wieder – quälende Bilder vom Fallen, von zersplitternden Knochen und von einer Hand, die versuchte, die Knochen wieder zusammenzufügen. Auch deren Dauer konnte er nicht einschätzen. Er wußte nur, daß König Syrtis mit besorgter Miene auf ihn herabblickte, als er endlich erwachte.

»Wie geht es dir?« erkundigte sich der König.

»Mein Bein schmerzt.«

»Ich weiß. Der Laranzu meint, daß die Splitterfraktur derart kompliziert war, daß er sie wahrscheinlich nicht völlig heilen konnte. Du wirst wieder gehen können, aber ein leichtes Hinken wird wohl zurückbleiben. Und du wirst nie mehr richtig laufen können.«

Darian zwang sich zu einem Lächeln. »Ihr wollt sicherlich wissen, wie das passiert konnte.«

»Ich weiß, wie es passiert ist«, erwiderte Syrtis. Darian fuhr erschrocken hoch, und zuckte vor Schmerzen zusammen, als er die Streckgewichte an seinem Bein spürte.

Syrtis bettete ihn wieder behutsam auf das Krankenlager. »Deine Barrieren waren gesenkt, als du im Delirium lagst«, erklärte der König.

»Dann wißt Ihr auch, daß – «

»Jawohl.«

»Seid Ihr mir sehr böse?«

»Weshalb sollte ich dir böse sein?«

»Weil ich Euch getäuscht habe. Ich bin nicht der, für den Ihr mich gehalten habt.«

Syrtis wollte lachen, beherrschte sich aber, als er sah, wie ernst es Darian war.

»Ich schätze dich um deiner selbst willen, nicht wegen deines Namens. Begreifst du denn nicht, daß ich dich wie einen Sohn liebe?

Oder bist du zu sehr damit beschäftigt, dein Geburtsrecht wiederzuerlangen, um das erkennen zu können?«

Darian schaute ihn verwundert an.

»Ich wollte es dir eigentlich erst später sagen, wollte Dir noch Zeit lassen, bis du gelernt hast, mich zu lieben, so wie ich dich liebe.«

»Aber ich liebe Euch, Pflegevater.«

»Nenne mich bitte Vater.«

»Vater!«

»Darian Ridenow, möchtest du mein Sohn und Erbe sein?«

»Erbe? Erbe von Syrtis?« König Ridenow tobte. Ryll trat humpelnd an die Seite seines Vaters – er hatte sich die Verwundung vor einigen Wochen bei einer Messerstecherei mit einem Jungen aus der Dienerschaft zugezogen, und die Wunde war nie ganz richtig verheilt – und las die Botschaft. Er nickte zustimmend: Es war ungeheuerlich. Gleichzeitig war er aber auch erleichtert. Dann habe ich meinen Bruder also doch nicht um sein Erbe gebracht.

Aber davon erfuhr Ridenow, wie immer kopfblind, nichts. Er wütete weiter. »Er ist mein Sohn. Wenn Syrtis an ihn fallen soll, muß es erst einmal mir gehören.«

Was regt er sich so auf? Er braucht seinen zweiten Sohn nach der Pflegschaft nicht wieder aufzunehmen. Das war es doch, was er immer wollte.

»Das ist eine Beleidigung, die ich nicht hinnehmen werde. Ich erkläre Syrtis den Krieg.« Ridenow hatte sich derart in Rage geredet, daß er erst einmal tief Luft holen mußte. Dann wandte er sich, jetzt ganz ruhig, an seinen Sohn. »Schon in einer Langwoche wirst du an meiner Seite in die Schlacht reiten.«

Ryll nickte gehorsam und war froh, daß sein Vater seine Gedanken nicht lesen konnte.

Darian befand sich auf dem Beobachtungsturm der Burg. »Männer mit Ridenows Standarten«, verkündete er.

»Dann werden wir deine Verwandten selbstverständlich gebührend empfangen.« Syrtis hatte wie immer freundlich gesprochen, aber sein eisiger Blick ließ Darian vermuten, daß sein Pflegevater die Gastfreundschaft nur widerwillig gewährte. »Was kannst du sonst noch erkennen?« fragte der König.

Mit seinem Laran überprüfte Darian die heranrückenden Männer.

»Eine große Anzahl. Und sie sind mit Schwertern und Pfeilen bewaffnet. Es sieht nicht so aus, als ob mein Vater nur einen Höflichkeitsbesuch bei einem Sohn, den er nicht liebt, beabsichtigt.«

In unmittelbarer Nähe der Burg konnte Darian einen berittenen Boten herangaloppieren sehen; wahrscheinlich ein Grenzwächter, der die Nachricht vom Aufmarsch des Heeres überbrachte.

»Dann zwingt dein Vater uns also zum Kampf«, erklärte Syrtis.

Trotz des besorgten Tonfalls konnte Darian heraushören, daß sein Pflegevater diesen Kampf keinesfalls scheute. Und dann fragte Syrtis ihn: »Bist du noch immer auf deinen Bruder wütend?«

»Ja«, erwiderte Darian mit finsterer Miene.

Syrtis legte seinen Arm sanft um Darians Schultern. »Was hältst du davon, dich endlich an ihm zu rächen?«

Ridenow verließ sich darauf, daß sein Besitz größer und seine Truppen stärker waren als die von Syrtis. Womit er nicht gerechnet hatte, war die Macht von Syrtis’ Laran. Die Syrtispfeile, obwohl nicht sehr zahlreich, prasselten alle mit Haftfeuer auf die Angreifer nieder; und die Leroni von Syrtis schlugen Ridenows Männer mit Phantomgestalten in die Flucht, die der kopfblinde König noch nicht einmal sehen konnte. »Unterstützt mein Sohn sie mit seinen Kräften?« fragte er sich. »Wird er gegen mich aufgehetzt?«

»Darian«, beorderte Ridenow Ryll zu sich. »Darian, kämpft dein Bruder gegen uns?«

»Ich weiß es nicht, Vater.«

»Dann benütze gefälligst dein Laran. Erzähl mir nicht, du könntest die Gedanken deines Bruders nicht lesen.«

Ryll trat unsicher von einem Fuß auf den anderen.

»Seit Ihr ihn nach Syrtis fortgeschickt habt, hat er sich mir gegenüber hinter seinen Barrieren verschlossen.« Bis vor wenigen Tagen hatte Ryll noch angenommen, nur er habe diese Gedankenbarriere errichtet. Aber nachdem Darian zum Erben von Syrtis ernannt worden war, hatte Ryll versucht, ihn zu erreichen, da er glaubte, der alte Streit ließe sich jetzt begraben. Er konnte jedoch Darian nicht finden, und starke Kopfschmerzen zwangen ihn schließlich, den Versuch abzubrechen.

»Dann mußt du eben seine Barrieren niederreißen«, forderte Ridenow, als ob dies das Natürlichste auf der Welt sei.

Ryll antwortete nur zögernd, und Ridenow bemerkte nicht, wie sehr er zitterte. »Das kann ich nicht.«

»Ich frage dich nicht, ob du es kannst. Ich befehle dir, es zu tun.

Oder willst du dich mir widersetzen? Vielleicht liegt dir ja an deinem Erbe gar nicht so viel?«

Unter dieser Drohung gab Ryll nach. »Also gut, ich werde mein Möglichstes tun.«

Ridenow lächelte triumphierend. »Aber ganz gewiß wirst du das.«

Ryll und sein Vater suchten sich einen Platz abseits vom Kampfgetümmel. »Ich kann unmöglich mit ihm Kontakt aufnehmen, wenn Ihr so dicht hinter mir steht«, fauchte Ryll seinen Vater an. Nachdem Ridenow zurückgetreten und sich unter einem Baum niedergelassen hatte, sandte Ryll seine Gedanken zur Burg.

Ohne Schwierigkeiten eilte er die Treppen zum Balkon hinauf, von dem aus sein Bruder allein die Schlacht verfolgte.

Der Kontakt ließ sich leicht herstellen; schließlich war ihm Darians Gedankenwelt so vertraut wie seine eigene.

»Darian?« Ryll näherte sich ihm vorsichtig an, erwartete fast schon, abgewiesen und in hohem Bogen zu seinem Vater zurückgeschleudert zu werden. Aber Darian empfing ihn ohne Vorwürfe.

»Ich bin froh, daß du gekommen bist«, begrüßte er ihn. »Sonst hätte ich dich aufgesucht.«

»Dann – dann bist du mir also nicht mehr böse? Aber warum hattest du dich dann hinter deinen Barrieren verschanzt?«

»Doch nur, weil ich Angst vor dir hatte; du hast mich mit solcher Gewalt aus meinem Zimmer geworfen. Aber jetzt bin ich hier glücklich.«

»Stimmt das auch?«

»Aber ja! Wie du selber richtig gesagt hast, ich hätte das gleiche getan. Wie könnte ich es dir da nicht verzeihen? Wir sind und bleiben uns doch so gleich.«

Ryll konnte nicht fassen, daß Darian ihm so leicht vergeben hatte.

Ich an seiner Stelle hätte meinen Zorn nicht so schnell vergessen. Ich hätte alles mögliche gegen ihn unternommen.

Jemand stand jetzt hinter Darian. Ryll hatte nicht bemerkt, wie er auf den Balkon getreten war. Oder war auch das nur eine Gedankenerscheinung?

»Wer ist das, Bruder?«

»Mein Pflegevater, Ryll.«

»Ach so.« Instinktiv zog sich Ryll zurück.

»Er hat mich sehr gut behandelt.«

»Ich … ich muß jetzt zurück zu unserem Vater«, entschied Ryll plötzlich. »Soll ich ihm irgend etwas von dir ausrichten?«

»Nein, danke, ich glaube nicht, daß das nötig sein wird.«

Ryll drehte sich um und wollte davonrennen.

»Warum die Eile?« rief ihm Darian hinterher. »Du willst schon wieder gehen, nachdem wir so lange getrennt waren?«

König Syrtis’ Arm wurde mit einem Mal lang und länger, griff nach Rylls fliehender Gestalt, packte ihn bei der Gurgel und würgte ihn. Darian warf lachend den Kopf zurück und erklärte höhnisch.

»Jetzt wiederhole bitte noch einmal, daß du das Recht hattest, mich um mein Erbe zu bringen und mich von dem Felsen zu stoßen.«

Ryll versuchte zu antworten, brachte aber nur ein heißeres Krächzen hervor. Er griff sich an die Kehle, doch seine Hände erschlafften ebenso wie sein Geist. Darian lachte erneut. Diesmal bist du es, Ryll, der die Illusion für wahr hält und die Schmerzen erleidet. Ich danke Euch, Vater, daß Ihr mir zu meinem Recht verholfen habt.

Syrtis erwiderte den Gedanken nicht; mit beiden Händen hielt er Rylls Herz umfangen. Darian stürzte seinem Pflegevater zur Seite.

»Aber Vater, was macht Ihr da?«

»Rache für dich, wie ich es versprochen habe. Und Rache für mich an dem anmaßenden König, der mein Land begehrt.«

»Aber Ihr solltet Ryll doch nur einen Schrecken einjagen. Es war nie davon die Rede, ihn zu töten!«

Syrtis preßte Rylls Herz, bis das Blut herausschoß und auf den Boden des Balkons tropfte. Und obwohl Darian wußte, daß es kein echtes Blut war, wich er entsetzt bis an den äußersten Rand der Brüstung zurück.

Und dort traf ihn ein verirrter Pfeil, durchbohrte sein Herz.

Ein Schrei – von Darian, oder von Ryll, oder von beiden.

Hatte Syrtis den Schrei überhaupt gehört? Jedenfalls reagierte er nicht darauf. Er preßte Rylls Herz immer fester, bis auch der letzte Blutstropfen aus ihm gewichen war. Die erschlaffte Gestalt des Jungen entglitt seinem eisernen Zugriff und sank in einen leblosen Körper zurück, über den sich Ridenow beugte und vergebens hoffte, in die bleichen Wangen seines Sohnes möge Farbe zurückkehren. Im wilden Schmerz über den Verlust stürmte Ridenow die Burg und verlangte, daß Syrtis seinen anderen Sohn, den einzig verbliebenen Erben, ausliefern sollte.

Er konnte nicht wissen, daß zur gleichen Zeit, da er vermeintlich auf Ryll wartete, Syrtis fassungslos Darian anstarrte, der reglos auf den kalten Steinplatten lag. Syrtis kniete sich neben dem Jungen nieder und hoffte wider aller Vernunft auf ein Lebenszeichen. Doch kein Atemzug entwich seinen leicht geöffneten Lippen, und so blieb Darians letzter Gedanke unausgesprochen.

Wir sind und bleiben uns doch so gleich.

DOROTHY J. HEYDT

Avarras Kinder

Zu jeder Geschichte, die ich veröffentlichen will, mache ich mir eine kleine Notiz als Gedächtnisstütze für meine Einleitung. Zu dieser hier schrieb ich nur den einen Satz: »Eine Erzählung, die ich selber gerne geschrieben hätte.« Für Dorothy Heydts Prosa gehen mir allmählich die Superlative aus. Wir fingen beide in Berkeley mit dem Studium an, aber unsere Wege trennten sich, als die ersten Kinder kamen, und entwickelten sich in ganz unterschiedliche Richtungen. Während ich meine Zeit zwischen Kindererziehung und dem Schreiben aufteilte, zog sie es vor, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und die Erziehung ihrer Kinder anderen zu überlassen. Dennoch haben sich, alles in allem, ihre Kinder genauso prächtig entwickelt wie meine. Und das bestätigt nur wieder ein Zitat von Rudyard Kipling:

»Es gibt vierzigtausend Arten, Stammesweisen zu gestalten, und jede Art hat ihren Platz.«

Mir fällt es besonders schwer, dies zuzugeben, denn wie alle rechthaberischen Leute neige ich zu der Auffassung, daß meine Methode die einzig wahre und richtige sei. Dennoch hat es natürlich etwas für sich, die Dinge so unterschiedlich wie möglich anzugehen und dann darüber auch noch Darkover-Geschichten zu schreiben.

Dorothy hat bereits in vier vorangegangenen Darkover-Anthologien sowie in einigen anderen meiner Geschichtensammlungen Beiträge veröffentlicht. Wer über ihre Person mehr erfahren will, kann dies dort nachlesen. Ich wiederhole mich nur ungern.

Für jeden Taschendieb auf Darkover, der sein Handwerk auch nur einigermaßen verstand, war ein terranischer Raumreisender das reinste Himmelsgeschenk. Zum einen trugen sie ihr Geld bündelweise mit sich herum – und das war wörtlich zu verstehen, denn die Terraner benutzten Geldscheine aus Papier, die inzwischen schon mehr wert waren als die Kupfermünzen in Thendara. Zum anderen bewahrten sie es meistens in einer Stofftasche auf, die über das Gesäß geschnallt wurde und viel leichter abzutrennen war als die einheimischen Gürteltaschen aus Leder. Es war eine ausgemachte Gemeinheit, daß dieser spezielle Raumfahrer hier seine Tasche nach vorne gezogen hatte und über dem Bauch trug.

Da er nun aber einmal auf dem Marktplatz stand, die Comyn-Burg auf dem Hügel vor ihm bewunderte und alles um sich herum vergessen zu haben schien, war es wohl einen Versuch wert.

Daß dieser Raumfahrer darüber hinaus auch noch blitzschnell reagierte und kräftig zupackte, war schon mehr als Pech. Der Junge wand sich, aber Donald Stewart behielt ihn fest im Griff und musterte ihn überlegen und daher milder gestimmt von Kopf bis Fuß.

»Was hast du dir dabei gedacht?« wollte er wissen. »Immer schön ruhig, Bursche. Du hast es doch nicht nötig, andere zu beklauen.

Wie heißt du?«

Aber der Junge fluchte nur ordinär und trat Donald mit aller Wucht vors Schienbein, wodurch er sich befreien konnte. Der Terraner, nun alles andere als milde gestimmt, rannte ihm hinterher, sprang über einen Holzzaun, unter dem sich der Junge hindurchgezwängt hatte, und bahnte sich seinen Weg durch einen Trupp von Raumsoldaten, ohne seine Zeit mit einem höflichen

»Entschuldigen Sie bitte« zu verschwenden.

Der Marktplatz von Thendara füllte sich allmählich wieder mit Leben. Die monatelange Wirtschaftsdepression auf ganz Darkover und die Zeit der anarchischen Zustände, die mit dem denkwürdigen Staatsstreich in der Festnacht ihren Höhepunkt gefunden hatte, schienen überwunden. Die Tuchhändler hatten ihre Stoffballen wieder ausgelegt, auch Brot wurde wieder täglich gebacken und die Rationierung würde wahrscheinlich innerhalb der nächsten Woche aufgehoben werden. Sogar ein Goldschmied hatte sich an diesem milden Frühlingstag auf den Markt gewagt und ein Schaukästchen mit Ringen aufgebaut, die unter der rötlichen Sonne wie Kohle im Feuer glühten. Aber noch befanden sich keine Kunden an seinem Stand, den er hastig zusammenpackte, als der Junge, dicht gefolgt von dem wütenden Terraner, vorbeistürzte. Sie umkurvten noch den Stand des Zwiebelverkäufers und verschwanden dann in einer Seitengasse.

Hier war es dunkler, das Pflaster unsicherer, und Donald glaubte schon, er habe den Missetäter aus den Augen verloren. Aber als er erneut um eine Ecke bog, wäre er fast mit ihm zusammengestoßen.

Ein Mann in einem unscheinbaren, grauen Wollgewand hielt das Kind, zwischen seinen Beinen eingeklemmt, fest. Donald schaute ihn prüfend an, während er noch nach Atem rang.

Trotz der darkovanischen Kleidung war er zweifellos ein Terraner: großgewachsen und schlank, mit glatter, goldbrauner Haut. »Hat er Sie bestohlen?« fragte der Mann.

