HEINRICH MANN 

KÜNSTLERNOVELLEN


HENSCHELVERLAG BERLIN 1965


3. Auflage, 19. bis 24. Tausend • 
Verlagsrechte bei Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1961 • 
Lizenz-Nr. 414.235/79/65 • 
Schutzumschlag: Prof. Bert Heller • 
Gesamtherstellung: Sachsendruck Plauen • 
Printed in the German Democratic Republic



INHALT

Der Löwe .. ....................... 7

Das Stelldichein ............ 23

Pippo Spano ................. 29

Die Branzilla ................. 87

Szene ............................135

Die roten Schuhe .........146

Nachwort ......................159

Quellennachweis .. .....165


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 DER LÖWE


„Wünschen Sie nichts dem Ähnliches!" sagte der alte Herr Franz Ruhnach, als wir nach der Vorstellung in seinem Arbeitszimmer beisammensaßen. „Wünschen Sie nicht die vollkommene theatralische Illusion kennenzulernen, das heißt diejenige Illusion, in welcher Wirklichkeit und Kunst unbedingt - und nicht etwa im Sinne einer ungenauen Phrase - ineinander übergegriffen haben. Denn der Vorgang, den ich meine, gehört zu den schrecklichsten inneren Erlebnissen, die sich auf zwei oder drei Herzschläge zusammendrängen lassen. Insofern wenigstens, als es sich um die tragische Illusion handelt, ist diese schlimmer als die tragische Wirklichkeit selbst. Der Augenblick, den wir in ihr durchleben, ist gleichsam der, den wir auf einer hohen, scharfen, unsere Füße durchschneidenden Kante ständen, bevor wir das Gleichgewicht verloren haben und es sich entscheidet, nach welcher Seite wir fallen - der Dichtung oder der Wirklichkeit zu. Da der Vorgang, den ich ein einziges Mal, als dreizehnjähriger Knabe, erlebt habe, gewiß zu den größten Seltenheiten gehört, so ist es Ihnen vielleicht angenehm, mir zuzuhören, während Sie Ihre Zigarre rauchen.
Von dem Gutshofe meines Vaters, der ein gutes Stück von der Küste fort hinter den Dünen lag, erstreckte sich das Dorf inmitten von Äckern und Wiesen in einer einzigen langen Straße bis an den Kirchplatz, der von Kirche, Gendarmerie und den Wirtschaftsgebäuden des Großbauern Prahl abgeschlossen wurde. Ich trieb mich, wenn ich in den Sommerferien zu Hause war, viel im Dorf umher, besonders zur Zeit des Marktes, der alljährlich in diese Wochen fiel und nicht nur bei uns, sondern im weiten Umkreise alles, was Bauer und Händler hieß, auf die Beine brachte. Ein unabsehbarer Zug von Landbewohnern und Vieh drängte dann von den Feldern durch den Lindengang bei der Kirche auf den Platz und quoll zur Gasse herein, so dicht, daß er die beiden niedrigen Häuserreihen noch weiter auseinanderschieben zu wollen schien, als sie schon standen. Die Geschäfte wurden meist in ziemlicher Stille, mit viel List und Vorsicht und wenig Worten, nach der Art unserer Bauern dort im Norden, geführt. Es war ein ungeheures Summen, das von dem Blöken, Brummen und Grunzen des Viehs übertönt wurde. Die Kleidung der Leute war in jener entfernten Zeit noch streng so bewahrt, wie sie von Urvätern überkommen war. Die Männer erschienen mit außerordentlich hohen, gradkrem-pigen Hüten und blauem, blankbeknöpftem Tuchwamse, an dem, wenn die Würde eines großen Besitzes es erforderte, ein Paar Frackschöße hingen, die Frauen in kunstvoll gekrauster Haube und unendlich weiten, eigengemachten Faltenröcken, die, schonend aufgehoben, leuchtende rote oder blaue Wollstrümpfe über strammen Waden und kaum weniger breiten Knöcheln sehen ließen. Das alles roch nach den stets ungelüfteten Spinden, in denen es aufbewahrt gewesen war, die Menschen selbst hatten einen Erd- und Stallduft an sich, dazu die durchdringenden Ausdünstungen des Viehs und über den verschiedenen Gerüchen und sie alle beherrschend, derjenige von Schmalzgebackenem. Es war ein achttägiges Fest, das mit Essen und Gelagen, die, von den beiden Schenken nicht mehr gefaßt, sich auf der Gasse fortsetzten, und meist auch mit Schaustellungen gefeiert wurde.

