Spätabends kamen sie in Zinandali an. Vorn, zwischen den Bäumen, schimmerte ungewiß eine Mauer hervor. Der Wagen kläffte ins Dunkel und wippte auf der Hinterachse. Während sich Stratonow die Pfeife ansteckte, musterte Evgenia Ivanovna ihren Mann. Der Engländer duselte, im Sitz zurückgesunken. Der Hut saß ihm flott auf dem Ohr, die zerbissenen Lippen klebten aufeinander. Ein neuer Anfall begann.

Stratonow selber drückte die Ballonhupe. Hoffnungslos verzitterte der Ton in der provinziellen Stille. Das Alasan-Tal schlief einen märchenhaften Schlaf, allenfalls ein Erdbeben hätte es wecken können. In dieser Einöde hatte der Name Intourist alle magische Wirkung verloren, niemand kam die Koffer holen.

»Rühren Sie sich gefälligst, Kazo, sonst fliegen Sie«, fauchte Stratonow den Fahrer an. »Los, klopfen Sie, zum Kuckuck! Nur zu, Ihren verdammten Bück klaut schon keiner.«

Der eiferte in seinem gebrochenen Russisch dagegen. Wer, wenn nicht Stratonow, Angestellter des Reisebüros, habe sich denn um die ausländischen Herrschaften zu kümmern? Nochmals drohte der andere, stieß dabei die Namen dreier Kaukasusgrößen aus, und der Fahrer, grusinisch vor sich hin fluchend, trottete zum Tor und donnerte dagegen.

Evgenia Ivanovna fühlte sich nicht nach der ungewohnten Bergfahrt. An der schäumenden Jora, als sie die Furt suchten, war ihr zum Heulen gewesen, und auf der Paßhöhe von Telawi war sie einen halben Kilometer zu Fuß gelaufen. Wieder wollte sie frische Luft schöpfen und allein sein.

»Mich hat die Fahrt etwas mitgenommen, rufen Sie, wenn die Sachen geholt werden«, sagte Evgenia Ivanovna beim Aussteigen. »Außerdem möchte ich Sie bitten, lassen Sie den Wagenschlag offen, Herr Stratonow. Mein Mann verträgt gewisse Tabaksorten absolut nicht.«

Von den Höhen strömte hier das kühle Bitter von Herbstgräsern und Hirtenfeuern zusammen. Über sich ahnte man schweres nachtfeuchtes Laub. Finsternis umfing es wie vorm ersten Schöpfungstag. Indem sie auf die Geräusche im Rücken horchte, strebte Evgenia Ivanovna tiefer in den Park hinein.

Hinter ihr knirschte der Kies unter behutsamen Schritten.

»Sie haben einen untrüglichen Ortssinn, Mrs. Pickering«, sagte Stratonow auf französisch, und so klang seine so beklemmend vertraute Stimme wie durch eine Maske. »Hier im Gesträuch liegt eine sehr intime Dichterweihestätte verborgen. Wir besichtigen sie morgen. Aus verschiedenen Gründen möchte ich abraten, sie im Dunkeln zu besuchen. Überdies fällt das Zinandali-Plateau hier ziemlich steil ab, und der Zauber unsres Spaziergangs könnte leicht getrübt werden.«

Er bediente sich beharrlich des Französischen und ließ so durchblicken, daß es unter den gegebenen Umständen das beste sei, weiterhin die Unbekannten zu spielen. Seit Tiflis hatte er ihr auf ähnliche Art öfters bedeutet, sie möge ihre frühere Bekanntschaft und die alte leidige Geschichte vergessen. Seiner glatten Höflichkeit merkte sie an, daß ihn das Gewissen kaum quälte, eher war ihm seine Handlungsweise peinlich, wobei sie ihm getrost hätte etwas peinlicher sein können.

 

Er war ihre erste Liebe gewesen. Und begonnen hatte es um die Weihnachtszeit in einem stillen Steppenstädtchen. Stratonow trat bei seiner Mutter, einer Beamtenfrau, einen Genesungsurlaub an. Aus dem Lazarett kam er just zurecht zu einem Gymnasiastenball. Der Leutnant tanzte, den Arm in der Schlinge, und die Provinzbackfische hingen an ihm mit verzückten Blicken. Außer einer. Aus Eitelkeit ließ sich der junge Offizier aus Adlerhöhen hinab zu dem renitenten Geschöpf im braunen Kleidchen mit Spitzenpelerine. Es gab eine Akazienallee in der Stadt, Prospekt der verliebten Seelen genannt. Durch schaurige Friedhofspracht führte sie in mondscheinblaue Steppe, winters wie sommers gleich faszinierend. Den jungen Leutchen wollte es gar nicht in den Kopf, daß ihre Familien nicht längst Freundschaft pflegten, wo man doch schräg gegenüber im selben Gäßchen wohnte. Bis zur Februarrevolution suchten Beamtenfrau und Heilgehilfenwitwe das Versäumte durch wechselseitige Besuche und Gefälligkeiten nachzuholen. Vor der Abreise zur Truppe, beim Plinsenessen in der Butterwoche, rezitierte der Leutnant nach damaligem Brauch halb singend ein selbstverfaßtes Gedicht, in dem er den Wunsch bekundete, ein bewußtes Mädchen möge ihn fortan mit ihrer Augen Glanz zum Zweikampf mit den Feinden des neuen Lebens beseelen. Die Mütter wechselten einen Blick, da sie in sich ja schon die Verwandten sahen, und schauderten nur bei der Erwähnung der todgeweihten Tyrannen, von denen sie persönlich allein den alten Lateinlehrer kannten, den Schrecken der Faulpelze, und den Kaufmann an der Ecke, der bis zur Pensionsauszahlung Waren auf Borg gab. Fest stand, sobald der Krieg mit Gottes Hilfe gänzlich verloren sein würde, sollte Hochzeit gefeiert werden. Aber zunächst schwand der Zucker aus den Geschäften, und dann haperte es auch mit dem übrigen. Die beiden Alten entschieden, die Trauung wie das Leben überhaupt bis ans Ende der Wirren zu verschieben.

Das Jahr darauf, im Herbst, kroch Leutnant Stratonow, heimlich zurückgekehrt, in Heuschobern am Fluß oder im Taubenschlag seiner künftigen Schwiegermutter unter. Den langen Winter über hörte er nachts bei offener Fensterklappe Schießereien. Zum Frühjahr lagen die hiesigen Tyrannen zum Teil unter der Erde … Auf ihnen, die da rasch eingebuddelt waren, brüteten denn auch die Eintagsfliegen jener Jahre – Atamane des Reußenlandes, weltregierende Väterchen mit Mauser, Kommandanten des Erdballs und sonstige ungezügelte Heißsporne. Mit gezücktem Degen fegten sie durch die Steppe, zu Pferde oder auf Wagen, und furchten die laue kontinentale Stille; sie jagten sich selber zuschanden und versanken in Staubwolken zu seiten der alten Heerstraßen. In der Stadt tauchten schneidige Obristen auf, Wespentaille, weiße Umhänge überm Tscherkessenrock, die das erwachte Rußland befrieden wollten. Denikin, auf dem Durchmarsch, rief die einheimischen Aare von der Kirchentreppe herab zu soldatischen Taten auf, und diese, kahlgeschoren und nach Karbol riechend, schrien heiser hurra. Es gab Maskenbälle zugunsten der Kriegswaisen, aufsehenerregende Exekutionen, Becherschwenken mit Schießerei, Paraden, nächtelanges Kartenspielen, bodenlose russische Melancholie. Bald welkten die Sumpfblüten, verwehten im Winde: von Norden her walzte prasselnd die rote Feuerwalze durch die Steppe.

Eines Abends stürzte der Oberleutnant, ohne Achselstücke, zu seiner Braut herein, um ihr Lebewohl zu sagen. Nichts an diesem pulvergeschwärzten flatternden Alten erinnerte mehr an den Jurastudiosus im sechsten Semester. »Shenja, meine Göttin, meine Ophelia, mein Herz, dein wundervolles Bild wird mich durch die Wüste des … wie soll ich sagen?« Er stockte, schnalzte verstohlen mit den Fingern und schluchzte los wie ein Schuljunge … Draußen wurde geschossen, die Garnison in der Kaserne wehrte sich. Am Abend zuvor war eine rote Eskadron singend und johlend in die Vorstadt eingedrungen. Die Zeit drängte; schon schifften sich die ersten Einheiten der Weißen Armee irgendwo an der Küste auf einem ausländischen Frachter ein. Das Mädchen erbot sich, das Schicksal des Geliebten zu teilen. Der sträubte sich weidlich, obschon er wußte, was einer Offiziersbraut bevorstand. Die Mütter erteilten ihren Segen für die Reise und drückten ihnen je ein Köfferchen in die Hand mit dem Nachlaß zu Lebzeiten. In einer Mietskutsche, erbeutet nach dem Faustrecht des Rückzugs, floh das junge Paar. Die Brautnacht feierte es in der Steppe, unter freiem Himmel. Durch die Finsternis flockte der erste Schnee, das eingeschirrte Pferd stand brav, ein Feld roch faulig nach Melonenkraut. Lautlos durchtastete eine Hand die Steppe nach den Spuren der Flüchtigen, und die Todesangst vervielfachte Stratonows Begierde. Shenjas Knie schauderten … Während ihr Mann vorsorglich den Hafersack verstaute – vor ihnen lag ja eine der denkbar längsten Reisen ihres Lebens –, starrte sie zum Horizont zurück, der rot glühte inmitten der Finsternis. Ach, Mutter, Herrgott, lohnt es sich, dazu geboren zu sein? Eiskalt rann es ihr den Rücken hinab, als sie an die Ereignisse der folgenden Zeit dachte.

 

Ein halbes Jahr später, in Konstantinopel, hatte Stratonow sie ohne einen Groschen sitzenlassen. Nach einer ziemlich mageren Zeit war er eines Tages auf Arbeitssuche gegangen und nicht zurückgekommen. Ihr erster Gedanke war, er sei unter die Straßenbahn geraten. Halb irre strich sie drei Tage lang durch die Leichenhäuser der fremden Stadt. Und sie dummes Ding hatte gemeint, der Tod würde sie zusammen hinraffen, wenn ihre Körper der Lust müde seien, hatte gemeint, auch dann hätten sich ihre Seelen noch nicht satt geschaut aneinander. Drei Tage darauf, als der Hunger ihren Jammer ein bißchen dämpfte, mitten in der glühendsten Stunde, spürte sie die Eiseskälte ihrer Verlassenheit. Es war in der Anlage vor der gewaltigen Hagia Sophia, auf der ihr verstorbener Vater, sobald er seinem hausgemachten Likör zusprach, immer das rechtgläubige Kreuz hatte aufpflanzen wollen. Versteinert saß sie da, die Hand vor den Mund gepreßt, und um sie gingen und fuhren gravitätische bärtige Türken in ihren eigenen Angelegenheiten. Schwiegermutters Brosche und Mutters goldener Segen waren schon im ersten Monat aufgezehrt gewesen, und Geschirrspülen in den Lokalen blieb nur Erwählten vorbehalten. Kaum war sie imstande, der Verführung des leichten Lebens zu widerstehen. Schon war sie nahe dran, in allerhand Elend hineinzutaumeln. Der Glanz in den Augen trübte sich; in ihren Zügen trat das Eckige, Heilgehilfenhafte des Vaters hervor. Nebst den andern ihresgleichen, die getreten wurden von den Satten, Müßigen und Fremden, trieb knurrender Hunger sie von Großstadt zu Großstadt. Selbst im Schlafe trieb es sie in die Gruft zu ihrem Mann. Übrigens, so mächtig trieb es sie wohl nicht, da sie ganze drei Jahre dahin unterwegs war. In Paris, wohin der Wind des Exils sie verwehte nach ihren Irrfahrten durch den Balkan, stand sie davor.

Tags zuvor hatte eine Landsmännin und Nachbarin in der Absteige den Gashahn aufgedreht. Sie war älter als Shenja, häßlicher und besaß, wie Shenja, nichts mehr, was verkauft werden konnte. Die russischen Dirnen in Paris waren beileibe nicht jene eleganten Dämchen, die hüftschwenkend und mit blasierter Miene zwischen der Madeleine und der Grand Opéra flanieren. Außer den gewerblichen Fähigkeiten hätte es einer Menge Geld und guter Kost bedurft, um Shenjas magere Wangen zu füllen und ihre Augenschatten zu vertreiben. Sie war längst festen Willens, einen bequemen Ausweg aus ihrer Lage zu wählen: nur diesen nicht, es sollte ein anderer sein.

Es war der schwärzeste Tag seit jenem, wo die flüchtende Armee so denkwürdig in der Bucht von Modia ausgeschifft wurde. Der gleiche Beerdigungsregen nieselte. Shenja saß unter der nassen Markise eines Cafés und sah sich in Gedanken, scheußlich gedunsen, aber voll innerem Frieden, die Seine hinabtreiben. Alles ließ sich gut an: nichts hielt sie, niemand beschwor sie, allein, eben als sie gehen wollte, fiel ihr die Münze aus der Hand, mit der sie hatte zahlen wollen. Das Glas war leer, die Croissants verzehrt. Kniend, vor Scham vergehend, wühlte sie vergeblich in der Rinnsteinpfütze mit Zigarettenstummeln. Kellner und Gäste fixierten neugierig die fadenscheinigen Fersen ihrer Strümpfe. Im verzweifeltsten Augenblick erlöste sie ein langer, ziemlich ulkig aussehender Herr vom Nebentisch. Das Geldstück war, wie sich zeigte, unter seinen zu Boden gefallenen Hut gerollt. Erst nachdem sie gezahlt hatte, fiel ihr auf, daß die gefundene Münze ja den dreifachen Wert der verlorenen besaß. Ohne das Vorgefallene recht zu begreifen, stürzte Shenja dem Unbekannten nach, um ihm das Restgeld dieses Wunders zurückzuerstatten – mit diesem amüsanten Mißverständnis fing es an. Der Monsieur war sehr liebenswürdig, der Monsieur fragte nichts, der Monsieur trug ihr an, ein paar Auszüge aus alten Katalogen des Kairoer Nationalmuseums für ihn anzufertigen. Das Honorar war hinlänglich, Papier lieferte der Auftraggeber, und gedruckte Texte übertrug Shenja sogar fehlerfrei. Außer Besagtem verlangte der Monsieur nichts für eine Dame Ehrenrühriges. Der Monsieur war Engländer und leider nur auf der Durchreise in Paris, worin etwas Beängstigendes lag. Die Angst war berechtigt.

Das Abschreiben dauerte genau einen Monat. Mr. Pickering begab sich auf eine wichtige Expedition nach Mesopotamien. Alles brach zusammen. Aschgrau vernahm Shenja die Kunde. Da ergab sich, daß dem Engländer am Abend vorher sein persönlicher Sekretär den Dienst aufgesagt hatte. Dieser junge Mann hatte zwar auch vorher vergleichende Spirituosenwissenschaft betrieben, aber im letzten halben Jahr störten ihn selbst die bescheidenen dienstlichen Aufträge des Professors bei seinen Lieblingsstudien. Die Orientreise würde nicht zustande kommen und die britische Wissenschaft Schaden nehmen, ließ sich den Worten des Engländers entnehmen, falls sie, Shenja, die vakante Stelle ausschlüge. Mr. Pickering meinte, Sekretäre ohne Praxis seien ihm besonders lieb: sie fänden sich rascher in den Arbeitsstil des neuen Chefs. Zudem verlangte es den Engländer nach russischer Konversation. In alten Studententagen habe er ja die Sprache so weit beherrscht, daß er sich in einer Semesterarbeit an einen Stilvergleich zwischen dem Igorlied und der Sadonstschina habe heranwagen können, nun aber hapere es mit seinem Wortschatz.

Die Entscheidung war sofort zu treffen. Der Weg führte übers Mittelmeer. Mit gesenktem Blick, glühend vor Verlegenheit, schwieg Shenja.

»Sagen Sie offen, Jenny, was fürchten Sie – die weite Fahrt, die Seekrankheit, den fragwürdigen Komfort in Mesopotamien oder … die Blicke wegen meines skurrilen Äußeren?« setzte er halb ironisch hinzu. »Oder hält Sie womöglich eine Herzensangelegenheit in Paris?«

»Aber nein, wo denken Sie hin, keineswegs«, murmelte Shenja, entsetzt ob solcher Mutmaßung. »Das ist alles längst vorbei … Ich kann es Ihnen nur nicht erklären.«

»Ich möchte mich keineswegs in Ihre persönlichen Dinge drängen, desgleichen inspiziere ich ja auch das Gepäck meiner Mitarbeiter nicht. Die Reise wird Ihrem Kummer etwas Abwechslung schaffen, der, wie ich sehe, Ihren Blick für Ihr Alter etwas oft und über Gebühr umflort.«

Nein, sie hatte Gründe für ihre Zweifel. Was Seekrankheit anlangte, kannte sie sich ein bißchen aus seit jener Fahrt, wo sie mit den andern Unglückseligen eingepfercht im Zwischendeck lagerte und alles besoffen durcheinander grölte, johlte, sang, zankte, zum Gitarrenspiel die eigene Geburtsstunde verfluchte, so daß sie zwei Tage lang kein Auge schloß. Aber in einer Einzelkajüte, o lala! Einmal auf Elefantenjagd gehen in Afrika! Das Wort sprang ihr von selbst von den Lippen: dieser Erdteil wollte ihr den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Von dort war endlich tags zuvor Nachricht über Stratonow gekommen. Sie bestätigte Gerüchte, wonach er in die Fremdenlegion eingetreten war, jene letzte Zuflucht hoffnungsloser Existenzen aus aller Herren Ländern. Er sei in Algerien gefallen, hieß es, bei Gefechten um ein Kolonialfort, und sein letzter Seufzer habe ihr, seiner Frau, seiner Shenja gegolten. Dem schmerzgebeugten Weib entging die Menge beschwörend-rührseliger Begleitumstände, mittels derer der gewitzte Tote die Witwe von seinem Ableben zu überzeugen suchte. Nein, nichts hielt sie mehr in dieser Stadt, wenn nur … Sie stockte: Sie zweifelte, weil sie ihr sämtliches Vermögen auf dem Leibe trug. Und auf einer solchen Reise würde sie kaum jede Nacht waschen können. Fiele die Reise wenigstens etwas später, so wäre man die Schulden los und hätte sich mit dem Nötigsten versehen … Da eröffnete ihr Mr. Pickering, sein bankrotter Verleger, Mitinhaber einer größeren Konfektionsfirma in Bordeaux, habe ihm für sein Buch Sumerische Inschriften ein Teilhonorar in Form von Damenbekleidung gezahlt, die – welch ein Zufall! – seiner angehenden Sekretärin wie nach Maß passen mußte. Shenja schien es angeraten, solch erstaunlichem Zufall nicht weiter nachzuspüren, zumal die Dinge ja auf Konto ihres Gehaltes gingen. »Entschuldigungen Sie, was für Inschriften?« fragte sie aus Höflichkeit und runzelte vorsorgehalber unbestechlich die Brauen. Als dann noch herauskam, daß Mr. Pickering in seiner gelehrten Zerstreutheit morgens zwei Koffer zuviel gekauft hatte, geräumig und preiswert, schlug die tödlich erschrockene Shenja mit flatternden Lippen die Stelle glattwegs aus.

 

Der Dampfer, riesig, drei Schornsteine, trug noch Tarnanstrich. Dem mittleren Schornstein entquoll dicker Qualm, wie von Kinderhand gemalt. Die über die Reling gebeugten festtäglichen Leute taten, versteht sich, nur so, als wenn sie dem Hin und Her der Ladearbeiten zusähen, in Wirklichkeit verfolgten Hunderte Augen sie, Shenja, die da an der Seite des Engländers die Gangway heraufkam. Und schon stand auch sie an der Reling unter ihnen und schaute auf die windbewegte großartige, erneuerte Nachkriegswelt zu ihren Füßen. So weit der Blick schweifte, allenthalben werkten Leute, schrubbten, wuschen, malten, säuberten die Schönheit des Lebens vom sinnvoll schnöden Schmutz, der sie ja nur schützte. Selbst auf einer schaukelnden Fischerfeluke, wie man durchs Fernglas sah, scheuerte groß und klein mit Dutzenden Händen, flickte Segel, in Vorbereitung auf glückliche Zeiten. Über allem hin tönte verstohlen Musik und flogen weiße Vögel.

Shenja merkte nicht, wie ein schmutziger Schlepper den Seeriesen bei den Nüstern nahm und ihn vor der Hafenausfahrt seewärts drehte. Ins Gesicht wehte Fischgeruch, und fast schwindelte ihr, als das Schiff sich breitseits zur See legte. Am liebsten hätte sie die Fülle an Wundern ein wenig gemindert, die von überallher auf sie einstürmten. Auf einmal schoß ein gellender Dampfstrahl hoch, und während dieser schrille Abschiedsruf die Welt durchzitterte, betete Shenja mit Mutters Worten, der liebe Gott möge ein Einsehen haben und diese barmherzigste seiner Kapricen nicht gleich zu Anbeginn abblasen.

Alle Geräusche der Welt gingen im Heckwasser unter, dann waren auch die Vögel verschwunden überm spiegelglatten Perlgrau. Marseille zerfloß im Abenddunst, die Gärten und Würfel der Seevillen wichen dem Band der Küstenfeuer … Eigentlich hätte sie nun den andern Expeditionsteilnehmern vorgestellt werden können, Shenja wagte nicht, nach ihnen zu fragen, übrigens bekam sie sie auch ihr Lebtag nicht zu Gesicht. Vor lauter Grübeln war es grauenhaft wie im Traum, aber das Erwachen wäre noch grauenhafter gewesen. Schüchtern fragte sie den Reisegefährten, wann er nach England zurückzukehren gedächte. Anfang Oktober nehme er seine Vorlesungen an der Fakultät wieder auf. Sie fragte nicht, welche, um ihre Unkenntnis nicht zu zeigen und folglich, wie egal es ihr war, mit wem sie auf die weite ominöse Reise ging.

»So weit ich auch herumgekommen bin, aber in Ihrem Land war ich noch nie«, fing sie tastend an. »Entschuldigen Sie, sind Sie ständig in London, oder sind Sie mehr auf Reisen? Wie ich hörte, gibt es in London bloß Qualm und Steine und keinen Funken Seele … Ist das wahr?«

Fraglich ist, ob Mr. Pickering aller Welt eine solche Langmut bekundete oder ob er an diesem Tag nur so strahlender Laune war. Oh, Evgenia Ivanovna würde die britische Metropole gewiß mit andern Augen sehen, sobald er selber ihr die Stadt gezeigt habe. Er gab ihr einen Vorgeschmack davon und nannte ein paar der dort verpfändeten großen Brocken, auf denen die menschliche Kultur mit einer Kante ruhte.

»Ach, wie gern würde ich in London sein … wenn es ginge«, sagte Shenja mit stockendem Herzen, doch nicht ohne Würde. »Natürlich, ich habe in alten Zeitschriften von London gelesen, auch mein verstorbener Vater erzählte manchmal davon …«

»Er war in England? Hat es mit eignen Augen gesehen?«

Shenja leckte sich die trockenen Lippen.

»Na, nicht ganz. Sein Onkel mütterlicherseits war Matrose auf einem Schiff. Das ist lange her, es war noch vor meiner Zeit.« Da fiel ihr eine Lebensregel der Mutter ein: je harmloser ein Fußeisen aussieht, desto schärfer die Zinken – und sie sah mit Entsetzen, wie die Küste unaufhaltsam zurückglitt und in der Nacht versank. »Verzeihung, wohin fahren wir, sagten Sie, und zu welchem Zweck?«

»Nach Mesopotamien, Inschriften auf alten Steinen lesen … Sehen Sie, wieder ist diese Sorge in Ihrer Stimme, Jenny, gefällt Ihnen Mesopotamien nicht?« »Nein, wieso denn … im Gegenteil.« Hoffnungsvoll sah sie auf, in den dunklen Himmel, von wo der starre Blick des Engländers auf sie niederfiel.

Die Antwort beruhigte sie. Dieses Land war ihr ja nicht ganz unbekannt, zum Beispiel flossen da der Euphrat und der Tigris. Zudem wußte sie aus dem Religionsunterricht, daß sich daselbst eine Zeitlang das Paradies befunden hatte. Man mußte nur noch nachforschen dieser alten Steine wegen.