»Versucht hat er’s jedenfalls. Sie kennen den Burschen?«

»Ich hab’ ihn schon öfters rumstromern sehen. In der Stadt gibt es viele Kinder ohne richtiges Zuhause.« Zu dem Jungen gewandt sagte er: »Jetzt hör mir gut zu. Ich werde dich mit zu mir nach Hause nehmen. Dort können wir über alles reden. Ich heiße Peter Yoshida. Und wie heißt du?«

Das Kind sah ihn erstaunt an. »Wie viel?« Der große Mann lachte nur.

»Reichtümer kann ich dir nicht bieten, aber es gibt was zu essen.

Möchten Sie sich uns anschließen, Sir?«

»Sehr gerne«, erwiderte Donald. Er unterstellte dem Mann keine unlauteren Motive, aber dennoch konnte es nichts schaden, sich selbst davon zu überzeugen. Unter dem grauen, abgenutzten Mantel glaubte Donald etwas erspäht zu haben, das ihm zwar bekannt war, ihn aber gleichzeitig auch beunruhigte. Und so folgte er den beiden.

Yoshida wohnte nicht weit vom Marktplatz entfernt in einer schäbigen Holzhütte, die sich mit den Jahren immer mehr zur Seite geneigt hatte, bis sie das angrenzende größere Haus fast berührte.

Der einzige Raum diente gleichzeitig als Wohnzimmer und Küche; eine Leiter an der Rückwand führte zu der Schlafstätte unter dem Dach. Yoshida schloß die Tür hinter ihnen zu. Er nahm Donald dessen Jackett ab und hängte es ebenso wie seinen Mantel an einen Haken an der Wand. Donalds Verdacht bestätigte sich. Unter dem Wollkasack trug der Mann einen Priesterkragen und ein Kreuz.

Donald hatte bereits von den Gerüchten gehört, daß Missionare nach Darkover kommen sollten. Er selbst hatte seit seinen Kindertagen für Religion nicht viel übrig, aber er versuchte zumindest, höflich zu bleiben. Ansonsten wusch er seine Hände in Unschuld.

Yoshida brachte einige in Folie eingeschweißte Wurstbrötchen, die noch von Terra stammen mußten, auf den Tisch; dazu gab es darkovanisches Brot. Und das Bier, das er Donald servierte, schmeckte auch wieder; anscheinend hatten die Brauereien das Schlimmste überstanden. Der Junge hatte zuerst noch etwas argwöhnisch die ungewohnte Kost begutachtet, aber schon bald stopfte er alles in sich hinein, was man ihm vorsetzte. Er war kaum älter als sieben oder acht Jahre und hätte ein paar Pfund mehr auf den Rippen gut vertragen können. Andererseits sah er nicht gänzlich ausgehungert aus – nicht wie die Elendsgestalten, die Donald in den Bergen gesehen hatte. Irgend jemand mußte sich in letzter Zeit um ihn gekümmert haben.

»Ich weiß noch immer nicht, wie du heißt«, meinte Yoshida, als der Junge seinen gröbsten Hunger gestillt hatte.

»Anndra.«

»Und wie weiter?«

»Gar nichts weiter. Nur Anndra. Glauben Sie etwa, ich würde mir den Namen meiner Mutter zulegen, wie es die Töchter der Entsagenden tun?«

»Nein, natürlich nicht«, beschwichtigte Yoshida ihn. Er und Donald schauten sich verblüfft an. Es war ungewöhnlich, daß der kleine Junge die offizielle Bezeichnung ›Entsagende‹ und nicht den viel gebräuchlicheren Namen ›Freie Amazone‹ verwendete. Für sein Alter besaß er einen erstaunlichen Wortschatz. Er beherrschte die Handelssprache Thendaras fließend und schmückte sie mit kräftigen Schimpfwörtern auf Cahuenga und einigen Brocken Terra-Standard aus.

»Wo hast du früher gelebt?«

Der Junge kaute noch immer auf beiden Backen; er zuckte nur mit den Achseln.

»Ich würde gern ein Heim für diese Straßenkinder gründen«, erklärte Yoshida. »Traditionellerweise hat sich auf diesem Planeten immer die Verwandtschaft der Hinterbliebenen und Bedürftigen angenommen, und irgendwie kamen sie zurecht. Aber nach der großen Hungersnot und den vielen Aufständen haben diese Kinder oft überhaupt keine Verwandte mehr – zumindest niemanden, der bereit wäre, sie aufzunehmen. Einige von ihnen stammen aus Verbindungen mit Terranern, wie zum Beispiel unser Freund hier.

Andere sind Söhne von Entsagenden und müssen daher das Gildehaus im Alter von fünf Jahren verlassen – und das halte ich so ziemlich für den ungeeignetsten Zeitpunkt, um Mutter und Kind voneinander zu trennen. Er deutete auf ein Bild an der Wand, das eine Frau in einem langen, blauen Umhang auf einer blumenübersäten Wiese zeigte. Auf ihrem Schoß hatte sie ein Baby, und ein Dutzend oder mehr Kinder aller Altersstufen scharten sich um sie. »Deshalb möchte ich eine Art offene Anstalt einrichten, einen Ort, an dem sie etwas zu essen bekommen, ohne stehlen zu müssen, und eine Begegnungsstätte, wo sie den Umgang mit anderen wieder lernen können. Die Mittel dazu habe ich bereits, die Schwierigkeit besteht jetzt darin, ein passendes Haus zu finden.«

»Aber in der Stadt gibt es doch genug leerstehende Häuser …«

»… deren Besitzer aufs Land geflohen oder verstorben sind, und kein Mensch weiß, wer die Erben sein könnten. Hier gründet sich doch alles auf Familienbande und mündliche Überlieferungen. Es gibt keinerlei schriftliche Aufzeichnungen! Manchmal wünschte ich mir unsere gute terranische Bürokratie hierher.«

»Vielleicht kann ich ihnen helfen«, meinte Donal. »Ich stehe in Diensten einer Frau, die gute Verbindungen zu Lord Regis Hastur besitzt. Ich werde sie fragen, ob sich etwas für Sie tun läßt. Es müßte eigentlich gehen.«

Anndra schleckte sich die Finger ab. Er war vom Tisch aufgestanden und ging jetzt zu dem Bild hinüber, das Yoshida aufgehängt hatte. »Wer ist das? Ist das Lady Evanda?«

»Nein, mein Junge«, erklärte der Priester ihm. »Sie heißt Maria, und einst war sie die Tochter eines armen Mannes, aber jetzt ist sie die Himmelskönigin und Mutter aller Menschen.«

»Also meine Mutter ist sie ganz bestimmt nicht.« Der Junge spuckte verächtlich aus. »Ich gehöre der Mutter Avarra.« Diese Äußerung überraschte die beiden Erwachsenen, und als der Junge dies bemerkte, nutzte er die Gelegenheit zur Flucht. Ehe sie es sich versahen, war er zur Türe hinaus.

»Ich werde dich zu nichts zwingen, wozu du nicht bereit bist«, erklärte Marguerida. »Das könnte ich auch gar nicht, selbst wenn ich es wollte. Wir befinden uns hier in deinem Haus.« Sie saßen in der Eingangshalle des Thendara-Gildehauses, wo bereits ein reges Kommen und Gehen herrschte. »Du könntest jederzeit hineingehen und ein Dutzend deiner Schwestern rufen, um mich hinauszuwerfen.«

»Meine Schwestern und ich werden uns hüten, Hand an eine Bewahrerin zu legen«, entgegnete Raquel n’ha Mhari, konnte aber ein flüchtiges Lächeln nicht unterdrücken; sie schien jetzt etwas entspannter zu sein. »All die Narren, die so etwas tun würden, haben sich auf die Burg zurückgezogen. Glauben die wirklich, Laran bei einer Frau aus den Bergen zu finden, deren Vorfahren seit Menschengedenken immer nur Nüsse angebaut haben?«

»Das ist schon lange her«, meinte Marguerida. »Solche Gaben werden heute nicht mehr nur vererbt, und dafür danke ich den Göttern. Ich selbst bin eine geborene Elhalyn, deren Gabe, auf vielfältige Weise in die Zukunft zu blicken, die Träger dieser Gabe mehr als einmal in den Wahnsinn trieb. Ich bin alles andere als unglücklich, daß diese Fähigkeit bei mir nicht mehr so ausgeprägt ist. Von dir sagt man, du seist eine Spurenleserin und du könntest Dinge aufspüren, wonach die Götter selbst vergebens suchen würden. Man hat mir viele Beispiele dafür berichtet, ob es nun die Bettlerin war, deren Kind du im Wald wiedergefunden hast, oder der entflohene Mörder eines terranischen Offiziers, den du in der Spülküche des Offizierskasinos entdecktest. Hast du dich nie gefragt, wie es kommt, daß ausgerechnet du dazu fähig bist? Und bist du nicht wenigstens ein bißchen neugierig? Es wird dich höchstens eine Stunde deiner Zeit kosten. Falls sie dann nichts gefunden haben, kannst du ins Gildehaus zurückkehren; und falls sie etwas finden, dann um so besser. Lord Regis zwingt keinem etwas auf. Sollte er es doch tun, werden ich und die Lady Desideria einschreiten.«

Raquel hatte Marguerida von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick zugeworfen und dazwischen mit der Fußspitze nervös die Risse zwischen den Steinfliesen nachgezeichnet – wäre sie ein Pferd gewesen, sie hätte mit den Hufen gescharrt. Aber bei dem letzten Satz lachte sie.

Die Tür zur Straße öffnete sich, und eine ganze Kinderschar stürmte herein. Die beiden Schwestern, die den wilden Haufen beaufsichtigen sollten, waren sichtlich froh, endlich wieder zu Hause zu sein. Die meisten der Kinder trugen kleine Bündel unter dem Arm, und alle schrien lauthals durcheinander; Mädchen aller Altersstufen, während die Jungen nicht älter als fünf waren. Raquel hielt sich die Ohren zu und stand auf. »Hier wird’s mir zu voll. Gut, ich werde mit Euch gehen.«

»Wenn es stimmt, was ich gelesen habe«, erklärte Pater Yoshida, als sie aus der Seitengasse auf den Marktplatz bogen, »gab es früher eine Priesterinnenkaste, die der Göttin Avarra geweiht war. Es war ein kontemplativer Orden, der sich auch der Heilkunst widmete.

Später dann, unter Varzil dem Guten, öffnete sich der Orden mehr und mehr weltlichen Dingen und ging schließlich in der Schwesternschaft vom Schwert auf.«

»Soviel ich gehört habe, legen die Entsagenden noch immer ein Gelübde auf die Göttin ab«, ergänzte Donald, »auch wenn sie Avarra nicht mehr namentlich anrufen.«

»Auf jeden Fall glaube ich kaum, daß diese frommen Frauen Taschendiebe unterstützt hätten. Aber in diesen harten Zeiten sieht es vielleicht anders aus.« Yoshida wich geschickt einem mit Dung beladenen Karren aus, der auf einem Rad über das Marktpflaster holperte. Dann nahm er das Gespräch wieder auf. »Da drüben ist es!

Sehen Sie das Ziegeldach hinter dem Laden des Flickschusters? Das ist das Haus, das mir vorschwebt. Es gehörte einem reichen Großhändler namens Bran mac Adhil, der letztes Jahr an der Seuche gestorben ist. Die Erben sind unauffindbar … Was ist? Was haben Sie?«

»Ich habe gar nichts«, sagte Donald. »Aber schauen Sie einmal dort rüber.« Die Menschenmenge teilte sich und gab einen Weg frei; Leute traten eilig zurück und Händler zogen Säcke, Ziegen und Gehilfen beiseite, damit nichts und niemand den Robensaum der Bewahrerin berührte. Eine kleine Frau mit dem dunklen, kurzgeschorenen Haar einer Entsagenden folgte ihr auf dem Fuß und blickte sich beständig um, wobei sie ihre Rolle sichtlich genoß.

Sie trafen sich auf der Mitte des Marktplatzes. Man stellte sich gegenseitig vor. »Ich schätze mich glücklich, Euch zu treffen, mestra«, begann Donald. »Vielleicht wißt Ihr die Antwort auf eine Frage, die uns schon eine ganze Zeit lang beschäftigt. Wißt Ihr etwas von einem Kult der Avarra, der sich bis auf den heutigen Tag gehalten hat? Von Leuten, die Dinge wie ›Ich gehöre der Mutter Avarra‹ sagen und gleichzeitig keine Skrupel haben, Geldbörsen zu stehlen?« (Da war es wieder: das Bild des Jungen mit den glühenden Augen und dem verdreckten Gesicht!)

»Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen«, erwiderte Raquel, die bei diesen Fragen immer blasser wurde. »Aber die Sache gefällt mir ganz und gar nicht. Wenn ich etwas in Erfahrung bringe, werde ich es Sie wissen lassen. Aber wir sollten jetzt weiter, vai domna.« Und Marguerida bahnte sich ihren Weg durch die Menschenmenge, so wie Moses einst die Fluten des Roten Meers geteilt hatte. (Dies mythische Bild stieg nach gut einem Vierteljahrhundert des Vergessens wieder in Donald auf. Es mußte wohl an der Gesellschaft liegen, in der er sich befand.)

»Es besteht kein Anlaß zur Eile«, meinte Marguerida. »Sie werden uns empfangen, ganz gleich, wann wir kommen.«

»Ich möchte es aber so schnell wie möglich hinter mich bringen«, sagte Raquel. »Außerdem riecht es hier unangenehm. Haben Sie das nicht bemerkt?«

»Nein«, lautete die knappe Antwort.

»Jawohl, das ist mir bekannt«, erklärte Sicherheitsoffizier Grey. Sein nach terranischem Muster vorgefertigtes Büro zeugte von einer pedantischen Ordnung. Alles war an seinem Platz und nichts dem Zufall überlassen. Außer einer Wandmalerei, die eine Mondlandschaft mit einer aufgehenden Erdensichel darstellte, war der Raum völlig schmucklos und kalt. Der Offizier wirkte müde.

(Donald hatte Glück gehabt, Grey überhaupt anzutreffen. Seit dem Ausbruch der Unruhen hatte er das dreifache Arbeitspensum zu bewältigen. Außerdem wohnte er nicht, wie die meisten terranischen Bediensteten, im Terranerghetto.)

»Die Geschichte mit Avarra ist mir zwar neu, aber die Kinder kenne ich dafür um so besser. Ganze Horden von ihnen durchstreifen Thendara. Keine Eltern, niemand, der sich für sie verantwortlich fühlt. Halten sich mit Betteln und Klauen und wer weiß noch was über Wasser. Am Montag wurde einer auf frischer Tat ertappt, und man hat ihm gleich an Ort und Stelle die Kehle durchgeschnitten. Er war kaum älter als neun.« Grey, ein hochgewachsener Mann mit spitz zulaufendem Kinn, nannte die Dinge wie immer beim Namen. »Nur ein weiteres Steinchen in dem Mosaik. Feuer, Seuchen, Erosion, obdachlose Kinder – und die Frau, die das alles zu verantworten hat, verkriecht sich auf der Comyn-Burg unter Lord Regis’ Schutz. Ich verstehe einfach nicht, was er sich dabei denkt.«

»Soviel ich weiß, bemüht sie sich, den Schaden, den sie angerichtet hat, wiedergutzumachen«, erläuterte Donald. »Ohne ihr Wissen und ihre Fähigkeiten wären wir alle noch viel schlimmer dran. Aber ich kann mir schlecht vorstellen, daß sie die Bettelprinzessin für eine Bande von Straßenkindern spielt. Jedenfalls werde ich sie fragen, ob sie irgend etwas darüber weiß. Ich wohne ja jetzt selbst oben auf der Burg. Und da ist weiß Gott genug Platz! Yoshida könnte sein Heim problemlos in einem Seitenflügel unterbringen; aber es ist wohl kaum anzunehmen, daß die Kinder sich dort hintrauen würden.«

»Gut, daß Sie mich daran erinnern«, warf Grey ein. »Ich muß Pater Yoshida mitteilen, daß er mit meiner Unterstützung rechnen kann.«

»Ich glaube nicht, daß er ans Com-Netz angeschlossen ist«, gab Donald zu bedenken. »Er wohnt in einem kleinen Schuppen gleich hinter dem Marktplatz.«

»Dann werde ich es ihm schriftlich zukommen lassen. Wozu gibt es schließlich Boten? Ich danke Ihnen, Stewart.« Er erhob sich halb von seinem Stuhl, als Donald zur Tür ging, sank dann aber müde wirkend zurück. Und als Donald das Zimmer verließ, glaubte er zu hören, wie Grey »Mein Gott!« seufzte, was so gar nicht zu dem nüchternen und tatkräftigen Offizier passen wollte.

»Ich habe also Andrea gefragt – « Donald sprach nicht weiter, als die Tür aufging und ein Zimmermädchen heißes Wasser brachte.

Diener sollten unsichtbar bleiben und nichts von dem hören, was in ihrer Gegenwart gesprochen wurde, so wollte es der Brauch; aber Donald konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. Er war auf Terra aufgewachsen, wo es für jeden Handgriff eine besondere Maschine gab; später hatte er in den Bergen von Darkover gelernt, alles selber mit den einfachsten Hilfsmitteln zu erledigen. Die Comyn-Burg bot im Gegensatz dazu eine merkwürdige Mischung aus Luxus und ungewohnten Entbehrungen, die Donald immer wieder überraschte.

Die Zofe war etwa Mitte dreißig und wirkte trotz ihrer harten Gesichtszüge eher zerbrechlich; dennoch trug sie die schweren Steinkrüge mit Wasser ohne erkennbare Mühe. Donald war das peinlich. Er hätte es vorgezogen, das Wasser selbst zu holen, aber die Frau mußte ihren Lebensunterhalt verdienen und war wahrscheinlich froh, diese Stellung gefunden zu haben. »Das Abendessen wird in einer halben Stunde serviert, vai domyn«, sagte sie noch, bevor sie wieder die Tür hinter sich schloß.