11

Außer den Gauklern und Tausendkünstlern, die tagsüber einen Kreis von Bewunderern um sich sammelten, war für den Abend meist eines der vielen herumziehenden Theater da, die es damals gab. Öiese Wandertruppen hatten in jener Zeit häufig noch ein eigenes, altmodisch-romantisches Gepräge, das ihnen heute in dem Maße, wie sich die Verkehrsbedingungen erleichtert haben, gründlich verlorengegangen ist. Es fanden sich noch Gesellschaften von einer Zusammensetzung und Art, die an die unter Leitung Wilhelm Meisters stehende erinnerten und höhere, sozusagen künstlerische Ansprüche stellten, die auf das komischste mit den armseligen Bedingungen, unter denen sie auftraten, zusammenstießen. Nicht, daß die Truppe des Jahres, von der ich rede, so ausgesehen hätte; es befand sich indes ein Mitglied dabei, das solche Erinnerungen hervorrief. Es war ein junges oder nicht mehr ganz junges Mädchen, jedenfalls aber eine so seltsam unbewußt gebliebene Schauspielerin, wie sie uns heutzutage gleichfalls nicht mehr möglich dünkt. Es war vielleicht jener Typus der unverstandenen, auch von sich selbst unverstandenen Tragödin, wie er in Paul Heyses ,Kreisrichter' erscheint. Ein Mädchen, das ohne Liebe für die Bühne, nur durch irgendwelche Gewohnheitsbande, etwa als Theaterkind, dort festgehalten wird, das alle Instinkte ihrer Kunst hat, die aber in einem trägen, toten Spiel begraben liegen und erst mit dem Temperament erwachen, das durch eine starke Leidenschaft aufgerüttelt wird. Die große Frieda, wie sie genannt wurde, war so hoffnungslos den Untergründen der Kunst verfallen, daß sie damals sogar als Tierbändigerin auftrat. Zu der Gesellschaft gehörte auch eine Menagerie, vor deren Eingang, hinter der Kirche draußen auf freiem Felde, der Theaterdirektor, der hier als starker Mann fungierte, mit gewaltigen Paukenschlägen zum Besuche einlud. Außer einer matten Boa und ein paar gelangweilten Panthern gab es hinter dem Zeltvorhange in den hölzernen Käfigen auch einen wirklichen Seehund, der den Küstenbewohnern gar nichts sagte, und einen Löwen, der dagegen ihr ganzes Interesse in Anspruch nahm.
Das gefährliche Aussehen des Tieres ward ihm durch eine mächtig breite Brust verliehen, über die eine zottige Mähne herabfiel. Dagegen hatte der Kopf bei aller Wildheit etwas Abgehärmtes, die Flanken lagen kläglich schmal und eingesunken zwischen den Rippen, die wie die eines Droschkengauls hervorstanden. Sein Äußeres deutete auf die Art der Zähmung hin, der er unterworfen war: Man hatte ihn offenbar durch anhaltendes Fasten an einen Zustand gewöhnt, wo der Hunger nicht mehr als Wildheit und Blutgier, sondern als winselnde Unterwürfigkeit auftrat. Er mußte, wenn die Bändigerin zu ihm in den Käfig trat, ganz genau wissen, daß er nur, falls er sich während der Vorstellung tadellos aufgeführt hatte, hinterher seine Fleischration erhalten werde. Wie aber benutzte sie diesen verzweifelten Zustand! Sie hatte nicht die vorsichtigen, stets auf einen plötzlichen Rückzug gefaßten Bewegungen des Wärters im Verkehr mit der Bestie. Sie faßte ihn ohne Rücksicht an, schob ihn aus dem Wege, neckte und schlug ihn; oder sie nahm seinen Kopf in ihren Arm, drückte ihn gegen ihre Brust und küßte ihn, während ihre freie Hand seine Mähne kraute. Sie ging mit ihm als Kraftweib wie mit einem Schwächeren um, wahrscheinlich in der Weise, wie sie mit einem Manne umgegangen wäre. Die Bauern fühlten etwas davon, wenn sie sagten:
,— Hei is ganz weg in sei.'
,- Sei tähmt em mit de Oogen', bemerkte ein anderer. Es war richtig, daß sie die Augen keinen Augenblick von ihm ließ. Sie hatte Augen, in denen wie unter Schleiern eine tiefe Grausamkeit und zugleich ein starrer Schrek-ken vor dieser Grausamkeit und vor ihr selbst schlummerte. Es war, halb versteckt, in ihren Augen vielleicht alles das ausgedrückt, was sie selbst nicht wußte. Das Fremdartige in diesem strengen dunklen Wesen erhielt für unsere behäbigen blonden Bauern um so mehr Faszinierendes dadurch, daß ihre Gestalt das allgemeine Ideal all dieser Leute verkörperte, mit ihren starken Gliedmaßen, weit ausladenden Hüften, dem kräftig gewölbten Nacken und der großen Brust. Sie war, was sie alle ein schönes Mädchen nannten. Der Eindruck, den sie auf diese Leute machte, trat am deutlichsten hervor, wenn sie spielte. Ihr Spiel war ruhig und im Grunde vollständig leidenschaftslos; aber eine lärmende Beweglichkeit wäre bei diesen naiv-fatalisti-schen Zuschauern auf kein Verständnis gestoßen. Dagegen begriff jedermann und war ergriffen, wenn ihr schwerer Körper, während ihre klassisch geraden, groß gemeißelten Gesichtszüge unbewegt blieben, wie unter dem Druck einer unsichtbaren Schicksalshand ruckweise zusammensank. Auf solche Weise kamen auch die Vorzüge ihrer Figur am besten zur Geltung. Wenn beim Falle sich die Schenkel unter dem eng zusammengerafften Gewände abzeichneten und die Brust im großen Winkel vorsprang, entzündete sich eine Flamme in den gewöhnlich ausdruckslosen blauen Augen der Männer. Die Füße begannen den Boden zu scharren, als setzte sie ein übermächtiger Instinkt in Bewegung.