»Ich sehe, Sie können es nicht erwarten, über mich Näheres zu erfahren.« Mr. Pickering lachte aufmunternd. »Fragen Sie nur zu! Ehrlich gesagt, daß Sie den beruflichen und familiären Dingen Ihres Chefs und seinen Steckenpferden so wenig Interesse zuwandten«, er stockte, »habe ich abwechselnd auf Taktgefühl, Klugheit, einen hohen Bildungsgrad, endlich auf ein schweres Schicksal zurückgeführt. Sie werden mir zugeben, nur ein guter Freund ist in der Lage, die Gleichgültigkeit eines Reisegefährten auf so vielerlei Weise zu entschuldigen. Nicht wahr? Ich will Ihnen des Rätsels Lösung erleichtern. Natürlich wissen Sie längst, ich bin Archäologe. Ich schreibe ziemlich dickleibige Bücher über das, was war und nicht mehr ist, und unterrichte außerdem den Nachwuchs, dem es obliegt, dieses Werk weiterzuführen, damit es keine verhängnisvollen Stockungen gibt. Die Vergangenheit lehrt die Gegenwart, ihre Miseren in Zukunft zu vermeiden – übrigens zumeist ohne sonderlichen Erfolg. Nichts Süßeres auf Erden, als einen Irrtum zu begehen! Sodann, einen Lehrstuhl habe ich nicht an der Londoner Universität, sondern in Leeds. Familie hat Ihr Reisegefährte keine, nur eine Mutter, eine sehr schöne Frau … von der Mutter habe ich nur das ausgeglichene Wesen, ansonsten bin ich nach dem Vater gekommen. Leider war ich bei meiner Geburt noch zu jung, um mir einen Erzeuger nach eignem Geschmack auszuwählen.« In Mr. Pickerings Augen sprühte jener Humor, der in seinem Land nicht selten über Kummer hinweghilft und der dort höher als ein gutes Herz, jedenfalls aber mehr als Verstand geschätzt wird. »Sagen Sie, Jenny, ist Ihnen der Name Pickering schon mal irgendwo begegnet?«

Evgenia Ivanovna bekannte verlegen, den Namen gelesen zu haben, in der U-Bahn, auf Reklameschildern, wohl für Zahnpasta oder Sportartikel.

»Oh, beides ist durchaus denkbar«, bekräftigte der Professor nachsichtig. »Bei uns in Yorkshire können Sie ein universales Ensemble aus den Pickerings aller Gewerbe und Berufe bilden. Aber der Abend ist kühl geworden, ist Ihnen nicht zu kalt?«

Bestürzt ob ihrer Bildungslücken, überhörte Shenja die Frage. Dabei war dieser klangvolle Name vor einem Jahr wochenlang durch alle Zeitungen gegangen, als die Rede war von den aufsehenerregenden Ausgrabungen zu Ninive, die das Rätsel der Rivalität zwischen Ninive und Babylon lüfteten. Pickerings konsequente, brennend aktuelle Ideen, was den Sittenverfall in Assyrien betraf, seines Erachtens ein Symptom einsetzenden staatlichen Niedergangs, erklärte die Presse aus seiner berüchtigten Neigung zu linken, ja moskauhörigen Anschauungen. Doch damals hatte Evgenia Ivanovna in den Zeitungen vor allem die Stellenangebote gelesen. So sah sich Mr. Pickering denn genötigt, ihr seine Entdeckungen zu erläutern. Derart ins Vertrauen gezogen, bekannte Evgenia Ivanovna, auch sie habe zu Hause leidenschaftlich gern Schulausflüge zu den umliegenden historischen Stätten gemacht, aber soviel sie auch an einem Hünengrab oder einer Flußböschung herumgebuddelt hätten, Wertvolles sei dabei nicht zutage gekommen. Archäologie sah sie als Schatzsuche ohne eigennützige Ziele an. Der Professor entgegnete milde, diese gewißlich kühne, aber etwas bündige und nicht bloß daher ein wenig ungenaue Definition seiner Wissenschaft sei wenigstens anderthalbtausend Jahre alt. Nunmehr gab er einen flüchtigen Abriß der Archäologie, von den Anfängen bis zu dem Zeitpunkt, da sie, in Abweichung zu Platos ursprünglicher Sinndeutung, zum Spaten der Geschichte wurde. Im Grunde ging dieses nächtliche Gespräch an Deck um etwas ganz anderes, und die vorgeschobene Gelehrsamkeit bot nur Schirm und Gelegenheit, einander näherzukommen. Mr. Pickerings Reisegefährtin, zeigte sich, schwärmte auch für Mythologie und hatte mit einem Quasiverwandten zusammen, der nun verstorben sei, den illustren Stammbaum hellenischer Götter und Göttersprosse nachgezeichnet. Da sie sich nun einmal um ihres Chefs Gunst bemühte, gab Evgenia Ivanovna gleich noch ihre Lieblingsgeschichte zum besten von jenem Pharao, der, wie sie sich erinnerte, als ein dummer Fisch seinen kaiserlichen Ring verschluckte, das Meer mit Ketten schlug und daraufhin mit Roß und Wagen unterging.

So ungefähr nahm sich das in Evgenia Ivanovnas Munde aus, und an dem eintretenden Schweigen war zu ersehen, daß diese Geschichte ihr bei Mr. Pickering nicht eben neue Sympathien eingetragen hatte. Er stand über die Reling gebeugt und starrte angelegentlich ins unsichtbare Wasser. Dann schob er das nebelbeschlagene Fernglas ins Futteral.

»Zweifellos, Jenny, Sie haben ein höchst originelles mnemotechnisches System entwickelt, um historische Daten in so konzentrierter Form zu bewahren. Uns Archäologen jedenfalls macht das Ineinander, in das sich Natur und Zeit gewöhnlich flüchten, viel zu schaffen. Ich meine, diese enorme Ballung von Kulturdenkmälern … erfolgt sie nicht deswegen, um möglichst viel davon später zu erfassen?« verbesserte er sich verdrossen. »Aber ich ermüde Sie mit meinen Geschichten, Jenny. Es ist kühl. Alle haben sich längst zurückgezogen. Auch für uns ist's wohl Zeit.«

»Finden Sie?« rief Evgenia Ivanovna entsetzt, unruhig nach einem Vorwand suchend, um auf dem verwaisten Deck zu bleiben. »Wozu, wozu denn?«

»Zum Schlafen, falls Sie das nicht für unvereinbar halten mit der Stellung einer Expeditionssekretärin«, witzelte er grimmig.

»Bleiben wir doch noch ein bißchen. Die Nacht ist ja ziemlich warm.«

Der quälende Verdacht kam ihr von neuem. Sie dachte an ihre Zimmerwirtin, die hatte sie, die hübsche Untermieterin, aus Nächstenliebe an ein durchaus wohlanständiges Vorortsetablissement vermitteln wollen, wo man der Taxierungsprozedur durch den Kunden enthoben war. Die Mädchen wurden nach Album ausgesucht und in Wagen abgeholt, Dauer des Ausflugs je nach aufgewendeter Summe. Jede Schäferstunde nahm sich aus wie ein galantes Abenteuer, wie diese Mesopotamienreise. Da lief es Shenja eisig den Rücken hinab, und keine Macht der Welt hätte ihre eisern geklammerten Finger vom Geländer lösen können. Als sie es entkräftet losließen, folgte sie dem Engländer mehr tot als lebendig die Treppe hinab. Nicht, weil sie dem schlauen Rat der Wirtin gehorcht hätte, als vielmehr in dem heißen Wunsch, es ein letztes Mal mit Vertrauen zu einem Menschen und zum Schicksal zu versuchen. Ihre Kajüten lagen jeweils am anderen Ende des Ganges. Allein mit sich, heulte Shenja los in der halben spröden Gewißheit, niemand stoße sie nun mehr, immer mit dem Besen, mit dem Besen, auf jenen letzten Spalt zu, zu Anotschka.

 

Es gibt keine bessere Seelenmedizin, als dem Wellensäuseln an der Bordwand nachzulauschen und müßig nach fernen Stagsegeln zu schauen, die in der frischen Brise glänzen, an Wind vollgefressen wie satte Pferde, und ihre Fischerboote durch weiße Schaumkämme ziehen. Wäre das Schicksal doch mit einem bißchen Pech zu bewegen gewesen, seine Quittung etwas später vorzulegen, quälte und plagte sich Evgenia Ivanovna, die die sich häufenden Glücksfälle immer mehr entsetzten. Jede kleinste Freude berauschte sie wie ein Rum auf nüchternen Magen. Rum hatte ihr verstorbener Mann, selber betrunken, eines Tages nach Hause gebracht, seiner verheulten Shenja kurzerhand an die Lippen gesetzt und ihr zugeredet, sie möge gleich aus der Flasche trinken, um zu vergessen. Übrigens, auf der Fahrt nach Alexandrien sah sie ihn öfters an Deck, den toten Stratonow, zuweilen auch in Gegenwart ihres Chefs. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, beobachtete sie aus ihrem Innern heraus – mit eher traurigen als eifersüchtigen Blicken. Ach, Goga, Goga, rügte sie, ihre Gedanken verhehlend, seinen Kleinmut, das Leben ist so wunderschön, warum hast du so früh kapituliert? Allerdings rügte sie ihn nicht, um ihn zu neuer gemeinsamer Hungerei aus dem Grabe zu holen, vielmehr suchte sie ihn zu bestechen mit der Großmut ihrer Unschuld, falls er nach Art der Toten schlau an seinen alten Platz zurückkehren wollte. Sie war die Armut leid und auch das Grübeln, wie sie aus dieser Teufelsfalle des Lebens möglichst schmerzlos herauskommen könnte.

Es hätte kürzere und billigere Routen nach Mesopotamien gegeben, indessen wollte der Professor Freunden in Theben einen Ferienbesuch abstatten. Insgeheim fühlte er sich zur Ägyptologie berufen. Schon seit einem halben Jahr brachte die Presse laufend sensationelle Berichte von einem Königsgrab aus der El-Amarna-Zeit, das bei Luksor entdeckt worden war. Dem Archäologen ließ es keine Ruhe, bis er diesen einzigartigen Fund, der seine eigenen Niniveer Ausgrabungen in den Schatten stellte, in Augenschein genommen und den nun berühmten Kollegen zum glänzenden Erfolg seiner gelehrten Hypothese beglückwünscht hatte. In der Grabstätte des Tut-ench-Amun lernte Evgenia Ivanovna diese fanatische Leidenschaft des Archäologen besser verstehen. Überhaupt machte es ihr schon Spaß, in menschliche Vergangenheit zu spähen und die wirren Gesetze vom Aufstieg und Niedergang der Zivilisation auf Mannesart zu entdecken. Auf der Weiterfahrt führte der Professor seine Begleiterin in die letzten Mysterien der umliegenden Länder ein. Da er der weitverbreiteten Meinung anhing, Zeit sei die beste Arznei, hielt er Shenja gleichsam eine Vorlesung über die Ewigkeit, als ob Herzenskummer zu verwinden sei, sobald der Verstand sagt, das sei alles schon mal dagewesen. In Form amüsanter Novellen bot er den halben Universitätslehrstoff dar, die Geschichte Hellas', des frühen Christentums und der Levante, auf die sie, von Ägypten kommend, nun Kurs nahmen.

Pickerings Ansehen als Literat und Redner stand seinem Ruf als Sonntagskind keineswegs nach. Er hatte eine unheimlich glückliche Hand bei Funden wie überhaupt in jeder Art Lotterie. Allein seine Vorlesung, voll Gelehrsamkeit und Poesie, über die mumifizierte Biene im Totenkranz der Prinzessin Amenerdis ging durch sämtliche Lehrbücher des Westens, da sie das Ägypten der xxv. Dynastie erschöpfender schilderte als so manch vielbändiges Standardwerk. Indessen hatte ihn wohl noch kein Auditorium so beseelt reden hören wie die langhalsige schüchterne Brünette mit den Blauaugen und den kindlichen Wimpern in diesen Einzelseminaren. Wie eine Augenzeugin sah Shenja auf diesen spiritistischen Sitzungen erschüttert die großen orientalischen Reiche vor sich emporwachsen und zerfallen. Jahrhunderte flimmerten vorbei wie auf der Leinwand, wenn der Vorführer verrückt wurde, und bewahrten gleichwohl jenen unvergänglichen flüchtigen Hauch, den der Marmor alter Bruchstücke schaudernd warm atmete. Wie andere Blumen oder Reimereien darbringen, so schenkte Mr. Pickering der geliebten Frau auferweckte Welten; Hauptsache, daß ihr zerstreutes Lächeln sie streifte! Zwischendurch erklärte er leidlich glaubhaft, von seiner Mesopotamienexpedition habe er sich getrennt, um einem seiner Lieblingsschüler mehr freie Hand zu lassen, wobei es ihn ja hart angekommen sei, seine begreifliche Eifersucht auf die Jugend zu unterdrücken.

»In meinem Alter muß man sich beeilen … Schon ist man an der Neige seiner Tage, und immer noch ist ungetan, weswegen es einzig lohnte, in diese peinlich unerfreuliche Haut zu schlüpfen.«

Um die junge Frau endlich von ihren Gespenstern abzubringen, nahm er sie täglich tüchtig heran, mitunter geradezu über Gebühr. Sie hatte das Reisetagebuch zu führen, es mit einer Fülle von Fotos und architektonischen Bildern zu versehen, die an jeder Erfrischungs- und Tabaksbude zu haben waren. Der syrische Himmel glühte ringsum, weder Tropenkleidung noch rauchfarbene Brille schützten gegen die grelle Hitze, bei Blende achtzehn genügte ein Tausendstel. Und fast jede Nacht träumte Evgenia Ivanovna von einem Garten im Norden, spielzeugwinzig, malvenüberwuchert, wo die Mutter in den Tomatenbeeten wirtschaftete. Die Tochter, aus den Ausland heimkehrend, wollte sie in die Arme schließen, bevor die Alte unter die Erde kam, doch an der Gartentür stand jemand, rührte sich nicht, kein Fremder, aber unerwünscht, jammernd, betrunken, den Arm in der Schlinge, von wechselnder Gestalt, störte, quälte, ließ kein Auge von dem Haarkringel in ihrem Nacken, den er bei Lebzeiten so gern geküßt hatte.

 

Von Jaffa aus fuhr man zu dritt in einem langen Wagen aus bläulichem Riffelsilber auf einer alten Karawanenstraße nordwärts. Einschläfernd summte der Motor. Evgenia Ivanovna saß am Fenster, die Wange in die kitzelnde Seide der Gardine gelehnt. Vorüber zogen Ruinen in gespenstischem Kreideweiß, Schafherden, Wasserträger, eselreitende Fellachen, eine halbverfallene Kreuzritterburg – wollte man Pickerings Gemurmel glauben –, und die andern Reste in der Wüste einst gewachsener und zerfallener Fata Morganen, Karawanen von Wolleballen, mohammedanische Friedhöfe, auf den Grabsäulen Steinturbane, träge Wasserräder mit tönernen Schöpfkellen an den Feldern armer Teufel und dergleichen mehr … All das unterschied sie in den sandigen Winden, durch bleiernen Halbschlaf und Stratonows flirrende Silhouette hindurch, die ihr den Blick verschattete wie ein grauer Star. Seine Nachstellungen wären unerträglich gewesen, hätte es nicht diesen Hoffnungsstern gegeben, der die Reisenden begleitete, sichtbar allenthalben – am stillen Abendhorizont, in den Augen des Derwischs, der am Rastplatz um Bakschisch bettelte, in den Mauerklüften der Römerfestung, die sie besichtigten, während der Wagen tankte.

In aschgrauem Dunst wanderten die berühmten Küstenstädte vorüber – jede eine lodernde Fackel in der Geschichte des Orients, wie Mr. Pickering erklärte. Hatte man in Damaskus verweilt, um in der Omajjadenmoschee des Muezzins klassischen Gebetrufen zu lauschen, so konnte Palmyra keineswegs übergangen werden, jene großartige Szenerie einstiger Pracht und Herrlichkeit, nun abgedorrt, ohne eine einzige Palme. Ein gelehrter Araber des hiesigen Museums, vom Aussehen eines Maronitenpatriarchen, in rundem Käppchen und malerischer Chlamys, unter der alte europäische Halbschuhe behutsam dahertrippelten, führte die Besucher zwischen den alten Nekropolen, Altären und Aquädukten umher. Hier und da rankten knotige Efeustränge an überkommenen Kolonnen empor, umklammerten die Schnörkel der Kapitelle; eine Kletterrose, blütenstrotzend von der Wurzel an, kratzte sich mit ihnen um den Platz. Der Araber ließ keinen Ziegel unerklärt, Ehrfurcht rang mit dem Gähnen. Bestenfalls taugte das alles dazu, Globetrottern elegischen Genuß zu verschaffen. Immerhin, hatte Evgenia Ivanovna beim Anblick dieser gleichförmigen Steinauftürmungen zuerst nur Langeweile empfunden, so entdeckte sie allmählich darin die Anzeichen von Alter, Stil, nationaler Handschrift, religiöser Bestimmung.

Bevor sie in die Gegenwart zurückkehrten, ließen sich alle vier auf den Trümmern nieder. Die Stille wurde allein vom geheimnisvollen Rascheln im Laub gestört. Trockener Wind, syrischer Schmuk, wehte lau von Osten und blies auf den Flöten der Steinspalten sein ungezügeltes kurdisches Requiem. Schmutziggelb, von der Farbe eines schwarzmähnigen Löwen, fiel eine Wolke ins Himmelsblau und zog fern, wenn Shenja nicht irrte, über die Ausläufer des Antilibanon.

»Was für ein scheußlicher, ekelhafter Staub«, sagte Evgenia Ivanovna, indem sie einen Zipfel des hellblauen Chiffonschals vor den Mund hielt. »Russischer Dreikönigsfrost ist dagegen der reinste gutmütige Onkel …«

»Lästern Sie nicht, Jenny«, versetzte der Professor, während ringsum das Knirschen des Sandes aufsprang. »Vor Ihnen liegt die Irdenasche biblischer Reiche. Sie hat zuviel gesehen, um zu erkalten, sich zu bescheiden und der verdienten Ruhe zu pflegen.«

Mr. Pickering machte im Russischen amüsante Schnitzer, diesmal merkte Evgenia Ivanovna nicht einen davon. Er erging sich über die enormen Massen unbändigen menschlichen Plasmas, das dieser Boden die Jahrhunderte hindurch unentwegt hervorgebracht habe, eigentlich nur zu dem Zwecke, um, aufgeboten von den jeweils weltbeherrschenden Dämonen, Brust gegen Brust anzutreten gegen Horden anderer Zunge, einander niederzusäbeln und klaglos aufzugehen in eben diesem Staubwind. Seit jener Zeit, meinte Pickering, jage und irre die mächtige Asche ihren einstigen Formen nach, um sich wieder zur Haarlocke einer schönen Frau zu fügen, zur Kehle eines Singvogels oder zu einer Safranblüte.

»Etwas schwülstig, wie?« fragte er, beirrt von Evgenia Ivanovnas aufmerksamem Blick. »Keineswegs«, murmelte sie, nach einer Eidechse hinnickend, einer Altersgefährtin der Ruinen, die ebenfalls zuhörte, und berührte seine Hand. »Nur dürfen Sie sich nicht so aufregen.«

»Sehen Sie, alle sind hingegangen und sind dennoch hier.« Eine Handvoll Staub, zu seinen Füßen aufgegriffen, zerwehte zwischen den aufgespreizten Fingern zu Rauchfahnen. »Nichts geht verloren – weder in der Geschichte noch in der Biologie. Wie beim Militär: Die Entlassenen liefern ihr Zeug in der Kleiderkammer ab. Haben Sie Erbarmen, Jenny, murren Sie nicht, weil der Staub vergangenen Lebens das Lebende umschmiegt und umschmeichelt.«

Wie üblich schloß er seine Vorlesung, indem er Dynastien, Despoten, Sekten und sonstige Mühlsteine der Geschichte herzählte, die mitgewirkt hatten, Erze, Leibesfrüchte, Gebeine und Juwelen zu den Körnchen heutigen Puderstaubs zu verwandeln.

Die Reisenden verweilten in Damaskus eine Woche. Ihr arabischer Freund offenbarte ihnen seine Stadt, vor ihm schon von Mohammed, Moawija und Saladin aufs innigste geliebt, wie eine heilige Schatulle. Bisweilen suchten sie das Kaffeehaus eines hiesigen Armeniers auf – nirgends sonst in der Welt gab es solchen Kaffee. Man gelangte durch geheimnisvolle Gassen hin, die nach Hammelfleisch und Mandeln rochen. Inmitten des Innenhofes plätscherte in einem Mosaikbecken ein Springbrunnen, ein Grammophon wimmerte den Nachkriegsschlager Halleluja, hin und wieder jaulte ein Hund. Da der das Ansehen des Lokals in den Augen der Fremden herabwürdigen mochte, beförderte ihn der Wirt immer wieder mit einem Fußtritt zur Tür hinaus.

»Ich erkenne meinen gütigen Lehrer gar nicht wieder«, bemerkte Evgenia Ivanovna mit sanftem Spott. »Er hat auf dem ganzen Spaziergang kein Wort gesagt. Oder ist er der ungelehrigsten seiner Schülerinnen müde?«

»Im Gegenteil, ich kam mir den ganzen Tag ohne Sie verlassen vor. Sie haben ihn mit jemand anders verbracht. Sie schimpften auf ihn, riefen ihn, doch wenn er kam, jagten sie ihn weg. Ist er ein so schlechter Kerl?«

Evgenia Ivanovna senkte verlegen die Augen. »Nein, nur unglücklich und tot. Ich möchte ihm nichts Übles nachsagen.«

»Oh, die Bekanntschaften meiner Angestellten interessieren mich nicht.«

Dieses flüchtige Eifersuchtsgefühl bewog sie, dem Professor ihre Lebensgeschichte mitzuteilen. Sie verhehlte nichts, außer dem Namen des Verstorbenen. Und sonderbar, von nun an sah Stratonow, als sei es ihm peinlich, davon ab, seine einstige Frau zu visitieren. Ein letztes Mal brachte er sich in Erinnerung in einer malerischen Oase nahe Damaskus. El Dshud hieß sie, oder eigentlich Kamiz – wo die Reisenden arabischen Reiterspielen beiwohnten.

An nichts erinnerte sich Evgenia Ivanovna später mehr: weder an das blendende Blau des Firmaments noch an die kehligen Schreie der Reitsportfanatiker. In die Wirklichkeit kehrte sie erst zurück, als der Schweißgeruch glänzender Pferdeflanken ihre Nüstern streifte und auf ihren Zähnen Sand knirschte; auf das Zeichen des mickrigen, grimmig dreinschauenden Scheichs war eine Wolke von Reitern in wehenden gestreiften Burnussen, Kriegsrufe ausstoßend, auf den imaginären Feind losgesprengt. Sie brausten vorüber, aufrecht in den Steigbügeln federnd und umherknallend in vollem Galopp, um der stattfindenden Operation den Anschein des Echten zu verleihen. Vor Dankbarkeit gegen Gott und die Menschen stürzten Evgenia Ivanovna die Tränen in die Augen und spülten die Qual, die Erniedrigung und die Angst dieser letzten drückenden Jahre fort. Ihr war, als teile alles ringsum ihr Jubelgefühl, selbst dieser Krüppel da mit dem Stoppelkopf, der schaukelnd über die Rennbahn humpelte, oder der dressierte Falke dort, der mit stolzem Kopf auf der geschulterten Stange saß. Evgenia Ivanovna hatte nur den einzigen Gedanken: Wieviel bleibt mir noch, wieviel? Sie rechnete herum, was wohl die angenommene Dauer eines Menschenlebens minus ihre vierundzwanzig Jahre ergab. Sie genas vom Vergangenen, und da verschwand Stratonow aus ihrem Herzen, doch mit so geringschätziger Miene, daß sie vor Schmerz fast vergangen wäre, hätte sich ihr nicht die rettende Hand des Mr. Pickering dargeboten. Der drückte unter der Bank ihre eisigen Finger, bis sie in seiner Hand auftauten. Evgenia Ivanovna dankte es ihm mit einem langen tränenfeuchten Blick … Diese Nacht erschien ihr ihr gewesener Mann ein letztes Mal im Traum.