»Du hast also Andrea gefragt, und was weiter?« nahm Marguerida den Gesprächsfaden wieder auf.

»Ich habe sie gefragt, ob sie etwas über diese Kinder wüßte. Sie meinte, daß sie zwar mit dieser Gruppe nichts zu tun habe, aber daß sie früher schon mit Straßenkindern gearbeitet habe und daher über einige Erfahrung verfüge. Sie hat sich bereit erklärt, für Grey einen kurzen Bericht zusammenzustellen und für weitere Nachfragen zur Verfügung zu stehen. Aber von einem Kult der Avarra wußte auch sie nichts.«

Sie schwiegen eine Zeit lang. »Vielleicht mache ich mir ja auch übertrieben viele Sorgen«, meinte Donald schließlich. »Was glaubst du? Für wie ernst hältst du die Angelegenheit.«

»Für sehr ernst«, erwiderte Marguerida. »Allein schon die Art und Weise, wie Raquel darauf reagiert hat, gibt mir zu denken. Sie hat ein ganz besonderes Gespür und weiß, daß an dieser Sache irgend etwas faul ist, auch wenn sie nicht darüber redet.« Die Bewahrerin stand auf und ballte ihre zierlichen Hände zur Faust. »Es ist ein trauriges Zeichen, wenn schon Kinder sich Avarra verschreiben. Sie sollten doch viel eher Evanda und Aldones folgen und ohne Angst und Schrecken in ihrem Licht aufwachsen. Nur die Alten und Kranken rufen die gnadenreiche Avarra an, oder Mütter, die um Unfruchtbarkeit beten, weil die vielen Schwangerschaften sie auszehren und viele der Kinder ohnehin nicht überleben. Die Gnade Avarras besteht darin, daß man stirbt und von seinen Leiden erlöst wird. Wenn nun selbst kleine Kinder schon darauf hoffen, kann das doch nur bedeuten, daß die Zeiten besonders hart sind. Und das sind sie ja wohl«, seufzte Marguerida.

»Wenn du keine Bewahrerin wärst, dann könntest du dich jetzt an meiner Brust ausweinen«, sagte Donald scherzhaft, was sie wenigstens zu einem kleinen Lächeln aufmunterte. »Und was ist mit Raquel? Wo ist sie jetzt?«

»Wieder im Gildehaus. Sie hat die Testergebnisse mitgenommen und möchte sich gründlich überlegen, was sie damit anfangen will.

Ich glaube, sie wird zu uns kommen, zumindest tagsüber. Sie wird sich sicherlich wohler fühlen, wenn sie die Nächte zu Hause verbringen kann und nicht ganz auf die Burg ziehen muß.«

Auf der Comyn-Burg lebten jetzt rund zweihundert Personen, Männer, Frauen und auch einige Chieri, auf die eine solche Klassifizierung nicht zutraf. Deshalb wunderte sich Donald etwas.

»Ich wußte gar nicht, daß Entsagende außerhalb einer reinen Frauengemeinschaft leben dürfen.«

»Wenn das halbjährige Noviziat vorbei ist, können sie selbst entscheiden, wo sie leben möchten. Aber sie ziehen es nun einmal vor, in ihren Häusern für sich zu bleiben, wo Männer keinen Zutritt haben. Die meisten Entsagenden, die ich kenne, geben ohne weiteres zu, daß es neben all den brutalen und gewalttätigen Kerlen auch einige anständige Männer gibt; trotzdem trauen sie ihnen nicht so recht und halten sie von ihren Gebäuden fern. Sie sind anscheinend der Meinung, daß jeder Mann von Natur aus Frauen immer nur dominieren will. Ich wünschte mir, sie besäßen etwas mehr Selbstvertrauen. So, jetzt ist es aber an der Zeit, daß wir uns etwas frisch machen und dann in die Halle hinuntergehen.«

In den darauffolgenden Tagen begann man mit den Aufräumungsarbeiten, die Brotrationierung wurde wie versprochen aufgehoben und von der Station Regulus kam eine ganze Flotte von Raumtransportern, um Versorgungsgüter in die Berge zu bringen.

Sicherheitsoffizier Grey setzte seine Männer auf die jugendlichen Taschendiebe an. Sie konnten drei von ihnen festnehmen und brachten sie innerhalb der terranischen Basis unter, wo seit dem Ausbruch der Unruhen schon mehrere obdachlose Kinder Aufnahme gefunden hatten. Die drei Jungen, von denen der älteste vielleicht um die zwölf war, weinten ununterbrochen und sagten, sie wollten nach Hause. Als man sie fragte, wo das denn sei, zuckten sie nur mit den Achseln. Auf dem Marktplatz wurden Bilder der Kinder ausgehängt, aber niemand konnte sie identifizieren. Eines Nachts gelang es ihnen dann, das Gitter eines Luftschachts herauszureißen und zu entfliehen. Offizier Grey schaute immer finsterer drein, und es war ein ausgesprochener Zufall, wenn man ihn an seinem Schreibtisch vorfand; stattdessen sah man ihn jetzt immer häufiger, wie er in Begleitung von ein oder zwei Untergebenen die engen Straßen und Gassen selbst durchstreifte.

Der nächste Tag brachte schwere Regenfälle, die den Dreck aus den Rinnsteinen in die Brunnen spülten und diese verseuchten, so daß terranische Tankzüge erneut die Wasserversorgung in der Stadt übernehmen mußten. Wiederum einen Tag später wurde ein städtischer Polizist, der versucht hatte, einen Taschendieb zu fangen, auf einer Trage zurückgebracht.

»Keine Spuren äußerer Gewalt«, sagte Grey, als er den Vorfall Lord Regis berichtete. »Nur die Verletzung am Hinterkopf, die er sich aber beim Sturz zugezogen hat. Die Ärzte diagnostizieren Katatonie – «

»Diese Bezeichnung sagt mir nichts«, unterbrach Regis ihn.

»Kein Wunder. Das Wort stammt aus dem Griechischen und besagt so viel wie ›er hat sich in seinen Schädel verkrochen und den Schlüssel fortgeworfen‹. Er liegt in seinem Bett, spricht nicht, rührt sich nicht. Das ist wohl oft die Folgeerscheinung eines Schocks. Ich dachte mir, daß vielleicht einige Ihrer Leute ihn sich mal ansehen –vielleicht könnte man so wenigstens feststellen, was den Schock ausgelöst hat.« Der Chef des terranischen Sicherheitsdienstes fühlte sich etwas unbehaglich. Er war so sehr gewohnt, Befehle zu erteilen, daß es ihm schwer fiel, selbst um einen Gefallen zu bitten. Aber Regis beruhigte ihn. »Wir werden unverzüglich kommen.«

Lord Regis erschien höchstpersönlich in der Krankenstation, begleitet von seiner Verlobten und deren Großmutter. Ihre Fingerspitzen berührten sich leicht, als sie zusammen am Bett des bewußtlosen Mannes standen, der wie eine kleine, geschlossene Blüte zwischen verdörrten Blättern dalag.

»Er ist sehr weit weg«, sagte Desideria schließlich mehr zu sich selbst als zu Grey. »Ich glaube nicht …« Sie versicherte sich mit einem Blick bei Linnea und Regis, bevor sie weitersprach. »Ich glaube nicht, daß wir hier etwas für ihn tun können. Dieses Zimmer ist viel zu klein. Und die meisten unserer Leute sträuben sich dagegen, hierher zu kommen. Könnten Sie ihn nicht auf die Burg bringen? Vielleicht schon morgen?«

»Wann immer es Ihnen recht ist«, entgegnete Grey. Sie ließen ihn allein am Krankenlager zurück; er trommelte mit zwei Fingern einen ungleichmäßigen Rhythmus gegen die Wand. Auf dem Heimweg zur Burg sprachen die Darkovaner über die Verdienste des Sicherheitsoffiziers, der ihnen während der letzten Unruhen so oft geholfen hatte. Und sie überlegten, wie sie ihm seine Arbeit erleichtern könnten. Seinen verunglückten Untergebenen erwähnten sie dagegen mit keinem Wort; dazu würde später noch genug Zeit sein.

»Es tut mit leid«, meinte Lord Regis. »Ein Heim für obdachlose Kinder ist eine ausgezeichnete Idee, und ich möchte Pater Yoshida in jeder mir möglichen Hinsicht helfen. Sie haben auch recht, daß der Besitz an die Krone fällt, wenn sich keine Erben melden. Aber selbst wenn wir mit Sicherheit davon ausgehen könnten, daß Branmac Adhil keine Erben hinterlassen hat, wäre es mir unmöglich, Terranern noch mehr darkovanisches Land zu übereignen. Die gegenwärtige Stimmungslage läßt das einfach nicht zu. Ich könnte es allenfalls Lady Marguerida überlassen, falls sie sich bereit erklärt, ein solches Projekt unter der Leitung terranischer Priester zu unterstützen. Eventuell kommen auch andere Darkovaner als nominelle Eigentümer in Frage, aber nicht Pater Yoshida. Zumindest jetzt nicht. Wie gesagt, es tut mir leid.«

Marguerida spürte die Anwesenheit einer Person in ihrem Zimmer und erwachte. Ein Flüstern nur: Raquel n’ha Mhari kauerte neben ihrem Bett. »Bitte, wacht auf, vai leronis. Ich muß Euch etwas zeigen.«

»Ich bin wach. Was willst du mir zeigen? Und wie spät ist es?«

»Die dritte Wache ist halb vorüber. Ich muß Euch in die Stadt führen, bevor die Bäcker und Blumenverkäufer ihre Stände öffnen.

Bitte, Domna, außer Euch kann ich keinem vertrauen.«

»Was soll die Geheimnistuerei? Und wie bist du überhaupt zu dieser Uhrzeit in die Burg gelangt?« Aber während sie noch fragte, zog sich Marguerida bereits an. Sie wählte nicht etwa die offizielle Robe der Bewahrerin, sondern einen schlichten Wollkittel und Hosen, die sie für alle Fälle in ihrem Schrank versteckt hielt. Ihr glänzendes Haar band sie zu einem Knoten und verbarg es unter einer dunklen Mütze; dann nahm sie noch den wärmsten Mantel, den sie finden konnte.

»Wie ich an den Wachen vorbeigekommen bin? Nichts einfacher als das.« Mehr sagte Raquel nicht. Sie führte Marguerida über eine Treppe nach unten und dann unbemerkt durch das Tor an den Wachen vorbei, die sich in ihren Gesprächen nicht stören ließen.

Ihr Weg führte sie durch die Stadt zum Marktplatz, den sie jetzt im Schutz der Häuserschatten umliefen, bis sie an seiner Westseite angelangt waren. Ihre weichen, gefütterten Stiefel hinterließen auf den mit Reif bedeckten Steinplatten Spuren. Liriel, deutlich schon in der abnehmenden Phase, stand hoch am Himmel und tauchte den Platz in kaltes Silberlicht.

Raquel blieb vor einem mit Brettern vernageltem Laden stehen, dem stiefelförmigen Schild nach zu urteilen der Verkaufsstand eines Schusters. »Hier kann man es ganz deutlich fühlen«, flüsterte sie.

»Allein und ohne Hilfe wollte ich es aber nicht weiter auskundschaften. Könnt Ihr es auch wahrnehmen?«

Der Platz war völlig leer und ruhig; kein Windhauch, nicht das geringste Geräusch durchbrach die Stille. Marguerida wartete einige Zeit ab; dann spürte auch sie allmählich, wie sich hinter ihren Augenlidern ein Licht ausbreitete – ein schwacher, warmer, rötlicher Schein, dem die violette Kälte des Mondes nichts anhaben konnte.

Dazu ein Sog, ein Versinken und Einswerden mit einem Ort unergründlicher Tiefe. Es pulsierte wie ein Herz. Gestalt und Substanz verschmolzen in der Wärme. Marguerida glitt, ohne es zu wollen, in die Überwelt – eine Welt voller verborgener Dinge, so weich und rot wie Blut. Sie schritt, nein, sie kroch auf Händen und Füßen über einen Teppich aus Wärme dahin und sank immer tiefer ins Dunkel. Es raubte ihr den Atem.

Sie lag aufgebahrt auf dem Altar der Dunkelheit, die Arme weit ausgebreitet. Ihr Haupt war tausendfach gekrönt mit schimmernden Monden und Totenköpfen. Ihr dunkles Haar schien mit den Schatten verwoben.

Kommt zu mir und ruhet! Mein Schoß gebar die ganze Welt, in meinen Schoß soll sie zurückkehren! Kommt, ich will euch umfangen und ewig halten. (Ein Schoß, der … ) Wo immer ihr seid, ich werde bei euch sein.

Trinkt von meinem Busen, (Ein Schoß, der seine Frucht nicht freigibt

… ) von meiner Brust trinkt Frieden und Vergessen ( … verfault und wird vergehen.)

Marguerida riß den Kopf ruckartig hoch. Sie befand sich wieder auf dem Platz und hörte Raquel sagen: »Domna, zurück, kommt zurück!«

»Ich bin zurückgekehrt«, sagte sie. Der Schweiß auf ihrer Stirn gefror zu kleinen Eisperlen. »Bei Aldones, was war das?«

»Ja, was? Ich hatte gehofft, Ihr könntet mir das sagen.« Die beiden Frauen schauten einander ratlos an. Am anderen Ende des Marktplatzes schlug eine Tür zu; ein Mann huschte von einem Gebäude zum anderen; er schlug die Arme gegen den Körper, um die Kälte abzuwehren.

»Es gleicht einer gräßlichen Karikatur der Göttin«, stammelte Marguerida. »Avarras Züge, aber ins Groteske übersteigert und zu einem Schluß gebracht, der zugleich erschreckend logisch und absolut wahnsinnig ist.«

»Dann war es also – SIE?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber kann denn die Göttin wahnsinnig werden?«

»Ich weiß es nicht«, bekräftigte Marguerida. »Aber ich weiß, wen ich zu fragen habe. Es gibt nur einen, zu dem die Götter heute noch sprechen, und dieser Mann ist Lord Regis Hastur.«

Lord Regis saß in der hintersten Reihe, dicht an der Wand, an der einst das Alton-Banner geprangt hatte. Aber das hatte jetzt nichts mehr zu besagen; alle Banner waren in der Festnacht von unbekannter Hand heruntergerissen worden. Die Kristallkammer hatte man in eine Einsatzzentrale verwandelt, wie es Jay Allison respektlos nannte. Für die heutige Arbeit brauchte man die telepathischen Dämpfer nicht, und so standen sie abgeschaltet, wie eine Reihe ausgetretener Schuhe, in ihren Nischen. Auf dem Podest in der Mitte, von dem aus früher die Comyn über die Zukunft Darkovers gestritten hatten, stand ein Feldbett, in dem der bewußtlose terranische Wachmann lag. Um ihn herum hatte sich ein Kreis von zehn Telepathen gebildet. Zwei von ihnen waren Chieri, und ein dritter saß in einem zweiten Kreis, der den ersten umgab und hauptsächlich aus Beobachtern oder, wie es die Terraner nannten, »der Reserve« bestand.

In diesem zweiten Kreis saßen auch Marguerida und Raquel n’ha Mhari. Hätte jemand schlüssig beweisen können, daß die Krankheit des Wachmannes nichts damit zu tun hatte, was die beiden Frauen am Morgen herausgefunden hatten, Lord Regis hätte ihm die Worte mit Gold aufgewogen. Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Hinter Marguerida saß ihr Friedsmann, der seine kalten blauen Augen wie immer überall hatte und sorgsam darauf achtete, daß nichts und niemand seiner geschworenen Herrin zu nahe kam. Am anderen Ende des Raumes, dort wo seit Generationen das Aldaran-Banner gehangen hatte (aber das hatte, wie gesagt, jetzt nichts mehr zu besagen), hockte Sicherheitsoffizier Grey wie ein Kyorebni in Lauerstellung und verfolgte die Szene aufmerksam.

Weit weg, hatte Desideria gesagt. Sie hatte zwischen Grey und dem Kreis Platz genommen, schien aber den Beobachtern mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem Kreis selbst. Beim Blickkontakt mit Grey lächelte sie.

Der Kreis durchforschte jetzt die oberen Gehirnkammern des Mannes, wanderte durch sie wie auf einem schmalen Gebirgspfad, fand aber nichts. Regis hatte man zurückgelassen, da er nicht über die notwendige telepathische Ausbildung verfügte. Er streckte sich, und dabei fiel sein Blick auf einen Mann, der an der Tür saß. Seinen schweren Mantel hatte er auf den Stuhl neben sich abgelegt, so daß das schwarze Habit eines terranischen Klerikers sichtbar wurde –

um uns nicht durch falschen Augenschein in die Irre zu führen, dachte Regis. Dieses Bemühen um Klarheit war vielleicht etwas übertrieben, da die meisten Anwesenden dem Priester ohnehin schon begegnet waren, aber man wußte es als Geste des guten Willens zu schätzen. Regis beschloß, bald selber mit ihm zu sprechen.

Ein Mitglied des Kreises stöhnte plötzlich laut auf; das war kein überraschtes Schnappen nach Luft mehr, sondern ein verzweifeltes Ringen um Atem. Stille Beklommenheit machte sich im Raum breit.

Wir müssen kurz unterbrechen, ordnete Marguerida an, und fuhr fort, während Desideria sich erhob, um Grey die Worte der Bewahrerin zu übermitteln. Wir haben etwas gefunden: einen Erinnerungsfetzen, oder vielmehr einen Befehl, der ihn gefangenhält und an das Dunkel kettet. Wenn wir ihn davon befreien, verlieren wir die Spur; wenn wir es nicht tun, werden wir ihn verlieren.

Regis zuckte zusammen. Aus einer finsteren Ecke seiner Gedankenwelt, in die er sie verbannt hatte, grinste die tote Sharra ihn plötzlich heimtückisch an, um dann wieder im Dunkel zu versinken.