Einer war dabei, der am wenigsten stillehielt und dabei seine Erregung am unliebsten merken ließ, das war der Polizeisergeant Matthiessen. Dieser war ein großer Teufel von einigen dreißig Jahren, mit ungeschickten Gliedmaßen, einem Ansatz zum Schmerbauch und einer widerspenstigen rotblonden Haarlocke, die immer wieder unter dem Helm hervor auf die ewig feucht glühende Stirn fiel, die gleich dem ganzen Gesicht die Anlage zur Apoplexie verriet.
Des Sergeanten Lebensführung war seit der Ankunft der Schauspieler auf den Kopf gestellt. Wenn er in der Frühe seinen Rundgang über Land beendet, pflegte er sich sonst mit seinen Schreibereien bis Mittag im Wachthause einzuschließen. Es war dies ein altes steinernes Häuschen, das an das an dieser Seite bis auf die Grundmauer herabfallende Kirchdach angeklebt war und früher als Küsterwohnung gedient hatte: Auf der Mauer neben der Tür war der alte Ortsheilige, ein gewappneter, den Drachen mit seinem Fußtritt zermalmender Sankt Georg, in grobem Relief abgebildet. Nun aber trat Matthiessen, die Feder hinter dem Ohr, alle zehn Minuten auf den verödeten, sonnenheißen Platz hinaus und spähte unter dem Lindendach hindurch nach den beiden Zelten, Theater und Menagerie, aus, woher ein verworrenes Geräusch von Menschen- und Tierstimmen herüberklang. Regelmäßig um elf Uhr war sein innerer Kampf entschieden, und er suchte den mit Zuschauern gefüllten, erstickend schwülen Zeltraum auf, wo er sich ganz hinten am Eingang aufpflanzte, um den Sicherheitsdienst zu übernehmen, wie er sagte, obwohl jedermann fand, daß diesen auch sein Untergebener, der Polizeidiener Knoop, hätte besorgen können. Um einen halben Kopf über alle Welt hinwegblickend, beobachtete er still und unausgesetzt den Löwenkäfig, in dem die große Frieda mit dem Löwen in ihrer nachlässigen Weise bald scherzte, bald zankte. Wenn er einmal einen bösen Blick der Bestie aufgefangen zu haben meinte, rief er wohl durch den Raum:
,- Seihen Sei sick vor, Mamsell!' Unter dem durchdringend auf ihn gehefteten Blick des Mädchens wurden dann die Bewegungen des Tieres aus katzenhaften zu hündischen; es sah aus, als suchte es seinen gewaltigen Kopf zu verstecken, und das Schlagen des Schweifes glich einem demütigen Wedeln. Der letzte Tag des Marktes wurde, wie üblich, besonders gefeiert. Punkt zwölf Uhr begann das Festmahl in dem Riesensaal, der das ganze Erdgeschoß des ,Blauen Engels' einnahm. Man hatte dazu auch die Schauspieler geladen. Von einigen Seiten war wohl Einsprache gegen diese Maßregel erhoben, aber im ganzen war die Abneigung der seßhaften, besitzenden Bauern gegen das bettelhafte Vagabundentum durch die Reize der großen Frieda zeitweilig besiegt. Sie saß an einem Ende der Haupttafel zwischen dem Direktor und dem Sohn des reichen Prahl. Der gutmütig eitle Junge, an leichte Erfolge gewöhnt, hatte sich bald einen vertraulicheren Ton als die andern gegen sie herausgenommen, den sie mit freundlicher Geringschätzung duldete, ohne ihn zu erwidern. Zuweilen richtete der Bursche seinen Blick, dem die Blicke seiner Nachbarn folgten, auf den Sergeanten Matthies-sen, der seinen Platz am andern Ende des Tisches hatte. Trotz seiner dem Amte geschuldeten Zurückhaltung hatten die schlauen Bauern wohl bemerkt, wie es um den gefürchteten Vertreter der Obrigkeit stand, und machten sich mit heimlichen Rippenstößen darauf aufmerksam, wie unbeweglich seine runden Augen unter den strenge hochgezogenen Brauen auf die Gestalt der Fremden gerichtet waren. Da tat innerhalb des unentwirrbar gewordenen Lärmes von Schreien und Lachen der junge Prahl einen Faustschlag auf den Tisch, daß die nächststehenden Gläser umfielen, und in der augenblicklich eingetretenen Stille rief er durch den Saal:
,- Sergeant, Mamsell will mit Di drinken!' Unter dem schon karmesinleuchtenden Rot stieg in Matt-hiessens Gesicht eine noch tiefere Röte auf. Er zögerte noch; da er aber unter all den auf ihn gerichteten Blicken fühlte, daß man etwas von ihm erwarte, erhob er sich schwerfällig und ging gerade und steifbeinig mit kleinen Schritten auf das Mädchen zu, von der sein Auge keinen Augenblick abließ. Ihr von der Schminke entfärbter Teint war farblos geblieben. Sie streckte ihm gemächlich ihr Glas entgegen. Daß sie die Sache ruhig nahm, machte ihm Mut, die Gelegenheit zu benutzen. Er nahm ihren Arm unter den seinen, und sie tranken kreuzweis. Als Beifallsbezeigung erhob sich ein verdoppelter Lärm, den das Kreischen der Weiber durchdrang. Indes gab der Direktor seinen Leuten das Zeichen zum Aufbruch. Er hatte all seine beredte Kunst eingesetzt, um dem mißtrauischen Widerstand des alten Prahl die Erlaubnis zur Benutzung seiner großen Scheune abzuringen. Da die ,Komedi' sich ja dort so viel schöner als in dem engen Zelte ansehen würde; und da heute Marktschluß war, hatte der alte Bauer endlich, unter vielen Vorbehalten, seine Zustimmung erteilt. Nun mußten die Dekorationen und Kostüme hinübergeschafft werden, und die große Frieda folgte ihren Kameraden. Es fiel ihr ein, daß der Löwe, da am Morgen keine Vorstellung stattgefunden hatte, noch unversorgt sei. Bevor sie die blutigen Hammelknochen herbeiholte, trat sie in den Käfig, ging auf das zurückweichende Tier zu, umfaßte die gewaltige Schulter und stieß mit der freien Hand den Kopf des Löwen langsam drei-, viermal gegen ihre Brust.