Mitternacht, unwegsame Gebirgsschluchten ringsum, kein Felsen zu sehen, nicht mal der eigne Fuß auf dem Pfad, nichts. Eine beklemmende Unruhe sagte ihr, dies dort sei mehr als eine Schlucht, jenseits der Nacht dort liege die Grenze zum riesigen Rußland. Irgendwo hier mußte Stratonow stecken, und sofort regte sich in ihr eine merkwürdige kitzelnde Neugier: Was trieb er in diesem Stockdunkeln? Das mußte sie augenblicklich herauskriegen, bevor es zu spät war. Aber da lag er ja, beinah wäre sie auf ihn getreten, er lag quer übers Gestein, den Kopf hintüber in einer ausgetrockneten Runse. Also war er gar nicht in Afrika gefallen, sondern hier, beim unerlaubten Grenzübertritt erschossen worden … Allein Evgenia Ivanovna glaubt dem Schwindler nicht mehr. Sie rutscht und stolpert im Geröll um den Daliegenden herum, tut, als ob sie eine Furt suche, dabei sucht sie in Wirklichkeit seinen Leib nach Einschußstellen ab, aber es gibt keine. Immerhin, etwas schimmert dunkel auf seiner Stirn, aber ihr graut, sich zu bücken und sich mit dem Finger zu vergewissern: Wenn er nun zufaßte? Dann merkt sie, Stratonow ist gar nicht tot, ja, im Gegenteil, er liegt da und beobachtet sie unter gesenkten zuckenden Lidern hervor, kalt, unbarmherzig … Evgenia Ivanovna fährt in eisigem Entsetzen aus dem Schlaf; wie gehetzt flüchtet sie ins Nebenzimmer und schlüpft unters Moskitonetz zu Mr. Pickering, sucht bei ihm Wärme und Geborgenheit.

So erfüllte sich des Engländers geheimer Wunschtraum. Gleichwohl wagte er zuerst nicht, die Geliebte anzurühren, da er sich nicht zu Unrecht lediglich als letztes Glied in der Kette ihrer Mißgeschicke wähnte. Als dann diese natürliche Starre der Andacht verflogen war, ging es ganz lustig zu bei ihnen. Eine Stunde später gewahrte Evgenia Ivanovna ihre nackten Beine im Mondschein und zog mit sündhaftem Lachen das zu Boden geknüllte Laken hoch. Die in dieser Nacht angeknüpften Beziehungen wurden mit wachsendem Erfolg fortgesponnen und einen Monat darauf in der Türkei juristisch besiegelt. Dank ihrem Ehestand sah sich Evgenia Ivanovna endlich in die Lage versetzt, ohne Sorge an den nächsten Tag und ihr Portemonnaie zu denken.

 

Ihre türkische Reiseroute führte durch ziemlich triste Gegenden bei obligatem Besuch aller historischen Sehenswürdigkeiten. Rumpelkästen, Taschabarras genannt, aus dem Arsenal der Folterwerkzeuge, beförderten sie, und statt des Diners warteten auf sie klitschige Fladen, Juffkas, nebst einer Handvoll Ziegenkäse. Allerwege begleitete die Neuvermählten nicht gelinde Verwunderung. Es sah fast so aus, als sollte es kein Fleckchen auf Erden geben, wo der Professor ungestört, ohne schlüssellochguckenden Spott, seines Glückes genießen durfte. Die Hochzeitsreise des Mr. Pickering, zumeist inkognito und voll Hasenhaken, erinnerte an die klassische Verfolgungsjagd im Filmlustspiel, ganz Europa schien mit Fotoapparat und Fernglas hinter den Liebesleuten her zu sein. Auf solche Weise besichtigten die Pickerings binnen der knapp drei Wochen, welche bis zu den eigentlichen Abenteuern dieser Reise verblieben, die Ruinen dreier hethitischer Festungen samt den Funden bei Boǧazköy, wo Fanatiker unter höllischer Sonne die einstige Metropole des hethitischen Reiches aufs Sieb nahmen, in der Hoffnung, wenigstens eine Schrifttafel hervorzusieben. Ungerührt von der entschwundenen Macht und Größe kreisten Adler über Ginstergestrüpp und grob behauenen Basaltquadern. Darauf, in den kaum mehr wahrnehmbaren Konturen, an den Grenzen der Verflüchtigung, erahnte man die Götter des Orients und daneben, in den gleichfalls hauchfeinen Kratzern, ihre Gebote. Evgenia Ivanovna lernte Entdeckerdrang kennen, beglückend und quälend. Allen Anzeichen nach hatte der Engländer in ihr die für einen Gelehrten schönste Verbindung von Lebensgefährtin und tüchtiger Assistentin gefunden … Zwei Wochen darauf übernachtete das junge Paar schon in Urfa, dem antiken Edessa, von dessen Existenz Evgenia Ivanovna bei der Ankunft in der Stadt vernahm.

Den Gelehrten hatten alte wissenschaftliche Interessen hergeführt. Eine Weile hatte er sich gar mit der Absicht getragen, hier für ein, zwei Dutzend Jahre seinen Wohnsitz aufzuschlagen. Beim ersten Ausflug vor die Tore der Stadt zeigte er Shenja die längst ausgewählten Stellen, wo er, vorbehaltlich des Einverständnisses der türkischen Regierung, Schlüsselbelege zu suchen gedachte für buchstäblich sämtliche Epochen dieser grandiosen vorderasiatischen Zitadelle und Nekropole vieler Zeitalter und Völker. Hier, in dieser verhältnismäßig kleinen Arena, meinte der Professor, sei jahrtausendelang alles mit der Nase aufeinandergeprallt: junge europäische Zivilisation und zurückweichende Wüste, Orient und Okzident, Hethiter und Hurriter, römischer Adler und persischer Löwe, Erzbischöfe und Häretiker, der mächtige Belisar und die einheimischen laubgegürteten Einsiedler, die ihm schlimmer zusetzten als Mückenschwärme. Von hier habe sich der Apostel Thomas auf seinen Missionszug begeben, und dreihundert Jahre später hätten Ephram der Syrer und die Geistlichkeit hier, vor den Stadttoren, seine sterblichen Überreste in Empfang genommen; für seinen flüchtigen Glaubenszweifel habe der hundertfach zahlen müssen … Unterdessen sei die Stadt von Trajans Strafexpedition bis auf die Grundmauern zerstört, von Hadrian wiedererrichtet worden. Der Präfekt Opellius Macrinus habe hier Caracalla erdolcht und sei selber gefallen vom Schwert eines syrischen Jünglings, der ein noch grausigeres Schicksal hatte. Schließlich habe das weltgeschichtliche Wirken römischer Imperatoren in Kleinasien geendet, als Valerian gefangen wurde und sich der stolze Schapur von seinem Buckel in den Sattel schwang. Doch im Zeitendunkel hätten sie sich schon gewappnet, um Edessa zu vernichten, die Mongolen, die Erdbeben, die Kreuzritter und die Pest …

»Diese alte Vettel hat jedenfalls genug Erinnerungen, um sich damit ihre schlaflosen Nächte zu vertreiben. Sie hat alle Welt genossen, und alle Welt hat sie genossen«, schloß der Engländer seinen Vortrag. »Kurz und gut, Jenny, morgen wirst du endgültig Mrs. Pickering. Ich möchte meinen, daß unsere Trauung dereinst von einem hiesigen Chronisten eins der freudigsten Ereignisse in der Lokalgeschichte genannt werden wird.«

Den Tag über besichtigten sie alte Denkmäler. Auf dem Rückweg von den Ruinen Nimruds verweilten sie bei einem abgeruschten Steinbruch, darin sich, Mr. Pickerings Mutmaßungen zufolge, einst die rosigen Fischchen der Göttin Atargatis getummelt hatten. Spätnachmittags ruhten die Brautleute im kühlen Garten ihres freundlichen Hausherrn, eines britischen Missionars. Inmitten des Dschungels lackglänzender Vegetation grummelte ein fließendes Wasser, als trüge es den Schrei von Bergvögeln in sich, und einheimische Heimchen, den Krummsäbel unter der rotgefütterten Pelerine, riefen einander zu. Evgenia Ivanovna war in den Schatten geflüchtet, da die Sonne seit morgens brütete, während Mr. Pickering nach seiner sonderbaren Angewohnheit mitten in der prallen Glut saß, seiner Angebeteten gegenüber.

»Du bereust also nicht, Jenny, mit mir auf diese Glücksexpedition gegangen zu sein?« fragte er, ihren braunen Teint, die Farbe ihres Haars und all das andre genießend, das auch der verblichene Stratonow seinerzeit so bewundert hatte.

»Oh, you are nice!« Fast schon traf sie den singenden Tonfall, in dem ihre englischen Freundinnen ihr Entzücken äußerten. »Nur eins macht mich nervös: Warum sitzt du immer gegen das Licht und schaust mit solchen Argusaugen?«

»Ich möchte sehen, was du von mir denkst, Jenny.«

»Vor allem denke ich, du bist der schönste Mann auf der Welt …«

Er unterbrach sie, indem er sie mit der Hand berührte.

»Ich bin über die Maßen froh, Jenny, daß du dich an mein Äußeres gewöhnt hast. Es hat mir seit der Schule viel Verdrießlichkeit bereitet. Bei Tennyson gibt es eine Zeile: Show me the Man hath suffered more than I. Als Junge glaubte ich immer, sie gälte mir. Als der himmlische Töpfer mich entwarf und modellierte, hatte er wohl einen über den Durst getrunken. Ich nehme an, mit ein wenig Gedächtnis und ein wenig gelehrtem Verstand, die mir selbst Feinde nicht absprechen, wollte er lediglich sein unschönes Werk ausgleichen …« Melancholie und Humor standen Mr. Pickering, sie verliehen seinen Zügen etwas gewinnend Anziehendes, dessen sie sonst aus gewissen Gründen entbehrten. »Es ist gefährlich, eine Ehe allein auf den schwankenden Boden weiblicher Dankbarkeit zu bauen. Um verhängnisvollen Irrtümern vorzubeugen, spreche ich das aus, bevor du ein für allemal Mrs. Pickering geworden bist.«

Da gab Evgenia Ivanovna errötend und stockend zu, daß er tatsächlich bei gewissen Bewegungen ein wenig eigentümlich, ja lustig wirke und wohl nur mit Mühe ein schöner Mann genannt werden könne.

»Aber mein Gott … schön ist doch immer das, was wir lieben«, entfuhr es ihr zur höchsten Freude des Mr. Pickering, welcher hinter diesem Bekenntnis weniger das Taktgefühl oder die Aufrichtigkeit sah als einen scharfen, noch unausgebildeten Verstand. Sie fügte hinzu, sie halte ihn, den Engländer, für einen Schutzengel, der heimlich auf Erden wandle und ihren Jammer mit Blumen schmücke. Was den Körper angehe, so sei der bei Engeln ja nur Maskierung.

»Ich gebe zu, nicht alle Engel, Doc, nehmen ihre Vormundschaftspflichten so ernst wie du.«

»Na, ich persönlich würde lieber unsichtbar bleiben, damit meine Kinder nicht das Stottern kriegen«, witzelte Mr. Pickering düster und äußerte sein Bedauern, nicht ständig, wie Mokanna, mit einem Vorhang vorm Gesicht herumlaufen zu können.

Wir können hier nicht umhin, auf einige bedauerliche Umstände im Leben dieses ehrenhaften Gelehrten und Gentlemans hinzuweisen, der schon mit siebenundzwanzig Jahren die Annalen redigierte und nach dem Ableben Layards in der assyrisch-babylonischen Archäologie eine unumstrittene Autorität genoß. Den Neulingen im Hörsaal stockte der Atem, sobald er zu einer seiner hinreißenden Improvisationen ansetzte, nichtsdestoweniger vergingen etliche Minuten, in der Regel sieben bis fünfzehn, bevor sich ihre leichtfertigen Heiterkeitsausbrüche gelegt hatten. Grund war Mr. Pickerings Äußeres. Dieses, jeder einzelne Zug wie auch alle zusammen, vergällte ihm nicht nur das Leben, es beeinträchtigte auch seine politische Laufbahn, da es sein Publikum in frivolangeregte Stimmung versetzte, die mit Wählervertrauen nicht zusammenpassen wollte. Nicht genug damit, daß seine rechte Seite infolge seiner verzweifelten Magerkeit allen Naturgesetzen zum Hohn gleichsam auf der linken saß, was sich übrigens beileibe nicht mit seinem gesegneten Appetit zu jeder Tag- und Nachtzeit vertrug, ließ auch sein Gesichtsausdruck manches zu wünschen übrig. Nicht zu leugnen ist ferner, daß seine hart zur Nasenwurzel hingerutschten Augen in gewissem Licht bedauerlich an eine zweiläufige Flinte von vorn erinnerten. Einige andere Mißlichkeiten, welche hier nur aus Ehrfurcht vor dem Gelehrten übergangen werden sollen, etwa die außergewöhnlich langen Arme und sein schlaksiger Wuchs, boten so dankbaren Stoff für Karikaturen und Witzeleien, daß sich selbst manch guter Freund, Gentleman wie er, anzügliche Späße nicht verkneifen konnte. Was blieb dem Gelehrten anders übrig, als, gleich der Sonne, um die eignen Flecken zu verbergen, die Menge unentwegt zu blenden.

 

Familie besaß Mr. Pickering nicht. Weibliche Wesen sah man kaum in seinem Haus, außer der Köchin und einer älteren, sehr distinguierten Dame von verblichener Schönheit und in ewiger Trauer – der Mutter. Ihr gelegentliches Beisammensein lief letztlich darauf hinaus, einander geduldig zu betrachten und zwischendurch, zur Atempause, einen Blick ins Kaminfeuer zu werfen. Böse, keineswegs futterneidische Zungen schrieben kaum ganz zu Unrecht Pickerings gelehrte Erfolge wenigstens zur Hälfte seinem Pech zu, da er ja, im Gegensatz zu mit zahlreicher Familie gesegneten Archäologen, die sich in ihren Mußestunden zwangsläufig mit den Enkeln abplagten, den lieben langen Tag, wie ein Ochse, über seinen Tonscherben hocken konnte, die ihm von allenthalben kistenweise angefahren wurden. Kurzum, mit den Jahren buddelte er sich immer tiefer in den Moder fremder Grabstätten hinein, wohin kein Sonnenstrahl drang, kein Kinderlachen, kein Frauenruf. So wenig kannte er an sich diese seine intimste Seite, daß eher Angst vor dem Ungewohnten als die Warnzeichen des Alters seinen lebhaften Wunsch nach einem Erben lähmten. Fast ein Weltberühmtheit, hatte ihn einzig die Befürchtung, eine Sensation für die Zeitungen zu werden, mit seiner späten bitteren Liebe in die vorderasiatischen Provinznester getrieben.

Seitdem er 1906 bei religiösen Unruhen in Bengalen verwundet worden war, litt er an heftigen neuralgischen Anfällen. Auf der Reise hatte sich Evgenia Ivanovna daran gewöhnt, ihm zur Hand zu gehen: Die Heirat erlegte ihr kaum neue Mühen auf. Sie nannte ihn nunmehr schlicht Doc, seinen wissenschaftlichen Grad nach amerikanischer Art abkürzend. Die kuriosen Ängste der beiden waren alsbald verflogen, die Götter waren dem jungen Paar gewogen. Die Koffer der Pickerings wurden umgepackt nach Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit. Seiner Frau zuliebe setzte er die Rückreise via Konstantinopel fest: Shenja wollte noch einmal in der Hagia-Sophia-Anlage sitzen, wo sie einst am liebsten hatte sterben wollen. Und just am Tage vor Erhalt des englischen Reisepasses, da das Tor sich vor ihr öffnete zur erträumten gesicherten Zukunft, frei von Angst, Hunger oder fremder niedriger Willkür, befiel sie eine rätselhafte Krankheit.

Je weiter sie nordwärts kamen, um so mehr verblaßten in ihren Augen die malerischen Banalitäten am Straßenrand, und ihr überschwenglicher Jubel wich der Kälte der Verzweiflung und Verlorenheit. Sie fror und starrte mit feuchtgeröteten Augen zum so unerreichbaren nördlichen, grauumflorten Horizont. Die medizinischen Kapazitäten des Landes konnten organisch keine besorgniserregenden Veränderungen entdecken, nichtsdestoweniger wusch ihr das geheimnisvolle Leiden Farbe und Glanz, gleich Wandfresken, vom Gesicht. Mit der Sonnenbräune schwand die Frische der Haut, nach dem Lächeln erloschen die Augen. Mehr noch als dieser körperliche Verfall entsetzte Mr. Pickering das spasmatische Schweigen seiner Frau, in welches er keine Bresche schlagen konnte. Um einer unter russischen Immigranten nicht seltenen Verzweiflungstat vorzubeugen, unternahm Mr. Pickering entgegen seinen Grundsätzen einige notwendige Recherchen.

In der Innentasche des Damennecessaires fand er einen goldenen Ring, der nicht von ihm stammte. Desgleichen betrübte den derzeit schon in mancherlei eingeweihten Mr. Pickering weniger, daß innen die Koseform eines Männernamens eingeschnitten war – nicht seines, er wußte wessen. Ihn bestürzte anderes: Wieso hatte Evgenia Ivanovna dieses Kleinod über die Pariser Elendszeit hinübergerettet, wo ein Stück Brot über Ehre und Existenz entschied? Am leuchtenden Himmel errungenen Glücks zogen wieder die von Damaskus her bekannten Zweifelswolken auf. Also hatte dieser windige junge Russe von militärischem Stand seine Allüren beibehalten und stieg weiterhin in Mr. Pickerings Haus über die Hintertreppe ein.

Anderntags überraschte der Professor seine Frau in den Anblick einer zerfledderten Zeitung versunken. Die Zeitung war schleunigst verschwunden, das verweinte Gesicht aber konnte Evgenia Ivanovna vor ihrem Gatten nicht verbergen. Nachts entdeckte er wiederum fast zufällig – hinter der gelösten inneren Klebwand ihres Koffers jenes rätselhafte, in den Kniffen gebrochene Zeitungsblatt. Es war ein offizielles Nachrichtenorgan des Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten, herausgegeben, laut Impressum, in einer südrussischen Steppenstadt. Der Fund deutete darauf hin, daß seine Frau noch mit einem zweiten Gedanken umging, der für die politische Strafjustiz glücklicherweise nicht zureichte in Europa. Immerhin, abgesehen davon, daß es recht verwunderlich war, durch welche Kanäle ein erst jahresaltes sowjetisches Provinzblatt in die Hände Seiner Majestät neuer Untertanin gelangen mochte, stellte sich die nicht weniger angebrachte Frage: Was konnte eine Emigrantin reizen an den leidenschaftlichen bolschewistischen Philippiken gegen den schon seit Herzen prosperierend hinfaulenden Westen, der ihr eine halbwegs komfortable, jedenfalls sichere Zuflucht bot. Gewiß, Mr. Pickering hatte unterderhand vernommen, so manch eingefleischten Vagabunden quäle diese fortdauernde Glückseligkeit … ja, selbst wenn es ihr dieses Durcheinander angetan hätte, an welchem die Russen der zwanziger Jahre ein fragwürdiges Vergnügen fanden, doch was für ein Herz hätte sich am Romantischen einer Zeit begeistern können, für die es Schießscheibe oder Ziegelstein war; was die Zeitenstürme betraf, hatte Mr. Pickering seine eigne Meinung. Was dann mochte sie reizen an diesem Land, das sie Hals über Kopf verlassen hatte, wo keine Menschenseele von ihren Nächsten mehr am Leben war und wo, nach seinen Mutmaßungen, ehe man sich's versah, wieder ein neuer Machno, schieläugig, mit einer Papacha wie ein Rauchfang auf dem Dach, auf Bretterwagen über bereifte hallende Erdklüfte jagen konnte? … Zwar verstand sich Mr. Pickering darauf, tausendjährige Steine zu entziffern, doch die bittere Keilschrift um einen Mädchenmund konnte er nicht lesen. Des Rätsels Lösung war: die hintere Zeitungsseite zeigte eine verschmierte Zinkographie mit dem Marktplatz daheim bei seiner Frau. Daß darauf mittels Subbotniks ein Weltobelisk, ein Leuchtturm der Revolution, sichtbar allen unterdrückten Kontinenten, errichtet werden sollte, bewegte Evgenia Ivanovna allerdings weniger als der dem Engländer unbekannte Umstand, daß sich im Hintergrund des Platzes die Seitenansicht von Mutters Häuschen mit dem Malvengärtchen bot. Übrigens hatten die Pickerings damals schon über die britische Botschaft in Moskau die Nachricht erhalten, daß die alte Dame bald nach Abreise der Tochter verschieden war … Allerhand ungereimte oder affröse Hypothesen mußten verworfen werden, ehe der verzweifelte Ehemann hinter die Wahrheit kam. Jenseits der Berge am Horizont lag der unermeßliche Koloß Rußland. Er sog das russische Herz zu sich durch die Gebirgsmassen des Kaukasus hindurch, ganz zu schweigen davon, daß es bitterste Erinnerungen panzerten. Bei Widerwehr wäre der Sog glattweg stark genug gewesen, dieses zuckende Klümpchen Fleisch aus der Brust herauszureißen.

An der Bestürzung seiner Frau, beim ersten offenen Gespräch, merkte er, daß seine Diagnose stimmte. »Bitte kein Mitleid, Liebling«, stammelte sie, an ihn gedrückt und lustig die Stirn krausend, um mit hilfloser Geste des Mannes Nachsicht zu erkaufen für ihre dumme, rein russische Misere. »Wenn der Sturm ein Blatt abweht, ist's aus mit ihm, es flattert umher im Freien, fliegt durch die Gegend, steigt vielleicht ungeahnt hoch, und dennoch fault es eher als die andern, die am Baum bleiben.« Die Worte klangen flüssig, ein bißchen angelesen und wie einstudiert.

»Aber das heißt doch, daß du aller Treuepflicht enthoben bist«, murmelte Pickering unsicher.

»Wie, wieso?« Sie machte Kneifaugen, ganz Neugier, wie es im Kopf so eines Europäers aussah.

»Ich meine … gegen den Baum, der dich erbarmungslos … na, fallenließ, abwarf. Zu lieben, was mit Haß vergilt, ist widernatürlich.«

»Ist dir das eben erst eingefallen, Doc?« Sie lächelte leicht von oben herab.

»Der Gedanke stammt von Diderot.«

Evgenia Ivanovna zuckte die Achseln.

»Dann können wohl große Geister leichter im fremden Boden Wurzeln schlagen als wir, die kleinen.«

Die Woche darauf bat Mr. Pickering seine Frau wie beiläufig um Rat, ob man einer bei seiner Abreise eingegangenen Einladung Moskauer Freunde folgen solle und zurück über Rußland fahren. Zwei Jahre vorher, auf einem internationalen Kongreß, hatte er den Russen unumwunden seine Anerkennung ausgesprochen für das Wagnis, in die heillosen sozialen, ökonomischen und sittlichen Verhältnisse der Gegenwart gesunden Menschenverstand hineinzutragen. Wenig später, in einer aufsehenerregenden Abhandlung, zählte er Moskau den Fackelträgerstädten zu, welche der Menschheit auf ihren tausendjährigen Märschen voranleuchten. Gewiß, kurz vor der Abreise nach Kleinasien, in einem Presseinterview, maß der Gelehrte Rußland die nicht eben beneidenswerte, doch ehrenhafte Rolle des Brennstoffs, gleichsam eines Bündels Reisig bei für die große Umschmelzung einer morbiden Welt. Desungeachtet hatte der Sowjetkorrespondent daraufhin nichts Eiligeres zu tun, als den Archäologen dem noch keineswegs zahlreichen Aktiv gewichtiger Freunde der Oktoberrevolution zuzurechnen.

So ist erklärlich, daß die sowjetischen Visa fast umgehend erteilt wurden samt der in damaliger Intouristpraxis einmaligen Genehmigung, über den Kaukasus einzureisen.