Desideria sprach leise, und Grey starrte sie an, als ob ihr ein zweiter Kopf gewachsen wäre. »Sollte das eine Frage sein? Und ich soll entscheiden? Aber gewiß doch, ja, befreien Sie ihn. Bringen Sie ihn zurück.«

Alle bereit zur Überwachung, kam der Befehl, und der Kreis schloß sich wieder. Dann ein Moment absoluter Stille, gefolgt von konvulsivischen Zuckungen des Terraners, der schließlich die Augen öffnete. Grey atmete erleichtert auf, und er war nicht der einzige im Raum, der dies tat. Man warf sich bedeutungsvolle Blicke zu. Ihr habt es also auch gesehen? Lebendig begraben. Ungeboren begraben! Regis hatte lediglich einen Augenblick lang eine alles erdrückende Hitze verspürt, die durch die Halle geströmt war, sich dann aber auflöste und nur einen üblen Nachgeschmack hinterließ.

Marguerida bestätigte das mit einem Kopfnicken, als er sie fragend ansah.

Der Kreis löste sich auf; Menschen und Chieri halfen sich gegenseitig beim Aufstehen und schüttelten ihre steifen Glieder aus.

Der Terraner saß jetzt aufrecht, lockerte mit ein paar Grimassen seine erstarrten Gesichtszüge und massierte sich mit den Handknöcheln die Rückenmuskulatur.

»Was ist passiert? Ich fühle mich wie gerädert. Und wie bin ich hierher gekommen?« Zwei terranische Sanitäter halfen ihm wieder auf die Beine und führten ihn hinaus.

Sie trafen sich alle in Regis Gemächern wieder: Raquel und Marguerida, Sicherheitsoffizier Grey, aber auch Donald, der wie üblich ohne ausdrückliche Aufforderung Lady Marguerida gefolgt war, und Pater Yoshida, der in Begleitung von Grey erschienen war.

»Ich kann sehr gut verstehen, daß Sie nicht noch mehr darkovanischen Besitz veräußern wollen«, meinte der Priester.

»Vielleicht ließe sich ja ein langfristiger Pachtvertrag abschließen, bei dem Sie die Rolle des Treuhänders übernehmen? Woran mir wirklich liegt, ist die Möglichkeit, den Kindern sofort ein Dach über dem Kopf zu bieten. Für den Verwaltungskram bleibt dann immer noch Zeit. Ich beherberge schon zwei in meinem Haus, und für mehr habe ich einfach keinen Platz.«

»Name? Alter?« wollte Grey wissen, und Raquel fragte: »Wo haben Sie die Kinder gefunden?«

»Anjali ist drei, soviel ich weiß, und sie kann sich an ihre Eltern nicht erinnern. Mikhail ist zehn. Ich habe sie von der Straße aufgelesen, wo sie bettelten. Was anderes blieb ihnen nicht übrig, denn zum Diebstahl waren sie zum Glück nicht geschickt genug.

Mikhail stammt übrigens aus Ihrem Haus«, sagte Yoshida an Raquel gewandt, »das er aber auf Grund Ihrer Regel mit fünf verlassen mußte. Seine Pflegemutter hat ihn dann ausgesetzt, als sie ihn nicht mehr ernähren konnte.«

Pater Yoshida schilderte dies, ohne Raquel damit irgendwelche Vorhaltungen machen zu wollen. Dennoch errötete sie und glaubte, sich verteidigen zu müssen: »Diese Regel ist ein Kompromiß zwischen denen, die wie ich in dieser Frage gerne großzügiger wären, und denen, die sie am liebsten gleich nach der Geburt verstoßen würden, weil sie sich durch die Anwesenheit von

›Babymännern‹ gestört fühlen. Wir haben eine Frau bei uns im Gildehaus, die die Terraner aufrichtig bewundert; nicht etwa, weil sie beständig über Gleichberechtigung reden, sondern weil sie die Technologie besitzen, das Geschlecht schon bei Embryos festzustellen, so daß männliche Föten gleich nach der Zeugung abgetrieben werden könnten.« Den Terranern lief ein kalter Schauer über den Rücken.

»Wie dem auch sei«, wandte Grey nüchtern ein, »ich habe jedenfalls heute Pater Yoshida mitgebracht, weil er mit mir einer Meinung ist, daß wir es nicht mit zwei, sondern einem einzigen Problem zu tun haben.«

»Die Frage der obdachlosen Kinder, die Taschendiebstahl begehen, und diese unheimliche telepathische Angelegenheit in der Nähe des Marktes scheinen mir zusammenzuhängen«, präzisierte der Priester. »Ich selber besitze keinerlei Psi-Fähigkeiten. Deshalb verlasse ich mich auf meine Beobachtungsgabe und versuche, aus der Art, wie sich jemand bewegt, Rückschlüsse auf seine Gedanken zu ziehen. Man nennt es Körpersprache, eine Kommunikation jenseits der Sprachebene. Es fällt mir schwer auszudrücken, was mir bei diesen Kindern auffällt. Aber wenn ich zum Beispiel so dastehe, dann stellt sich gefühlsmäßig ein Wunsch oder auch ein Gedanke ein …« Er schlang die Arme um seinen Körper und hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt – und jeden Telepathen im Raum durchfuhr es, als sie seinen Gedanken aufnahmen; es war wie ein schwaches Echo dessen, was ihnen zuvor in der Kristallkammer begegnet war.

»›Zurück-in-den-Mutterleib‹ würde ich es nennen, wenn ich dafür einen Namen finden müßte«, meinte Pater Yoshida abschließend, bevor er sich wieder hinsetzte. »Wie gesagt, beide Fragen haben miteinander zu tun, und die Antwort darauf müssen wir meines Erachtens am Marktplatz suchen …«

»Und zwar ganz in der Nähe des Schusterladens«, ergänzte Marguerida. »Jemand muß hingehen und es herausfinden. Darum geht es doch bei unserem Treffen hier, nicht wahr, Lord Hastur?

Raquel muß der Sache auf den Grund gehen. Und Ihr selbst müßt sie begleiten. Nur Ihr wißt, wie damit umzugehen ist.«

»Ohne Domna Marguerida werde ich nichts unternehmen«, erklärte Raquel. »Mit Ausnahme von Euch, Lord Hastur, ist sie die einzige hier, der ich vertrauen kann.«

»Also gut«, stimmte Regis zu. »Ich werde noch einige meiner Wachen dazunehmen – nicht zu viele – und vielleicht kann Commissioner Grey ein paar seiner Männer abstellen.«

»Wie viele Sie auch immer brauchen«, sagte Grey. »Und ich werde Sie begleiten.«

»Commissioner, ich glaube kaum – «

»Ich bestehe darauf. Einer meiner Männer wurde angegriffen, und ich habe das Recht, ihn zu rächen.«

(»Der alte Fuchs! Jetzt spielt er die darkovanische Karte«, flüsterte Donald hinter vorgehaltener Hand Pater Yoshida zu.) Schließlich stimmte Regis auch dieser Bitte zu. »Dann sind wir uns also einig. Ich möchte die ganze Aktion bei Nacht durchführen, wenn der Markt geschlossen und der Platz leer ist. Wir treffen uns dort um Mitternacht.«

»Dann bestehen Sie also nicht darauf, Ihre Herrin bei dieser Mission zu begleiten?« fragte Pater Yoshida, als er und Donald dabei waren, die Burg zu verlassen.

»Ganz im Gegenteil. Natürlich werde ich sie begleiten«, entgegnete Donald ruhig. »Domna Marguerida weiß das, und Lord Regis ahnt es wohl auch. Ich hielt es nur für überflüssig, das noch extra zu erwähnen und damit die Diskussion unnötig zu verlängern.«

Das gefiel Pater Yoshida. »Ein Mann der Tat!« Sie waren noch immer ins Gespräch vertieft, als sie durch das große Tor traten und in die Stadt hinunterliefen.

Liriel ging jetzt zwar jeden Abend etwas später auf, stand aber bereits hoch am Himmel, als sie sich auf dem Marktplatz trafen.

Insgesamt zehn Gestalten, alle in unförmige Mäntel und Kapuzen eingemummt. Sowohl Hastur als auch Grey nahmen an, der andere habe mehr Männer mitgebracht als ursprünglich ausgemacht, so daß Donalds und Yoshidas Anwesenheit zunächst nicht weiter auffiel. Der Priester verbarg sein Gesicht tief unter der Kapuze; Donald trug einen Lederbeutel über der Schulter.

Es war eine bitterkalte Vorfrühlingsnacht, aber die dicht beieinander stehenden Häuser brachen den schneidenden Wind, so daß es in den engen Gassen etwas wärmer war. Mit Raquel an der Spitze ging die Gruppe langsam durch einen Seitengang zu einer etwas breiteren Querstraße, wo eine geweißte Wand im Mondlicht schimmerte. Die schwere Haustür war immer noch mit einem guten Dutzend Bretter zugenagelt.

»Wie sollen wir da reinkommen, ohne einen Heidenlärm zu veranstalten?« fragte Grey im Flüsterton. Aber Raquel wußte Rat; sie führte die Gruppe um das Haus herum zu einer Hintertür, die zwar ebenfalls mit einem Plankenkreuz verbarrikadiert war; als sie aber mit der Fußspitze gegen die Tür trat, gab diese nach. Einer nach dem anderen zwängten sie sich vorsichtig an den Planken vorbei und betraten das Haus von Bran mac Adhil.

Im Innern war es mindestens zehn Grad wärmer; das Haus verfügte über ein äußerst solides Mauerwerk. Sie befanden sich jetzt in der großen Halle, wo der reiche Kaufmann früher fürstlich Hof gehalten

hatte.

Die

Wandteppiche

waren

inzwischen

heruntergerissen, die hohen Fensterläden verschlossen und die Feuer in den Kaminen längst niedergebrannt. »Ich bin mir nicht ganz sicher, wie es von hier aus weiter gehen soll«, erklärte Raquel.

»Der Gestank umgibt uns von allen Seiten. Hat irgend jemand einen Vorschlag?«

Ein warmer Luftzug strömte die Haupttreppe hinab; also hielten sie darauf zu. Donald verlängerte seinen Schritt, um zu Marguerida aufzuschließen. Erst jetzt fiel ihm auf, daß sie wieder die rote Robe der Bewahrerin trug. Wann hatte sie die Kleider gewechselt? Das Licht flirrte wie ein zarter Schleier vor ihrem Gesicht. Es war hier deutlich wärmer, wenn auch nicht gerade heiß. Donald griff prüfend nach seinem Lederbeutel und zog den Riemen noch fester an.Die Fackeln, die Grey und seiner Männer hielten, begannen zu flackern und zu rußen, so daß man sie auf den Boden warf und ganz austrat. Die Wände reflektierten genug Licht, um das Nötigste erkennen zu können. Aber wo kam dieses tief rötliche Licht der verborgenen Sonne her?

Im Halbschatten bewegte sich etwas. Eine zwergenhafte Gestalt mit dem Gesicht einer Maus. Sie huschte kichernd einige Meter vor ihnen her, bevor sie sich seitwärts duckte und im Dunkel verschwand.

Einer von Regis’ Wachen zückte das Schwert, steckte es dann aber wieder in die Scheide zurück. Raquel schaute ihn nur verächtlich an.

Sie hielt ihren Bogen bereit und nahm einen Pfeil aus dem Köcher.

Noch legte sie die Kerbe nicht in die Sehne, hielt aber gespannt Ausschau nach möglichen Zielen. Regis behielt sein Schwert in der Scheide. Das Hastur-Blut in seinen Adern brachte seine Haut schwach zum Erglühen; wo er auftrat, hinterließen seine Fußabdrücke einen nachglimmenden Schein.

Greys Männer hielten lässig ihre Armbrüste in der Hand. Ihre Kettenhemden klirrten leise, wenn sie sich bewegten. Greys stählerner Brustpanzer glühte wie Kupfer im rötlichen Licht; nur die aufgerissene Stelle über seinem Herzen wies rußgeschwärzte Ränder auf. Das Schwert in seiner Hand flackerte wie züngelnde Flammen. Donald vergewisserte sich noch einmal, daß Marguerida an seiner beschützenden Seite war. Die Strähnen ihres kupferroten Haars umspülten ihre Schultern im Licht wie die vom Wasser umspülten Ranken einer Pflanze. Donald tastete nach dem Beutel, den er noch immer über die Schulter geschnallt trug, und der harte, unförmige Gegenstand darin schien ihn zu beruhigen.

Am oberen Treppenabsatz entstand ein Lichtkegel, ein silbriges Leuchten, das sich deutlich vom sonstigen rötlichen Dämmerlicht abhob. Davor zeichnete sich die Silhouette einer menschlichen Gestalt ab, die einen Arm zum Gruß erhob. »Willkommen!« ertönte eine helle, hohe Kinderstimme.

Grey trat einen Schritt auf die Gestalt zu. »Wer bist du?«

»Ich?« Das Licht wurde noch intensiver, so daß die Gesichtszüge des Kindes fast sichtbar wurden. Ein Strahl schien ihm durch die Kehle zu dringen, als ob es kein körperliches Wesen wäre. Sein braunes Haar reichte ihm in wirren Strähnen bis auf die Schultern und umrahmte sein fuchsartiges Gesicht. »Du kennst mich nicht – «

»Ich will verdammt sein, natürlich kenne ich dich!« schrie Grey.

»Aber du bist längst tot!«

»In meiner Mutter Haus sind viele Plätze«, intonierte das Kind.

»Kommt und lebt im Haus der Mutter, wo alles lebt, alles stirbt, alles eins ist.«

»NEIN!« Grey brüllte gegen den Gesang an. Er wurde einen Schritt zurückgeworfen, als der Strahl aus der Kehle des Kindes auf den Riß in seiner Rüstung traf. Er fing sich und riß sein Schwert hoch, aber das Kind war bereits verschwunden.

Dann erfolgte ohne Vorwarnung der Angriff. Ein Bannstrahl aus Finsternis knallte wie ein Peitschenhieb herab. Er riß Grey um, warf ihn gegen seine Männer und die darkovanischen Wachen, die hinter ihm standen. Donald schob sich von einer Seite schützend vor Marguerida, von der anderen Seite tat Raquel das gleiche, aber die Bewahrerin drängte beide ungeduldig weg. Sie hob ihre Hände, griff sich in ihr Flammenhaar und formte daraus einen handgroßen Feuerball, den sie mitten ins Herz der Finsternis schleuderte. Der Greifarm aus Dunkelheit zog sich zurück. Grey und seine Leute rafften sich auf. Beide Armbrüste schossen ihre Pfeile gleichzeitig ab, verfehlten aber ihre Ziele. Marguerida formte einen weiteren Feuerball und schleuderte ihn los.

Dies wurde von einem Hagel eisiger Geschosse erwidert. Einer der Terraner sank getroffen zu Boden. Lord Regis kniete neben dem gestürzten Mann und breitete über ihn wie einen Mantel einen Lichtschutzschild, an dem alles abprallte. Beim zweiten Pfeilhagel bohrte sich ein Geschoß in Donalds Schulter, und die Kälte lähmte ihn auf einer Seite. Er konnte den Beutel nicht mehr spüren; verzweifelt versuchte er, den Kopf zur Seite zu drehen, um wenigstens den Lederriemen sehen zu können. Er schwankte, seine Füße gaben nach.

Hinter ihm erstrahlte ein neues Licht, aber diesmal glich er dem goldenen Licht der Erdensonne: Pater Yoshida trat vor. Er trug jetzt nur noch einen Lendenschurz, und seine Haut glühte wie die von Regis, auch wenn er keinen Schild besaß. Die kalten Pfeile trafen ihn mehrmals, aber aus jeder Wunde in seiner helle Haut schossen helle Sonnenstrahlen, die die restlichen Pfeile im Flug zum Schmelzen brachten. Tief im Herzen der Dunkelheit stöhnte etwas.

Donald konnte allmählich seinen Arm wieder spüren und hantierte an den Schnallen seines Beutels.

Regis, Grey und Pater Yoshida standen nun dicht beieinander: Schwert und Schild, Rüstung und Schwert, und dann diese glühenden Wunden, die sich jeder kriegerischen Metapher entzogen. Hinter ihnen flocht Marguerida aus tausend feinen Lichtfäden ein Netz, durchsetzt mit pulsierenden Sternenfunken.

Plötzlich kroch ein zweiter Greifarm der Dunkelheit dicht über dem Boden auf Grey zu, schlang sich um seine Beine und wollte ihn fortziehen. In diesem Moment warf Marguerida ihr Lichtnetz aus.

Es schwebte über dem fluchenden Offizier, der mit seinem Schwert wild auf den Greifarm einhieb, ihm aber nichts anhaben konnte.

Raquel schrie »Du Schlange! Laß ihn los!« und schoß einen Pfeil auf das Schattenwesen ab.

Das Lichtnetz verbreitete sich immer mehr, und allmählich traten Formen und Gestalten deutlicher hervor. Dort war – SIE! Ihre Gestalt lag ausgestreckt auf dem Altar der Dunkelheit und ihre Arme waren um die Kinder geschlungen, die sich dicht an sie drängten. Einige von ihnen waren am Leben, andere umgab der fahle Silberschein des Todes.

Aber alle ruhten friedlich in ihren Armen. Grey lag regungslos zu ihren Füßen.

Raquel zückte ihren Dolch; sie war jetzt zu allem entschlossen.

Und Donald hatte es endlich geschafft, seinen Beutel zu öffnen und den geheimnisvollen Gegenstand herauszuholen. Es war zunächst nicht zu erkennen, wozu das farb- und lichtlose Ding dienen sollte.

Aber als Donald es hochhob und anschaltete, hielt sich die Göttin eine Hand schützend vor die Augen. Eines der Kinder schaute auf und rief »Mama! Mama!« und wollte losrennen, um Raquel zu umarmen.

Das Lichtnetz war inzwischen verloschen, und nur ein violetter Mondstrahl drang durch eine zersprungene Fensterscheibe und erhellte die Szene. Donald lief vorsichtig um den Altar der Göttin, der sich als einfaches Sofa herausstellte, und entfaltete den Schirm ganz. Dann stellte er ihn in sicherer Entfernung auf einen Fenstersims – es war ein telepathischer Dämpfer!