22
Die der Kirche gegenüber gelegene Scheune des Großbauern Prahl, deren eines Tor auf die Felder hinausführte, sah mit ihrem zweiten die lange Dorfgasse hinunter. Trotz der Geräumigkeit des Gebäudes verfolgte ein langer Schwanz aufmerksamer Leute von draußen die Vorgänge, die sich im Hintergrunde der Scheune, wie in einem Guckkasten, abspielten.

Das gegebene Stück war eines der zugleich abenteuerlichen und gefühlvollen Art, halb Schicksalsdrama, halb Robinsonade, wie sie damals im Gefolge von Kotzebues ,Gur!i' inMassen aufgetreten waren. Auf dieSchultern der großen Frieda war eine starke Last von Tragik gehäuft, das Schicksal zwang sie noch öfter als gewöhnlich, mit ihrer imposanten Schwere in die Knie zu sinken. Mochte sich nun eine Wirkung der vielen Gläser Doppelbier zeigen,die man ihr freundschaftlich zugetrunken hatte, oder ob ihr totes Temperament, spät genug, endlich auch seinen Erwecker gefunden hatte - und welchen Erwecker! jedenfalls war ihr Spiel belebter, Bewegungen und Sprache menschlicher. Zuweilen fand sie Töne, die außer dem Beifall der Holzschuhe, die gegen den Boden, und der harten Handflächen, die aneinanderklappten, auch das Bravo verschiedener Zuschauer hervorriefen, die sich wie der Amtsvorsteher, der Doktor und mein Vater ein wenig abseits im Hintergrunde hielten. Ich selbst hatte mich bis dicht an den Eingang des Theaters vorgedrängt. Was ich von meinem günstigen Platze am meisten bewunderte, war die Szenerie, die sich zeigte, als das als Vorhang dienende bunte Tuch vor Beginn des letzten Aktes zurückgeschlagen wurde. Der Hintergrund stellte eine unbegrenzte Sandwüste vor, und die Einfachheit des Gegenstandes gestattete es der Dekorationsmalerei, nicht ungeschickt die Einbildungskraft zu unterstützen. Die Kulissen waren mit einigen kümmerlichen Palmen bemalt, das Ganze in ein gelbes Licht getaucht. Frieda betrat in einem weiten, grauen Gewände, mit von der Furcht angehaltenen Schritten, die Szene. Sie war mit ihrem Geliebten in diese Einöde verbannt, der Mann hatte irgendeine Expedition unternommen und sie allein gelassen. Ihr großer Monolog fiel von matten und verbrannten Lippen, und gleichmäßig wie der Sand, der in dem gelben Licht die Dünen hinabzurieseln schien. Bei aller Roheit der Ausführung lag eine gewisse Stimmung in der Szene, für meine abenteuerlustige Phantasie und für die grobe, an den Blick auf das Meer und auf weite Flächen gewöhnte Einbildungskraft dieses Publikums bereitete sie auf fabelhafte Dinge vor. Die Schauspielerin hatte begonnen, eine gehobene Stelle ihrer Rede mit weiter ausgreifenden, stumm verzweifelten Gesten zu begleiten, als sie die in großem Schwünge vor das Gesicht geschlagenen Hände mit einem Ausdruck zurückzog, der die Erfüllung einer schmerzlichen Ahnung anzuzeigen schien. Zugleich ließ sich in dem Räume hinter der zweiten rechtsstehenden Kulisse ein dumpfes, unheilvolles Brüllen vernehmen, und der Löwe hielt, mit zögernden, der freien Bewegung ungewohnten Schritten, seinen Auftritt. Er wurde mit keinem Ausruf, weder des Schrek-kens noch der Überraschung, empfangen. Warerausdem von der Wärterin bei ihrem letzten flüchtigen Besuche schlecht verschlossenen Käfig entkommen und hatte, an der Außenseite der nächststehenden Gebäude herumschleichend, das ins Freie geöffnete Scheunentor gefunden? Oder lag hier ein toller Dressierversuch vor? Die letztere unsinnige Annahme lag uns ebenso fern wie die andere, natürliche. Jedes, auch das allgemeinste Urteil war gelähmt, in seltsamster Weise die Hingabe an den Augenblick und an die Illusion vorbereitet. Für mich wenigstens war die Grenze zwischen dem wachen Leben und einer gesetzlosen Traumwelt vollständig ausgelöscht; aber wie ich später meinen Vater sagen hörte, war sie auch für ihn in jenem Augenblick stark verwischt.Meiner Spannung wurde durch die Haltung der beiden Handelnden, des Mädchens und des Löwen, nichts von ihrer Fieberhaftigkeit genommen. Die Unglückliche hatte ihre fatalistisch tragische Pose nicht verloren, ihre Arme waren schlaff herabgesunken, sie war sogar einen Schritt auf die Bestie zugetreten, zweifellos, wie man sich später sagte, um auf die gewohnte Weise ihre Macht über den Löwen auszuüben. Er aber kam von seiner blutigen Mahlzeit und fühlte sich frei: ihre Herrschaft war gebrochen. Sie mußte es verstanden haben, denn sie ging, von dem Tiere mit längeren, schon zu Sprüngen werdenden Schritten gefolgt, um eine der papierenen Palmen herum, sich stets im rechten Winkel kurz umwendend, wohl mit der Absicht, einen größeren, über das Ziel hinausgetanen Satz des Tieres zum Entkommen zu benutzen. Die überlegteste Darstellung hätte keine anderen Bewegungen gefunden als hier die von der höchsten Lebensnot geschärfte Geistesgegenwart. Es war ein stiller, fürchterlicher Kampf, der nicht von Dauer sein konnte. Sie blieb schwer atmend stehen, und ihr Blick, den sie nicht von dem Verfolger gelassen, erhielt einen namenlosen Ausdruck; es zog sich darin wie der Krampf einer übermenschlichen Willensanstrengung zusammen. Der Löwe zog sich zwei Schritte zurück, dann schlich er vorsichtig um sie herum, bis sie ihn nicht mehr sah. Sie versuchte sich zu wenden, sie schwankte, da saß er ihr schon im Nacken. Es waren Sekunden gewesen von der Art, von der nur ganz wenige aufeinander folgen können, die aber dennoch nicht zu zählen sind. Ich hatte mir noch keinerlei Vorstellung von dem Geschehen gebildet, als ich neben und hinter mir alles schwanken, einige stürzen fühlte.Zugleich erhielt ich selbst einen Ruck, der mich umwarf. Zwischen den gespreizten Beinen eines Mannes hervor tauchte ich sofort wieder auf - wie das Stehaufmännchen von seinem Blei, so ich von dem Instinkt in die Höhe gerissen, daß noch nicht alles beendet sei. In dem Augenblick aber, während ich die Szene aus dem Gesicht verloren, war das übrige geschehen. Als ich wieder hinblickte, sah ich den Löwen mit ausgestreckten Gliedmaßen auf der Seite liegen, und auf seiner Flanke stand ein Fuß, es war der des Sergeanten Matthiessen. Das andere Bein war weit zurückgeschoben, so daß sich der Mann steif aufrechthalten konnte, obwohl sich seine Hand nahe am weit aufgesperrten Maul der Bestie befand, in deren Rachen sein Hirschfänger bis ans Heft steckte. Sein Kopf sah mit einer gewissen steifen, steinernen Neigung auf das besiegte Tier nieder, die Brust trat mächtig heraus mit einer unnatürlichen Anstrengung der Muskeln. Wo hatte ich doch diese seltsame Haltung schon gesehen? Ja wahrhaftig, das war ja das Bild Sankt Georgs des Drachentöters auf der Mauer des Wachthauses.
Der Bann war gebrochen, und die Menge umringte mit lautem Schrecken und Staunen die Bühne, auf der eine wirkliche Tragödie der erdichteten gefolgt war. Durch die Anrufe schien der Sergeant zu sich gebracht zu werden. Er ließ den Griff des Messers fahren, seine steifen Glieder lösten sich, begannen zu zittern, er stand in kläglicher Verwirrung da, seine runden Augen ganz ohne Verständnis rollend.
Der Arzt, der sich von dem schrecklich verstümmelten Körper des Mädchens zu ihm wandte, legte die Hand auf seine blaurote Stirn, aus der das angestaute Blut plötzlich abfloß, und erklärte es für ein Mirakel, daß den Mann nicht der Schlag getroffen habe. Wie er das denn so schnell gemacht habe, fragte man ihn. - Ja, das sei so gekommen, ja, er wisse selbst nicht. Ihm sei ganz verdreht zumut gewesen, als ob er hab' Komedi spielen, aber doch was mächtig Großes tun sollen, nur sei er gar nicht mehr er selbst gewesen, sondern ganz ein anderer.
,- Ein Held', sagte feierlich der Amtsvorsteher. In dem Maße, wie er sich erholte, leuchtete dem Sergeanten diese Auslegung, die zur allgemeinen Meinung wurde, ein, und er fand bald ein naives Vergnügen an dem schmeichelhaften Rufe, der ihm aus jener Begebenheit erwuchs.
Kurze Zeit darauf erhielt er die Verdienstmedaille."