In stummer Dankbarkeit legte Shenja Mr. Pickering die Hände auf die Schulter – wie liebte er ihre ein wenig großen sensiblen Hände! »Du kommst mir wie ein kluger mächtiger Kalif aus Tausendundeiner Nacht vor, Doc«, sagte sie dann.

»Ich verspreche dir, zu Semesteranfang bist du pünktlich zurück. Wir fahren gleich durch … bis zu einem armseligen Nest hinter Rostow: da bummeln wir nur eine Stunde, bis der Zug zurückgeht … Selbst wenn sich dort für dich unberührte Skythengräber finden sollten … Sei nicht böse, Liebster, ich bin halt aus dieser Erde gemacht.«

Im Grunde reiste Evgenia Ivanovna nach Rußland, um sich einen Freibrief für die Fremde zu holen; es sollte sie, die nunmehr hoffnungslose Emigrantin, ziehenlassen und mit seinem nächtlichen Rufen aufhören. Natürlich, lieber wäre sie im Sommer gefahren, um noch einmal tüchtig, zu Erinnerung, im Steppengewitter durchzuweichen … Gewiß wäre es auch nicht übel gewesen, sich am Saum eines Winterwaldes mal einfach satt zu frieren und in die schneegefilterte Stille hineinzuhorchen. Nicht minder reizte sie das Steppenfrühjahr – niederzuhocken zu Ostern am elterlichen Grab, bunt von Eierschalen, und mit Mutter zu schwatzen unter quälendtröstlichen Krähenschreien. Da ihr Glück nun in den Herbst fiel, war Evgenia Ivanovna gewillt, die vorgesehene Stunde auf der alten Akazienallee entlang zu bummeln und dem trockenen, tönenden Mulm unter den Schritten zu lauschen … Der Weg würde an Mutters Häuschen vorbeiführen, und man könnte einen Blick hineintun, ob Tresorka, der Hund, noch lebte, ob die Kuckucksuhr noch ging und wer im Flur schlief auf der Truhe hinterm Wandschirm.

Entgegen allen strengen Bräuchen konnten die prominenten Gäste auf fast direktem Weg von Kars über den Sakal-Tutan-Paß einreisen. Man fuhr rasch, um die Grenze noch bei Tage zu passieren. Zu Abend schlug das Wetter um. Wolken zogen zur Türkei hin. An einem Bergsee, vom einsetzenden Regen aufgekräuselt, stiegen die Reisenden in einen offenen Wagen um, dem man ansah, daß er sich in seinem Leben weidlich geplagt hatte. Auf einem Ödplatz in Karsacha fußballerten Dreikäsehochs barfuß mit einem zerbeulten Teetopf, doch alle Laute schluckte die trotz Regen gnädige, rosige Abendstille. Die in der letzten Stunde abgefallene Evgenia Ivanovna preßte den neuen Paß in der Handtasche, der sie in ihrem Lande vor unliebsamen Überraschungen schützen sollte. Statt erwarteter Kontrolle und lästiger Formalitäten gab es einen Blumenstrauß, den ein Bibliothekar oder auch Agronom der berühmten Ausländerin überreichte. Sie stand allein unter ihrem Schirm, die andern hatten keinen, und jedermann schaute sie so gewichtig an, ohne daß sie wußte warum. Ein Redner beglückwünschte den großen Architekten zu seinem Beitrag für die Welt von morgen. Der Irrtum beruhte auf einem Fehler im Telegramm und erwirkte die belustigte Annäherung der Parteien. Mit Zeichen der Aufmerksamkeit begleitete man die Reisenden bis Tiflis, es gab erlesene Getränke, sich unter Speisen biegende Tische, Teppiche bei der Übernachtung in Achalzicha und allerhand geistige Genüsse. Daselbst wurde den Reisenden, trotz der späten Stunde ihres Eintreffens, ein Elefant mit seinem Dompteur Kornilow vorgeführt und ein erster, auch halbwegs geglückter Versuch unternommen, den Engländer unter den Tisch zu trinken, indem man erhabene Toaste ausbrachte. Alles klappte aufs beste, niemand tat sich falschen Zwang an, selbst der vermißte Wäschekoffer fand sich, wie in geordneten Staatswesen üblich, alsbald wieder an, dazu mit einem Gegenstand, der dem Ehepaar Pickering gar nicht gehörte. Unterwegs nahm Evgenia Ivanovna gierig in sich auf, was da lautete und blaute – die kahlen Ödhänge des Grenzgebirges, die märchenschöne Burg zu Hertipisi, die grenzenlosen Nadelwälder hinter Borshomi, die hallenden Schluchten mit Gießbächen, die über die Straßen stürzten, und sodann, hinterm folgenden Paß, fern, im Herbstdunst ein wenig verwaschen, die Schneegrate des Hochkaukasus. Zweimal wehte ihr schneidende feuchte Kälte ins Gesicht, und da fühlte Evgenia Ivanovna sich eilig bemüßigt, vor ihrem Eintreffen in der georgischen Hauptstadt herauszufinden, was eigentlich mit ihr geschah. In Tiflis kamen sie glücklich zurecht, dem Gastspiel einer berühmten Primadonna noch aus dem alten Petersburg beizuwohnen, deren voller getragener Sopran die Kenner schon seit anderthalb Generationen in Entzücken versetzte. Der Spaß begann um acht, und nachdem sie kurz geruht, schauten die Pickerings, auf dem Weg zum Konzert, zur Hoteldirektion hinein zur Klärung des weiteren Programms. Hier hatten sich sämtliche Hotelchefs versammelt, um die eingetroffenen Freunde des schönen Georgiens zu bewillkommnen. Mit einem tiefen Seufzer betrat Evgenia Ivanovna den prunkvollen Raum, ausgestattet mit einer Fülle schmeichelnder Portieren und andern erlesenen Dingen der Behaglichkeit und des Komforts aus dem Mobiliar der seligen Bourgeoisie.

»Chachulja«, sprach mit sonorer Kehlkopfstimme der Hoteldirektor, in grüner Bluse hinter seinem überdimensionalen Schreibtisch, indem er den Gästen seine gleichfalls achtunggebietende Rechte entgegenstreckte und es ihnen überließ, den Sinn des Wortes zu enträtseln, und alle krächzten, und wer einen Schnurrbart hatte, strich ihn mit Würde. Ein Gespräch entspann sich um die Beschwerlichkeiten des Nachkriegsreisens, und unterdessen zog ein Wandgemälde im Stil eines treuherzigen Realismus die Aufmerksamkeit beider Pickerings gleichzeitig auf sich. Aus gediegenem Rahmen blickte ein jugendlich rüstiger Alter mit schwarzer Filzmütze auf dem Kopf; glückstrahlend lagerte er im Schatten einer Rebenlaube, das Trinkhorn in der Hand, und im Hintergrund loderte die Abendröte, als sei ein Schlauch flüssiger Flammen aufgeschlitzt worden.

»Sie sehen darauf das sonnige Kachetien«, erläuterte der Chef des Ganzen, geschmeichelt vom Interesse der prominenten Fremden. »Wie namhafte Professoren der Medizin bezeugen, ist es klimatisch eine der schönsten Gegenden … Also gut, fahren sie übers Alasan-Tal. Vor allem werden Sie dann nie vergessen, was georgische Gastfreundschaft und Herzlichkeit bedeuten«, schloß er, und augenblicks, in Sekundierung ihres Chefs, gestikulierten und plapperten alle andern los, von heilsamer Luft, grenzenloser Stille und den sonstigen Vorzügen dieses herrlichsten aller Erdenwinkel.

Da der Engländer Absichten und Pläne seiner Frau kannte, sah er sie fragend an, aber die, beglückt und glühend, war dem Zwang einer so innigen Gastfreundschaft schon erlegen. In der Tat, dieser Kachetien-Abstecher würde ihr, bevor die Hauptsache geschah, Zeit lassen zum Überlegen, wozu sie vor lauter Rüttelei und Aufregung gar nicht gekommen war; ein zögerndes Kopfneigen wurde mit einmütigem Beifall seitens der Gastgeber aufgenommen. Chachulja versprach, den besten Guide des gesamten Kaukasus herzubeordern, und trompetete einen beängstigend bekannten Namen ins Telefon, der allerdings in Sprühfeuer grusinischer Vokabeln unterging. Wenig später, während Evgenia Ivanovna noch mit der Ohnmacht kämpfte, trat der lebendige Stratonow hinter ihr ins Zimmer. Sie erkannte ihn im Spiegel an seiner alten hellbraunen Kordjacke mit Gummizug und den nicht weniger abgewetzten Hosen in blankgewienerten Ledergamaschen, die gleichfalls noch aus der Konstantinopler Zeit stammten. Allerhand Riemchen und Ringe am Gürtel des Cicerone lenkten die Aufmerksamkeit auf sich, eine Kartentasche baumelte über seiner Schulter, schiefgetretene doppelsohlige Bergstiefel vervollständigten die Kostümierung des passionierten Bergsteigers. Um seine berühmten Touristen nicht mit Belanglosigkeiten zu behelligen, stellte der Direktor den Guide gar nicht erst vor, auch der selbst hatte kaum einen Blick für die Fremden. Aber dann, bei der Erörterung der Reiseroute wollte dem Engländer eine russische Wendung nicht einfallen, und Evgenia Ivanovna half übersetzen. Beim Klang ihrer Stimme schoß Stratonow einen Blick in ihren Nacken und schnitt eine Grimasse, als habe er eins mit der Peitsche übergekriegt. Es war, als bliebe ihm die Luft weg und er würde gleich sterben. Evgenia Ivanovna sah schräg im Spiegel, wie er, wieder ein wenig zu sich gekommen, verzweifelt nach einem Platz zum Sitzen ausspähte, um nicht allein zu stehen, aber auf dem einzigen freien Sessel lagen die Mäntel der Pickerings. Da lehnte er sich mit selbstbewußter Miene an den Türrahmen.

»Stirb nicht gleich, Kavalier, Kopf hoch, Kopf hoch«, rief ihm Chachulja gönnerhaft und durchaus jovial zu. »So'n alter Haudegen, und sieht aus wie'n malades Weib! Wollen sich die verehrten Gäste die Ware bitte von der Vorderseite ansehen.« In seinem Ton lag nichts Ehrenrühriges, nur Witz und Nachsicht gegen einen Gestrauchelten. Ja, und Stratonows Haltung drückte Bereitwilligkeit aus, Vertrauen zu rechtfertigen. Es fehlte die Zustimmung Evgenia Ivanovnas, sie nickte. Peinliche Vertraulichkeiten hatte sie von ihrem vormaligen Mann nicht zu fürchten: geschlagen und gezeichnet, lag er zu sehr am Boden, um sich mit einem einflußreichen Freund des schon halbwegs gefestigten Sowjetstaates zu verzanken. Überdies bot die Reise eine günstige Gelegenheit, Stratonow den Ring zurückzugeben, welchen sie in unerklärlicher Vorahnung für diese Begegnung aufbewahrt hatte. Anderntags ging es weiter … Nein, triftige Gründe sprachen nicht dafür, Stratonows Dienste abzulehnen. Nach einem Kompliment wegen ihrer Sprachkenntnisse, sichtlich um ihr Verhältnis bei der bevorstehenden Fahrt zu klären, fragte Stratonow auf französisch, ob die gnädige Frau schon in Rußland gewesen sei. Da machte Evgenia Ivanovna vom Recht der Ausländerin Gebrauch, die etwas vielen indiskreten Fragen dieses Landes mit Schweigen zu quittieren.

Auf der Fahrt nach Kachetien hatte sich Stratonow weiterhin des Französischen bedient, wohl damit der Engländer keinen Verdacht schöpfte. Die französische Anrede nunmehr, unter vier Augen mit ihr im nächtlichen Park von Zinandali, ließ sich freilich nur mit dem heißen Wunsch erklären, die alten Geschichten für immer ruhen zu lassen. Er bat sichtlich um Gnade … Auf einmal verstummte hinter ihr das Krachen der Zerstörung, das die Alasan-Nacht erschütterte. Offenbar hatte der Fahrer die traktierte Tür glücklich eingeschlagen. Jemand kam ihr entgegen ein Windlicht schwankte in einer Hand, abwechselnd leuchteten zwei Füße hervor in dicken chewsurischen Wollsocken.

»Wir können ins Haus. Der Mann hat alle wachgetrommelt. Wollen Sie mir bitte Ihren Arm reichen, Mrs. Pickering?«

Stratonows aus der Entfernung klingende Stimme hatte sich deutlich genähert. Der Guide meinte wohl, im Dunkeln und ohne Zeugen werde sich alles regeln. Indessen änderte Evgenia Ivanovna ihre ursprüngliche Absicht, kaum nur in der Befürchtung, im Finstern danebenzuhauen. Zudem, um Mitternacht herrschte im Alasan-Tal eine so atemlose Stille, daß selbst die geheimsten Gedanken augenblicklich vernehmbar wurden.

 

Nachts gab es Aufregung. Der Engländer brauchte heiße Wickel, kochendes Wasser ließ sich nirgends beschaffen. Das Dasein der neuen Welt war hart und bar allen Luxus. Im Wandschaff fanden sich ein Fläschchen eingetrockneter Dänischer Königstropfen und von ebensolcher Monarchenprovenienz versteinerte Pülverchen, herstammend noch von den vormaligen Zinandali-Eigentümern. Man ließ es damit bewenden, schmerzlindernde Mittel einzureiben, was die halbe Nacht dauerte. Die Anfälle gingen so plötzlich vorüber, wie sie kamen, ohne Nachwirkungen.

Evgenia Ivanovna erwachte am hellen Tag. Mit schlaftrunkenem Blick umflog sie die himbeerrot ausgeschlagenen Wände, die sie nachts beim Kerzenlicht nur flüchtig wahrgenommen hatte. Das Schlafzimmer glich dem verwahrlosten Thronsaal eines kleinen Potentaten. Aber das frische grüne Lüftchen, das von der Terrasse, vom Park her in den schwülen Dämmer hereinschlug, wog alles auf. An der offenen Tür saß im Hausrock, einen Band des Oxforder Lexikons vor der Nase, der genesene Gatte, diesen Morgen besonders lang wirkend und, wie dem schlaftrunkenen Auge schien, ein Bein ums andre geschlungen.

Die Frau rekelte sich im seligen Gefühl, daß die Drangsal der Jugend vorbei und des Alters Bitternis noch fern sei. Sie fühlte sich wie neugeboren in diesem ausladenden quadratischen Bett, mit Stufen und Baldachin, geschaffen für die Ausschweifungen eines unbekannten Regenten. Evgenia Ivanovnas Leben hatte kaum begonnen, vor ihr lag unvertan die Ewigkeit. In ihrem Körper flutete süße Benommenheit; voll Wonne streifte sie über ihre Atlashaut. Wohlig schloß sie die Lider und amüsierte sich, wie ihr Mann im spitzbogigen Lichtkeil zerfloß. Plötzlich kam es ihr vor, als liege einen Stock tiefer, gerade unter ihr, Stratonow auf der Couch, eine Zigarette zwischen den Lippen, und fixiere sie, die nackt war, frech durch Zimmerdecke, Teppich, Bettlaken hindurch.

Die ungewisse Empfindung seiner Nähe verfolgte sie für den Rest dieser Nacht: nur mit Schlaf konnte sie ihn abwehren. So tat sie denn auch. Gewiß, kaum schlossen sich die Lider, war er nicht mehr zu sehen, doch gleich war er wieder da, griff zu mit seinem ganzen Wesen, da half kein Wehren, lebendig, ohne alle Makel, die sie gestern so bemüht an ihm entdeckt hatte. So fest knäuelten sie sich ineinander, daß nicht mehr zu unterscheiden war, wo er aufhörte und sie anfing … Auf einmal wuchs das Schlafzimmer zur Größe eines Platzes auseinander, auf dem festlich gekleidete Leute wogten. Das Bett, einem Katafalk ähnlich, rollte durch die zerflutende Menge, die den Vorgang heuchlerisch übersah.

Von einem kitzelnden Lufthauch an den Füßen wachte sie auf. Die Decke war zu Boden gerutscht. Auf dem Nachttisch lagen zwei Rosen, die vorher nicht dagewesen waren. Mr. Pickering saß in gleicher Haltung und am gleichen Platz, nur angekleidet und rasiert, das Nachschlagewerk auf den Knien. Der Windzug bewegte die Blütenblätter des Offsetpapiers. Während sie ihren leichtsinnigen Abenteuern frönte, hatte er glücklich die Geschichte Kachetiens von der Gefangennahme Agsartans II. bis zum Sturz des unglücklichen Tajmuras I. durchstudiert. Wie es in der Liebesmär zu geschehen pflegt, wurde das unglückliche Wundertier bestohlen, indes es das Kleinod zu bewachen glaubte.

Als sie sich rührte, fuhr er herum und näherte sich der Frau.

»Du hast im Schlaf ausgeschlagen, Jenny, als wärst du gejagt worden«, sagte Mr. Pickering, indem er sich aufs reichverzierte Bettende stützte. »Ich war zweimal bei dir.«

Die Worte entsetzten sie.

»Ein schlechter Traum«, versicherte sie hastig und zog die Bettdecke bis ans Kinn. »Warum hast du mich nicht geweckt, Doc?«

»Als ich da war, hast du schon wieder gelächelt … Ich dachte, es wäre vorbei. Wer hat dich denn so gejagt, Liebling?«

In seiner Stimme lag nur nachsichtiges Entgegenkommen, das jedoch dem ertappten Frevler immer wie ein schlauer Trick vorkommt. Da Evgenia Ivanovnas Schuld keineswegs zu rechtfertigen war, wehrte sie sich mit der erstbesten Lüge, die ihr auf die Zunge kam. Es bedurfte nicht einmal sonderlicher Verstellung, denn sie dachte in jüngster Zeit in der Tat oft an den Tod ihrer Mutter, den sie in ursächliche Verbindung brachte mit zwei silbernen Teeuntersätzen und Vaters goldener Uhr, einem Präsent seiner Kollegen, alles gegen Recht und Gesetz im Gemüsebeet eingebuddelt. Um der besseren Glaubwürdigkeit willen begann sie ihre Geschichte mit dem denkwürdigen Tag, wo einer der ephemeren Mächtigen jener Zeit ihr halbes Grundstück nach den unseligen Schätzen aufwühlte.

«Dabei waren Mutters Tomaten noch gar nicht geerntet.«

»Bemühe dich nicht, Jenny, Träume sind wie verbranntes Papier. Sie zerfallen, wenn man an sie rührt.«

Vor Angst, sich sein Vertrauen verscherzt zu haben, versuchte sie ihn linkisch an sich zu ziehen, um seinen stillen Verdacht zu zerstreuen. Sacht löste der Engländer die Hände von seinem Hals. Da wußte sie, er wollte über die Untreue hinwegsehen, die im Grund gar keine war, dennoch reizte ihn der Bodensatz von Zärtlichkeiten kaum. Vor Verzweiflung, sie könnte im Schlaf den Namen des andern genannt haben, brach sie in Schluchzen aus. Reue faßte die Frau, warf sie in die Kissen. Ein Glas Wasser in der einen Hand und mit den Fingern der andern eine aufgenommene Rose zerkrümelnd, wartete der Engländer, daß der Anfall vorüberginge. Das Hemd rutschte ihr von der Schulter, kindliche Tränen rollten auf die bloße Brust. Nichts hätte ihn besser von der Unschuld seiner Frau überzeugen können als diese kleine Unverschämtheit.

Nachdem sie sich etwas ausgeschluchzt hatte, hielt es Mr. Pickering für denkbar, in den abgeklungenen Sturm hineinzurufen.

»Reg dich nicht auf, Jenny, vertrau mir doch, quäl dich nicht. Ich bin dein guter Freund … Trink wenigstens einen Schluck Wasser«, meinte er und legte seine heilende Hand auf die noch zuckende Schulter.

»Was immer geschieht, mag es das Schlimmste sein, ich habe Verständnis dafür … beruhige dich, so, ja. Übrigens, merkst du, es riecht so herrlich nach Küchendunst! Ich kann mir keinen anderen Geruch denken, der so eindrucksvoll von irdischem Glück spräche. Nicht zufällig haben die alten Juden nach der glücklichen Landung der Arche Noah ihren Gott in Gestalt zweier Nüstern konterfeit, die Opferdämpfe schnüffeln. Ich erzähle dir diese lustige Geschichte beim Frühstück. Übrigens ereignete sie sich nicht weit von hier, hundertdreißig Kilometer südlich auf demselben Meridian, aber … jetzt zieh dich an! Du hast einen enorm gefräßigen Mann, meine Liebe.«

In diesem Augenblick pochte Stratonow abermals an die Tür. Die Zeit des Frühstücks war zwar hoffnungslos verpaßt, doch in Kachetien wurde nach Bauernbrauch früh gegessen. Keine halbe Stunde später strebten alle drei durch eine Flucht unbewohnter Gemächer zum Speisesaal. Die Strapazen der Nacht äußerten sich, das Gespräch wollte nicht in Fluß kommen, obwohl an Weinen kein Mangel und ein Sowchosdirektor zugegen war, der als Tischmeister einen vorzüglichen Ruf genoß. Die Stimmung hob sich erst zum Schluß ein wenig, als der Engländer den Zinandalier Tafelfreuden unverhohlene Bewunderung zollte: Ein exzellenter unbekannter Kochkünstler wirke und schüfe in der Stille des Alasan-Tals für wenige. Ob dieses Kennerlobs geschmeichelt, sagte der Direktor, der Koch heiße Koté, und war schon im Begriff, die Biographie dieses Künstlers aufzublättern, da wurde er dienstlich hinausgerufen: die Weinlese in Kachetien war in vollem Gange. Während der Viertelstunde, die er im Kontor war, teilte Stratonow den Reisenden unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, auch die Tifliser Prominenz komme in dieses kulinarische Eden gereist, um hier ihren Leib für die Entscheidungsschlachten der Menschheit zu stärken. Es war, als knirsche dabei Sand zwischen seinen Zähnen. Daraufhin kam es zwischen ihm und Mr. Pickering zu jener peinlichen Kontroverse, die wohl nur mit Stratonows Versuch zu erklären war, sein Ansehen bei der Frau um jeden Preis zu heben.

Aus den Augenwinkeln, ohne ihm den Blick zuzuwenden, musterte Evgenia Ivanovna ihr aufgebrachtes Visavis. Nach dem gespenstischen Wahnwitz der Nacht wirkte der lebendige Stratonow fast wie ein Toter. Ihr schräg gegenüber am Tisch saß ein unleidlicher, unausgeschlafener und vor allem keineswegs mehr junger Mann. Niemand hatte ihn also erschießen wollen in jener geträumten Schlucht, eher hatte ihn ein Kinnhaken getroffen, weswegen wohl auch sein Unterkiefer so nach links hing. Zum Ausgleich für etwas Verlorenes hatte sich der Herr eine Künstlermähne wachsen lassen, die ihm übrigens wohl zu Gesicht gestanden hätte, wäre sie nur öfters in warmem Seifenwasser gewaschen worden. Die zerschundenen Hände, die zerfransten Manschetten, von Sicherheitsnadeln statt Knöpfen gehalten, die nervöse, auf den ersten Blick erkennbare Abgespanntheit, all das redete eine deutliche Sprache, wie es Stratonow am erreichten Ufer erging. Er lebte öde, einsam, hoffnungslos, ohne liebende Frau, in der Gereiztheit ewiger Angst. Keine dieser bitteren Wahrnehmungen verschaffte Evgenia Ivanovna aber die gewünschte Genugtuung.

 

Während Stratonow eine Traube Wein kahl zupfte, plauderte er vom alten Zinandali-Besitz und von den vormaligen Eigentümern des jetzigen Weinsowchos, den berühmten Tschawtschawadses, und erzählte die Geschichte, wie Schamyls Muriden vor genau siebzig Jahren die Bergklüfte herabfluteten und davonstoben im Qualm einer Feuersbrunst, zwei grusinische Prinzessinnen quer über den Sattel mit sich nehmend. Evgenia Ivanovna, die gleichwohl nur schwieg, merkte deutlich, wie er mit geübter Redseligkeit und mit Kenntnisreichtum die Zeit zu überbrücken suchte, um Fragen und Erklärungen aus dem Wege zu gehen. Sie hörten sodann, daß das Besitztum Ende des vorigen Jahrhunderts von dem ruinierten Schloßherrn an die russische Krone übergegangen sei und daß in dem Bett, in welchem sie die Nacht zubrachten, Alexander II. öfters geschlafen hatte.