Die Frau lag auf dem Sofa und hielt sich jetzt beide Hände vors Gesicht. Eine füllige, weißhaarige Gestalt mit leerem, ausdruckslosem Blick, jetzt zweifach blind, da der Dämpfer ihr Laran lahmlegte. Sie stöhnte und stieß eine Reihe wirrer Laute aus, wie jemand, der die menschliche Sprache nie vernommen hat. Die Kinder weinten und rückten immer mehr von ihr ab. (Die silbrigen Totengestalten waren verschwunden, und niemand konnte sie –nicht einmal in Gedanken – zurückholen.) Eines der Kinder stand mit abgewandtem Gesicht und starrer Haltung neben dem Sofa.

»Anndra«, rief Grey.

Das Kind schaute erschrocken auf, sagte dann aber scheinbar unbekümmert und in umgangssprachlichem Terra: »Hi, Dad, was machst du denn hier? Ziemlich kalt, oder?«

»Komm schon«, forderte Grey ihn auf, legte seine Hand auf die Schulter des Jungen und führte ihn weg. Als sie an Raquel vorbeigingen, die allein auf dem vom Mondlicht beschienenen Flecken stand, blickte Grey sie eindringlich an. »Komm schon«, sagte er auch zu ihr. »Wir müssen miteinander reden.«

»Wer ist – SIE?« fragte Donald. »Hat sie hier gelebt?«

»Ich glaube schon«, antwortete Marguerida. »Wahrscheinlich hat man sie vor dem Gerede der Nachbarn versteckt. Aber dann ist Bran an der Seuche gestorben, und die Diener haben sich aus dem Staub gemacht und sie einfach zurückgelassen – falls sie überhaupt etwas von ihrer Existenz gewußt haben. Da blieb ihr nur eines: Mit ihrem Laran mußte sie Menschen finden und an sich binden, die sie ernährten und sich um sie kümmerten. Was sie ihnen geben konnte, das war Liebe. Und so sind diese Kinder zu ihr gekommen.«

»Die meisten davon sind Jungen«, bemerkte Donald. »Terranische Anthropologen haben schon lange herausgefunden, daß die glühendsten Anhänger von Kulten um eine Gottesmutter Männer sind. Das gilt ganz besonders für Kulturen, in denen die Knaben schon früh von ihren Müttern getrennt werden und sich in einer Männerwelt behaupten müssen.«

Einer der terranischen Wachmänner war den Flur zurückgegangen, um die Taschenlampen zu holen, die zum Glück noch funktionierten. Eine davon gab er Grey, vermied es aber dabei, seinem Vorgesetzten in die Augen zu schauen. Lord Regis rieb sich mit einer Hand die Schläfe und befahl seinen beiden Männern, nach brauchbaren Materialien zu suchen, aus denen man eine behelfsmäßige Trage für die Frau machen konnte. »Wir müssen sie so schnell wie möglich wegbringen und isolieren, damit wir diesen Dämpfer wieder ausschalten können.«

»Das war wirklich schlau von dir, Donald«, lobte Marguerida, »an einen Dämpfer zu denken.« Sie saß auf der Ecke des Sofas und streichelte das verfilzte Haar der unglückseligen Frau; es war die einzige Form der Mitteilung, die sie erreichte. Pater Yoshida hatte die verstörten Kinder fortgeführt und sie in einer Ecke um sich versammelt. Er erzählte ihnen von Maria.

Donald lächelte beim Lob seiner Herrin stolz. »Diese Dämpfer waren eine der ersten darkovanischen Apparaturen, die ich kennengelernt habe. Als ich erst einmal herausgefunden hatte, wozu sie dienen, erschien es mir nur logisch, einen mitzunehmen. Damit wir alle die gleichen Chancen haben.« Er betrachtete das fahle, mit Blindheit geschlagene Gesicht der Frau. »Für sie bedeutet das natürlich etwas ganz anderes. Kann man denn gar nichts für sie tun?«

»Vielleicht können die anderen Telepathen auf der Burg zu ihren Gedanken vordringen. Und die terranischen Ärzte können vielleicht ihr Seh- und Hörvermögen wiederherstellen, damit sie sich nicht nur auf ihr Laran verlassen muß.«

»Eine ganz besondere Form von Laran«, erklärte Regis. »Die Alton-Gabe des erzwungenen Rapports. Ich frage mich, wie diese Frau sie erlangen konnte.«

»Vielleicht auf die gleiche Art, wie sie den Altons zugefallen ist?«

vermutete Marguerida. »Aber darüber würde ich mir jetzt keine Gedanken machen. Schaut lieber einmal dort hinüber.«

Sicherheitsoffizier Grey und Raquel n’ha Mhari standen in der Mitte des Ganges, jeder an die jeweils gegenüberliegende Wand gelehnt, und sprachen in abgehackten Sätzen miteinander.

Zwischen ihnen saß Anndra auf dem Boden; er spielte mit einem verbogenen Löffel, mit dem er in seiner kindlichen Phantasie irgendwelche Drachen bekämpfte. Auch Regis konnte nicht ausmachen, was die beiden sich zu sagen hatten. Und das war gut so.»Grey ist einer dieser altmodischen Terraner«, erklärte Donald,

»der diejenigen, die er liebt, auch ernähren und beschützen möchte.

Das heißt noch lange nicht, daß er sie nur für sich ganz allein haben will und Besitzrechte anmeldet, wie es andere Männer tun. Nach allem, was Raquel durchgemacht hat, ist es für sie schwierig, das eine von dem anderen zu unterscheiden. Sie müssen aufeinander zugehen, offen füreinander sein und sich auf halbem Wege treffen.«

»Offen aufeinander zugehen – das scheint auch mir das Beste zu sein«, stimmte Marguerida zu. »Lord Regis, was haltet Ihr davon, dieses Gebäude dem Thendara-Gildehaus zu schenken, damit sie es dann an Pater Yoshida weitervermieten können? Er hat es eine offene Anstalt genannt. Mir schwebt ein ›offenes Haus‹ vor, in dem Entsagende nach einer leicht modifizierten Regel leben können, in der Gemeinschaft mit anderen wie zum Beispiel ihren Söhnen oder auch – wenn sie es wünschen – dem Kindsvater.«

»Dagegen habe ich bestimmt nichts einzuwenden.« Regis blickte noch einmal den Gang entlang, wo Grey und Raquel standen, noch immer mit dem Rücken zur Wand, noch immer mit verbissener Miene. Aber immerhin redeten sie miteinander. »Wer traut sich zu, es ihnen zu sagen?«

PRISCILLA W. ARMSTRONG

Der Turm

Ich traf Priscilla Armstrong zum ersten Mal letztes Jahr beim Treffen der Freunde Darkovers in Baltimore, und ihr Name fiel mir, sofort auf; sie war eine »meiner« Autorinnen. Ihr Gedächtnis ist aber noch besser als meines; sie erzählte mir, daß sie sich genau an die vielen Absagen, in meiner

»unnachahmlichen Art« auf blauem Papier getippt, erinnern kann. Und daß sie diese Ablehnungsschreiben in Ehren aufbewahrt, da sie ihr auch immer wieder Mut und Hoffnung machten, es weiter zu probieren.

Priscilla ist Pfarrersfrau, und das ist keine einfache Stellung. Zu ihren zahlreichen Verpflichtungen gehört es auch, eine Gebetsgruppe zu leiten, die sich mit Heilung beschäftigt. »Ich unterrichte auch Handauflegen. Es ist schon überraschend, daß man so etwas unterrichten kann.« Vielleicht nicht ganz so überraschend; wahrscheinlich kann jede Form menschlichen Wissens gelehrt, zumindest aber erlernt werden.

Sarah Lovat-MacAran blickte in den Sternenstein, den sie in ihren sechsfingrigen Händen hielt, und konzentrierte ihre Gedanken auf ihren Mann. Durch den Stein und über den Stein hinaus sah sie ihn, genau dort, wo sie es vermutet hatte, beim Schafe hüten in den Bergen. Sie rief ihm in Gedanken zu, Duncan, Duncan, und sah, wie er seinen Kopf bewegte und nach Hause zurückschaute. Duncan, Duncan.

Er lächelte. Ich kann dich hören, Sarah. Ich werde heute abend heimkommen, wenn Gavin mich ablöst.

Es funktioniert! Genau so, wie wir es uns gedacht haben. jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wie weit es reicht.

Sie stand etwas schwerfällig auf. Am liebsten hätte sie vor Freude getanzt: Freude über die soeben gemachte Entdeckung und Freude über das neue Leben, das in ihr heranwuchs. Bald schon würde sie wieder tanzen können, wenn das Kind, ihre Tochter, erst einmal auf der Welt war. Sarah steckte den Sternenstein wieder in den Beutel, der ihr an einem Lederriemen um den Hals hing.

Wir werden es ihnen schon beweisen, Duncan und ich, daß man mit diesen Glücksbringern mehr vollbringen kann als ein paar kindische Kunststückchen wie Feuer machen. Viel mehr auch, als nur die Lovat-MacAran-Gabe zu verstärken. Und wenn die Sternensteine klein sind, sind sie auch sicher. Wenn wir soweit sind, werden wir die volle Anwendung vorführen. Wenn wir soweit sind. Aber wann wird das sein?

Sie seufzte. Immer dieses ›wenn‹. Immerhin hatte der Widerstand ihrer Eltern etwas nachgelassen, seitdem sie und Duncan verheiratet waren und ihr erstes Kind erwarteten. Mit der Ehe werden beide schon noch zur Ruhe kommen. Diesen Gedanken hatte sie von ihrer Mutter aufgeschnappt. Sie fragte sich, ob ihr Kind zur Namensweihe einen Sternenstein erhalten würde. Sowohl ihre als auch Duncans Mutter hatten sich in letzter Zeit immer heftiger gegen diese Glücksbringer ausgesprochen. So sehr Judy auch die alten Traditionen hochhielt, diesen einen Brauch hätte sie gerne abgeschafft.

Als Duncan heimkehrte, begrüßte sie ihn überschwenglich; er gab ihr einen Kuß auf die Wange und tätschelte liebevoll ihren Bauch.

»Ich werde froh sein, wenn sie da endlich rauskommt«, scherzte er.

»Ich komme ja sonst gar nicht richtig an dich ran, wenn sie immer im Weg ist.«

»Rede keinen solchen Unsinn, Duncan! Die Kleine wird dich hören und sich zurückgewiesen fühlen, noch bevor sie überhaupt geboren ist.«

»Es tut mit leid, Töchterlein. Natürlich will ich dich bei uns haben, und das von ganzem Herzen.« Duncan streichelte ihr noch einmal über den Bauch. »Aber nun zum heutigen Tag, Sarah. Erzähl mir, was du gesehen und gehört hast.«

Sarah berichtete alles, und Duncan nickte. »Ich war gerade in meine eigenen Gedanken vertieft, als du mich unerwartet riefst.

Aber dann konnte ich dich auch sehen, ganz deutlich sogar.«

»Bleibt die Frage, wie weit man die Gedanken senden kann. Dazu brauchen wir andere, die uns helfen. Ohne einen Dritten in größerer Entfernung werden wir das nie überprüfen können.«

»Das hätte ich beinahe vergessen, dir zu sagen. Gavin wird uns helfen. Er hütet heute nacht die Schafe, und wir können gemeinsam versuchen, ihn zu erreichen. Er erwartet uns jedenfalls.«

»Gut, das ist schon einer mehr im Bunde. Aber wen können wir sonst noch gewinnen? Du weißt ja, daß meine Mutter Judy es ablehnt, Neues auszuprobieren. Sie sagt, wir sollten mit dem zufrieden sein, was unsere Vorfahren uns hinterlassen haben, und keine weiteren Fragen stellen.«

»Ja, das weiß ich nur zu gut«, sagte Duncan überdrüssig.

»Hörst du, sie rufen uns zum Abendessen.« Sarah nahm Duncan bei der Hand, und gemeinsam gingen sie in die Halle, wo die Tische bereits gedeckt waren.

Bei mehr als einem Dutzend Leute aller Altersstufen an der Tafel, von den Großeltern bis hin zu den Kleinsten, die auf erhöhten Stühlen saßen, ging es entsprechend laut zu. An eine Fortführung ihres ernsthaften Gesprächs war jetzt nicht zu denken.

Als sie mit der Nachspeise fertig waren, schlugen Dougal und Rafael mit ihren Humpen auf den Tisch und baten um Ruhe. »Hört uns jetzt genau zu«, begann Rafe. »Besonders ihr, Duncan und Sarah, unsere beiden Ältesten. Ja, ihr zwei, oder vielleicht sollte ich besser sagen ›ihr drei‹. Es ist an der Zeit, daß ihr euren eigenen Hausstand gründet.«

Sarah konnte es kaum glauben. Sie schaute verunsichert zu Duncan, der genauso überrascht war wie sie. Wie konnten sie ihre Gedanken nur derart abschirmen, daß wir nicht die geringste Ahnung davon hatten?

Die beiden alten Männer lachten; die Überraschung war gelungen.

Jetzt ergriff Dougal das Wort. »Wir haben das schon seit Monaten geplant, sogar noch bevor sich dein Töchterchen meldete, Sarah.

Deine jüngeren Geschwister werden bald selber heiraten wollen, und dann brauchen sie eine Zeit lang eure Räume. Ihr seid erwachsen genug, um auf euren eigenen Füßen zu stehen und für eure künftigen Kinder und Pflegekinder zu sorgen.«

»Wir haben auch ein Stück Land für euch gefunden, keine halbe Tagesreise von New Skye entfernt; ihr braucht es nur in Besitz zu nehmen. Bis eure Kleine laufen kann, wird alles hergerichtet sein.

Morgen werden wir losreiten, um es uns anzuschauen und einen geeigneten Platz für den Hausbau auszusuchen. Nein, Sarah, du wirst hier bleiben. In deinem Zustand kannst du nicht mitkommen.

Duncan wird dir alles erzählen, wenn er zurückkehrt.«

Dann redeten am Tisch wieder alle durcheinander. Judy und Duncans Mutter Laura sprachen über die Kräutervorräte, die man bereits angelegt hatte, um den beiden den Neubeginn zu erleichtern; und auch darüber, daß neu angepflanzt werden mußte, solange das Haus noch nicht stand. Dougal und Rafael unterhielten sich über die Güte des Bodens und Ernteaussichten sowie über ihren Anteil an der Schafsherde, der hinübergetrieben werden mußte. Sarahs Schwester und Zweitälteste der Kinder, Mhari, hatte ein ganz anderes Anliegen. Sie wollte wissen, wie schnell die Zimmer frei würden, damit sie und Ian endlich heiraten und dort einziehen konnten.

»Je eher ihr geht, desto besser«, stichelte Mhari verächtlich. »Wir

‘wissen, daß du und Duncan heimlich mit euren Sternensteinen experimentiert habt. Und damit weicht ihr von der Tradition ab.

Mutter und Laura haben es oft genug gesagt.«

»Mhari! Wie kannst du nur!« Sarah war entsetzt. Warum habe ich das nicht mitbekommen? Haben sie ihre Schilde verbessert?

Mhari beantwortete Sarahs unausgesprochenen Gedanken.

»Natürlich haben sich unsere Schilde verbessert, Dummerchen.

Sonst hätten wir wohl kaum diesen Plan fassen können, euch beide loszuwerden.«

»Wir haben nur versucht, über größere Entfernung miteinander Verbindung aufzunehmen. Was soll daran verkehrt sein? Du benutzt ja auch deine Matrix, um damit Feuer anzuzünden. Selbst die Kleinen können das, und Mutter findet auch nichts dabei.

Außerdem tauschen wir uns doch alle ohne Worte aus. Was schadet es also, wenn man die Reichweite vergrößert?«

»Es ist gegen die Tradition. Judy und Lori haben uns die Steine und die Tradition mitgegeben. Kerzen und Feuer zu entzünden ist ein Teil davon. Ebenso das Gedankenlesen. Aber bestimmt nicht, über Meilen hinweg miteinander zu reden. Das ist unnatürlich und falsch. Wenn Judy und Lori gewünscht hätten, daß wir es können, dann hätten sie es uns auch beigebracht. Alles, was von der Tradition abweicht, ist Sünde«, trumpfte Mhari auf.

Jedes weitere Wort war vergeblich. Sarah wandte sich von ihrer Schwester ab und ging zu ihren Räumen zurück, wobei sie noch den Gedanken ihrer Mutter auffing: So, jetzt weiß sie Bescheid.

Schweren Herzens betrat sie ihre Wohnung, wo Duncan bereits bleich und zornig auf sie wartete. »Schirm dich ab, Sarah, schnell!«

Sie sank in seine Arme, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht.

»Was habe ich ihr nur getan, daß sie mich so haßt? Was haben wir beide ihnen getan, daß sie uns loswerden wollen?«

»Mach dir nichts draus, chiya, dadurch werden wir bald unser eigenes Heim haben, wo wir tun und lassen können, was wir wollen. Unsere Tochter und alle unsere zukünftigen Kinder werden mit der Lovat-MacAran-Gabe aufwachsen. Sie werden sie frei entwickeln und ausprobieren können, und wir werden ihnen dabei helfen. Nicht wie hier, wo die Familie uns argwöhnisch belauert.