DAS STELLDICHEIN


Die Märchen erzählen von Königen, die sich aufmachten, um eine Prinzessin zu freien, deren Existenz ihnen nicht einmal verbürgt war, deren Namen ein Sänger vor ihnen genannt hatte und um derentwillen sie über Einöden und durch Wälder irrten, auf die Gefahr hin, von Hexen verzaubert oder von Drachen verschlungen zu werden.
Der Maler Philipp Seegers hatte seit Jahren eine Frauenerscheinung wie eine farbige Ahnung mit der Seele geschaut. Sobald er die Akademie verließ, kannte er nur noch das eine Streben, sein Ideal zu porträtieren. Denn er fühlte, daß sie irgendwo leben und daß sie, oder vielmehr ihr Bildnis, sein Glück machen müßte. Ohne Irrfahrten und Gefahren zu bestehen wie die Märchenkönige, denen er nicht glich, fand er in der Tochter eines rheinischen Industriellen diejenige, die seine geheime Erscheinung zu verkörpern schien, und da er praktisch und korrekt wie ein junger Künstler war, entführte er sie in Kürze als seine Frau nach München. Nach Ablauf des ersten Ehejahres hatte er ihr Bildnis vollendet, mit dem es ihm seltsam erging. Obwohl die Wangen seiner Frau schimmerten, wie das wolkige Rot auf dem milchweißen Grunde des antiken Pfirsichmarmors schimmert, obwohl ihr Nacken frisch war und ihre blauen Augen süßträumerisch blickten, hatte das Porträt nichts von Marmorglanz, denn es dämmerte wie in Schleiern, nichts von Frische und Träumerei, denn der Hals, dessen Haltung oft so voll Ausdruck ist, klagte von gedankenschwerer Trauer, und die grünlichen Augen waren weit offen in eine blasse Welt von Angst gerichtet. Der Maler nahm es sich zu Herzen, die gewollte realistische Auffassung verfehlt zu haben. Aber seine Freunde erklärten das Bild, wenn schon ohne Porträtwert, für ein koloristisches Geniewerk. Nach der Ausstellung, auf der das Gemälde, das nun „Ein Traum" hieß, Erfolg gehabt hatte, war der Ruf Seegers' als „eines der kräftigsten Talente unserer aufstrebenden symbolistischen Schule" befestigt. Auch auf dem Pariser Salon fand im folgenden Frühjahr das Werk viele Beachtung, und ein Florentiner Kunstfreund bezahlte es hoch. Als dieser es im Herbst in seiner Heimatstadt ausstellte, erfuhr es dort eine so begeisterte Aufnahme, daß der Käufer den Künstler zu sich entbot, um über weitere Aufträge mit ihm zu verhandeln. Seegers kam und sonnte sich im Erfolge. Als er sich eines Tages von den Freunden und Bewunderern, die ihn wochenlang umringt hielten, bereits verabschiedet hatte, fühlte er sich unvermuteterweise zur Abreise ganz unlustig, und es geschah nur halb unfreiwillig, daß er den Zug versäumte. So kehrte er noch einmal und diesmal allein zurück und schlug den Weg in die Cascine ein.
Die Cascine, ein Garten, der zwischen duftenden Hecken am Arno weithin in blauenSonnendunst hineinzieht,dient der Florentiner Gesellschaft und den eleganten Fremden nicht nur als Promenade, sondern auch als ihr gemeinsamer Salon. Hier empfangen die Damen am Wagenschlag den Besuch der Herren, und alle Welt kennt einander. Da die distinguierten Europäer sich zu bestimmten Zeiten immer wieder an denselben Orten zusammenfinden, so war es etwas Unerhörtes, wovon Florenz noch lange gesprochen hat, an jenem Tage eine Fremde von unzweifelhafter Vornehmheit zu bemerken, deren Namen niemand wußte. Sie erntete gleichwohl, wie sie schlank und weiß vorüberfuhr, fröstelnd unter dem Hermelinkragen, den sie trotz des warmen Oktobertages über ihre blaßviolette Bluse gelegt hatte, hier und da einen zögernden Gruß, den sie nachlässig erwiderte, ohne hinzublicken. Nur einmal sah sie zur Seite, und ihre Augen trafen genau in die eines Mannes, der allein an einem Tisch auf der Terrasse des Restaurants Doney saß. Jener stutzte, und während er langsam sein Haupt entblößte, hielt er ihren Blick so fest, daß sie gezwungen war, den Kopf ein wenig zu wenden, als ihr Wagen bereits vorüber war.
Wie dieselbe Fremde am Abend verspätet bei der Hoteltafel erschien, fand sie den Platz zu ihrer Linken von eben dem Herrn eingenommen, der sie so aufmerksam begrüßt hatte. In freier Art, wiewohl unmerklich nervös, redete sie ihn an.
„Wir sehen uns nicht zum ersten Male, doch weiß ich wirklich nicht, ob die Begrüßungen, die ich während der Promenade erfuhr, ohne Verwechslung mir galten, da ich seit zehn Jahren nicht in Florenz war." „Gnädige Frau dürfen gar nicht daran zweifeln", entgegnete ihr Nachbar. „Man wagt Sie bereits mehr oder weniger als eine bekannte Erscheinung anzusehen, da Sie der weiblichen Figur auf einem vielleicht zu sehr gelobten, zur Zeit hier ausgestellten Gemälde in frappanter Weise gleichen, ja, sie sind." „Der Name des Malers?" fragte hastig die Dame. „Philipp Seegers."


„Das ist sonderbar." Sie wiederholte: „Das ist sonderbar", und während sie wie abwesend vor sich hin sah, schenkte sie, vielleicht ohne daran zu denken, dem Fremden ihr Vertrauen, indem sie mit der eintönigen und zuweilen pfeifenden Stimme der Brustkranken sagte: „Der Name, den Sie soeben nannten, ist vor mir erst einmal ausgesprochen, aber ich habe ihn nicht vergessen. Ich lebe im Sommer sehr einsam auf meiner Besitzung nahe der russischen Grenze. Ich erinnere mich, es war am Tage vor meiner Abreise, als meine Gesellschafterin mir aus dem ,Figaro' eine Notiz vorlas, die besagte, daß jenes Bild von Philipp Seegers, das auf dem letzten Salon ein so eigenartiges Interesse erregt habe, nun auch in Florenz mit Begeisterung aufgenommen sei. Warum, weiß ich nicht, aber ich bekam Lust, das Werk zu sehen, und obwohl mir jede Änderung meiner Lebensgewohnheiten recht lästig fällt, habe ich doch diesmal meine Reise von Venedig nicht sofort nach Brindisi und Kairo fortgesetzt, sondern den beschwerlichen Umweg über Florenz gemacht, eigentlich nur dieser sinnlosen Laune zuliebe."
„Das ist sonderbar", murmelte nun auch der Fremde, ohne seine Nachbarin anzusehen. Beim Verlassen derTafel wurde die Dame von der Direktrice der Pension aus dem Saal geleitet. Diese sagte: „Gnädige Frau sind mit dem Platz neben Herrn Seegers zufrieden?"

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„Wie?"
„Nun, ich meinte, die gnädige Frau neben den Künstler placieren zu sollen, der die gnädige Frau porträtiert hat."
Hierauf begann die Direktrice, nach einleitenden Komplimenten das Sonett herzusagen, das zu Ehren des berühmten Bildes im Fieramosca gestanden hatte - während die Fremde, ohne sich umzuwenden, hinausging. Am nächsten Morgen reisten beide ab; er nach Norden, zu seiner Frau, die er in diesem Augenblick kaum für die seinige hielt, sie gen Süden, um als ein armer Traum, der nur im Bilde leben darf, recht bald zu sterben.