Auf diese Kunde hin wagte Mr. Pickering den leichtfertigen Witz, Alexander sei ja seines Wissens der größte russische Zar gewesen, was seinen Wuchs betraf. Der Guide heftete seinen Blick auf den Teller und schwieg für Augenblicke.

»Zu seinen Lebzeiten erlaubten sich Ausländer nicht mal zu Hause respektlose Äußerungen über ihn«, murmelte er wie beiläufig, als ob er eine Auskunft erteilte.

So interessant fand Evgenia Ivanovna die wachsende Nervosität dieses aus dem Gleise geworfenen Mannes, daß sie gar nicht daran erinnerte, wie derselbe Stratonow, damals Student, ihr kurz nach der Februarrevolution, wutschnaubend gegen alle Selbstherrscher, allerhand Histörchen erzählte von nämlichem Alexander: wie der sich mit seinem Gärtner die Nase begoß, wie er eine Buddel Kognak aus dem Stiefelschaft zu ziehen pflegte oder ein barbarisches Trompetensolo blies.

Versöhnlich füllte der Engländer Stratonows Glas nach.

»Es liegt mir fern, Ihren politischen Überzeugungen zu nahe treten zu wollen«, meinte Mr. Pickering mit ehrlichem Bedauern. »Ich bin noch ein gut Stück länger als nämlicher Alexander. Bei uns in Leeds ulkt man, von allen Professoren würde ich den größten Eindruck auf die Studenten machen … freilich in einem etwas andern Sinn, als mir lieb ist.«

Stratonow fand es angezeigt, diese einlenkende Geste zu ignorieren.

»Verzeihen Sie meine ungemeine Offenheit, aber viele Besucher aus dem Westen neigen dazu, unsere nationale Tragödie ins Lächerliche zu ziehen«, gab er nicht auf, hoffend, den andern durch ein halsbrecherisches Bravourstückchen vor der Frau auszustechen. »Was sie nicht hindert, Hofservietten mit dem Wappen des verewigten Monarchen, die in Sowjetlokalen benutzt werden, als Souvenir einzustecken. Trotz aller Aufgeklärtheit scheint in Europa immer noch Nachfrage nach einem ordentlichen Stück vom Strick des Gehenkten zu bestehen. Gewiß, bei Ihren Landsleuten ist mir dieser Hang nicht aufgefallen, doch bin ich sicher, auch unter ihnen gibt es genug, die gern mal ein, zwei Nächte im Zarenbett schliefen.«

Und ohne dem entgeisterten Mr. Pickering Zeit zur Besinnung zu lassen, erging sich der Guide über jene besondere Spezies von Fremden, die da Gazellen in kaukasischen Naturschutzgebieten schießen, ihren Durst mit Spitzenweinen löschen und geschenkebeladen zu Hause angekommen und in Presseinterviews äußern, der Sozialismus sei das rechte für Rußland.

»Meinen Sie wirklich?« Der Engländer kam aus seiner Verblüffung nicht heraus. »Dabei springt in die Augen«, schloß Stratonow mit Schwung, immer schneidiger vorwärtshastend, um seinen Aufstand noch vor der Rückkunft des Direktors zu beenden, »keiner dieser voreiligen Freunde hat bisher bei uns um Wohnrecht nachgesucht. Das ist es … merci für die Aufmerksamkeit. Wir fahren also in unserm Programm fort.«

Das Besichtigungsprogramm fürs Alasan-Tal war noch in Tiflis festgelegt worden. Der Nachmittag sollte mit kachetischem Wein bekannt machen, mit Geschichte, Kelterei und Sowchoskellereien. Zwecks sinnvollster Einführung in diesen wichtigen Zweig der Weinwirtschaft wurde ein kleiner Spaziergang in die Umgegend des Schlosses anberaumt. Der Direktor selber begleitete die Gäste im Schatten des Parks, dicht bestanden mit mächtigen Platanen, Libanonzedern und Sterkuliazeen. Beiläufig, wie tastend, fragte Stratonow den Engländer, ob die alten Bäume nicht wie verkappte Dämonen wirkten, die in ihren muskulösen Umarmungen jeden Sturm zermalmen könnten. Der erwiderte ziemlich zurückhaltend, nein, sie wirkten nicht so. Da, in dem glühenden Verlangen, den dummen Eindruck, wegen seines Ausfalls gegen den Westen, zu verwischen, forschte Stratonow mit allem Respekt weiter, ob die kaukasische Geschichte niemals sein gelehrtes Interesse erregt habe. Nein, sie habe nicht erregt, meinte der andre frostig. Unterdessen waren sie bis an den Steilhang der Zinandali-Zitadelle gelangt. Betagte Kastanien, deren Früchte unter den Schritten zerknirschten, hingen überm Abgrund mit Kaskaden von Stachelgestrüpp. Tief drunten erstreckte sich eine von spärlichem Zypressenwuchs bedeckte steinige Ebene, zum Fliegen einladend und gesäumt vom Fliedersaum der Berge.

»Von hier aus können Sie sehen, wo der kachetische Wein seinen Triumphzug beginnt«, murmelte hinter den Pickerings Stratonow, der sich schwor, seine Kunden nicht mehr zu verärgern.

 

Dieses Jahr war der Wein eine Woche früher reif als üblich, und die Lese hatte im Tal eben am Tage vorher begonnen. Vergebens fragte der schuldgemarterte Guide, ob es den verehrten Gästen nicht auch so scheine, als ob alles ringsum im Flüsterton rede – das Laub, das Wasser, selbst die Vögel. Nur die mit Weinkörben hochbeladenen zweirädrigen Karren knarrten träge unten auf den Wegen. Und im Rücken, jenseits des Parks, stampften nach Kräften die Keltern auf nassem Zementboden. Indem Stratonow auf die mörderischen Pressen deutete, zwischen denen edle Rebenschönheit starb, um die trunkene Weisheit des Weins zu erlangen, erläuterte er seinen Zuhörern die Unterschiede zwischen den Sorten Budeschure und Muwane und vor allem, warum die Märzpflanzen verschnitten wurden. Evgenia Ivanovna sah wohl, wie die Weinbauern einander zuzwinkerten, als Stratonow die Vorzüge pries, die Berlandieritraube unter Schwarzerdebedingungen zu pfropfen.

 

Auf einmal schöpfte der ältere der beiden, ein Georgier mit buschigen Brauen, bis über die Ellbogen naß von jungem Wein, ein Glas schäumenden Traubensaftes und reichte es, die Mütze ziehend, der gelangweilten Dame – alte kaukasische Ritterlichkeit schimmerte in dieser Geste. Ihre Augen quittierten sie mit Leuchten; für einen Moment wurden ihre hübschen Züge strahlend schön, sie hob das Glas an die Lippen und bog den Kopf zurück, so daß das kurzgeschnittene Haar über die Schultern fiel und die rosige Kehle hervorstach. Sie verschluckte sich, ein paar Tropfen liefen am Mund vorbei, das erheiterte sie, sie lachte. Und dem Ewigweiblichen salutierend, führte der Alte, indes sie trank, zweimal die Fingerspitzen gegen seinen festgezwirbelten Widderhornschnurrbart.

Schwerlich hätte ein Glas faden Mostes solch überschwengliches Entzücken erregen können. Offenbar wollte die Frau, daß ihre erblühten Reize jemand in die Augen stachen. Besorgt musterte sie der Engländer, versuchte, Stratonows Rolle dabei zu enträtseln, und fragte sich bestürzt, ob er nicht in den Händen Evgenia Ivanovnas lediglich ein Rachewerkzeug sei, ein grausames zudem, seines Äußeren wegen. Als er sich in ihr Land begab, hatte er ja dieses entwürdigende Tauziehen mit einem dunklen russischen Ehrenmann nicht voraussehen können; am peinlichsten war ihm, daß es gar nicht zu vermeiden war.

Evgenia Ivanovna fing den forschenden Blick ihres Mannes auf.

»Ganz harmlos, Doc, berauscht kein bißchen. Probier nur selber«, rechtfertigte sie sich und reichte ihm das Glas mit dem Schluck Wein und dem blutroten Rand, jener Spur ihrer Lippen.

Wider Willen in das Spiel hineingezogen, schlürfte der Engländer tropfenweise den unfertigen Wein, der gleichwohl bitter war und brannte wie aus Höllenfeuer gegoren – schlürfte und ließ kein Auge von seinem Gegner, der ungerührt mit einer Gerte gegen seine Ledergamaschen klopfte. Sie gingen weiter, jeder in der deutlichen Ahnung von nahem sicherem Sieg oder Untergang. Als teile er den Ort des verabredeten Duells mit, meinte Stratonow, abends werde im Dorf Alawerdy, am andern Alasanufer, die Kirchweih eröffnet und der alljährliche Jahrmarkt abgehalten, zu dem Angehörige fast sämtlicher kaukasischer Völkerschaften, selbst der weitab siedelnden Lesginer, zusammenkämen. Dorthin seien es zwanzig Kilometer holpriger, stellenweis elend staubiger Feldweg, doch die Unbequemlichkeiten der Fahrt würden sich vollends auszahlen dank der Fülle funkelnder Eindrücke.

»Alawérdy, Alawerdý, das kenne ich«, erinnerte sich der Engländer, den Akzent des Wortes suchend. »Zogen da nicht viele asiatische Horden auf ihrem Marsch nach Südosteuropa durch? Dort steht, wenn ich mich recht erinnere, eine alte Kirche, die von einem frommen Pilger gegründet wurde.«

»Sie haben Ihre Morgenlektion brav gelernt«, lobte Stratonow schneidend; er hatte das Oxforder Lexikon auf dem Tisch des Engländers liegen sehen. »Die Kirche errichtete der Eremit Joseph, einer der dreizehn Mönche, die Simeon der Säulenheilige aus Antiochia her entsandte.«

»Wie sagten Sie, Säulenheilige?« unterbrach ihn Mr. Pickering, dem die russische Vokabel nicht geläufig war.

»Das sind stylites«, erklärte Evgenia Ivanovna und zitierte das Lieblingszitat ihres Mannes aus Tennysons gleichnamigen Gedicht: »Show me the Man hath suffered more than I!«

Ohne sonderliche Notwendigkeit und wohl nicht nur für die Ohren des Gatten bestimmt, deklamierte sie flüssig den ganzen Achtzeiler; drei Jahre vorher, als sie in der Modia-Bucht an Land kam, hatte sie kein Wort Englisch gesprochen. Während Stratonow leise lächelnd ein Stäubchen von seinem Ärmel streifte, faßte der Engländer Evgenia Ivanovna gurrend unter und beschwichtigte sie mit innig-hypnotischen Ehemannsgebärden.

»Da einmal davon die Rede ist, darf ich mich vielleicht mit einem alten Zweifel an Ihre Gelehrsamkeit wenden«, fuhr Stratonow fort und schmeichelte dem Engländer mit schlauen Blicken. »Hier in meinem Buch lese ich, die Kirche von Alawerdy sei im siebenten Jahrhundert gebaut worden, während besagter Säulenheiliger doch um die Wende des fünften lebte. Hinzu kommt, daß Chosroes der Große Antiochien Mitte des sechsten völlig verwüstet hat, so daß es nach dieser Heimsuchung schwerlich imstande war, Legaten außer Landes zu entsenden, ja, oder auch nur die christliche Glaubenslehre innerhalb der eignen Grenzen aufrechtzuerhalten. Sie gestatten, ich wiederhole mein Anliegen.« In geduldigster Weise erläuterte er dem Feind die Koordinaten seiner Knobelaufgabe. »Könnten Sie, verehrter Mr. Pickering, mir nicht aus meiner dummen Verlegenheit helfen?«

Die Ohrläppchen des Engländers verfärbten sich, mechanisch brach er von einer Eibe am Wege rote Beeren, und dann geriet das enzyklopädische Räderwerk seines gelehrten Hirns in Bewegung. Den Irrtum seines Rivalen hatte er im Nu heraus. Aber er wollte erst klären, ob Unkenntnis hinter der Frage steckte oder die vermutete Absicht, vor der Frau an seiner wissenschaftlichen Autorität zu rütteln.

»Wozu hätte Antiochien nach Chosroes überhaupt Missionare schicken sollen«, begann er das Knäuel zu entwirren. »Derzeit war die Christianisierung Georgiens im Grunde schon beendet. Im sechsten Jahrhundert hat Procopius von Cäsarea die Georgier fanatische Christen genannt. Mithin stammt dieses Denkmal wenigstens aus dem fünften Jahrhundert. Bei Ihnen steht aus dem siebten? Billige Buchpreise erhöhen zweifellos die Nachfrage unter anspruchsloserem Publikum, aber … ich empfehle, lieber britische Nachschlagewerke zu kaufen. Bei uns knausert man nicht, was Autorenhonorare, Autorkorrekturen, wenn Sie wollen, das Papier angeht. Ja, und betreffs Ihrer Kenntnisse – haben sie gleichfalls ein Vademekum zur Hand oder kommen Sie beruflich öfter in die Gegend?«

Stratonow bleckte die weißen, etwas lädierten Zähne in unverhohlenem Spott.

»Kachetien gehört nicht zu den Touristenrouten, da entsprechende Unterkünfte fehlen, wovon Sie sich vergangene Nacht überzeugen konnten. Wollten Sie das hören, Mr. Pickering?«

»Nein, Herr Stratonow, mich interessiert eher, ob Sie Ihre geschichtlichen Studien aus Liebhaberei betreiben oder ob Ihre Firma Spezialkenntnisse für diesen Posten verlangt, den Sie … in so sonderbarer, unfaßlicher Weise ausüben?«

Das Gespräch war von selbst ins Französische gewechselt, wie um Waffengleichheit herzustellen, und plötzlich brach wieder das Russische hervor. »Ich übe meinen Dienst aus«, ereiferte sich Stratonow, »und Sie zahlen dafür Devisen, die bei uns zulande sehr gefragt sind. Wir sind noch arm. Bekanntlich haben es unsre Alliierten unterlassen, die Früchte des Sieges mit uns zu teilen, der mit einem Meer von russischem Blut erkauft wurde. Mit meinem auch. Für den Aufbau des neuen Rußlands, sehen Sie, brauchen wir eine Menge Geld … etwa für ein Paar neue Stiefel, Mr. Pickering; unter Ihrem Blick werden meine gleich völlig auseinanderfallen!« Schon hätte ihn keine Macht auf Erden mehr zügeln können. »Als die Alliierten Rußland im Stich ließen, mußte ich für gewisse Zeit ins Ausland … dann kehrte ich zurück, um meinem Land nach Kräften zu dienen, ja, auch um Sümpfe trockenzulegen. Deswegen habe ich meiner Seele Gewalt angetan, meine Ideale verleugnet und sogar eine Gemeinheit begangen, die Erinnerung daran verbrennt mich noch heute.«

Sein Monolog klang so einfältig, als erzählte jemand leichtfertig »How do you do?« gefragt, sämtliche Vorgänge der letzen Woche her. Die fleckige Wangenröte, die hektische Redeweise und mancherlei andere Anzeichen sprachen dafür, daß Stratonow sich in erbärmlicher Verfassung befand. Nach allem zu schließen, hätte er es selbst auf einen kleinen Verstoß gegen seine Dienstvorschriften ankommen lassen, um sich von seiner Schuld reinzuwaschen. Mr. Pickering warf seiner Frau einen gequälten Blick zu, ihretwegen litt er seit morgens schier russische Seelenqualen. Vorm Taschenspiegel schminkte die sich die Lippen, ihre Hand flatterte, ein Sonnenkringel hüpfte auf ihrer Wange.

»Ich glaube«, bemerkte sie, ohne den Stift abzusetzen, »Herr Stratonow richtet seine unpassenden Bekenntnisse an einen Dritten, der gar nicht hier ist.«

Der Lippenstift war gebröckelt, sie warf die leere Goldhülse unter einen Strauch.

 

Es dauerte eine Weile, bis der Guide seine Geschäfte wieder aufnahm. Alle waren sich klar, daß die Dinge auf eine dramatische Schlußapotheose zusteuerten. Für Augenblicke schwiegen die drei, als zollten sie der romantischen Naturschönheit ihren Tribut. So waren sie unversehens wieder da angelangt, wo sie ihren Rundgang angefangen hatten. Es ließ sich kaum ein verschwiegeneres Plätzchen denken für eine geheimnisumwitterte Weihestätte. Und in der Tat lag da am Rande des Zinandali-Plateaus, im Grün versteckt, ein behäbiger kuppelgekrönter weißer Pavillon, dessen Andenken es wert sei, meinte Stratonow, nach England mitgenommen zu werden.

»Sie werden sehen, wie es einem meiner Ideale ergangen ist«, meinte er mit flackernder Stimme und verstellte ihnen den Blick ins Innere. »Eigentlich ist das nichts für Ausländer, nur wird hier ein Gedanke bestätigt, den Mrs. Pickering vorhin nicht aussprach, daß nämlich allein Bedauern Scheußlichkeiten nicht ungeschehen macht. Der Überlieferung nach hat sich hier der russische Dichter Gribojedow verlobt. Seine Braut Nina aus dem Hause Tschawtschawadse zählte damals fünfzehn Jahre. Diese romantische Liebesgrotte liegt verführerisch abgelegen, und leider bringen nicht alle Besucher die angebrachte Pietät auf.« Betrübter Miene trat der Guide zur Seite, und die Besucher erstarrten auf der Schwelle mit einem gellenden, vereint verzitternden Ausruf der Entrüstung und des Entsetzens. Der Boden des Pavillons war gleichmäßig, bis in die Ecken hin, über und über von Exkrementen bedeckt; man fühlte sich bewogen, Betrachtungen anzustellen über die Macht menschlicher Gewohnheit und die Wohltat fester Zucht. Ein Geschling aus verdächtigen Malereien und zweisprachigen Texten zog sich die getünchten Wände entlang, die das Andenken an Ninas kindliches Geplapper bewahrten. Evgenia Ivanovna preßte flehentlich den Ellbogen ihres Mannes.

Mr. Pickering drehte sich um mit hängenden Mundwinkeln und funkelte den armseligen Stoffschlips des Guides an.

»Ich verspreche meiner verehrten Frau«, erklärte er mit eisiger Verachtung, »Ihr unwürdiges, naturwidriges Verhalten den Tifliser Stellen nicht zur Kenntnis zu bringen. Uns beiden wäre es gleichermaßen peinlich, würden Ihnen aus unserm Besuch hier, nach allem, was Sie erlebt haben, weitere Unannehmlichkeiten erwachsen.«

Mit altmodischer Geste bot er seiner Frau den Arm, und der erblaßte Stratonow konnte eben noch zur Seite treten.

Zum Glück erwischte sie auf dem Rückweg der Direktor, der darauf brannte, seinen Gästen die materielle Seite der Angelegenheit zu zeigen; er verstand darunter einen Besuch der Zinandali-Kellereien. Da er die Unzugänglichkeit des Engländers für das Symptom eines neuen Anfalls hielt, bot er an, die heilsame Wirkung eines guten Alasaner Tropfens bei ausländischen Leiden zu erproben. Daß Mr. Pickering nicht ablehnte, zeigte nur wieder, daß er die besten Formen hatte und Verständnis für große Dinge. Von dem nun höchst beflissenen Stratonow begleitet, kletterten die drei in die tiefgelegenen Gewölbe hinab, wo im Dunkeln, in scharfem Kellerbrodem einer der feinsten Wohlgerüche auf Erden entsteht. Aber weder der Anblick des dreimannshohen Riesenfasses, dieses Urahns aller Zinandali-Fässer, noch die Kostproben aus bemoosten ehrwürdigen Flaschen oder die sichtliche Zerknirschung des Guides, der unbeachtet dastand – nichts vermochte die Stimmung des sensiblen Gastes zu heben. Gewiß, die flehentlichen Blicke seiner Frau rührten Mr. Pickering, und er ließ seine Absicht fahren, Rußland auf der Stelle zu verlassen, indessen lehnte er entschieden ab, den Jahrmarkt von Alawerdy zu besuchen, da ihm, meinte dieser rastlose arabische Wüstenwanderer eine schlaflose Nacht unter freiem Himmel nicht bekommen würde. Aus dem Keller, wiederum Arm in Arm mit seiner Frau, eilte er schnurstracks zu sich aufs Zimmer. Dann guckten die Eheleute zwei und eine viertel Stunde lang zwischen den zugezogenen Gardinen hinaus ins Freie und tauschten ihre wirren Gedanken zu den Vorgängen des Tages.

Selbst für Kachetien war das ein wundervoller Tag, durchwirkt von goldenem Nachmittagsglanz. Ein ferner Berggletscher stand da wie die Schneide eines Steinmessers aus durchscheinendem lila Mineral. Wolken segneten ihn gleich Geistern mit erhobenen Händen, was sehr besänftigend wirkte aufs erregte Gemüt. Zudem hätte die Rückfahrt auf der gleichen Route über Kars neue, von hier aus ziemlich mühselige Verhandlungen mit Moskau erfordert. Gegen Abend, als der gänzlich ahnungslose Direktor nochmals bei seinen Gästen hereinsah, hatte Evgenia Ivanovna ihren Mann glücklich so weit, daß er sich ein Opfer der noch anhaltenden politischen Machtkämpfe in Rußland wähnte. Und schließlich hatte dieser arme Sünder von Guide den ganzen Nachmittag unten in der prallen Sonne gesessen, mit so zerknirschter Miene, daß sich denn Mr. Pickering nach nochmaliger Beratung mit seiner Frau fügte und den dargebotenen Becher bis zur Neige leerte.

Es ergab sich, daß alles schon für den vergnüglichen Ausflug hergerichtet war. Hinter dem Hauptgebäude knatterte und zitterte auf halbplatten Ballonreifen, das Verdeck herabgeklappt, jenes Vehikel, das die Pickerings vom Grenzsee Hosapini nach Tiflis gebracht hatte. Nachdem Teppiche, Wein und allerhand Mundvorräte eingeladen waren, wurde hinten auf dem Gepäckhalter mittels eines Drahts noch ein kleiner Siedekessel aufgebunden – vorsichtshalber: falls, Gott behüte, dem werten Kopf des Genossen Pickering aufs neue etwas widerfahren sollte. Als der Wagen schon rollte, sprang vorn noch einer auf, der tagsüber bis zum Schatten seiner selbst abgemagerte, gar nicht mehr hörbare Stratonow.

Das Automobil, das die Behörden den Pickerings für die Dauer ihres georgischen Aufenthalts überlassen hatten, galt dereinst als ein Wunder der Technik und hatte, laut Überlieferung, den Statthalter des Kaukasus höchstselbst befördert. Mit den Jahren und vielleicht auch nach einigen Bruchfahrten talwärts war aus dem fragilen ausländischen Buick ein sturmerprobter einheimischer Bück geworden. Einzusteigen entsetzte Neulinge gewöhnlich, doch gab es erst kein Zurück mehr, eröffneten sich, wie bei jedem tolldreisten Unternehmen, auch die angenehmen Seiten, so durch die Lande zu fahren.

Auf den durchgesessenen Polstern warteten zwei Weinbauern aus dem benachbarten Teliani. Im purpurn-optimistischen Rundgesicht des einen las man Freude an leiblichen Genüssen, während das asketische Äußere des andern eher von geistigen Neigungen sprach. Wie sie erzählten, würden sie einander wie Maria und Martha ergänzen, um gemäß dem gewichtigen Auftrag der Tifliser Leitung den stolzen Briten kachetische Gastfreundschaft zu zeigen. Ihrer gemessenen Haltung wegen hielt sie Mr. Pickering zuerst für hiesige Minister, was ihrem Umgang ein wenig Zwang antat, doch ihre wunderlichen Reiseabenteuer brachten alle mit jedem Kilometer einander näher. Gleichmäßig sausten sie in die Höhe über Weglöchern, schaukelten einträchtig nach vorn bei jähen Senken oder umgekehrt, sanken behaglich, unter bedrohlichem Quietschen, in die Lederpolster bei plötzlichen Steigungen. Und zur Abwechslung krachte bald das Schaltgetriebe wie gebrochen, bald kochte der Kühler, und der Holzpfropf samt Werg schoß in die Höhe wie vor Champagner, worauf der Fahrer von neuem mit solcher Bravour durch die Kurven fegte, daß einem für Augenblicke Hören und Sehen verging und sämtliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Mit solchen kleinen Kunststückchen versuchte der Bursche am Steuer den Fremden Respekt beizubringen vor seinem Gewerbe.