Wenn du es nicht willst, brauchen wir keinen von ihnen je wiederzusehen.«

»Aber ich liebe sie! Trotz allem! Und Du doch auch. Wie können sie uns das nur antun? Ich habe gedacht, sie würden uns nur für ein bißchen verschroben halten, aber doch nicht für bösartig und gefährlich. Jetzt fühle ich mich schlecht für das, was ich tue, fast so, als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte.«

Sarah folgte Duncan mit Hilfe ihrer Matrix, als er loszog, um das Stück Grund und Boden zu begutachten, das ihre Väter für sie ausgesucht hatten. Mit seinen Augen sah sie das grüne und fruchtbare Land, die Hügel und Felsvorsprünge und den Wald, der teilweise noch gerodet werden mußte. Duncan spürte, daß sie die Verbindung mit ihm hielt und mit seiner Wahl der Stelle für den Hausbau einverstanden war. Von dort konnte man das kleine Tal und die dahinter aufsteigenden, bewaldeten Hügel überblicken. Es gab genug Platz für eine Feuerschneise und spätere Anbauten. In seinen Gedanken sah Sarah bereits das große Haus, das er errichten wollte: zunächst ein zentrales Gebäude, dann weitere Nebengebäude, vor allem aber den massiven, quadratischen Turm mit mehreren Stockwerken.

New Skye wird uns bis hierher folgen. Die Stadt wird sich immer mehr ausdehnen, bis unser Haus schließlich vom Häusermeer der Großstadt umgeben sein wird. New Skye wird eine Großstadt sein! Sarah schüttelte die Vision ab, denn es war eine Vision und nicht etwas, was sie in Duncans Gedanken gelesen hatte; es lag in der Zukunft, weit, weit in der Zukunft. Auch die Vollendung des Turms war womöglich nicht Duncans Plan, sondern eine zukünftige Entwicklung. Wenn solche Visionen Sarah überkamen, konnte sie nie sicher sein, ob es sich um etwas Gegenwärtiges oder Zukünftiges handelte, oder wie weit es in der Zukunft lag. Aber diesmal wußte sie, daß sie weit in die Zukunft vorausgeblickt hatte.

Ihre Tochter kam einige Tage nach Duncans Rückkehr zur Welt. Mit ihren roten Haaren und blauen Augen war sie für die stolzen Eltern das schönste Geschöpf, das sie je gesehen hatten. Sie wurde Judella genannt, was sowohl Sarahs Mutter als auch Duncans Vater und damit beide Familienlinien namentlich berücksichtigte. Sarah trug den Namen sorgfältig ins Stammbuch ein, in dem auch die Erbmassen genau verzeichnet waren.

»Heute achtet man bei der Eheschließung ja nicht mehr so sehr auf die Erbanlagen«, meinte Duncan. »Trotzdem hoffe ich, daß wir unsere Tochter mit einem rothaarigen Mann verheiraten können. Es ist wichtig für uns, daß wir die Lovat-MacAran-Gabe bewahren und verstärken.« Gerade jetzt, da einige die Gabe am liebsten ganz eliminieren wollen.

Sarah stimmte seiner unausgesprochenen Feststellung mit einem Kopfnicken zu. »Wir werden noch viel Zeit haben, darüber nachzudenken; gut und gerne vierzehn Jahre, mein Gatte. Jetzt ist erst einmal wichtig, daß Judella Hunger hat und ich sie stillen muß.«

»Woher weißt du, daß sie hungrig ist? Sie schreit doch gar nicht.«

»Kannst du sie denn nicht hören, Duncan? Ich jedenfalls höre, daß sie Hunger verspürt.«

»Du hast recht! Ich hatte mich nur nicht richtig auf sie konzentriert. Gleich wird sie loslegen, wenn sie nicht schnell etwas bekommt. Aber es erstaunt mich, daß wir sie schon Jetzt hören können. Sie ist doch noch so klein! Wir sollten unsere Mütter fragen, ob sie unsere Gedanken auch schon so früh hören konnten, oder ob sich die Gabe erst später bemerkbar gemacht hat.«

Sarah sah ihn mißbilligend an. »Das lassen wir besser! Glaubst du im Ernst, sie würden es zugeben, selbst wenn es so wäre?«

In den nächsten Tagen und Wochen gab es viel zu tun. Die Ernte mußte eingebracht und die Schafe auf die Winterweide getrieben werden. Außerdem versuchte Duncan, die Grundmauern für ihr Haus fertigzustellen, bevor der erste Frost einsetzte. Sarah begleitete ihn mit dem Baby zu ihrer neuen Heimstätte. Es war für beide eine Idylle, auch wenn das Zeltlager primitiv und die Arbeit schwer war.

Duncan mußte die Kellergrube ausheben und mit Steinblöcken verkleiden, bevor die eigentlichen Grundmauern angefügt werden konnten. Sarah kochte ihre Mahlzeiten über dem offenen Feuer und hütete Judella, die vergnügt in ihrer Hängematte schaukelte.

Die Arbeiten an den Grundmauern waren gut vorangeschritten, wenn auch nicht ganz beendet, als der erste Schnee fiel und sie zur Rückkehr nach New Skye zwang, wo sie die langen, rauhen Wintermonate verbringen mußten.

Nach Sarahs Auseinandersetzung mit Mhari achteten sie ganz besonders darauf, ihre Gedanken lückenlos abzuschirmen. Nur gegenüber Gavin und seiner Schwester Fiona, die öfters zu Besuch kamen, konnten sie offen sein. Sarah war als Kind eine Zeit lang bei Gavins Familie in Pflege gewesen und hatte sie genauso lieb gewonnen wie ihre eigenen oder Duncans Eltern. Mit Fiona zusammen hatte sie ihre ersten Nähkünste ausprobiert; danach hatten die beiden Mädchen versucht, mit ihren Sternensteinen die Nähte aus dem Tuch wieder zu lösen. Was hatten sie dabei gekichert, und wie sehr hatten sie geweint, als sie dabei erwischt wurden. Heute konnte sie darüber lachen; dennoch schwor sie sich: Ich werde meine Tochter wegen so etwas nie bestrafen.

Eines Abends lud Duncan Garin unter dem Vorwand zu sich ein, mit ihm über die Fortsetzung des Hausbaus im Frühling sprechen zu wollen. Diese Fragen waren rasch erledigt, und Duncan kam schnell zu seinem eigentlichen Anliegen. »Sarah und ich sind davon überzeugt, daß man mit den Sternensteinen viel mehr bewerkstelligen kann, als wir bisher ahnen. Du hast uns schon einmal bei dem Versuch geholfen, die Reichweite der Verständigung zu testen. Das ist aber nur eine Möglichkeit. Wir glauben, daß einige der dummen Streiche, die wohl jeder einmal als Kind damit gespielt hat, sich durchaus für nützliche Zwecke anwenden ließen.«

»Davon darfst du aber deinen Eltern nichts verraten, Duncan. Sie reden jetzt immer häufiger davon, daß wir die Steine ganz aufgeben sollten. Haben sie eurem Kind schon einen vermacht?«

»Nein, und das, obwohl sie bereits ihre Namensweihe hatte.

Unsere Mütter scheinen wirklich Angst vor den Steinen zu haben!

Judy ist altmodisch und hätte daher nichts gegen einen Talisman einzuwenden, wie es bisher immer der Brauch war. Aber Laura hat der unglückselige Tod ihres Cousins so aus der Fassung gebracht, daß sie am liebsten alle Matrices für immer verschwinden ließe. Sie hat bereits versucht, den Jüngeren ihre Steine wieder wegzunehmen, aber die hatten sich so sehr an sie gewöhnt, daß sie furchtbar geweint haben und einige sogar krank wurden. Das hat Fiona nur noch mehr erschreckt. Sie redet ständig von Hexerei und Höllenkunst, und Judy zitiert die Lehren des Heiligen Valentin über das Laster des Wahrsagens. Wir gehen jeder Diskussion mit ihnen aus dem Weg; Sarah und ich müssen uns da sehr bedeckt halten.«

»Ich habe eine Höhle voller Sternensteine gefunden. Es waren ganz große dabei – ich bin sicher, daß wir dort für Judella einen passenden Stein finden.«

»Ich danke dir, mein Freund. Sarah wird es auch sehr zu schätzen wissen. Wir beide wollen wirklich daran weiterarbeiten, aber wir müssen es im Geheimen tun. Deshalb möchten wir dich und Fiona fragen, ob ihr nicht zu uns ziehen und die Arbeit mit uns teilen wollt. Zu viert wären wir viel eher in der Lage, sowohl den Hof zu bestellen als auch unseren Ideen nachzugehen.«

»Darüber muß ich erst mit Fiona sprechen. Sie soll es selber entscheiden. Können wir nicht gleich beide Frauen hinzuziehen und gemeinsam alles besprechen?«

»Heute abend besser nicht. Die Eltern sollen doch keinen Verdacht schöpfen. Wir müssen sie erst einmal davon überzeugen, daß es leichter ist, das Land zu bestellen, wenn mehr als eine Familie zusammenarbeitet, so wie es auch schon unsere Vorfahren getan haben. Dann werden sie auch nichts mehr dagegen einzuwenden haben.«

»Fiona werden sie es trotzdem nicht gestatten. Sie ist noch unverheiratet und niemandem versprochen. Das gleiche gilt für mich. Dennoch werden sie mich wahrscheinlich ziehen lassen, aber bei Fiona bin ich mir nicht so sicher.«

»Überlaß das nur Sarah. Sie beklagt sich schon jetzt bei den Eltern, wie einsam es sein wird, und wie schwer es für eine Frau ist, allein auf dem Hof zu sein, wenn der Mann den ganzen Tag auf dem Feld oder bei den Tieren verbringt.«

Gavin grinste. »Ich verstehe. Und ich werde, wenn alles gut geht, in absehbarer Zeit Camilla Delleray heiraten. Sie gefällt mit gut, und außerdem ist sie begabt. Sie kann mit ihrem Stein sogar Tische und Stühle verrücken! Die Kinder versetzt sie mit ihren Kräften immer wieder ins Staunen, und sie hat einigen beigebracht, wie sie kleinere Gegenstände selbst bewegen können.«

»Und sie bekommt deshalb keine Schwierigkeiten? Was sagen denn die Erwachsenen dazu? Wissen unsere Eltern eigentlich davon? Bisher haben sie es mit keinem Wort erwähnt.«

»Camilla geht sehr vorsichtig damit um und hat die Kinder schwören lassen, es geheim zu halten. Schließlich weiß jeder, wie konservativ Judy und Dougal und Laura und Rafe sind. Ist dir noch nicht aufgefallen, daß sie sich bei einigen inzwischen immer unbeliebter machen? Ich hatte große Mühe, meine Familie zu überreden, heute abend hierher zu kommen. Nur Fiona war gern dazu bereit.«

»Wieso glaubst du dann, sie würden dir oder Fiona erlauben, bei uns zu leben? Anscheinend meinen sie doch, wir führten Böses im Schilde.«

»Ganz und gar nicht, da hast du mich falsch verstanden. Sie machen sie nicht wegen dir und Sarah Sorgen, sondern wegen eurer Eltern, besonders Rafe und Laura. Schließlich sind sie es, die die Sternensteine aus dem Verkehr ziehen wollen. Sie besitzen den einzigen Vorrat an Matrices, weigern sich aber, sie auch weiterhin als Glücksbringer auszuhändigen. Davon mußt du doch gehört haben?«

»Nein, nichts davon! Aber wir sind in letzter Zeit auch nicht viel herumgekommen. Dougal und Rafe wollten dieses Jahr an keinem der großen Feste teilnehmen.«

»Das paßt genau ins Bild. Sie vertreten das konservative Lager, und immer weniger Leute wollen mit ihnen zu tun haben. Begreifst du denn nicht, was es bedeutet, wenn sie die Sternensteine nicht mehr freigeben?«

»Doch, ich glaube schon. Aber was ist mit Camilla? Wie schnell könnt ihr heiraten? Sie wäre die ideale Ergänzung für unsere Gruppe. Bedenk doch nur, was wir erst zu fünft alles erreichen könnten! Zumal, wenn eine von uns schon Tische und Stühle verrücken kann!«

»Nun mal hübsch langsam, Duncan! Ich werde Camilla nicht heiraten, nur um dir und deinen Plänen damit einen Gefallen zu tun. Außerdem wird sie erst im nächsten Sommer das heiratsfähige Alter erreichen. Vielleicht dann …«

»Streng dich an, Gavin!«

Gegen Ende des Sommers war das Haus im wesentlichen fertiggestellt, und Duncan, Sarah und die kleine Judella konnten endgültig einziehen. Die Schafe waren auf die neuen Weiden getrieben und ein Gemüsegarten abgezäunt worden. Das Getreide stand gut und versprach eine reiche Ernte – mehr als genug, um sie sicher über den Winter zu bringen. Gavin und Camilla, seine Braut, errichteten für sich ein kleines Häuschen, und Fiona leistete Sarah Gesellschaft. Sarah erwartete ihr zweites Kind, diesmal einen Jungen, der im Frühjahr zur Welt kommen sollte.

Durch die geteilte Arbeit fanden sie genug Zeit, ihre Experimente mit den Sternensteinen ernsthaft zu beginnen. Sie kamen jeden Abend nach dem Essen mit ihren Steinen zusammen und erweiterten ständig ihre Kenntnisse. Sarah schlug schließlich vor, nicht nur mit ihren eigenen Matrices zu arbeiten, sondern andere hinzuzunehmen, um die Energie zu erhöhen. Statt vier oder fünf isolierter Kraftfelder konnte man die Energie aller zu einem einzigen Strahl bündeln und auf den Gegenstand des Experiments richten.

Damit gelang es ihnen, auch schwere Materialien zu bewegen, und bald schon waren sie in der Lage, beim Hausbau große Steine ins Mauerwerk einzufügen. Sarah wurde immer geschickter, wenn es darum ging, die einzelnen Energiestränge zusammenzuführen und auf ein Ziel zu lenken.

Eines Abends wurden sie durch Sarahs Schmerzensschrei, den alle verspürten, aus ihrem Rapport gerissen. Sarah krümmte sich und umschlang ihren Bauch; dann brach sie, umgeben von einer Blutlache, auf dem Boden zusammen.

»Ich reite sofort los und hole die Hebamme«, rief Gavin.

Fiona und Duncan beugten sich über die stöhnende Sarah. »Was ist mit dir, Liebling?« fragte Duncan. »Was ist mit dem Kind?«

»Es ist tot, Duncan, tot! Es kommt viel zu früh. Die Sternensteine haben es getötet.«

Fiona berührte ihre Freundin sanft und strich mit ihren Fingern behutsam über Sarahs Bauch. »Ich kann es sehen, Duncan. Geplatzte Blutgefäße. Sie wird verbluten, bevor Melora hier eintrifft. Hilf mir, wir müssen die Blutung unterbinden!«

»Aber wie?«

»Wenn wir schwere Gegenstände verrücken können, sollte es uns auch gelingen, einzelne Zellen zu bewegen und damit die geplatzten Blutgefäße zu schließen. Versuche es! Konzentriere dich!«

Sie verbanden sich erneut im Rapport, und gemeinsam steuerten sie Zellen an den gewünschten Ort. Allmählich ließen die Blutungen nach. Zwar setzten immer wieder neue Wehen ein und zerrissen weitere Adern, aber auch diese Blutungen konnten gestillt werden.

Schließlich wagten sie es, Sarah in ihr Bett zu tragen.

Als nach Stunden Gavin mit der Hebamme eintraf, war das Kind bereits geboren; es war so deformiert, daß es kaum als menschliches Wesen zu erkennen war. Sarah hatte sich während der qualvollen Entbindung nur einmal kurz aufgebäumt; jetzt lag sie erschöpft und bleicher als die Leinentücher auf ihrem Bett. Fiona ging in die Küche, um etwas dünnen Haferschleim und Fleischbrühe für sie zu richten. »Sie muß wieder zu Kräften kommen«, erklärte sie. »Mach inzwischen alles sauber, Duncan. Hol Wasser, um die Tücher und Kleidung einzuweichen.«

Duncan starrte sie nur benommen an; wie gelähmt.

»Nun mach schon, Duncan!«

Ohne hinzusehen wickelte er den deformierten Fötus in ein Tuch, trug es zur Feuerstelle und legte es dort ab. Dann holte er kaltes Wasser und tunkte die fleckigen Laken und Kleider hinein. Einen weiteren Eimer Wasser wärmte er, um damit seine bewußtlose Frau zu waschen. Fiona brachte die Fleischbrühe und flößte sie langsam Sarah ein. Unwillkürlich öffnete sie den Mund und schlug die Augen auf.

»Mein Kind?«

»Beruhige dich, Sarah.« Fiona schüttelte traurig den Kopf. »Trink das hier. Du hast sehr viel Blut verloren, und die Brühe wird dir gut tun.« Sarah richtete sich mit Fionas Hilfe in ihren Kissen auf und schlürfte gehorsam die Brühe und den Haferschleim; dann kaute sie noch etwas Nußbrot.

Judy hatte recht – die Sternensteine sind gefährlich. Ich habe unser Kind getötet, Duncans Sohn. Wo ist Judella?

Duncan schmiegte ihre Hand an seine Wange. »Judella schläft ruhig und sicher in ihrer Wiege. Mach dir keine Vorwürfe, Sarah.

Damit konnten wir alle nicht rechnen. Wir haben unseren Sohn verloren, jetzt laß mich dich nicht auch noch verlieren. Du mußt leben! Zehre von meiner Stärke, bis du deine wiedererlangt hast.

Aber lebe, Geliebte! Für mich und für Judella!«

Schließlich kamen Melora und Gavin an; sie waren nach dem langen Ritt völlig außer Atem. »Wenn sie nur bei ihrer Mutter zu Hause gewesen wäre, dann hätte ich etwas für sie tun können«, jammerte die Hebamme zum wiederholten Mal. »Sie muß doch gewußt haben, daß sie schwanger war. Warum ist sie nicht sofort nach Hause gekommen?«

»Sie hat das Kind verloren, Melora«, sagte Fiona. »Ich glaube nicht, daß du es hättest verhindern können.«

Melora beugte sich über die ausdruckslos vor sich hin starrende Sarah. »Laß mich dich untersuchen, chiya.« Die Berührung ihrer Hände war sanft und beruhigend. Sarah sank in ihre Kissen zurück.

Nach der Untersuchung stand Melora auf und wandte sich an Fiona.