PIPPO SPANO

Die Komödie

„Und verratet mich nicht", sagte Mario Maivolto zu seinen zwei Freunden. „Laßt sie glauben, ich käme zurück." „Du kommst nicht?"
„Ich muß nach Hause. Ich habe Kopfschmerzen ... Nein, ich will euch gestehen, ich muß allein sein." „Deinen Triumph überdecken. Gute Nacht, glücklicher Dichter."
„Schlafen wirst du kaum." „Wer weiß. Gute Nacht."
Die andern gingen hinein. Mario Maivolto stand noch einen Augenblick oben an der Treppe. Hinter ihm verhallte das Bankett zu seinen Ehren. Links und rechts neigten sich tief zwei Lakaien voll goldener Schnüre. Er hielt seine schmächtige Gestalt ganz steif und schritt hinab, über den blassen, dicken Teppich zwischen den vergoldeten Geländern.
,Diese Eitelkeit muß ausgekostet werden', dachte er dabei. ,Drinnen arbeitete ich zu sehr an meiner Rolle. Jetzt beherrsche ich das Erlebnis.'
„Wohin fahren wir, Herr Maivolto?" fragte der Kutscher.
„Nach Settignano."
,Warum fragte denn der? Meinte er, ich fahre jetzt noch zu Mimi? O Mimi, du hin und her wehendes Seidenfähnchen! Bald flattert es dem um den Hals, bald jenem.
Ich hab' es geküßt, sooft an mir die Reihe war, habe sogar Abenteuer hineingestickt. Ja, Mimi, kleine Kokotte mit flüchtigen Impulsen, aber ohne Spur von Größe in deiner Sinnlichkeit, ich habe dir Leidenschaften angedichtet, habe sie zu meiner eigenen Genugtuung, aus Eitelkeit, aus Sehnsucht, deinen ganzen Lebenslauf entlang aufgestellt, wie Puppen, die große Gebärden schleudern. Du warst nur ein Mädel. Adieu, Mimi. Wir wünschen mehr, wünschen Stärkeres. So etwas wie Mimi läßt sich noch neben einer Tragödie her lieben. Es nimmt sowenig Herz ein. Meine Tragödie hat heute abend gesiegt. Ja, ich werde stark. Aber es heißt von den kleinen Genugtuungen ganz frei bleiben, die schwach erhalten und die der verbietet, der in meinem Zimmer über seine eiserne Schulter hinweg mich herausfordert!'
Nahm dieses enge Florenz kein Ende? Ihn verlangte es auf einmal heftig nach der Luft von seinen Hügeln, nach der vom öllaub durchschimmerten, von Lorbeer gewürzten Luft, die ihn bitter und sanft auf den Mund küßte. Die Gassen ließen noch immer ihr nächtliches Echo klappern. Der Schatten von Pferd und Kutscher stieg die Mauern hinauf und hinab. Dann lichteten sich die Vorstadthäuser. In die ersten Gärten tauchte das Mondlicht.
,lch habe den Hügel dort hinten erobert, der mein Haus trägt. Und nicht bloß ihn - alle diese Hügel hab' ich erobert.'
Seine Hand formte in der Luft einen Halbkreis; sie glitt über das entfernte Bild eines Hügels wie über eine Frauenbrust.
,Dies ganze Land, alle seine Städte, jedes Haus, bis auf das letzte, hab' ich erobern müssen. Denn mir gehörte keines. Kein heimlicher Feldweg in keinem Winkel des Landes kennt mich von meinem Anfang an. Bedenke das heute. Du bist auf dem Meer geboren, von einer Mutter aus fremdem Volk. Deine tragische Kunst hat um dieses Land, um jede seiner Ackerfurchen geworben wie ein sehnsüchtiger Pilger im Kettenhemd, der aus Inbrunst Blut vergießt.
Jetzt hab' ich Fuß gefaßt. Jeder in Italien weiß, in welchem Dorf und auf welchem Tisch das Blatt Papier liegt, das ich mit Zeichen bedecke. Heute nacht sind die Besiegten an mir vorübergezogen, ein ganzer Theatersaal, von mir unterworfen. Was habe ich zu vermerken? Elf Hervorrufe. Die Worte der Königin. Den Händedruck des Grafen von Turin. Dann das Bankett. Die beiden Deputierten, das Telegramm des Ministers. Der Bürgermeister redet. Die Kollegen helfen sich mit Ironie. Was noch? Nichts; keine Frauen beim Bankett. Keine Frauen-was bleibt von allem also übrig?' Aus dem Wagen gelehnt, das Kinn in der Hand, sah Mario Malvolto zu, wie die Blütenbäume weithin in bleichem Lichte schwammen. Vor Ponto a Mensola meinte er einen Augenblick einen zweiten Wagen zu entdecken, dem seinigen voraus, in der Höhe. Er war gleich wieder verschwunden. Das Verdeck war aufgestellt gewesen. Der Kutscher hatte nichts gesehen, und wer sollte die Nacht auf der Landstraße verbringen. ,Ob sie es eigentlich wissen, die Frauen, daß alles im Grunde nur für sie geschieht? Manche tun, als ob sie an den Geist glaubten - an den Geist, das hilflose Kind, das ohne unsere Sinne nicht stehen und gehen kann. Wir haben nur unsere Sinnlichkeit; und wem gilt die, wie heißt ihr höchster Preis? Oh, eine Sitzung am Schreibtisch ist verschwendetes Werben um die Frau, eine durchdichtete Nacht ist eine fruchtlose Liebesnacht. Ob sie's wissen? Was frag' ich. Ihr Mißtrauen gegen das Talent lehrt mich genug, und ihre Vorliebe für den Dummkopf, der nur ihnen gehört, und nicht dem Buch. Die Frau und das Buch, das sind Feinde. Ein Dichter von zwanzig Jahren, ich kann mich entsinnen, hat ihnen zu viel zu sagen - darum schweigt er linkisch; sucht zu viel Leidenschaft - das ist den Wesen unbequem, die keinen Rausch kennen als den der Eitelkeit. Ich habe damals von jeder einzelnen geträumt, so viele in einem Salon saßen, oder in den Wagen beim Korso. Mit fanatischer Entschlossenheit und fürs Leben würde ich mich der zu Füßen geworfen haben, die mich erkannt hätte. Sie sind nicht so dumm. Keine einzige fühlt sich berufen, unsere neurasthenischen Überreiztheiten zu trösten. Sie gesellen sich niemals unsern einsamen Verfeinerungen, sondern unfehlbar dem wohlgelungenen Typus. Den erhalten sie, das ist ihre Bestimmung. Sie lassen es, unwissend über ihre Funktion, geschehen, daß wir schönen Krankhaftigkeiten uns an ihnen zugrunde richten. Sie aber sind von der Menschheit das Unverwüstliche. Und ich bete sie an, weil ich die Kraft anbete!
Mitten aus meinen Schüchternheiten heraus entführte ich mich damals plötzlich - mich und die kleine Prinzessin Nora. Was für eine Überraschung! Ein Hauslehrer von unbedeutender Gestalt, dem die Damen nicht einmal ein Paket zu tragen gaben! ... Ich hatte sie durch eine Tat der Verzweiflung alle auf einmal erniedrigt. Eine entführte Prinzessin Gallipoli - wer war die, vor der ich noch die Lider zu senken brauchte. Ach, ich behielt trotzdem immer die Neigung, zu Boden zu sehen. Jede Frechheit bei Frauen ist mir seither gelungen; aber zu jeder habe ich mich zwingen müssen.