Zu des Engländers Freude zeigte sich, daß die beiden Telianer einfache Weinbauern waren, dazu so großartige Kerle, witzig, selbstbewußt und geradezu, Kachetier ohne alle Pose, daß man den Ärger von vorher unwillkürlich vergaß. Schon nach halbem Wege brüllte der Dicke, um den Höllenspektakel des Buicks zu übertönen, Stratonow ins Ohr: »Übersetz ihm das, Genosse, damit er im Bilde ist. Das ganze Tal, hundertfünfzig Werst weit steht Wein, nichts als Wein. Halb Wein, halb Feuer fließt in den Adern Kachetiens. Napareuli – kennt er wohl von den Flaschen her – liegt dort links hinterm Fluß, wo der Esel trottet. Gurdshaani, Kardanachi – nie gehört? – befinden sich dort hinten, am weißen Torbogen vorbei, hinter den Zypressen. Durch ganz Alasan reist man bei Gläserklang. Gelüstet ihn nach einem Schluck, mag er nur geradewegs an mich schreiben: Adresse Erdenrund, Georgien, Kreis Signachi. Genügt völlig. Geradewegs an meine Person. Wir schicken vom allerbesten, den wir selber auf Hochzeiten trinken. Nur los, übersetze ihm meinen Film, Kazo.«

Der dolmetschte aufgeregt, machte Zusätze und verhörte sich absichtlich, um Evgenia Ivanovnas Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er saß mit dem Rücken zu ihr und hielt einen gebundenen Hammel auf den Knien, dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, als starre er sie die ganze Zeit demütig-flehentlich an.

Schon wehte es von der Alasan feucht herüber, und die Wege mehrten sich und kerbten die Gegend in allen Richtungen. Sie mündeten in eine flußbettähnliche, von Wagenspuren zernarbte Straße ein, die ins lila Berggeklüft führte. Immer öfter überholte man Reiter, bisweilen zu zweit im Sattel, oder Ochsenkarren mit Familien vollgeladen. Der Bauer schritt neben dem Rad her, auf dem Bock schaukelten die alten Leutchen, und hinten, unterm Teppichdach, funkelten die Schwarzaugen der zahlreichen Nachkommenschaft. Alle Welt war zum Jahrmarkt unterwegs; zu Hause blieben die Hunde. Die Ballonhupe hatte sich längst heiser gehupt; händefuchtelnd schnauzte sich der Fahrer freie Bahn.

Wenn nicht alles trog, waren die Schneegrate bis auf Schußweite herangerückt. Der Abend graute … im verblassenden Blau waren die einzelnen Bergstufen um so besser zu unterscheiden, gekleidet in Wald, in den grünen Filz der Almen, in ein rosiges Wölkchen, in leuchtendes Nichts. Die Phantasie streute jeweils Mönche, Hirten, Adler und Engel darüber. Alsbald verschwand die Vision hinter Hügeln, wie mit Kamelhaar bedeckt, die sich zur Linken heranschoben. Die Gespräche verstummten. Der Abend flog dem Wagen entgegen. Zu seiten des Weges hingen nebelunterspülte Zypressen. Die abgekühlte Luft roch nach verbranntem Kuhmist, und der todgeweihte Hammel wurde begreiflicherweise unruhig. Der magere Telianer, vorgebeugt, streichelte ihn, als wollte er ihn zur Weisheit mahnen. Plötzlich schwenkte hinter einem Olivenhain die Alawerdyer Kirche hervor, ein formenstrenger Kubus mit im Abendrot glühendem Pyramidendach.

Durchgerüttelt und schweigend stiegen sie aus auf einem niedergetretenen Maisfeld. Irgendwo in der Nähe, im Halbdunkel, lärmte der Jahrmarkt, es war, als sei ein Haufen Krieger im Anmarsch. Die Luft war staubdurchweht. Stratonow zog das Taschentuch, um sich das Gesicht zu wischen, dabei fiel etwas orangen auffunkelnd zu Boden. Obwohl er rasch den Fuß darauf setzte, erkannte Evgenia Ivanovna ihre Lippenstifthülse, die sie im Zinandali-Park ins Gras geworfen hatte. Ein banger lauernder Übermut faßte sie in allen Fibern.

»Liebt diese Erde, unsere freigebige Mutter Erde. Kachetien ist Euer, es lebe in Ewigkeit!« verkündete der Dicke, küßte seine Finger und berührte damit andächtig den flüchtigen Staub zu seinen Füßen.

Während die Teppiche um einen kahlgerupften Maulbeerbaum herumgebreitet wurden und der Chauffeur eifrig den Dickwanst von Hammel ausweidete, bat Stratonow still zu einer Kirchenbesichtigung. Der Engländer willigte wohl bloß ein seiner Frau zuliebe. Es war gar nicht einfach, in dieser flutenden Eintagsstadt vorwärts zu kommen, die vorigen Morgen aus nichts entstanden und nächsten Abend wieder zerfallen war. Gleich hinter dem Hohlweg wurden die Reisenden in den wogenden Menschenstrom hineingerissen und wie buntes bizarres Geröll mitgespült, vorbei an unbespannten Fuhrwerken und zahllosen Buden. Wohin man schaute, brodelten allerhand Leckerbissen, prunkend wie ihre grusinischen Namen, in Kesseln und Pfannen oder verströmten lustig brutzelnd und auf Ladestöcke gespießt, verführerische Dünste – nicht übler als auf Pickerings Märkten zu Ninive. Die Stapel noch ofenwarmer, knuspriger Brotfladen, bis unter die Zeltdächer geschichtet, lockten den Engländer an, ja, und das alles umlagert von den hiesigen Landweinen – in Krügen und in Ziegen- und Büffellederschläuchen, zehn Pud schwer, und in schiefen Ballonflaschen aus blasigem, altem Glas und auch in Bechern, randvoll, zum Zugreifen. Immer häufiger blieb Mr. Pickering, gleichsam zu Studienzwecken, an einer Bude stehen, und Stratonow, dem seine Neigung für volkstümliche Leckereien nicht entging, tat alles, um ihn vollends abzuschütteln. Dann, als er sich hinterm Jahrmarkt verstohlen umsah, war er sicher, es geschafft zu haben.

Der Trubel hatte seinen Höhepunkt erreicht. An den Ufern des Menschenstroms türmten sich haufenweis die Herrlichkeiten, die das Bergvölkchen lockten. Moskauer Kattune in schreienden Farben, nach Javellescher Lauge oder nordrussischem Heu riechend, wechselten mit kachetischen Matten und Filzkapes; Hausgerät aller Art, angefangen von verzinkten Kasserollen, Rauminhalt ein halber Hammel, bis zu den Wandteppichen für die Lehmhütte, prangte neben steinhartem knalligbuntem Zuckerwerk, an dem sich junge Zähne üben konnten. Die klobigen Hände zwischen den Knien, hockten im Schneidersitz die Telawer Töpfer hinter ihren Erzeugnissen – unter allerhand Kindertand und dreitönigen Flöten fielen die schlankhalsigen Hunderteimerkrüge auf, welche mit Wein gefüllt auf Vorrat im Hof eingegraben wurden. Daneben bewachten, ins Gras gestreckt, die Sattler von Signachi ihre hoffärtigen Meisterwerke: schnittige Sättel mit geschweiften Bogen, Beschirrungen mit Phönizierschnallen von Lesginer Hand, Kubatschiner Zügel und Gürtel, silber- und niellodurchwirkt, die von Beka Opisari selbst gelobt sein sollen, und den Traum jedes Reitermannes – musivische Chagrinschuhe mit vergoldetem Absatz, die förmlich nach dem Fuß der Liebsten schrien. Diese am Boden hingestreuten Schätze lockten um so mehr in der Abenddämmerung.

»Ach du liebe Zeit, wo hat's bloß unsern langen Mister hingeweht?« rief Stratonow fortwährend in jugendlichem Falsett; er wurde immer kühner in dem sicheren Empfinden, daß der Heidenwirbel ringsum auch Evgenia Ivanovna schon erfaßt hatte. »Geben Sie mir Ihren Arm, ich helfe Ihnen ans Ufer … Der Satan hat mich vorhin zu diesem alten Pavillon getrieben, ich war früher nie dort! Übrigens, ich wollte Sie schon lange fragen und vergesse es immer – wo ist Mr. Pickering dieses Malheur eigentlich passiert, war's in Kairo oder Bombay?«

»Welches Malheur?« antwortete Evgenia Ivanovna, den Strom überschreiend, eine Spur freundlicher, als es nötig gewesen wäre.

»Na, Sie wissen doch … in Tiflis sprachen Sie davon. Das hätte ja für seine Gehirnübungen üble Folgen haben können.«

»Ich verstehe nicht …«

»Hat er nicht eins mit dem Knüppel über den Kopf bekommen bei irgendwelchen Unruhen in den Kolonien?«

Sein mitfühlender Ton, zumal in solchem Gedränge, täuschte sie, sie verpaßte den Augenblick, diesem Mann, der sich da geschlagen, im Elend am Boden wand, dem man halb verziehen hatte, entgegenzutreten, Bescheid zu sagen, ihn an seinen Platz zu verweisen, und dann war es zu spät, einfach unter ihrer Würde, zu erklären, sich herumzuzanken oder auf jenen Unglücksfall einzugehen, zumal der Engländer zu Kolonialbehörden nie Beziehungen gehabt hatte. Dennoch meinte sie, die Verletzung, fast ein Zufall, habe von einer primitiven Bombe gerührt, die nach einem andern durchs Fenster geworfen wurde. Stratonow gestand sofort zu, Bombe sei freilich für einen Gentleman viel besser als Knüppel, und Evgenia Ivanovna hätte weinen mögen vor Kränkung, Bestürzung und am meisten vor Verzweiflung, daß der Guide in seiner Unverschämtheit so weit ging, an ihr früheres Verhältnis zu erinnern.

»Das ist ja unwichtig, wofür und weswegen. Sicher hatte er in jugendlichem Übermut etwas angestellt … Ihre Hand. Ihre Hand bitte!« rief Stratonow und zog sie aus der Menge heraus.

Auf dem Hügel vor ihnen schwang sich der Alawerdyer Georgsdom empor. Und ehe Evgenia Ivanovna noch antworten konnte, überschüttete Stratonow sie mit einer Fülle historischer Kenntnisse; man vergaß sie sofort wieder und verwunderte sich nur, wie sich auf solchem winzigen Erdenflecken soviel hatte ereignen können. Eine Kopfsteinauffahrt mit Abflußrinne in der Mitte führte zu einer Art Festungstor. Die Stöckelabsätze knickten in einem fort um, außerdem fiel ihr soviel Vergangenheit schon auf die Nerven. Sie wäre lieber unten gewesen, im Gewühl der Bauern und Hirten, unter den Tänzern und Barden, den jungen Männern mit Habichtprofil, und den schlangenäugigen Mädchen, die sich im Schein der Holzfeuer, Hand in Hand, im Doppelreigen des Perchuli wiegten. Andächtiges, hallendes Halbdunkel füllte den Dom, und gleichsam aus Ehrfurcht vor der Stille hielt ihr Stratonow seine Lektion geradezu ins Ohr hinein. Sie wußte aber, wieso er es tat, und wagte keine Bewegung, aus Angst, ihn zu berühren. An der Kühle der Wange merkte sie, wie er mit den Nüstern die Luft zwischen ihnen wegsog. Zur Täuschung gestikulierte er dabei erklärend mit den Händen, deutete mit geheuchelter Gelassenheit bald auf eine Steinsäule mit flackernden Kerzen ums Gesims, bald auf eine halbgesäuberte Freske, aus deren webendem Dämmer das Geckenbein eines byzantinischen Bogenschützen hervortrat, oder auf das quälend-ausgezehrte Antlitz, seinem eignen gleich, des Theodor Tiron, welcher sich mit dem Schwert in der Hand über einen Mauerbogen neigte. Der alte grünliche Maserstein durchschimmerte Propheten und Apostel und verlieh ihnen das Aussehen von Gespenstern. Plötzlich bat Evgenia Ivanovna den Guide, ein wenig langsamer zu sprechen – Mr. Pickerings wegen, der sich in diesem Augenblick zu ihnen gesellte: Sie brauchte nicht einmal den Kopf zu drehen, um seiner Anwesenheit sicher zu sein. Noch kauend, achtete der Professor wohl eher auf den Tonfall als auf den Sinn dessen, was der Guide mit gesenkten Lidern erzählte. Evgenia Ivanovna streifte einen Strohhalm von der Wildlederjacke ihres Mannes.

»An deinem zufriedenen Gesicht sieht man, daß du gut getafelt hast. Was gab's, Doc? Was Gutes?«

»Etwas aus biblischer Küche mit geharnischter Füllung, jedenfalls werde ich lange daran denken. Bis morgen bin ich wohl ziemlich feuergefährlich.«

»Wenn das wie unsere sibirischen Pelmeni aussah, nur größer und rund, war es Chinkali. Wer das Gericht nicht gewohnt ist, den wirft es glatt um«, flocht Stratonow von der Seite her ein, aber die Eheleute Pickering überhörten seine Bemerkung geflissentlich.

»Höchst merkwürdig, Jenny«, fuhr Pickering halb scherzend, familiär murmelnd fort. »Wir, die Wissenschaft, versuchen vergangene Zeiten zu erforschen und lassen dabei die gastronomische Seite außer acht. Sie könnte doch wertvolle Aufschlüsse liefern über Geschmacksentwicklung, auswärtige Einflüsse, Ernährungsareale und schließlich … Also, was hat der Wüterich Schah Abbas in Georgien noch für Unheil gestiftet?« spiegelte er, über seine Frau, dem Guide gönnerhaft eine Frage zu.

 

Kinderplärren lockte Evgenia Ivanovna ins Seitenschiff des Doms. Dort fand eine Taufe statt. Ein ehrwürdiger Greis, den Fresken entstiegen, in kalkweißem abgetragenem Priesterornat, murmelte das Gebet herunter, und statt der Kirchendiener sang dumpf der byzantinische Bogenschütze mit. Die zahlreiche Bergländersippe umstand das Taufbecken mit den fließenden Kerzen rundum. Im Luftzug tanzten die Flammen und entrissen dem schwankenden Dunkel bald ein zerschründetes Altfrauenprofil, halbiert vom schwarzen Kopftuch, bald die Stoppelbacke eines Hirten über verschossenem Wams oder einen malerischen Patriarchenkopf, das Kinn auf den Tscherkessenrock geneigt. Melancholisch, wie durch das dicke Glas der Jahrhunderte, schauten alle auf ihren brüllenden Nachfahren. Zwei andere Familien harrten in andrer dringlicher Mission auf den Altarstufen, angeführt von kaum weniger greisen Oberhäuptern. Schon war Evgenia Ivanovna der zwingenden beruhigenden Magie des Vorgangs erlegen, da trieb würgende Übelkeit sie ins Freie hinaus. Ringsum war niemand, nicht einmal Bettler, nur Sterne, die letzten. Nachdem sie die nachtfeuchte Luft geatmet hatte, war es vorüber, dennoch glaubte sie in ihrem Körper etwas Neues wahrzunehmen, und mechanisch, wie prüfend hob sie die Brust an. Offenbar wirkten die Strapazen der monatelangen Reise nach, das fette Essen, die Stickluft im Dom, von Weihrauch, qualmendem Wachs, ja von den Kinderwindeln; desgleichen war der Anblick der halbabgewürgten Hühner, dieses Bauernentgelts für den Taufakt, die der Diakon an den Beinen in den Altar trug, nicht der schönste gewesen.

Unterdessen hatten die Dunstschleier das Bergpanorama gänzlich eingehüllt, nur über dem Alawerdyer Feuermeer lag helle Mondnacht. Der Widerschein unzähliger Flammen fächelte das niedrige Gewölk, das Wetter wurde schlecht. Alle Laute dieser Nacht, Festtagsgetöse, Schafblöken, selbst das Tönen der Mücke, die von weither geflogen kam nach ihrem Anteil am großen Schmausen, waren hier, auf den Kirchenstufen, in eins verwoben – ein taubstummer Riese schnurrte vor irdischem, grenzenlos leiblichem Wohlbehagen. Von nahem dröhnte, wie der Schlag eines Herzens, dumpf ein Tamburin, hierzulande Daira geheißen, und in seinen gemessenen Rhythmus wehte von irgendwoher und so urwunderlich die geheimnisvolle Melodie einer Tari, begleitet von bald sich verschlingenden, bald auseinanderfallenden Stimmen. Schritt für Schritt, ohne die Gefährten, strebte Evgenia Ivanovna den Anfechtungen der Alasan-Nacht zu, die sich drunten in Schwaden von verbranntem Fett und schwelenden Ästen wälzte. Das Scheibenrad eines Lastkarrens rumpelte vorüber; hinterdrein zog ein forsches Kerlchen im Tscherkessenrock mit Patronentaschen und einem Dolch, lang genug, das Herz eines Mammuts zu treffen; zum Spiel der gedungenen Musikanten schwang er die geflügelten Ärmel empor, als wollte er den gesamten Kaukasus zum Tanz bitten, wirbelte in die auseinanderflutende Menge hinein und war von der Nacht verschlungen. Ein riesiger Tschetschene, mit einem Filzhut auf dem Schädel, trottete mit geschultertem Hammel so dicht an Evgenia Ivanovna vorbei, daß vom Widderhorn ein schwerer Tropfen auf ihren weißen Schuh fiel … Da erst holten sie die Männer ein.

Nicht ohne Mühe fanden sie den Parkplatz wieder unterm Maulbeerbaum. Mit der Miene von Opferpriestern mühten sich die beiden Telianer um den Schaschlyk. Dem Haufen verkohlten Holzes entquollen fette erregende Düfte. Perlmuttern flackerte der Widerschein des Feuers auf der Hammelhaut, die mit der Innenseite nach außen gerollt dalag, und dieser Umstand führte Evgenia Ivanovna erneut vor Augen, wie abenteuerlich diese Nacht war. Als man das durchgebratene Fleisch von den Spießen zerrte, hockten alle mit untergeschlagenen Beinen auf dem Teppich um die Tischdecke nieder. Das Wort wurde dem Wein erteilt. Man stieß reichlich an auf Frauen, Kinder und Freude, die man seinen Liebsten spenden wollte, auch auf England, auf daß dort die rechtschaffenen Hirten und Weinbauern nicht ausstürben, auf alles was da leibte und lebte und in erster Linie auf die Gäste, die an ihren Sohlen den Staub kachetischer Erde davontrügen. Und nach jedem Toast trank Stratonow verstohlen noch auf etwas, was nur er allein kannte. Der Trinksprüche müde, holte der eine Telianer blinde Musikanten, Mestwire, aus der Nacht herbei.

Sechs mit klaffenden Augenhöhlen kamen da einer nach dem andern aus dem Dunkel geschritten; sie wirkten wie auf einen Bratspieß aufgereiht, ein jeder hielt die Schulter des Vordermannes gefaßt, der erste ging mit lustig gerecktem Kopf und ertastete mit einem Stecken den Weg. Im Unglück ähnlich geworden wie Brüder, unterschieden sie sich nur von Alters wegen, ja, und einer trug einen Dudelsack, ein anderer ein Ding aus vier silberverfestigten Rohrstäben, ein dritter eine Art Oboe, eine Sasandari; die Hände der andern verloren sich im Dunkeln. Plötzlich strauchelte der vorderste über einen leeren Eimer, es war, als ginge eine Welle allmählich auslaufend durch die Reihe. Der vorderste wäre fast ins Feuer geschlagen, während der hinterste von der möglichen Katastrophe gar nichts ahnte. Man reichte den Sängern je ein Stück Fleisch zum Weißbrot und kredenzte Wein, worauf sie ihre Kunst hören lassen sollten. Eine Weile pumpte der Regent eifrig Luft in seinen Dudelsack, dann fielen die geblähten Backen ein, und der Ledersack mit Menschenstimme sang los unter seiner Achsel. Musik und Worte wechselten, das Lied war lang.

An der Grenze von Feuerschein und Nacht, kaum wahrzunehmen, lauschten Bauern und Frauen mit Kindern auf dem Arm dem Konzert der Blinden. In ihren rauhen Gesichtern las man den schlichten Sinn des Liedes. Es mochte davon sprechen, wie schön alles Leben auf Erden wäre, könnte man nur haben, was nicht ist. Da die Gäste den Text nicht kannten, machten sie sich auf die Melodie einen eigenen Reim. Evgenia Ivanovna streifte Stratonow mit einem Blick. Angetrunken hockte der da, mit den Schuhsohlen zum Feuer, neben dem Teppich, wie es sich so ergeben hatte, und starrte in die flüchtigen blauen Flammenzungen. Zu gern hätte die Frau da gewußt, was er dachte; andrerseits hätte sie es entwürdigend gefunden, seine Entschuldigungsgründe für sein Verhalten in Konstantinopel anzuhören.

Sie stellte den unausgetrunkenen Madshari, den jungen Wein, weit von sich und lehnte sich reckend den Kopf an die Schulter ihres Mannes. »Ich möchte gern wissen, worüber mein hochgeehrter Esquire sinniert. Darf ich seine geheimen Gedanken erfahren?«

Der antwortete halblaut, um die Blinden nicht zu stören.

»Erinnerst du dich, ich habe dir in Paris die ›Blinden‹ von Breughel dem Älteren gezeigt, die Kopie? Sechs ebensolche wie diese tappen daher im Gänsemarsch, der vordere stürzt in einen Graben, und den andern teilt sich das Mißgeschick auf unterschiedliche Weise mit. Eben hat sich vor deinen Augen, Jenny, das gleiche abgespielt, der vom Maler beobachtete Mechanismus wird in seiner Konsequenz fortwirken, solange die physischen Koordinaten des Weltbaus unveränderlich sind …« Alsdann ließ sich der Professor des längeren über den Sinn der Kunst aus, der, wie er meinte, keineswegs darin bestehe, dem Dasein das Spiegelchen begrenzter Vollkommenheit vorzuhalten, es nachzuahmen, das Modell also ärmer zu machen, es zu kopieren, denn wer könnte die Sonne kopieren, außer ihrem Schöpfer? Ziel der Kunst sei es, meinte der Engländer, ein Phänomen bis in seine Muskulatur hin zu erforschen, die innere Logik zu erfassen, sein Werden und Sein auf die knappste Formel zu bringen und mithin seine Uridee zu enthüllen.

»Künstler sollten Abstraktion nicht scheuen: Der Stoff, aus dem ein Ereignis gemacht ist, trägt unvermeidlich die Zeichen seiner Zeit! Zu solchen Dingen ist der Mensch durchaus imstande: auch das Universum war ja zunächst nur eine Idee, ein erster Strich auf einer Skizze, und wäre somit auf einem Stück Papier von Handtellergröße darstellbar gewesen. Die Formel dazu mag heute noch gewaltig sein … je mehr sich jedoch menschlicher Geist ansammelt, desto rascher schrumpft sie zu einer Verszeile, einer Hieroglyphe, schließlich zu einem magischen Zeichen, mit dem ja dereinst der Schöpfungsakt begann. Sache des Künstlers ist es, Vorgänge auf die Dimensionen eines Samenkorns zu bringen, das, in eine lebendige menschliche Seele geworfen, zu jenem Wunder aufblüht, das ihn seit je begeisterte … And that's all! Woraus du zu Recht folgern darfst, Jenny, daß ich hoffnungslos betrunken bin. Doch egal, egal, ich fühle mich wie Gott am sechsten Schöpfungstag.«

Er sprach mehr und aufgeregter als sonst, vielleicht nur, um die Frau bei sich zu halten. Energisch löste sie ihre gepreßte Hand aus der seinen: Mit etwas steifen Worten sagte sie dem Mann, man müsse bald weiterfahren, und sie wolle noch rasch einen Rundgang machen, bevor dieser herrliche Hexensabbat mit der Nacht verwehe.