»Hat sie schon etwas zu sich genommen?«

»Ja, etwas Brühe und Haferschleim. Und etwas Nußbrot«, berichtete Fiona.

»Gut so. Gebt ihr auch weiterhin so viel wie möglich zu essen. Sie hat sehr viel Blut verloren, und ich kann mir nicht erklären, wie ihr die Blutungen unterbinden konntet. Wie dem auch sei, sie ist bereits auf dem Weg der Besserung. Sie braucht noch viel Ruhe und Pflege, aber sie wird wieder gesund werden.«

Fiona blickte zu Duncan und zog fragend die Augenbrauen hoch.

Er aber schüttelte den Kopf, und so verschwiegen sie Melora, was sie getan hatten. Fiona ging schweigsam in die Küche zurück, während Duncan Melora den Fötus zeigte. Die Amme betrachtete ihn lang und eindringlich; dann meinte sie kopfschüttelnd: »Die Fehlgeburt war nicht zu verhindern. Der Mutterkuchen war viel zu schwach entwickelt. Es hätte jederzeit passieren können. Besser jetzt als später.«

Sarah hatte alles halb benommen mitgehört. Dann war es also doch nicht meine Schuld. Es wäre so oder so geschehen! Aber ich habe diese unglaubliche Kraft gespürt, und dann, als ob etwas in mir zerriß. Es muß die Kraft der Matrix gewesen sein. Vielleicht wäre es später passiert, beim Heben eines zu schweren Gegenstands. Daß es jetzt passiert ist, muß an dem Sternenstein gelegen haben.

Tagelang lag Sarah im Bett, ruhte sich aus, schlief viel und aß wenig.

Nur die kleine Judella, die bereits zu laufen und sprechen begann, konnte sie aus ihrer Apathie aufrütteln. »Mama, Mama«, gluckste sie und tätschelte dabei Sarahs Wangen. Auch Duncan und Fiona versuchten immer wieder, sie aufzumuntern und zum Sprechen zu bringen, aber Sarah reagierte kaum. Selbst ihre Gedanken hatte sie vor ihnen fest abgeschirmt. Derart hinter ihren Barrieren verschanzt, quälte sie sich mit zahllosen Fragen.

Sollen wir mit unseren Experimenten weitermachen? Natürlich würde ich nie wieder ein Kind in mir gefährden! Aber vielleicht kann ich ja auch gar keine Kinder mehr bekommen, wenn ich mit den Steinen weiterarbeite?

Sie haben Melora nichts davon gesagt. Wenn sie wüßte, schlimmer noch, wenn sie es Judy erzählen würde – wo ist Judy? Sie ist doch meine Mutter, warum kommt sie dann nicht? Warum kümmert sie sich nicht um mich?

Es ist doch nur ein Ritt von ein paar Stunden. Aber bald ist Winter, und dann ist es zu spät.

War es doch meine Schuld?

Gavin und Duncan setzten die Arbeit an Gavins Haus fort, brachten die Ernte ein und hatten auch sonst mit den Herden alle Hände voll zu tun. Es blieb ihnen keine Zeit, an Sarahs Krankenlager zu sitzen und ihr gut zuzureden. Fiona nahm Judella mit, wenn sie tagsüber den beiden Männern draußen half; sie kehrte dann früher heim, um das Essen zu richten, Judella und Sarah zu versorgen und überhaupt den Haushalt einigermaßen in Ordnung zu halten. Immerhin fühlte sich Sarah bereits etwas schuldig, daß sie den anderen die ganze Arbeit überließ. Eines Tages versuchte sie, ohne fremde Hilfe aufzustehen, und zu ihrer Überraschung gelang es ihr ohne allzu große Mühe. Sie fühlte sich zwar noch etwas unsicher auf den Beinen, ansonsten aber schon wieder ganz gut bei Kräften. Danach übernahm sie im Haushalt wieder mehr von ihren Pflichten.

Auch die Mahlzeiten nahm sie jetzt wieder mit den anderen ein, und selbst zu Gesprächen über die alltäglichen Geschäfte war sie zu bewegen. Nur über den Tod des Kindes sprach sie nie. Sie weigerte sich auch, Duncan zu dem kleinen Grab zu begleiten, das er angelegt hatte. Judella brabbelte weiterhin vergnügt vor sich hin; aber Duncan und Fiona, die sich mit dem Kind leicht im Rapport verbinden konnten, wußten, daß die Kleine irgendwie spürte, daß ihre Mutter litt, und daß Judella mit ihrem Geplapper versuchte, Sarah aufzuheitern.

Eines Abends nahmen sich die drei Sarah vor. »Wir werden nicht länger mit ansehen, daß du dir und uns das antust, Sarah«, erklärte Duncan bestimmt. »Wir werden mit unseren Experimenten fortfahren. Du kannst dabei zuschauen oder uns helfen oder aber dich weiterhin hinter deinen Barrieren verkriechen. Wir werden weitermachen.«

Seine Worte trafen Sarah wie ein Fausthieb. Tränen standen ihr in den Augen. »Verstehst du denn nicht? Ich wage es einfach nicht, die Steine nochmals zu benutzen! Selbst wenn ich dadurch die Lovat-MacAran-Gabe verliere, ich kann meine Matrix nicht mehr benutzen. Nie mehr!«

»Lah-ran! Lah-ran!« flötete Judella.

»Lovat-MacAran, mein Schatz, Lovat-MacAran«, verbesserte Duncan automatisch.

»Lah-ran! Lah-ran!« wiederholte Judella strahlend.

»Also gut, meinetwegen, Laran«, gab sich Duncan geschlagen.

»Das ist ja auch wirklich einfacher zu sagen.«

»Lah-ran machen, Pa, machen!« verlangte Judella jetzt.

»Sie will anscheinend eine kleine Kostprobe«, übersetzte Gavin.

»Und die soll sich auch bekommen«, erwiderte ihr Vater. Duncan rückte seine Holzbank vom Tisch ab und holte seinen Sternenstein hervor. Er konzentrierte sich, und plötzlich schwebte Judellas Eßnapf durch die Luft zu Gavin herüber. Der griff danach und stellte ihn sicher zurück auf den Tisch. Fiona mußte lachen, als die Kleine begeistert in die Hände klatschte.

»Gib ihr ihren Napf zurück, Duncan«, meldete sich Sarah zu Wort.

Zum ersten Mal seit Wochen reagierte sie lebhaft. »Tja ich weiß aber gar nicht, ob ich das wirklich will«, scherzte Duncan.

»Keine Sorge, mein kleiner Liebling, das haben wir gleich!«

Sarah ließ den Napf erneut in die Luft steigen und über ihren Köpfen kreisen; und nach einem eleganten Bogen um den Tisch landete er weich genau vor der juchzenden Judella.

»Das hast du alles ohne deinen Stern getan!« stellte Fiona erstaunt fest.

»Und eben hast du noch gesagt, du würdest ihn nie mehr benutzen«, meinte Duncan lachend.

»Richtig! Aber einiges kann ich auch ohne den Stein vollbringen.

Zumindest jetzt noch. Ich weiß nicht, wie lange noch.«

Plötzlich erkannten alle, daß Sarah ihre Barrieren gesenkt hatte.

Und zum ersten Mal seit ihrer Krankheit fanden alle wieder im Rapport zueinander. In diesem Augenblick waren sie so innig miteinander verbunden, daß sie fast übersehen hätten, daß sie nicht zu viert, sondern zu fünft einen Kreis bildeten, und daß ein Mitglied des Kreises noch sehr klein, sehr jung, sehr schwach war.

Judella! Sarah sah ihre Tochter an. Chiya, du hier? Judella hob ihre Patschhändchen und schlug lachend auf die Tischplatte. Lah-ran!

verkündete sie stolz.

Nach diesem Abend nahmen sie die Experimente wieder auf, und selbst Judella gehörte zu ihrem Kreis, wenn sie kleinere Gegenstände bewegten. Duncan, Gavin und Fiona wechselten sich dabei ab, die Energiestrahlen zu bündeln und den Kreis zusammenzuhalten, wobei sie immer schwierigere Manöver durchführten.

Das Wetter verschlechterte sich derweil merklich. Aus den nächtlichen Regenschauern wurden Stürme, die immer häufiger mit Schneeregen durchsetzt waren.

»Es wird Zeit für mich zurückzukehren«, meinte Gavin. »Ich habe Camilla schon viel zu lange allein gelassen. Zum Mittwinterfest wird Hochzeit sein, und ich hoffe, ihr könnt alle kommen. Das gilt auch für dich, kleine Judella. Aber bringt dem Kind vorher noch bei, wie man seine Gedanken abschirmt, oder eure Mütter trifft der Schlag.«

»Noch eine Frage, Gavin«, schaltete sich Sarah ein. »Weißt du, warum meine Mutter nicht gekommen ist, als ich so krank war? Ich habe das Gefühl, du hast mir die ganze Zeit etwas verheimlicht.«

Gavin fühlte sich ertappt. »Ja, das habe ich tatsächlich. Deine Mutter, und auch Duncans, sie machen sich schreckliche Vorwürfe, daß sie euch weggeschickt und euch so freie Hand gelassen haben.

So konntet ihr mit den gefährlichen Steinen hantieren, ohne daß sie eingreifen konnten. Und das hat sie nur noch zorniger und fanatischer gemacht. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie zu meiner Hochzeit erscheinen werden. MacAran ist nur noch Oberhaupt seines Clans, aber nicht mehr Anführer des Dorfes. Der neue Anführer ist mein Vater, MacLeod. Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht noch zusätzlich Kummer bereiten.«

»Ich danke dir, daß du es mir jetzt gesagt hast.« Duncan legte den Arm um seine Frau, und gemeinsam teilten sie schweigend den Schmerz.

Die Hochzeit fand im Hause der MacLeods statt, und das gesamte Dorf nahm daran teil. Auch die MacArans und Lovats waren gekommen. Judy und Laura gaben sich zunächst unnahbar, als sie Duncan und Sarah mit Judella sahen, wahrten aber immerhin die Form und begrüßten sie höflich. Doch Judella brachte das Eis schnell zum Schmelzen, und die beiden Großmütter ließen es sich nicht nehmen, ihre Enkelin während der Zeremonie abwechselnd auf dem Arm zu halten.

Die Festlichkeiten nach der Trauung gestalteten sich üppig; die Tische bogen sich unter dem Überfluß der reichhaltigen Speisen.

Sarah saß jetzt, mit Judella auf dem Schoß, bei den verheirateten Frauen, während Duncan sich mit der Braut, ihrer Schwägerin Fiona und einigen älteren Damen unterhielt. Sarah versuchte, mit Judy ins Gespräch zu kommen, aber abgesehen von der kleinen Judella schienen sie sich nichts mehr zu sagen zu haben. Sie wunderte sich, daß ihre Mutter keine ihrer unausgesprochenen Fragen beantwortet hatte, wie sie es früher zu tun pflegte. Sarah versuchte es noch einmal, mußte dann aber feststellen, daß Judy derart unüberwindliche Barrieren errichtet hatte, daß man sie für kopfblind hätte halten können. Daher fragte sie ihre Mutter direkt:

»Warum seid Ihr nicht gekommen, als ich so krank war? Melora hat Euch doch sicherlich davon berichtet?«

»Diese beiden, dein Gatte«, sie spuckte das Wort förmlich aus,

»und Gavins Schwester, haben übel an dir getan, als sie dich heilten.

Hätte Gott gewollt, daß du lebst, hätte er selbst dir Heilung gesandt.

Ihr aber habt die Wege des Bösen beschritten.«

»Mutter! Wie könnt Ihr so etwas sagen? Das Leben ist ein Geschenk der Götter, und wenn mein Leben gerettet wurde, dann war es ihr Werk, ganz gleich, welche Wege sie wählten!«

»Du hast dich uns schon zu sehr entfremdet. Du mußt wissen, Sarah, daß wir, dein Vater und ich, uns den Christoforo angeschlossen haben. Gemäß ihrer Lehre ist jeder Umgang mit der Lovat-MacAran-Gabe Sünde. Die heiligen Schriften, die uns St.

Valentin vom Himmel übermittelte, als wir hierher kamen, verbieten solche Hexenkunst. Wir lernen jetzt, wie wir uns völlig abschirmen können.«

»Aber Ihr selbst hattet doch immer Mitleid mit den Kopfblinden, weil sie nie die enge Vertrautheit mit anderen erreichen können …

Und was ist mit Mhari und den anderen Kindern?«

»Sie werden mit uns die Taufe im neuen Glauben erhalten. Im Frühjahr werden wir alle zusammen nach Nevarsin ziehen, um bei den Familien zu leben, die dort die Arbeit der Brüder im Kloster unterstützen.«

»Uns was ist mit Rafe und Laura?«

»Auch sie werden von hier fortziehen. Wahrscheinlich sprechen die Männer gerade jetzt mit Duncan über den Besitz.«

»Ich verstehe das alles nicht«, resignierte Sarah. »Wollt Ihr damit sagen, daß beide Clans New Skye vollzählig verlassen? Daß Duncan und ich ganz allein hier zurückbleiben?«

»New Skye ist kein geeigneter Ort für uns. Für keinen von uns. Es wäre besser für euch, wenn ihr auch fortzieht, bevor ihr noch mehr in Sünde verfallt. Kommt mit uns nach Nevarsin, so lange für euch noch Hoffnung auf Erlösung besteht.«

Sarahs vertraute Welt zerbrach. Sie hatte noch immer gehofft, daß mit Judellas Namensgebung die Kluft zwischen ihr und ihren Eltern überbrückt werden konnte, hatte gehofft, daß Judella in der Großfamilie aufwachsen würde, umgeben von Großeltern und Onkeln und Tanten, mit denen man gemeinsam die Festtage begehen konnte, oder die sogar die Kleine eine Zeit lang in Pflege nehmen würden. Trotz all der Entfremdung war ihr immer diese Hoffnung geblieben.

Verunsichert blickte sie im Raum umher und suchte Duncan. Dort stand er, ernsthaft mit Rafe und Dougal ins Gespräch vertieft. Sie versuchte, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Was sie in seinen Gedanken fand, war Zorn und Verwirrung. Er reagierte auf ihre Berührung, schaute in ihre Richtung, schüttelte aber den Kopf und wandte sich wieder seinen Gesprächspartnern zu.

»Ich weiß nicht, was ich Euch daraufhin erwidern soll«, erklärte sie ihrer Mutter. »Ich werde mit Duncan darüber reden.« Doch sie wußte, daß sie dies nur sagte, um Zeit zu gewinnen und weitere unangenehme Fragen zu vermeiden. Sie wußte, daß Duncan und sie nicht nach Nevarsin ziehen würden; wußte, daß sie die begonnene Erforschung der Lovat-MacAran-Gabe nicht aufgeben konnten; wußte schließlich auch, daß sie New Skye nie, oder zumindest nicht aus diesem Grund, verlassen würden.

Sarah und Duncan verbrachten die Nacht als Gäste bei Gavins Familie. In ihrem eigenen Heim waren sie nicht länger geduldet, und daran konnte auch Judella nichts ändern. Sie nutzten die Gelegenheit, um mit Lew MacLeod und seiner Frau Jenny alles zu besprechen.

»Was sollen wir tun, Lew?« fragte Duncan. »Unsere Familien wollen im Frühjahr fortziehen. Rafe, Laura und meine Geschwister werden nach Dalereuth gehen, und Dougal und Judy werden sich in Nevarsin den Christoforo-Brüdern anschließen. Sie verlassen Haus und Hof und erwarten, daß ich, genauer gesagt Sarah und ich, den Besitz übernehmen werden, oder daß wir ihnen nach Nevarsin oder Dalereuth folgen. Aber Sarah und ich wollen New Skye nicht verlassen.«

»Dann bleibt! Bleibt auf alle Fälle! Gavin und Camilla werden bei euch leben, und auch Fiona. Und wir, der alte MacLeod und seine Lady, sind auch noch da. Bleibt in New Skye, wenn ihr das wirklich wünscht.«

»Darf ich etwas sagen?« Fiona lehnte sich vor. »Ich gehöre nicht zur Familie, und so kann ich vielleicht nicht richtig beurteilen, wie ihr darüber denkt. Ich möchte mich auch nicht einmischen. Aber ich gehöre zu unserem Kreis. Und für mich sind wir eine Familie. Was wirklich zählt, ist, daß wir fünf – Verzeihung, Judella, mit dir sind wir sechs – zusammen sind. Vielleicht ist Familie gar nicht so sehr eine Frage der Geburt; vielleicht sind es besser Menschen, für die man sich bewußt entschieden hat – ich weiß es nicht genau. Aber was immer ihr entscheiden werdet, ich werde zu euch halten. Ich will zu euch gehören!«

Bei diesen Worten senkten alle ihre Barrieren und fanden sich in Freude und Leid vereint: Sarahs und Duncans Leid über den Verlust ihrer Eltern, aber auch die Freude über die neugewonnene Familie, von der Fiona gesprochen hatte. Schließlich erklärte Jenny abschließend: »Wir können nicht alle Probleme heute abend lösen.

Jetzt braucht jeder erst einmal etwas Schlaf, besonders Sarah und Duncan, bevor ihr morgen eure beschwerliche Heimreise antretet.

Ich weiß, daß ihr in New Skye bleiben werdet, und ihr seid uns jederzeit willkommen.«

Sarah stand am Fenster des Turms und blickte auf die Stadt hinunter, die sich bis zu ihrem Haus ausgedehnt hatte. Judella, inzwischen zehn Jahre alt, lief mit ihren zwei jüngeren, ebenfalls rothaarigen Geschwistern die kleine Straße entlang; sie kamen gerade von dem kleinen Laden zurück, wo sie ihr Taschengeld für Süßigkeiten ausgegeben hatten.

Die Vision, die Sarah vor so langer Zeit gehabt hatte, war eingetreten. Stück um Stück hatte sich New Skye an ihren Turm herangeschoben, bis er schließlich ganz von Häusern umgeben war.