Man wirft mir Unzartheiten vor, etwas Schlimmeres als Frechheiten. Ein Klubmann hat sich geweigert, sich mit mir zu schlagen, und ein Ehrenrat hat ihm recht gegeben. Die Toren, wie könnten sie ahnen, daß meine Unzartheiten aus meiner Furcht vor der eigenen Zartheit stammen. Ich leide an zu viel Verstehen, zu viel Bedenken, zu viel Voraussicht des Jammers der andern. Ich habe ganz das Zeug, als Besiegter zu enden. Welche Selbstvergewaltigung hat es mich gekostet, die kleine Prinzessin Nora sitzenzulassen, entehrt, deklassiert. Noch heute, wenn ich ihr in Rom in der hohen Halbwelt begegne - ich spüre etwas wie Angst... Hab' ich nicht oftmals Angst wegen Tina, der großen Tragödin, die an mir leidet?'
Mario Malvolto warf sich in den Wagen zurück, er spähte erregt nach der Höhe des fernen Berges, wo dem Mondgrau weiter Laubwellen mondgrau ein Schloß entstieg. Ein Licht, ein kleines, bohrendes, schwelendes Licht stak, ähnlich einem Gedanken, hinter einer Baumkrone und verwandelte sie in eine rötliche Wolke. ,Wo in der Welt wacht sie jetzt? Wie lange schon bin ich ohne Nachricht. Es ist schlimm diesmal, da sie sich geweigert hat, heute abend die Schöpferin meiner Arachne zu sein. Habe ich ihr einen Schmerz zugefügt, den ich nicht von ihr empfangen hätte? Wer ist so kundig im Leiden und im Leidenmachen als wir beide. Wir wissen, daß wir nirgends so arbeiten, daß wir nie so große Künstler sind wie beieinander, durch einander. Und trotz aller Verwünschungen, aller Erschlaffung und allem Haß stürzen wir immer wieder aufeinander zu. Es gibt in der Welt keine Komödie wie unsere Liebe. Hinter allen unseren Leidenschaften, wilden Gestalten, die von unserm Leben brennen, lauert die Kunst, ein zweifelhaft lächelnder Kulissenmensch, gierig nach Wirkungen für eine neue Rolle.
Von Zeit zu Zeit ertappt einer den andern darauf, daß er nur Komödie spielt. Und plötzlich bricht bei beiden der Ekel aus, und wir prallen auseinander. Aber vier Monate später erscheinen wir wieder bei der Probe. Das ist Berufsangelegenheit. Von Liebe hat dies nichts -nichts von der Liebe, für die man als Jüngling die arbeitsamen Nächte durchwacht, um derentwillen man den Ruhm ersehnt. Denn ich möchte wissen, wozu der Ruhm dient, wenn er nicht Liebe einträgt... Ach, er ist Phantom wie sie. Er entweicht immer weiter, je hastiger man auf ihn zuläuft. Als ich ganz unbekannt war, hatte er Körper; ein König, der den goldenen Kranz schwang. Seit ich ihn Fetzen um Fetzen erkauft habe und genau weiß, wie er hergestellt wird - was kann er mich noch fühlen lassen. Der Ruhm ist ein von mir weithin ausgestreuter, glänzender Irrtum über meine Person. Er gilt einem, der nicht ich bin. Uber mich darf die Wahrheit keiner wissen.
Man muß sagen: DieserMalvolto behandelt Weiber und Leben mit einer Entschlossenheit - etwas anrüchig ist er.
Er ist ein stählerner Daseinskämpfer, das ist auch die Seele seiner Kunst. Die Größe und die Kraft der Rasse ist auferstanden in einem Dichter. Man sieht, auch in einer schmalen Brust können sie sich erheben. Die Renaissance ist, zum Angriff bereit, zurückgekehrt... Das muß man sagen und darf nichts ahnen von meinen schwarzen Ängsten, von der Demütigung, die mir jede Frau, jedes große Kunstwerk, jeder gesunde Mann zufügt; nichts davon, daß ich für eine meiner Seiten, worin das Leben rauscht mit reichem Blut, halbe Tage seelischen Jammers und hygienischer Übungen bezahle. Ich will nicht, daß man es ahne. Wohl steht hinter jeder vollendeten Schönheit der Schmerz und hat noch den Meißel in der Hand. Sollte ich nicht stolz sein? Ich fühle den melancholischen Stolz auf ein Werk, das nicht die Kraft schuf, sondern nur der Wille zu ihr; auf ein Leben ohne wahre Stärke, das nur sehnsüchtiger Drang in die Höhe reckt wie eine Niobe ihre Arme. Ich sehne mich am Schluß von allen, die ich gehabt habe, noch heute nach der Frau. Ich träume noch von ihr wie mit zwanzig Jahren - nur hoffnungsloser. Denn ich habe sie inzwischen erprobt, und daß sie nie die Gefährtin des Komödianten ist. Sie ist mir zu ähnlich, was hätte sie mir zu bieten, oder ich ihr. Sie will selbst Applaus. Sie will mit Leidenschaften bezahlt werden: - mir ist sie zu teuer. Ich brauche meine Gefühle, um sie den Leuten vorzuspielen. Ich muß an meiner Seele sparen, damit andere sich mit ihr berauschen können. Je mehr ich Leben austeile, desto ärmer muß mein eigenes werden. Die seltene Frau aber und die wahre - sie, die sich einfach hingibt, in unbedachter Leidenschaft; die an nichts zweifelt, nichts verlangt, keinen Beifall, kein Martyrium; die all ihr Leben zusammenrafft, um es ohne ein Zaudern, ohne ein Besinnen auf Welt, Ruf, Zukunft in meines zu werfen, mich reich zu machen, durch mich zu atmen und mit mir unterzugehen: sie natürlich gibt es für mich nicht. Träte sie auch leibhaftig in meine Tür, das Wunder wäre unvollständig. Denn in mir, in meinen Tagen, hätte sie nicht Raum: nicht sie selbst, die zu groß, zu stark wäre; nur die Sehnsucht nach ihr! Hab' ich sie heute abend wieder begehrt, auf der Bühne, durch das Loch im Vorhang, hinter dem mein Platz ist! Hab' ich alle begehrt!'
Mario Malvolto legte den Kopf in den Nacken, stöhnte und schaute tief in den bleichen Fluß der Sterne. ,lch kannte fast alle. Ein paar hatte ich besessen, einige andere könnte ich haben. Wozu? Soll ich sie zu meiner sentimentalen Erziehung und zu meinem gesellschaftlichen Fortkommen benutzen wie die kleine Prinzessin Nora, oder zum Studium von zwanzig verschiedenen Rollen, wie Tina, die Tragödin? Oder sollen sie arme, leere Gliederpuppen sein wie Mimi, und ich behänge sie im Traum mit Leidenschaften, die weder sie erleben werden noch ich? Sollen sie zum Schluß dahinterkommen, wer ich bin, und mich beleidigt und voll Verachtung wegschicken? ... Man wird müde, die Sterne dort oben mit den Augen zu pflücken, einen nach dem andern, und am Ende nichts in den Händen zu halten ... So glänzten sie auf den Rängen heute abend.' Er betrachtete einen großen, reifen Stern. ,Die Linozzo. Ägyptisch platte, lange Nase, lange Augen eng beieinander. Die Brauen dicht unter der fettschwarzen Haarwelle. Weiter weicher Mund, feucht, tief gefärbt, beweglich. Sie ist am begehrenswertesten, wenn sie einen hellglitzernden Fächer an den Mundwinkel hält, oder wenn sie über die Schulter weg, den Kopf zurückgelegt, aus den Ecken ihrer Augen lächelt... Solange ich in der Loge der Königin war, hat sie immerfort hingesehen. Sie ist ehrgeizig, ich könnte sie haben.'
Seine Augen hängten sich an andere Gestirne. ,Die Borgofinale. Ein fettes Profil mit hängendem Kinn, wildäugig aus einem heftigen Wulst braunroter Haare hervor, über einem mächtigen Hermelinkragen. Das war eine der ersten, die mich hinaufgehißt haben. Auf ihrem zerstörten Gesicht treffe ich meine Erinnerungen an so viele erlogene Aufregungen. Sie aber war vielleicht ehrlich?