»Komm, Doc … Ich häng dir nur den Mantel um.« Der Engländer sah in ihre Augen, noch ehe die Wimpern darüberfielen. Nunmehr wußten alle drei, daß der unvermeidliche Augenblick gekommen war. Die klägliche Figur jenseits des Feuers steckte sich rasch wie in einer Vorahnung, an einem verkohlten Span seine Pfeife an.

»O Jenny«, Pickering lächelte tapfer, »ich mausere mich zu einer Gottheit und habe einen Grenzzustand erreicht: Die Beine, für einen Himmelsbewohner überflüssig, wurden mir abgenommen, und Flügel sind mir noch nicht gewachsen. Vielleicht ist Herr Stratonow so freundlich, dich auf diesem Spaziergang zu begleiten.«

Stratonow hörte seinen Namen, stellte das überschwappende Glas Wein hin und suchte seinen Hut, als käme er ohne den nicht aus bei seinem Dienst. Der Hut fand sich, der Chauffeur saß drauf. Zwei Frauenabsätze gingen über den Teppich, die vollen Weingläser schwankten. Da brachte ein Telianer einen Trinkspruch aus, der anzüglich und prophetisch klang: »Möge dieser Wein die Lebensflamme höher schlagen lassen und sie löschen, ehe die Enttäuschung losschwalcht.« Nachdem die Frau gegangen war, starrte der Engländer lange auf die dunkle Flüssigkeit im Glas, als habe er vergessen, wozu sie da war.

Der Fahrer rief den Blinden ein paar Worte zu, und die verschwanden gehorsam im Morgennebel, der vom Fluß her wallte.

 

Die Alasan-Nacht ging zu Ende, das Fest hatte sich in die wenigen Hauptstraßen zurückgezogen. Am aufhellenden Himmel schwärmten erste Vögel. Zwischen den sich lichtenden Budenreihen erhob sich Alltagslärm, hämmerte es, gellten ärgerliche Stimmen, quietschten davonrollende Räder. Der Jahrmarkt begab sich auf die Reise. Zuweilen sah man am Feuer Gestalten liegen, im Rausch oder Schlaf, und Morgenwind fegte hie und da Papier und Heu von den verlassenen Ständen.

Evgenia Ivanovna verlangsamte den Schritt, der immerfort nachbleibende Stratonow sollte herankommen, aber der Abstand zwischen ihnen verringerte sich nicht. Sie tat, als hörte sie mehreren Händlern zu, die lauthals den gemeinsamen Gewinn teilten. Stratonow mußte wohl oder übel neben ihr stehenbleiben. Eine selbstgemachte Fackel in einer Konservendose beleuchtete die Szene. Glutrot zeichnete sich das Profil der Frau, und so markierte sich dieser erschreckend neue Zug in ihrem Gesicht, dieser eigensinnige, fast böse Spott, wobei die Lippen hilflos wie sonst waren, nur geschwollen, vielleicht zerbissen.

»Es wird schon Tag, jetzt verläuft man sich nicht mehr«, sagte sie hastig, denn noch glühte da diese wahnwitzige Neugier unter der Asche des Widerwillens und der Gleichgültigkeit. »Ich kann durchaus allein gehen. Sie sollten lieber Mr. Pickering Gesellschaft leisten, er beherrscht die Sprache nicht allzu gut.«

»Mangel an Sprachkenntnissen will bei reichen Leuten nichts besagen. Mammon ist der beste Dolmetscher.«

Evgenia Ivanovna warf ihrem Begleiter einen schrägen Blick zu: der biß ja zurück, lange bevor sie angriff.

»Ich glaube, Sie halten meinen Mann für einen Bankier … aber ich kann Ihnen Ihre Antipathie nachfühlen; Bei mir zu Hause, in einer Kleinstadt, sind mitunter wegen einem Samowar beim Nachbarn oder einem Fuchspelz Klassengegensätze aufgebrochen. Nur irren Sie sich, Mr. Pickering ist nicht reich. Er ist bloß Gelehrter, und das weiß man, soweit ich beobachtet habe, sogar in Mesopotamien. Übrigens, kam sein letztes Buch in Ihrem Land noch nicht heraus?«

Also hatte sie die einsame Zeit in Konstantinopel noch nicht vergessen: ihr Schmerz überwog ihren Haß.

Da Stratonow eigne Waffen nicht besaß, mußte er sich mit fremden schlagen und nutzte dabei die Abwesenheit seiner Arbeitgeber.

»Ich antworte Ihnen gern, nur bitte ich um ein wenig Geduld.«

»Oh, Sie ahnen gar nicht, wie geduldig ich bin, Herr Stratonow.«

Eine Weile verging, Stratonow hob ein Stöckchen vom Boden auf und betrachtete es.

»Schön … aber erlauben Sie, daß ich russisch spreche. Darüber redet sich schwer in fremder Sprache«, begann er erregt. »Die großen Geister Rußlands haben unserm Land seit langem eine besondere, hohe, von europäischer Ichsucht freie Mission vorausgesagt … Ganze Generationen redeten sich bei uns darüber die Köpfe heiß, und grüne Jungen im Ausland rissen ihre Witze. Natürlich war die Feixerei etwas riskant … es ging ja um das altehrwürdige und vor allem universell menschliche Trachten nach Frieden, Güte und Wahrheit, will sagen, um die Konstituierung höchster Menschlichkeit auf Erden … nach altem Brauch nennen wir das den Traum vom goldenen oder gerechten Zeitalter. Obwohl vielfach widersprüchlich ausgelegt, verhöhnt und verraten im Lauf der Jahrhunderte, ist er keineswegs verblaßt und schwelt bis heute fort in den Herzen der … na, sagen wir der Armen«, er stockte bei dem Wort, »… und speit auch gelegentlich Flammen, wie der Westen sich unlängst überzeugen konnte. Zuerst stand es im guten Willen und väterlichen Gewissen der Regenten, der Geistlichkeit und der höheren Schichten, diesem Urdrang zu entsprechen, doch dann versuchten die enttäuschten, hingehaltenen unteren Schichten selbst, die Sache über den toten Punkt hinwegzubringen. Ich meine, alle bisherigen Revolutionen waren nur eine Art Gefechtsaufklärung. Die eigentliche Schlacht beginnt hier und morgen. Sie werden gleich sehen, was uns heute in diesem Lande vereint, und warum.«

Mit glänzender juristischer Beredsamkeit, wenn auch etwas auf Primanerniveau, zeichnete Stratonow ihr den Stammbaum nämlichen Traums. Der Kürze halber ließ er das graue Altertum weg und ging gleich zu Erschütterungen des westeuropäischen Mittelalters über, nannte namentlich die Bauernkriege, verknüpfte die Reformation mit der sozialen Krise des Christentums, in der »das Kirchenkomplott der … sagen wir, der Reichen gegen die geringeren und bedürftigen Brüder in Christo sinnfällig wurde«, leitete von hier den neuzeitlichen Utopismus her, von ihm die »intellektuelle Rebellion gegen das düstere Reich Gottes« genannt, wobei er, kurz mit seinem Latein brillierend und so seine hochtrabende Unredlichkeit etwas verbrämend, Augustinus' Civitas Dei der Civitate Solis des Campanella entgegenstellte, rundete ab, was sich nicht zusammenfügte, und trug auf diese Weise den Prometheusfunken über die Enzyklopädisten und den frühen Sozialismus bis in den Titel der Leninschen Zeitung.* [*Gemeint ist die »Iskra« (Der Funke).]

Abschließend meinte Stratonow, vorm letzten Gefecht würden der Freiheitsstafette in aller Welt enorme Kräfte zulaufen.

Evgenia Ivanovna lächelte ihm sanft zu.

»Wenn Sie sich damit meinen, kann ich der Welt nur gratulieren. Ganz Europa baut darauf, daß Sie, Stratonow, es nicht aufsitzen lassen.«

Zehn Schritt lang pfiff nur Stratonows Rute durch die Luft und köpfte die Gräser am Wegrand. »Hier, in Kachetien, brät man einen ausgezeichneten Schaschlyk. Es freut mich, daß der Ihre Stimmung gehoben hat«, sagte er dann. »Nur sind Sie im Irrtum, Mrs. Pickering. Ich meinte nicht mich, sondern das riesige Rußland, das sich die prophezeite Bürde auf die Schultern geladen hat. Im Grunde ist es immer der gleiche Weg zu den Sternen, doch führt er nicht mehr über den Himmel, man schneidet ab und will in irdischen Eilmärschen dorthin gelangen, über Stock und Stein. Zugegeben, das wird Opfer kosten, aber solche Zeitalter, mit ihrem Schwung, machen die Zeitgenossen kataleptisch unerschütterlich und für immer immun gegen Leiden.«

»Hoffen Sie, wieder heil davonzukommen?« Sie lächelte böse.

»Lachen ist natürlich gesund, aber mir schwant, Europa wird noch manchmal das Lachen vergehen, wenn diese Leute erst richtig aufräumen.«

»Oh, Sie machen mir angst mit Ihren Drohungen. Führen Sie wieder was Teuflisches im Schilde?«

Die Rute zerbrach in Stratonows Hand.

»Ich fürchte Mrs. Pickering, hier ist es mit englischem Humor nicht getan. Nicht um Drohungen geht es, sondern darum, was das russische Beispiel anschaulich lehrt!«

»Pardon, in welchem Sinne anschaulich? Denken Sie an Ihr persönliches Schicksal ? Sollte das beispielhaft sein, so … meinen Sie wirklich, das könnte Europa zur Nachahmung reizen? Aber wir sind abgekommen. Ich sehe leider noch immer nicht, worauf Sie hinaus wollen.«

»Ich meine«, knirschte er unter ihrem Blick, »daß seine Scherben- und Splitterwissenschaft vom Toten sich gedulden sollte, solange die Behausungen der Lebenden in Schutt und Asche liegen und nach Vergeltung schreien. Solange der blutige Schweiß von Krieg und Revolution an der Stirn Rußlands klebt, hat es keinen Sinn für die Opusse Ihres Gatten … Und, was Henker, braucht er noch meinen Lorbeer in seinem Ruhmeskranz, wenn's auch so zum Familieneintopf langt.« Er hatte sich in Rage geredet, stockte entsetzt, schwieg, die Hände vorm Gesicht, und rang um Fassung. »Verzeihen Sie meinen Ton, Mrs. Pickering. Ich hatte eine unruhige Nacht, außerdem habe ich zu meinem Madshari Rosinen gegessen, und das sollten selbst Trinker lassen …«

»… Besonders im Dienst«, pflichtete sie ihm mit leisem Vorwurf bei. »Ich kenne ja Ihre Lebensgeschichte ein bißchen und verstehe daher Ihre Verfassung. Aber glauben Sie mir, Ihre Arbeitgeber sind so mißtrauisch, daß … Selbst wenn sie Ihren Eifer gesehen hätten, würde Ihnen das kaum helfen. Reden wir von etwas anderem.«

Etwas Frostiges, Ernüchterndes ging von dieser Frau aus, deren Gedanken nicht zu lesen waren. In der Tat, seinen Posten konnte Stratonow nur erlangt haben nach hinreichender Überprüfung, wohl erst nach öffentlichem Schuldbekenntnis vor einer Menge Leuten und sicher zu recht harten Bedingungen, die einer neuerlichen Verirrung vorbeugten. Keineswegs hätte er zu einer Ausländerin von solchen Dingen reden dürfen, nun mußte er das Gesagte ins rechte Licht rücken, damit stattgefundener Spaziergang risikolos in den Bericht an die vorgesetzten Stellen aufgenommen werden konnte … So sagte Stratonow, ein flüchtiger Blick auf die russischen Zustände im letzten Vierteljahrhundert zeige ja schon, warum man hierzulande so leidenschaftlich auf soziale Erneuerung aus war: zwei militärische Niederlagen nacheinander, eine entartete Oberschicht, von Unwissenheit, Hunger und Trunk benebelte Köpfe, Kugelhagel in schweigendes Volk, ein frevelhafter Krieg und die wachsende Kluft zwischen arm und reich – dies alles sei ein hinreichender Grund gewesen, um das nationale Temperament voll herauszufordern.

»Der heroische Wille, sich um jeden Preis vorwärtszukämpfen, wird meinem Land in aller Welt grenzenloses Ansehen verschaffen«, schloß er mit verzweifelter Halsstarrigkeit.

»Höchst interessant, was Sie sagen«, äußerte Evgenia Ivanovna versöhnlich. »Und so brillant formuliert, daß mir sogar der Gedanke kam – haben sie nicht früher mal Gedichte geschrieben? Nur fehlt es Ihnen an Mut zur Wahrheit. In Tiflis hörte ich, daß die Leute in Ihrem Land täglich, ja stündlich wachsen. Bei Ihnen, Stratonow, geht das aber sehr schnell … vergleicht man Ihre Worte mit dem, was Sie noch gestern sagten.« Sie schwieg, bis dieses Gift ihm die Wangen verfärbte. »Zudem sind offizielle Empfänge in Tiflis nicht vorgesehen, wir wollen ja zu Semesterbeginn zu Hause sein … so wird mir einfach die Gelegenheit fehlen, den hiesigen Stellen von Ihrem loyalen Verhalten einen Wink zu geben.«

 

Die Sonne mußte bald aufgehen. Überm Bergsaum stießen die Strahlenpfeile immer deutlicher in den lichtgrünen Himmel. Stratonow schwieg, er hatte einem imaginären Westen mit einer fremden gefährlichen Idee gedroht und war erschöpft. Im dämmernden Morgen schätzte er wehmütig und nach Augenmaß, wie weit es noch zu gehen war. Zu seinem Leidwesen reichte es, mehr als genug, zu der quälenden obligaten Erklärung.

»Sie wollten mir vorhin Ignoranz vorwerfen«, begann er schlau, um langsam auf die Vergeltung zuzusteuern. »Dabei kannte ich die Bücher dieses hochverehrten Archäologen schon, als Sie noch gar nicht an ihn dachten. Da wir schon einmal davon sprechen, so könnte ein gewisses Mädchen aus einer russischen Steppenstadt, das mir immer noch unendlich teuer ist und das ich durch meine … Niedrigkeit und Schwäche für immer verlor, sicher bestätigen, daß ich ihr an einem Weihnachtstag, kurz vor der Revolution, unterm letzten Tannenbaum des alten Regimes, von seinen Ausgrabungen in Ninive erzählte, wenigstens so viel, wie in einem Zeitungsartikel steht. Ich weiß noch, ich kam aus einem Petersburger Lazarett zu den Feiertagen …« Sein Elend trieb ihn vorwärts; so warm, so lebendig schilderte er, wie sie sich zum erstenmal auf dem Gymnasiastenball begegneten, daß Evgenia Ivanovna unwillkürlich wieder das räuchernde Wachs und das angesengte Tannengrün roch, die süße Beklommenheit beim Geplauder mit dem Frontoffizier spürte und es ihr, dem Provinzmädchen, wieder vor den Augen flimmerte von all den Metropolengeschichten. »Übrigens hat mich schon damals auf der Lazarettpritsche fasziniert, was der Verfasser vom alten Orient wußte … vor allem diese großartige Gabe, aus reinsten Banalitäten die Vergangenheit hervorzuzaubern. Mir war, als könnte nur ein Augenzeuge, nein, Zeitgenosse! die Tage von Ninive so glänzend beobachtet, im Gedächtnis bewahrt und wiedergegeben haben, sein Urwesen, das Gewirr enger Gäßchen und überhaupt so das ganze assyrisch-babylonisch-numidische Kolorit, verteufelt! Wenn dem so ist, muß ich zugeben, sieht er noch blendend aus, Ihr Herr Gemahl, für sein ehrwürdiges Alter. Nein, wirklich, Mrs. Pickering, in Tiflis haben wir alle, von Chachulja bis zum Kaderchef, unsre helle Freude an einem so glücklichen Paar gehabt, und wenn wir unsre angekränkelte, angeknackste Generation mit diesem Repräsentanten der alten Garde verglichen, konnten wir nur kollektiv staunen, wie er sich bei solchem Alter soviel beneidenswerte Seelenglut bewahrte, nicht wahr?«

Hingerissen von seiner fragwürdigen Eingebung, redete er dreimal soviel als hier wiedergegeben, redete fort im Gefühl seiner Armseligkeit, aus Eifersucht und ohnmächtiger Wut, da ihr ironisches, wägendes Schweigen alles wie Watte wegsog. Zu augenfällig war die Kluft jetzt zwischen ihnen, zu fadenscheinig der Grund für seine Ausfälle gegen einen Mann, den man sich als seinen Rivalen kaum zu denken wagte, als daß es Evgenia Ivanovna für nötig gefunden hätte, für den einzutreten, dessen Namen noch gar nicht gefallen war. Sie beobachtete nur immer deutlicher, wie Stratonow am ganzen Leibe zuckte vor Unruhe, Reue, Verzweiflung, und also jene Anschuldigungen bedingungslos billigte, die noch gar nicht gekommen waren. Da, wie um von seiner Schuld abzulenken, pries er gewisse auffällige Eigenarten des Engländers, eben jene, die einen Gentleman auszeichnen und die, etwas viel gelobt, rasch einen doppelsinnig-zweifelhaften Anflug bekommen. Obendrein tat er es mit jener nonchalanten Großspurigkeit, mit der erfolgreiche Liebhaber den abwesenden Hahnrei für den erlittenen Schaden zu entgelten und gleich noch die eigene diebische Freude zu erhöhen suchen … Plötzlich brach er müde ab und schwieg.

Zu seinem Glück tönte von der Seite leiser melodischer Gesang herüber. Evgenia Ivanovna blieb stehen und hielt Stratonow mit einer Handbewegung fest. Drei ältere Georgierinnen, wohl befreundet, mit gleichem silberdurchwirktem Kopfputz, dem Tschichtakopi, gleichwohl von Aussehen ganz verschieden, hockten einander gegenüber auf einem Teppich. Während ihre bulligen, riesigen Männer leere Fässer auf einen Karren luden, sangen sie halblaut vor sich hin, wohl in Erinnerung an unwiederbringliche Tage, mitunter die Brauen emporziehend oder den Zeigefinger wiegend. Eine vierte, jüngere, in ein schwarzes Gazetuch gehüllt, spielte dazu Tschonguri.

»Ja, worüber sprachen wir gerade, Herr Stratonow?« fragte Evgenia Ivanovna, als sie weitergingen. Dabei blickte sie zu den Frauen hinüber, als wollte sie sie fest im Gedächtnis behalten. »Sie schweigen etwas lange für Ihren Beruf. Fahren Sie fort! Nur bitte keine persönlichen Dinge mehr! Erzählen Sie mir lieber, wieviel Wein im Alasan-Tal gewonnen wird und welche Könige hier noch vergraben liegen.«

»Wein ist kein Erdöl. Er wird nicht gewonnen, sondern erzeugt. Außerdem heißt es begraben«, korrigierte er verdrossen.

»Oh, kritteln Sie nicht an einer armen Frau herum, deren Verschulden es wahrhaftig nicht ist, wenn sie ihre Muttersprache so lange nicht hörte«, sagte sie sehr leise.

Da biß er die Zähne zusammen und fuhr, um die Stunde bis zur Abfahrt irgendwie zu überbrücken, in seiner Lektion fort, in der es Beiworte und Kommas von ermüdender Fülle gab. Unter anderem äußerte er den Gedanken, bei den engen Bergtälern und den riesigen Weinkellereien müßten im Kaukasus doch alle gute Freunde werden. In diesem Sinne sollte das Alasan-Tal eigentlich den schönsten Festsaal für Friedenskongresse abgeben: ersäuf den Groll, spül weg das Ungemach! Dennoch seien gerade hier, ungeachtet strenger Strafandrohungen, Fälle von Blutrache nichts Seltenes. An gutem Gedächtnis für angetanes Leid würden ja auch nicht nur geborene Talbewohner kranken, auch durchreisende Fremde. Selbst Frauen, meinte Stratonow, blieben hier scheußlich unempfindlich, wenn so ein armer Sünder seelische Foltern ausstehe. Auch mutmaßte der Guide, im hiesigen Wasser müßte sich wohl eine Art toxischer Mikromaterie befinden, von der längst vernarbte Wunden wieder eiterten.

»Schon das zweitemal an einem Tag sprechen sie von Ihrem Pech, bester Stratonow.« Evgenia Ivanovna lächelte in belustigter geduldiger Verwunderung. »Hat man Ihnen tatsächlich so übel mitgespielt, daß Sie von fremden Leuten immerzu bedauert werden wollen?«

»Es gibt so urrussische Leiden, die man weder vergessen noch kurieren kann«, erwiderte der kaum hörbar.

»Und Sie sind sicher, alle Mittel dagegen versucht zu haben?« Sie lächelte noch eisiger. Langsam ging sie weiter und ließ den Guide stehen, der sich von seiner Verblüffung erst erholen mußte.

Der geschotterte Weg um den Jahrmarkt herum bog auf einmal auf freies Gelände ein, mit Bäumen bestanden, deren Gattung im Frühdämmer noch nicht zu erkennen war. An der Wegbiege, vor dem letzten Ausschank, holte der Guide Evgenia Ivanovna glücklich ein. In Anbetracht der Dinge, die da noch kommen mochten, bat er um einen Moment Geduld. »In allen zivilisierten Ländern gewährt man dem Verurteilten vor der Exekution einen Schnaps. Ich hätte von meinem Recht gern Gebrauch gemacht«, witzelte er böse. »Keine Sorge, nur einen. Ich bin im Dienst.«

Im Laufen holte er ein paar geknüllte Geldscheine aus der Tasche. Auf sein Klopfen schaute unter dem angehobenen Fensterladen ein übernächtiges, apokalyptisches Wesen hervor, die Persianertiara schief aufs Ohr gezogen. Stratonow kippte das Glas, sandte einen Blick gen Himmel, warf noch einige Münzen auf den Klapptisch und bestellte etwas in einem kleineren Glas. Als der Budiker ihm eine Pastete mit den Fingerspitzen, an der Weste peinlich sauber gewischt, zureichte, winkte Stratonow ab. Äußerlich abgekühlt, doch fuchsteufelswild, verbissen, kam er zurück.

Zunächst fragte er sie, ob es nicht Zeit sei umzukehren; es sei kalt und der Engländer bange wohl um seine spurlos verschwundene Frau.

»Warum sollte er! Er hat mich ja nicht allein gehen lassen … Sie sind doch bei mir.«

»Und wenn er ahnt, mit wem er seine Frau gehn ließ?« trumpfte Stratonow keck auf.

»Er weiß ohnehin alles von uns beiden. Große Männer erkennt man unter anderm daran, daß man sie schon nach wenigen Worten ewig lange zu kennen glaubt. Jedenfalls wußte Mr. Pickering schon alles, bevor er Ihnen in Tiflis begegnete.«

»Ehre seinem Scharfsinn«, warf Stratonow dreist hin; es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte seinem Nachfolger eine Lobrede gehalten für logisches Denken. »Ich glaube, ich habe vor Kummer einen zuviel genommen. Aber verdammen Sie mich nicht, bevor Sie mich angehört haben.«

»Lassen Sie nur, Stratonow, Sie quälen sich ganz umsonst«, sagte Evgenia Ivanovna in ehrlicher Überzeugung. »Natürlich war es eine Überraschung für mich, Ihnen hierzulande wiederzubegegnen. In meiner Naivität hielt ich Sie ja für tot.«

Er schnitt eine Grimasse, wie auf der Folterbank. »Dann verstehe ich die Enttäuschung der Lady, die es zu den Gräbern ihrer Lieben zog. Was für ein Anblick für die Ärmste: Der teure Leichnam sitzt sozusagen auf seinem Grabstein und genehmigt sich einen.« Da quoll etwas in ihm hoch und klirrte in seiner Stimme: »Wer sagt Ihnen denn, daß ich nicht jetzt vor Ihnen zum hunderttausendunderstenmal sterbe?«

»Toll, wie machen Sie das bloß so oft?« Sie lachte kühl.

»Ja. Ich starb vor Gram und Schmerz, als die Armee geschlagen wurde, vor Ekel in der Sauluke auf dem Schiff, vor Hunger mit Ihnen und vor Schande, daß ich noch lebe. Ich starb stündlich, wenn ich mit leeren Händen heimkam und dem Blick verweinter Augen begegnete, wenn mir das Sinnlose meiner Existenz wieder und wieder aufging … Gestehen Sie nur, ging es Ihnen nicht besser ohne mich?«

»Insofern haben Sie recht, lieber Stratonow, als eine nicht eben häßliche Frau im Ausland allein leichter durchkommt«, stimmte sie halblaut zu.