Sarah seufzte. Die wenigen Augenblicke, die sie ganz für sich alleine hatte, waren ihr besonders kostbar. Das Haus, mittlerweile drei Stockwerke hoch, und der Turm, in dem sie jetzt stand, waren so von Leben und Laran erfüllt, daß sie sich manchmal nach den stilleren Tagen zurücksehnte, als weder körperliche noch geistige Nähe sie in ihrer Ruhe störten.

Unwirsch schüttelte Sarah diesen Gedanken ab. Das hatten sie doch immer erhofft, dafür hatten sie all die Jahre gearbeitet, dies übertraf sogar ihre kühnsten Erwartungen, mehr über die Lovat-MacAran-Gabe

herauszufinden!

Warum

also

diese

Unzufriedenheit?

Im Turm über ihr war ein Kreis neu auszubildender Telepathen bei der Arbeit; unten, im Hof, gingen andere den täglichen Aufgaben der Haus- und Hofführung nach; und einen halben Tagesritt entfernt bestellten, unter Aufsicht von MacLeod und seinem Haushalt, die Pächter des MacAran-Gutes die Felder und hüteten ihre Herden. Immer mehr Menschen wollten ihre Kinder zur Ausbildung in den Turm schicken, und aus den unterschiedlichsten Orten Darkovers kamen Anfragen nach ausgebildeten Arbeitern, die sie bei der Wetterkontrolle oder als Heiler unterstützen sollten. Selbst im entlegenen Dalereuth forderte man Hilfe an.

Wie soll ich bloß all diesen Anforderungen gerecht werden? Natürlich habe ich Helfer. Duncan und Gavin leiten die Arbeit der Kreise, Fiona ist meine rechte Hand bei der Haushaltsführung, und Camilla hat die Erziehung und Ausbildung übernommen. Ich hätte also allen Grund, dankbar zu sein. Und doch spüre ich die Last auf meinen Schultern, als ob ich alles alleine zu tragen hätte.

Mit einem erneuten Seufzer erhob sich Sarah und lief die Treppe hinunter. In der großen Halle traf sie auf Fiona und Duncan, der sie mit einem Kuß begrüßte. »Das trifft sich ja gut – wir wollten gerade mit dir sprechen. Fiona und ich sehen erneut Probleme auf uns zukommen. Die Anwesenheit so vieler Gedanken, die sich uns aufdrängen, ob nun beabsichtigt oder nicht, wird uns einfach zu viel. Bei den Neuankömmlingen ist es besonders schlimm. So lange sie nicht richtig gelernt haben, ihre Barrieren zu errichten, schwirren ihre Gedanken unkontrolliert in der Gegend rum.«

»Das macht mir auch sehr zu schaffen«, stimmte Sarah zu. »Und vielleicht senden wir selbst versehentlich zu viele Gedanken aus.

Aber was können wir dagegen tun? Wenn ich nur mehr Zeit für mich hätte …«

»Genau darum geht es! Wir alle brauchen mehr Zeit für uns, und auch die Räumlichkeiten, um allein sein zu können. Deshalb habe ich folgenden Vorschlag.« Fiona breitete auf dem Tisch die Baupläne des Hauses aus.

»Schau her, Sarah. Wenn wir diesen Plan verwirklichen können, bekommt jeder, auch die Kinder, sein eigenes Zimmer. Zwar klein, aber ganz für sich allein. Dann hat jeder einen Ort, an den er sich zurückziehen kann. Und dort«, – Duncan deutete auf die bisherigen Stallungen – »dort könnten wir die Schlafsäle für die Neuankömmlinge unterbringen.«

»Das ist ja wunderbar! Endlich etwas Ruhe und Frieden … Wenn wir jetzt noch die Energiespeicheranlage dazu benutzen könnten, das Laran wirklich effektiv abzublocken, bräuchten wir uns nicht mehr auf unzureichende Schilde und Barrieren verlassen.«

»Gut – dann ist unser neues Projekt beschlossene Sache!« Diesmal war es Duncan, der eine Vision hatte, an der er Sarah und Fiona teilhaben ließ: ein neuer Turm an einem anderen Ort, der ebenfalls junge Menschen ausbildet, und dann noch ein Turm, und noch einer, über den ganzen Planeten verteilt, und alle standen miteinander in Verbindung und übermittelten Nachrichten und Informationen.

»Das also hält die Zukunft für uns bereit«, sagte Sarah. »Und genauso, wie wir New Skye haben wachsen sehen, werden wir auch das noch erleben.« Sie war sich sicher: die Zukunft stand ihnen offen. Jede Stadt würde ihren eigenen Turm besitzen – Türme, die als Relaisstationen dienten und von denen aus einzig mit der Macht des Laran Gebäude errichtet oder Erze aufgespürt und abgebaut würden. Und nicht nur New Skye, nein, der ganze Planet würde von dem erarbeiteten Wohlstand profitieren. Ja, die Zukunft stand ihnen offen. Und es war gut so.

LANA YOUNG

Heimkehr

Lana Young ist eine richtige Hundenärrin; zwei ausgewachsene Rottweiler mit acht Welpen sind ihr ganzer Stolz. Bei dem Gedanken wird mir schwindelig, obwohl ich Hunde durchaus mag; ich hoffe nur, daß Lana auf dem Land lebt und ihnen viel Auslauf bieten kann. Als einen ihrer Berufswünsche gibt sie an, ein Tierheim einzurichten. Viel Spaß dabei!

Dies ist ihre erste veröffentlichte Geschichte, aber sie hofft, daß weitere folgen werden. Diesem Wunsch schließen wir uns an.

So schnell die Nacht auf Darkover hereinbricht, so langsam geht die Sonne auf, als ob sie nur widerwillig den neuen Tag begrüßen wolle.

In diesen frühen Morgenstunden, die sich noch nicht so recht zwischen Nacht und Tag entscheiden konnten, dockte das Schiff im terranischen Raumhafen von Thendara an. Verglichen mit den riesigen Raumtransportern, die normalerweise nach Darkover kamen, war es ein kleiner, privat gecharterter Raumgleiter. In der vorderen Kabine bereitete sich die einzige Passagierin darauf vor, von Bord zu gehen.

Sie hatte ihre dünnen Kleider, die auf Terra üblich waren, zugunsten darkovanischer Tracht abgelegt: Stiefeletten, weite Hosen und einen Kasack, darüber einen reich bestickten Mantel. Am Gürtel trug sie einen Dolch, der fast schon die Ausmaße eines Schwerts hatte. Als sie sich ihre Tasche über die Schultern warf, mußte sie an jene Nacht zurückdenken, in der sie Darkover mit nicht viel mehr als den Kleidern auf dem Leib und einer Novizin der Entsagenden aus dem Gildehaus Thendara im Schlepptau verlassen hatte. Jetzt war im Futter ihrer Kleider ein kleines Vermögen eingenäht, und das Mädchen, das sich in letzter Minute ihrer Flucht angeschlossen hatte, war inzwischen auf einem fremden Planeten Vorsteherin eines Gildehauses.

Als sie ihre Kabine verließ, wurde sie von einem jungen Besatzungsmitglied aus ihren Gedanken gerissen. »Soll ich Ihre Tasche tragen, Miss Lorne?«

»Nicht nötig«, erwiderte Magda Lorne lächelnd. »Ich habe sie bisher getragen und gedenke, dies auch weiterhin zu tun. Nichts für ungut, aber es ist nun mal nicht unsere Art, Männer um Hilfe zu bitten.« Sie ließ ihn zurück, ging auf die Ausstiegsluke zu und trat in die frische Morgenluft ihres Heimatplaneten hinaus.

Am Einreiseschalter stellte ein gelangweilter Beamter die üblichen Fragen, die sie routiniert beantwortete. Sie sei, so erklärte sie ihm, gebürtige Darkovanerin, habe in den letzten fünf Jahren das terranische Imperium bereist und kehre nun heim. Die Antworten, korrekt zwar, wenn auch unvollständig, stellten den Beamten offensichtlich zufrieden, der sich daraufhin umgehend in sein warmes Büro mit dem bequemen Stuhl zurückzog.

Magda ließ die hellen Lichter des Raumhafens hinter sich und tauchte ins Dunkel der Stadt ein. Erneut war sie mit ihren Gedanken allein.

Jene Schreckensnacht – ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre.

Die Freunde, die Familie – alle ermordet, nur weil sie es wagten, Wahrheit und Freiheit zu verkünden. Sie hielt kurz inne, um das Gewicht ihrer Tasche auf die andere Schulter zu verlagern.

Und doch scheint es mit eine Ewigkeit her zu sein. Andrew, Callista, Damon und Ellemir – alle tot; und auch Cleindori und meine geliebte Shaya – so jung noch, und doch nicht verschont. Von allen, die ich liebte, blieb nur Camilla am Leben.

Beim Gedanken an Camilla traten ihr Tränen in die Augen. Als die Mörder zuschlugen, war Camilla mit der Schwesternschaft in den Bergen unterwegs. Sie blieb unerreichbar, auch in den folgenden Tagen, in denen Magda sich versteckt halten mußte. Man hatte Magda und alle in ihrer Begleitung für vogelfrei erklärt. Ihr blieb als einziger Ausweg die Flucht, sonst hätte sie das Gildehaus und alle, die ihr Hilfe gewährten, mit ins Unglück gerissen.

Sie seien verflucht! Ich konnte mich noch nicht einmal verabschieden.

Als sie sich ihrem Ziel näherte, verlangsamte Magda ihren Schritt.

Es ist so lange her, und ich habe mich nie gemeldet. Werden sie mich überhaupt wieder aufnehmen? Was ist, wenn auch Camilla das Gildehaus verlassen hat, oder mit einer anderen … NEIN! Ich werde mir nicht unnötig Sorgen machen. Camilla wird da sein. Sie muß einfach da sein!

Magda fühlte sich in ihrem Beschluß bestärkt, wischte die Tränen weg und eilte die graue Straße hinab. Endlich stand sie wieder vor dem Gildehaus. Um den letzten Zweifel zu zerstreuen, griff Magda nach dem kleinen Seidenbeutel, der ihr an einer Schnur um den Hals hing, entnahm ihm den blauen Sternenstein und konzentrierte ihre Gedanken.

Mit ihrem Laran suchte und fand sie diejenige, um derentwillen sie die lange Heimreise quer durch das Universum angetreten hatte.

Camilla erwachte gerade, als sich ihre Gedanken berührten. Magda spürte die kurz aufflackernde Verunsicherung, gefolgt von dem freudigen Moment des Wiedererkennens. Sie ließ ihren Sternenstein in den Beutel zurückgleiten; dann klopfte sie beherzt an die Tür vor ihr. Ein Mädchen öffnete die Tür einen Spalt weit und blinzelte Magda durch verschlafene Augen an.

»Willkommen, Schwester«, begrüßte das Mädchen sie. »Ich kenne dich nicht; aus welchem Haus stammst du? Und was treibt dich durch die Nacht hierher? Steckst du in Schwierigkeiten?«

»Ich stamme aus diesem Haus«, erwiderte Magda. »Und meine Schwierigkeiten haben mich länger als nur eine dunkle Nacht umhergetrieben. Jetzt bin ich heimgekehrt, um Camilla wiederzusehen.«

»Um diese Zeit? Ich bin sicher, sie schläft noch. Vor Sonnenaufgang rührt sich niemand ohne guten Grund.«

»Du kannst mir ruhig glauben. Sie ist bereits aufgestanden und kleidet sich wahrscheinlich gerade an.« Die Türsteherin schaute Magda voller Zweifel an, aber ehe sie noch etwas entgegnen konnte, waren herbeieilende Schritte und eine aufgeregte Stimme zu hören.

»Mach Platz, chiya, laß mich vorbei!«

Camilla stand die Erregung ins Gesicht geschrieben, als sie jetzt hinter dem Mädchen auftauchte, es beiseite schob und hinaus auf die Straße stürzte. Atemlos und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Magda an.

»Breda, bist du es wirklich? Ich glaubte, du seist tot! All die Jahre habe ich um dich getrauert, und jetzt bist du zu mir zurückgekehrt!

Wo bist du gewesen? Wie ist es dir ergangen?«

»Ich war tot. Innerlich war ich in den vergangenen Jahren tot«, erwiderte Magda. »Aber jetzt habe ich dich wieder und lebe. Cara Mia, ich werde dich nie mehr verlassen!« Jedes weitere Wort war unnötig. Und als sie sich umarmten, im Rapport miteinander verschmolzen und sich erneut die Treue schworen, da endlich ging die Sonne über Darkover auf.

ELISABETH WATERS

Stumme Freunde

Es gibt viele Gründe, warum ich froh bin, mit Elisabeth in einem Haus zu wohnen; nicht zuletzt deshalb, weil ich ihr immer sagen kann, was mir bei der Zusammenstellung einer neuen Anthologie noch zu fehlen scheint –

und dann setzt sie sich einfach hin und schreibt es für mich. Kann es ein nützlicheres Talent geben? Was ich diesmal zur Abrundung brauchte, war eine kurze, amüsante Geschichte. Und sie zauberte genau jene Geschichte aus dem Hut, die ich selber gerne geschrieben hätte, wenn ich die Zeit dazu fände. Allmählich wundert mich bei Lisa gar nichts mehr. Sie kann sogar Zahlenreihen richtig addieren – was mir nie gelingt – und hat den von Andre Norton gestifteten Gryphon Award für den besten unveröffentlichten Roman gewonnen. Als ich sie das erste Mal traf, hatte sie noch nichts veröffentlicht – aber das sollte sich in meiner Gegenwart schnell ändern. Wer mich erst einmal getroffen hat, weiß, daß jeder dazu in der Lage ist.

Geliebter Vater!

Gestern also fand das große Ereignis statt – Cassildas Heirat mit Edric Ridenow. Und damit müßte ich sie jetzt eigentlich als Lady Serrais titulieren, aber das will mir nicht recht über die Lippen kommen; sie ist und bleibt doch meine große Schwester. Es ist wirklich schade, daß Ihr und Mutter bei der Hochzeit nicht dabei sein konntet, aber Coryn hat Euch würdig vertreten, und Donal und ich haben Cassilda nach besten Kräften unterstützt und ermutigt.

Vor der Trauungszeremonie war sie furchtbar nervös, aber heute morgen scheint sie schon sehr viel gelöster zu sein.

Coryn und ich werden noch bis zum Frühjahr hier bleiben, da sich jetzt endlich mein Laran meldet – ich glaubte schon, ich würde niemals erwachsen werden, aber das scheint sich ja jetzt zu ändern.

Jedenfalls meint Auster, der extra für die Hochzeit aus Arilinn zurückgekommen ist, daß ich nicht unnötig reisen sollte, so lange ich noch unter der Schwellenkrankheit leide. Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, so krank bin ich nun auch wieder nicht, daß es gefährlich wäre; ich fühle mich nur ziemlich elend.

Ihr fragt Euch bestimmt schon besorgt, was für eine Art Laran ich entwickeln werde. Aber ich kann Euch beruhigen: es wird nicht halb so unangenehm wie bei meinen Brüdern und Schwestern sein. Auch ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Cassilda ihren Rapport mit den Falken entwickelte, und die Vögel ihr überall hin folgten.

Mutter war alles andere als begeistert, als sich die Biester immer auf ihren Gardinenstangen niederließen – und was schimpften erst die Waschfrauen, wenn sie die Spuren der lieben Tierchen auf der frisch gewaschenen Wäsche entdeckten! Donals Rapport mit den Wölfen werden wir wohl auch nicht so schnell vergessen – besonders ihr Geheul, als er die Schwellenkrankheit durchmachte! Da war Coryns Rapport mit den Pferden noch vergleichsweise harmlos, ja sogar ganz nützlich, obwohl Ihr in jenem Jahr die Stallungen erweitern mußtet.

Auch ich habe, wie könnte es anders sein, Rapport mit Tieren entwickelt, aber in meinem Fall sind die fraglichen Tiere klein, sauber und vor allem stumm, und sie werden mir auch nicht im ganzen Haus hinterherlaufen. Wie Ihr sicherlich wißt, hat Lerrys Ridenow das ganze Imperium bereist, und aus den tropischen Gewässern Terras hat er eine beträchtliche Anzahl kleiner Fische mitgebracht. Ja, und mit diesen Fischen habe ich meinen Rapport entwickelt! Lerrys hat mir zum Mittwinterfest fünfhundert davon geschenkt, was mich natürlich riesig gefreut hat. Donal wird Euch zusammen mit diesem Brief die Pläne für die Wasserbehälter überbringen, die wir benötigen, um die Fische unterzubringen. Die meisten können im großen 200-Gallonen-Tank bleiben, aber die Kugelfische brauchen ihren eigenen Behälter. Sie sind viel zu gefräßig und aggressiv, als daß man sie mit anderen Fischen zusammen halten könnte. Und die Buntbarsche fallen sogar übereinander her, aber ich glaube, daß ich sie davon überzeugen kann, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen, wenn wir sie in einem extra 75-Gallonen-Tank halten.

Coryn und ich werden alles übrige, wie Wasserpflanzen, Kies, Filter und Heizstäbe, mitbringen, wenn wir zurückkommen. Auster hat sich freundlicherweise bereit erklärt, den Transport der Fische mit dem Flugwagen aus Arilinn zu übernehmen, sobald das Wetter mitspielt und es warm genug ist (die Fische gehen ein, wenn die Wassertemperatur wesentlich unter die tropischen Temperaturen von Terra absinkt – deshalb müssen auch alle Wasserbehälter beheizt werden). Die Tanks sollten eigentlich alle in mein Schlafzimmer passen, am besten entlang der großen, fensterlosen Wand; die Heizanlage müssen wir notfalls unter dem Bett verstauen.

Ich hoffe, Ihr und Mutter habt ein schönes Mittwinterfest verlebt.

Ich grüße Euch, bis zum Frühjahr,

Eure Euch liebende Tochter

Arielle MacAran