 

Das Blut schoß ihr in die Wangen. Sie dachte daran, wie sie einmal nachts, irgendwo in Kleinasien, mit ihrem Mann durch ein Elendsviertel ging. Der Engländer sah sich seine alten Monumente zunächst gern bei Mondschein an, wenn Frieden und Schleier der Nacht den Autospektakel, dies lästige Attribut der Gegenwart, dämpften. Da sie die Stadt nicht kannten, befanden sie sich um Mitternacht plötzlich mitten in einer Spelunkengegend. Eine verdreckte Treppe, ein paar Stufen, führten irgendwo hinab. Gequältes Klimpern von Darmsaiten, an die Mauer hingekrümmte Schatten, kurdische Flüche, der Gestank von angebranntem Fleisch, dazu das tanzende orangene Licht – alles sprach davon, daß hier eine Filiale der Unterwelt lag. Das Höllentreiben schien in schönstem Gange. Plötzlich löste sich kreischend eine halbnackte Frau aus dem Gewühl und schoß am ganzen Leibe flatternd, knochenlos, über sämtliche Stufen hinweg, ins Dunkel der Straße und des Schicksals hinein. Der Engländer konnte seine Frau eben noch am Ellbogen festhalten, sonst hätte der strudelnde Sog sie glatt fortgerissen. Kaum mehr Menschliches hatte die vorbeijagende Person an sich, dennoch hätte Evgenia Ivanovna, wäre die Unglückliche auch noch dreimal schneller gejagt, sogleich ihre ehemalige russische Freundin wiedererkannt. Nach Stratonows Flucht hatten sie beide sich ein halbes Jahr durchgequält in Konstantinopel, nachts auf einer Pritsche, bis ein barmherziger Olivenhändler aus Tunis, verwitwet, blatternarbig, die Anotschka zu sich nahm. Nach ihrer zweiten Heirat hatte Evgenia Ivanovna öfters, mitunter stundenlang, in einer Art narkotischer Trance, diese Erinnerungsscharte betrachtet, die überwuchert war vom Vergessen. An irgend etwas hatte sie noch nicht glauben können, aber nun lächelten ihre Mundfalten ein erstes Mal in der grausamen Freude, endlich innerlich erlöst zu sein.

Von der Hochwasser führenden Alasan strich eben rechtzeitig und wohltuend ein Lüftchen herüber und kühlte ihr glühendes Gesicht. Der Fluß tauchte hinter einem weißen Felsabsturz hervor, auf dem ein Strauch Heckenrosen abblühte. Unter den Schritten knirschte Geröll, mattgrau schimmernd wie eine abgeworfene Schlangenhaut. Evgenia Ivanovna sagte das Stratonow, der antwortete nicht. Zurück gingen sie anders, der Pfad wand sich zwischen Steinbrocken hindurch, die die Frühjahrswasser hergeschwemmt hatten. »Was konnte ich Ihnen damals bieten, außer einem Selbstmord zu zweit? Hätte ich Sie mitnehmen dürfen, wo ich in den sicheren Tod ging, vom erstbesten Grenzposten erledigt werden konnte?« sagte er leise. »Sie haben geschossen …«

»So, immer daneben?« fragte Evgenia Ivanovna interessiert.

»Wenn's nur das gewesen wäre … Nachdem sie mich freigelassen haben, war ich Fleckenreiniger, Masseur, Laufjunge bei einem Schieber, Porzellankitter und weiß der Kuckuck was noch, bloß tot war ich nicht. Ein Herumgestoßener, ein Vagabund mit halbem Universitätsdiplom, den hohen Herrschaften, die kaum buchstabieren können, stets verdächtig. Doch alle diese Jahre glomm das Licht in mir, das Sie hinterließen. Schwamm drüber, ich will das Schicksal nicht ändern! Morgen früh reisen Sie, ich bleibe, um mich im Delirium tremens zu verbrennen. Diese Nacht ist unwiederbringlich, wie das Leben. Doch egal, ich liebe Sie, wie ein Fanatiker sich vor einer Gottheit verneigt: ohne Hoffnung auf Widerhall. In jedem Laut, der mich seither bewegte, ob Bergdonner, Gräserrauschen, Vogelzwitschern, hörte ich allein Ihre Stimme, sonst nichts von der Welt. Nennen Sie mir doch einen Schmerz, mit dem ich die Erinnerung an Sie ausbrennen könnte.«

Mit prickelnder Neugier fragte sie sich abermals, ob er nicht trotz seiner grauen Schläfen noch seine Gedichtchen schmiedete. Lebhaft, eine halb verlorene Erinnerung zwar, stand ihr noch ein anderer Gymnasiastenabend vor Augen, vom April Anno siebzehn, wo der genesende Offizier zum Flügel tönende Knüttelverse rezitierte, in denen von den eisernen Ketten des Absolutismus, blutgetränkten Fahnen und sonstigen rhetorischen Perlen jener Jahre die Rede war.

»Lassen wir diese Dinge ruhen«, mahnte Evgenia Ivanovna steif, etwas förmlich.

»Trotzdem, mir ist alles egal«, stieß er hervor, als steckte er in einer Grube, auf die ein Steinblock gewälzt wird, »trotzdem wird ihnen die heilige Nacht unserer Flucht und Vereinigung auf ewig unvergessen bleiben. Erinnern Sie sich, wir lagen stumm auf den Knien … unsere weinenden Mütter segneten uns mit Ikonen. Ich legte einen Ring in eine heiße Mädchenhand, und sie umschloß ihn für immer. Der Himmel selbst hat Sie mir gesandt auf die Gebete hin meiner sämtlichen Vorfahren … und trotzdem, trotzdem, mag uns das Leben scheinbar getrennt haben, seit jener Nacht waren wir immer zusammen. In meiner Dachkammer in Tiflis steht ein Stuhl, der nie benutzt wird, weil zur Dämmerstunde Sie darauf sitzen. Und ich weiß, ich weiß, Sie sitzen gern auf diesem Stuhl. Ich bitte ja um nichts, dem Bettler genügt ein Phantom. Nun gehn Sie auch von dort fort! Dies ist die letzte Dämmerstunde, die wir zusammen sind. Soll es, egal! Verzeihen Sie einem Stratonow, einem Unglücklichen! Gesegnet sei Ihr Name in alle Ewigkeit, Jenny!«

Der Nachdrücklichkeit halber schloß er seine Erklärung, indem er ihr leise, verstohlen den Ellbogen drückte. Und da schlug sie ihm ins Gesicht, schlug beileibe nicht heftig, da ihr eben zum zweitenmal in dieser Nacht übel wurde. Eigentlich schlug sie nur ganz sacht, aber ausreichend genug, um ihm für immer die Illusionen zu nehmen, die zu ihrem jetzigen Verhältnis kaum passen wollten.

»Das ist häßlich, Herr Stratonow. Sie nennen mich, wie mein Mann mich nennt … und auch nicht immer«, verwies sie ihn mit bebender, doch fester Stimme.

So zu tun, als sei gar nichts geschehen, schien Stratonow platterdings unmöglich. Schon wollte er der eleganten Ausländerin mit einer artigen Verbeugung danken, weil sie ihn mit ihrer Ohrfeige weiterer Gewissensnöte enthoben hatte, doch dazu kam er nicht. Im nächsten Augenblick klärte sich Evgenia Ivanovnas Unpäßlichkeit in der natürlichsten Weise, und empfindlicher als die Handgreiflichkeit traf ihn nun das folgende. Unaufhaltsam würgte es Shenja die Kehle hoch, sie stürzte in die Knie, kaum daß sie ein paar Schritt weiterlaufen konnte. Obwohl sie sich zu beherrschen suchte, die Hand vor den Mund preßte, quoll es durch ihre Finger. Mit Magenverstimmung war das nicht zu erklären, wenn sie diese Nacht auch manches Scharfgewürzte und Ungewohnte gegessen hatte. Mehr noch, dieser Vorfall überzeugte den Guide, daß die künftige Mutter eines englischen Babys in der gegebenen Lage gar nicht anders hatte handeln können.

Er hatte sich bestürzt abgewandt. Als er es wagte, zu ihr hinzublicken, lag sie immer noch auf den Knien und wischte mit einem Büschel blauen Wermutkrauts die Hand ab.

»Es kam so plötzlich, entschuldigen Sie … wo ist denn mein Taschentuch? Reichen Sie's mir bitte mal …«, bat sie gepreßt, kläglich und um Fassung bemüht, und da wühlte er abseits mit gelähmten Fingern in ihrer Handtasche. »Ja, dies bitte … Und nehmen Sie gleich den Ring, Ihren alten Ring, er liegt zuunterst, in Papier. Ich wollte ihn Ihnen bei der Abreise zurückgeben, aber jetzt ist schon alles gleich.« Und bevor die Würgerei wieder anfing, entschuldigte sie sich nochmals wegen der verursachten Mühen, die es im Grund nicht gab.

Im gleichen Ton, ganz außer sich, murmelte Stratonow, von Mühe könne keine Rede sein, im Gegenteil, seine vornehmste Pflicht sei, die Kunden zu bedienen, ihnen Unbequemlichkeiten zu ersparen, und wäre ein Gefäß zur Hand, würde er auch Wasser holen, wenn auch – der Nähe wegen – fürs erste unabgekochtes vom Fluß.

»Schon gut, es geht schon. Wir sind ja bald zu Haus. So, und jetzt drehen Sie sich bitte um.«

Während sie sich hinter ihm erhob, an sich herumwischte und -klopfte, starrte er auf das kalte, matte Gold in seiner Hand, das er dieser Frau einst über den Finger gestreift hatte.

»Darf ich Ihnen den Arm bieten?« fragte er dann mit fremder Stimme.

»Nein, ich kann allein gehen. Es ist vorbei … nur bitte etwas schneller, ich bin so müde.«

 

Sie gingen zurück querfeldein, umbogen Felsbrocken und sonstige Hindernisse, auf die sie stießen. Die Sonne war unbemerkt emporgestiegen, der Tag kam grau herauf, von irgendwoher zogen Wolken am ganzen Himmel zusammen. Wie das Alasan-Tal doch in dieser einen Stunde verödet war! Man sah den dicken Staub auf den Schuhen.

»An unsern Alawerdy-Ausflug werde ich immer gern zurückdenken«, sagte sie mit tiefem Seufzer. »Findet der Jahrmarkt eigentlich nur einmal jährlich statt?«

Das fragte sie auf französisch, was hieß, daß ihre Episode, die sich schon etwas peinlich lange hinzog, nun begraben und vergessen sein sollte. Stratonow hatte längst gelernt, Schicksalsschläge aller Art mit Fassung zu tragen, und war gewitzt genug, heikelsten Angelegenheiten mit der letzten Weisheit der Pechvögel zu begegnen, daß es noch schlimmer hätte kommen können. Doch unversehens wurde er quälend unruhig bei dem Gedanken, was denn seine Seele erfüllen sollte, wenn nicht dieser letzte Schmerz.

»Ja, der traditionelle Herbstjahrmarkt fällt hier auf den Tag eines Kirchenfestes, auf den Tag der sogenannten Kreuzeserhöhung«, erwiderte Stratonow, schon wieder obenauf, ganz der redegewandte Fremdenführer, der es mit zerstreuten, bisweilen etwas schwerhörigen Touristen zu tun hat. »Im Sinne der verstärkten antireligiösen Kampagnen – durchaus nicht nur vom Katheder herab betrieben – wird religiöser Fanatismus erfolgreich in die Bahnen eines landesüblichen Bauernfestes gelenkt. Es freut mich sehr, daß sie wie auch Mr. Pickering den Reiz dieses etwas exotischen Treibens durchaus empfunden haben.« Zum Schluß seines kleinen Vortrags nannte er jene schlichten Dinge, die auf dem Alawerdyer Jahrmarkt begehrt waren.

Unter dem Vorwand, Reisig fürs Feuer zu sammeln, blieb er zurück. Sonderbar, daß der Engländer gar nicht zu bemerken schien, als seine Frau auftauchte. In ihrer Abwesenheit hatten die Telianer dem Inselgast eine schwarze Filzkappe aufgestülpt, zum Zeichen seiner Ernennung zum Kachetier honoris causa. Den kulinarischen Genüssen folgte das Schlemmermahl des Geistes. Evgenia Ivanovna erhaschte eben noch das Ende dieses Disputs zu wesentlichen Tagesfragen. Mr. Pickering hatte seinen neuen Freunden gern zugestanden, daß es sich in einer Welt mit so brisanter Zivilisation immer gefährlicher lebe und der Fortschritt im Zeichen eines sozialen Humanismus zu stehen habe, beharrte andrerseits jedoch darauf, die Größe einer Idee am Wohlstand des Volkes zu messen und nicht an der Zahl der gebrachten Opfer. Das Gespräch wurde zwar rhetorisch nicht eben sehr glänzend, dafür aber stellenweis ungemein temperamentvoll geführt, jedenfalls ohne Stockungen, wie sonst, wenn sich Gesprächspartner einer dritten, weniger geläufigen Sprache bedienen. Den Mangel an Vokabeln glichen energische Gesten aus, in aller Welt verständliche Fingerfiguren oder ideographisches Hindeuten auf die Dinge ringsumher. Sehr zustatten schien Mr. Pickering zu kommen, daß er im Entziffern von Hieroglyphentexten einige Übung besaß. Im übrigen hatten beide Seiten schon jenen seligen Grad wechselseitigen Einvernehmens erreicht, wo ein guter Tropfen jeden Dolmetscher überflüssig macht.

Möglicherweise war darin auch der Grund zu suchen, warum Mr. Pickering sich gar nicht rührte, als seine Frau neben ihm auf dem Teppich Platz nahm. Aber wenn er auch mit der Miene höchster Anteilnahme den Urhebern dieses Gastmahls weiterhin zunickte, richtete sich all seine Aufmerksamkeit gleichwohl auf jene geheimen Anzeichen, welche Eifersucht mit untrüglicher niederträchtiger Sicherheit entdeckt, etwa auf die eingefallenen Wangen seiner Frau, den Staub an ihrem Rock oder das unerklärliche Verschwinden des Guide.

»Herr Stratonow wollte noch Reisig suchen fürs Abschiedfeuer«, meinte Evgenia Ivanovna auf englisch, auf seinen einzigen flüchtigen Blick hin. »Wir sind fast die ganze Gegend hier abgelaufen, und auf einmal wollte ich mächtig gern nach Haus, nur nach Haus, sonst nirgendwohin. Aber ich weiß ja gar nicht, Doc, liegt unser Leeds sehr weit von London?«

»Nein, viereinhalb Stunden mit der Bahn«, sagte der Engländer, ohne zu bemerken, daß ihm die kachetische Filzkappe aufs Ohr gerutscht war, und starrte stumpf vor sich hin.

»Ich möchte London schon so lange sehen, schließlich muß ich ja die Hauptstadt unsres Landes kennen. Wir fahren gleich hin, wenn wir eingerichtet sind, ja? Liegt unser Haus weit von der Universität?«

»Nur zwanzig Minuten zu Fuß … in der Cottage Road …«

»Gibt es einen Park in der Nähe? So eine kleine Anlage in der Nähe wäre bald ganz hübsch.«

»Sieben Minuten von uns gibt es die Hollies.«

»Wenn wir da sind, gehen wir abends wieder spazieren … bestimmt. Sind die Bäume dort groß oder nicht? Große Bäume haben so etwas beruhigend Kühles. Und eine Kirche ist auch da?«

»Ja, gleich nebenan, St. Chad's.«

Da lehnte sie den Nacken müde an den Maulbeerstamm und schloß erschöpft die Augen. Sie versuchte, sich die Evgenia Ivanovna in fünf Jahren vorzustellen, aber sonderbar, das wollte ihr nicht gelingen. Sie tastete neben sich und drückte die Hand ihres Mannes, die war kalt, wie gelähmt, und erwiderte den Druck nicht.

»Ich glaube, Liebling, ich werde keine schlechte Hausfrau sein. Da meine Mutter tot ist, werde ich deine doppelt mögen. Heißt das so auf englisch?« »Nein, es heißt einfach: I shall love her«, korrigierte er unsicher.

Niemand ringsum hörte ihnen zu. Die Telianer rüttelten zwanzig Schritt weiter jemand, der auf dem Boden des Bück lag. So mühten sie sich abwechselnd, ihn aus seliger Vergessenheit zurückzuholen ins bittere Erdendasein, wo man seiner Fahrkünste bedurfte.

Plötzlich schmiegte Evgenia Ivanovna den entkräfteten Körper an ihren Mann.

»Fahren wir nach Hause, gleich morgen, mein Gott … hier ist mir nicht wohl, ich kann nicht mehr.«

Seine Schulter zuckte an ihrer Wange.

»Bist du krank, Jenny?«

»Ich weiß nicht, gar nichts weiß ich … Aber ich glaube, wir werden bald drei sein.«

Diese Neuigkeit mußte sie Mr. Pickering wiederholen, ehe das triste Verlassenheitsgefühl der feierlichen Gewißheit wich, daß alles ganz anders war: Allmählich und ohne je wiederzukehren, schwanden die Schatten trüber Gedanken von seiner Stirn. Er zog ihre Hand an die Lippen, hielt sie locker vor sich hin und sah lange auf die feuchten, kräftigen nicht lügenden Finger.

»Sag mir das noch mal auf russisch«, bat er zum drittenmal.

Da kam Stratonow, warf den ganzen Arm voll Reisig in die Flammen und trat wieder zurück, ehe es noch losknisterte. Wiederum hockten sich alle im Rund auf den Teppich zu Ehren des hochtanzenden Feuers. Eine Weile war Stratonow für die Pickerings hinter dem Schwall von Flammen und Qualm kaum zu sehen. Der Guide saß mit hängendem Kopf auf der Chauffeursmatte und stierte auf einen Haufen grasverwachsener Feldsteine, die von Straßenarbeiten dalagen. Ein sonderbarer Zufall wollte es, daß der äußerste wie ein Herz aussah, allerdings wie das auf einer schlichten Kindermalerei. So eines trug denn auch Stratonow in der Brust. Er hatte Lust, den Stein zu greifen, als Andenken an diese Alasan-Nacht zu bewahren. Mühelos ließ er sich aus dem vom Lauf der Zeit gehöhlten Lager heben. Auf dem Grund der Kuhle regte sich etwas Schwarzes, reckte bedrohlich den Rüssel. Stratonow schleuderte den Stein mit Wucht zurück, worauf er verwirrt die Anstalten zu Abfahrt traf. Ihm fiel es zu, Teppiche einzurollen und leere Flaschen und ungewaschenes Festtagsgerät im Kofferraum zu verpacken. Er tat es ohne Nötigung und mit einem Eifer, der von Bußwilligkeit und einiger Übung zeugte.

 

Der dann folgende Abschied sah die Beteiligten in zwei ungleiche Gruppen geteilt. Die eine bildeten die Pickerings, die andere der Haufen Ortsbewohner und Gaffer. Auf die Kunde von weit her gereisten Fremden waren nicht wenig Leute, darunter gleich auffallende Russen, von den benachbarten Feuern gekommen, um sie angesichts ihres weiten Weges mit einem Glas Wein zu verabschieden. Wennschon der Engländer ob seiner Weltberühmtheit und seinem Äußeren wegen wohl die größere Beachtung verdient hätte, starrte jedermann nicht den Engländer an, sondern seine junge Frau; die spähte umher mit jener schweigenden angestrengten Aufmerksamkeit, die nichts vergessen will, wovon man sich für immer trennt.

Da ging ihren geschärften Sinnen auf, was eigentlich geschah. Das alles, was aus den Augen der Zurückbleibenden leuchtete – bescheidener Stolz, häuslicher Ärger, berufliche Bitternis, der mitunter tragische Alltag –, lag schon hinter ihr. Nur fühlte sie sich nicht erleichtert, wie erhofft, bei dieser Erkenntnis, eher beunruhigte sie die beklemmende, schuldbedrückte Ahnung, etwas Unersetzliches verloren zu haben. Ja, sie hatte sich der Sorgen ihres früheren Landes schlankweg entschlagen, der heutigen wie der morgigen, der zuweilen übermenschlichen Anstrengungen und Erlebnisse einer Zeit, die diese Menschen einte wie eine gefährliche Parole der Geschichte. Zum Greifen nahe, trennten sie dennoch schon Meeresfernen von Evgenia Ivanovna. Als sie ihnen von weit her schüchtern zulächelte, quittierten sie das mit freundlicher Kühle, denn eine Ausländerin nach altem, biederem Brauch zu verabschieden wäre doch unhöflich, ja wider die guten Sitten gewesen.

Da dankte Mr. Pickering den Gastgebern und fragte unter anderem, ob es für sie keine Reisegelegenheiten nach England gebe. Nein, sagten die Telianer, an solche Gelegenheiten sei zur Zeit noch nicht gedacht.

»Leben Sie wohl! Möge der Menschengeist auffunkeln wie guter Kachetinerwein!« rief der Engländer fast akzentfrei zum Abschied.

»Buddle deine Vergangenheit nur aus, auf daß die Zukunft davon sauberer und schöner werde!« entgegneten die Telianer im gleichen gehobenen Tonfall.

»Mschwidobit«, stieß Mr. Pickering angestrengt hervor, der schon wußte, wie auf grusinisch »Auf Wiedersehen!« heißt.

»Good-bye, Genozwali.« Die Telianer lachten leutselig und klopften ihm beiderseits freundschaftlich die Schulter.

Der Chauffeur fragte, ob er das Verdeck vom Bück nicht hochklappen sollte: die Wolken überm Paß kündigten schlechtes Wetter an. Für Augenblicke standen sie mit hängenden Armen und ließen das Schweigen weiterreden. Die Menge wich auf das Hupen auseinander, Stratonow schwang sich auf den rollenden Wagen. Im Winde gebeugt, flog der graue Wegerich am Straßenrand vorbei.

 

Ihr Lebtag hatte Evgenia Ivanovna wohl nirgends so leidenschaftlich und eilig hingewollt wie nun nach England, in das geheimnisvolle neblige Albion, wo sie nächstes Frühjahr sterben sollte. Es besteht Grund zur Annahme, daß der aufs neue von der Ledigkeit betroffene Mr. Pickering sich deswegen auch auf Lebenszeiten in seine von höchstem Erfolg gekrönten Edessaer Forschungen vergrub, die seinen Ruhm in aller Welt mehrten. Übrigens führten die englischen Ärzte den Tod seiner Frau auf Komplikationen nach der Entbindung zurück. Ihre Diagnose wäre genauer ausgefallen, hätten sie außer der Anamnese auch von unserer kleinen Geschichte Kenntnis gehabt. Da Engländer die wundervolle Gabe besitzen, ihr Land nach jedem neuen Wohnsitz zu exportieren, und es daher nie verlassen, leiden sie auch kaum, sagt man, an Heimweh im russischen Sinne. Unter nostalgia wird dortzulande eine beileibe nicht tödlich verlaufende Unpäßlichkeit verstanden, hervorgerufen vom Wechsel des Klimas, des Milieus und vom täglichen Umgang mit Leuten anderer Zunge. So war es denn auch seit je: Versuche unsrer Flüchtlinge, die von westlicher Zivilisation nicht eben behext waren, eine Handvoll rauhen russischen Schnees in milderes Klima auszuführen, schlugen fehl: er schmolz unvermeidlich.

Doch in diesem Augenblick fühlte sich Evgenia Ivanovna unbeschwert wie selten, ja zuweilen dem Zustand völliger Schwerelosigkeit nahe. Das gelegentliche Stechen im Herzen, als stürze sie, wollte wohl nichts besagen bei einem Landeswechsel. Etwas ließ sie zurückschauen. Durch die trübe ovale Scheibe sah sie hinter sich das verwaiste Feuer inmitten des Feldes auflodern. Der Wind kämmte zwei Handvoll Funken daraus empor, sie folgten ihnen auf den Fersen. Dann bog der Bück um einen Olivenhain, und den Schrammen der Zeit gesellten sich auf dem Zelluloid die bewegten Schrammen des Regens.