Eine Unmögliche: die Lancredoni. Magere Prinzessin von bräunlicher Haut. Ein steiler Hals trägt den kleinen starren Kopf, mit der entweichenden Linie von Nase und Stirn. Der Spitzenärmel entfaltet sich sehr tief unter der nackten Schulter, die abfällt, zerbrechlich, rein. Unter den kalten Blitzen ihres Diadems gähnt die Prinzessin... Und heute abend, hinter meinem Vorhang, hab' ich sie vergewaltigt! Ich habe zu ihr hinauf triumphiert, wissend, daß ich mehr von ihr schmecke als der, der sie jede Nacht in den Armen hielte! Was bleibt davon übrig? Vielleicht ein paar Zeilen, die ich drucken iasse. Aber für mich, in der Seele? ...
Die jungen Mädchen! Da saßen sie, ganz nah, und spähten helläugig aus einer Welt hervor, in die kein Weg führt. Die Cantoggi traf einmal mein Auge, im Loch des Vorhangs. Ich erschrak tief über diesen Blick, den sie aussandte, ohne zu ahnen wohin.
Welche von ihnen kommt und nimmt mich bei der Hand und führt mich heimwärts in ihr Land, wo man stark und mit Unschuld empfindet!
Keine. Denn sie haben selbst nichts Eiligeres zu tun, als die Komödie zu erlernen. Gemma Cantoggi, das Kind, frisch vom Lande, heiratet den Lanti, einen Viveur auf dem Abmarsch. Sauber ist das.
Verlangt man von einer, sie solle machen, daß man sich selbst vergißt — wahrscheinlich darf man auch von ihr nichts wissen? Im Parkett saß eine Fremde, ein schönes, starkes Profil unter der Samtschleife des großen Hutes. Eine wehende Krawatte hüllte sie bis an den Mund in rosige Gaze ...'
Mario Malvolto träumte noch, als er auf den Platz von Settignano einbog. Der niedrige, flach geschweifte Kirchengiebel war vom Mond bläulich gepudert. Eine einsame Laterne erblindete in der weiten Sternennacht, in deren Mitte auf seinem Hügel das Städtchen schlief. Ein Geräusch verlor sich irgendwie. Mario Malvolto sah dahinten in der langen Gasse etwas Dunkles sich bewegen. Gewiß, es war der Wagen von vorhin; das Verdeck war aufgestellt. Mondstreif fiel plötzlich darüber; etwas Weißes hatte sich herausgebeugt. Wo in der Umgegend war dieses Gefährt zu Hause? Nirgends, sagte der Kutscher. Es verschwand im Schatten. Sie verließen die Gasse und fuhren ein Stück bergab. Mario Malvolto stieg aus, machte einige Schritte zwischen Hecken, elf Stufen hinan; da stand er vor seiner Tür. Sie war offen. Sein Diener lag schlafend davor. 
Mario Malvolto stieg über ihn weg, er nahm im Vestibül die Lampe vom Tisch, ging die Treppe hinauf und betrat sein Arbeitszimmer. Auf der Bibliothek die Frauenbüsten in ihrer schmalen alten Tracht lächelten weiß, verschlossen, aus steilen Träumen; und auf ihren Stirnen die große Perle schien im Mondlicht an ihrer Kette zu schwanken.
Das Zimmer war so hell, daß Malvolto die Lampe löschte. Er lehnte sich in die offene Terrassentür. Wie weiß der Garten! All dies schwere dunkle Laub über den ganzen Hügelrücken hin und bis unter die Mauer mit ihrem Baldachin von Steineichen, alles blitzte in bleicher und kostbarer Verzauberung. Als ein silberner Mantel hingen die Glyzinen um die starre, tote Zypresse. Und die Kamelien selbst bluteten nur wie Geister. Er sah ins Zimmer zurück, und er erschrak. Einen Augenblick hatte es ihm geschienen, der überlebensgroße Mensch dort auf der grellen Wand reiße sein Schwert in die Höhe. Mario Malvolto sagte in Gedanken zu ihm, zu diesem Bilde, dem einzigen, das täglich auf seine Arbeit herniedersah:
,So finden wir uns wieder. Als ich dich heute abend verließ, war ich kampfesfroh, gespannt auf einen laufen Sieg oder eine derbe Niederlage. Es ist Sieg gewesen. Bei Wein und Reden ist er angeschwollen. Ich gehe, seiner sicher, davon. Ich brauche ihn nur aus der Brust zu ziehen und zu betrachten, nicht wahr? Und unterwegs, in einer Mondnacht voll gespenstigen Besinnens, wird eine Niederlage daraus - oh, eine stille, blasse Niederlage, und eine schlimmere, als wäre ich lärmend ausgepfiffen.
Hast auch du einmal einen Sieg, wenn er am lautesten scholl, plötzlich umwenden und davonfahren gesehen? Krieg und Kunst, das ist dieselbe übermenschliche Ausschweifung. Kennst du den Ekel nach der Orgie? Antwort, Pippo Spano!
Da stehst du, aufgereckt, die eisernen Beine gespreizt, das riesige Schwert quer darüber in Händen, die aus Bronze sind. Du hast schmale Gelenke, bist leicht, bereit zu Sprung, Jagd, hitzigen Umarmungen und kalten Dolchstößen, zu Wein und zu Blut. In den Lauten deines Namens selbst geschieht ein Pfeifen von geschwungener Waffe, und dann ein breiter Schlag, über deiner breiten Brust wölbt sich Eisen, um deine feinen Hüften kreist ein goldener Gürtel, aus dem fröhlichen Blau des Röckchens. Du hast einen kurzen, zweigespitzten Bart, dein Mund steht gewalttätig heraus aus deinem mageren Gesicht, und düsterblonde Locken umzotteln es. Es blickt zurückgeworfen über die Schulter, mit aufgerissenen Augen, wach und furchtbar. Wenn man länger hinsieht, lächelt es. Das Ubermaß von grausamer Selbstsicherheit bringt dieses Lächeln hervor, das sich nicht nachweisen läßt, das man nur ahnt, das tief verwirrt, in Grauen stürzt, fesselt, dem man sich widersetzt und das man schließlich verehrt!
Da du ungeheuerlich zu triumphieren verstehst — wie entsetzlich wärest du wohl manchmal geschlagen! Ja! Wie mußt du gelitten haben, du und dein Maler, der so stark war wie du. Große Kunstwerke - dein Leben oder dein Bild - haben so leuchtende Höhen nur, weil sie so grausige Tiefen haben. Ach, du Türkensieger, verstell dich nicht - ich höre dennoch deinen tollen Aufschrei, wenn ein Schlag dich traf. Ich seh' dich bluten, wenn ein Freund dich verriet. Ich versuche den Rausch von Schmerz zu ahnen, den du erlebt hast, sooft eine Frau ihre spitzen Finger in dein Herz grub!' Mario Malvolto verschränkte die Arme. Er kam näher, die Augen auf dem Gesicht des Condottiere. Er flüsterte:
„Siehst du, nach solchem Rausche schmachte nun ich! Ich bin zu zerbrechlich dafür und zu nüchtern; darum erdichte ich Menschen, die anders sind. Darum stehst du hier, als mein Gewissen, als mein Zwang zur Größe. Du sollst mir Überdruß machen an der mäßigen Lust und dem haushälterischen Leiden, womit wir unzulänglichen Spätgeborenen uns bescheiden. Unsere Kunst vertritt den seelischen Mittelstand. Belanglose Neurastheniker-geschicke dehnen sich aus über ein bürgerliches Dasein von siebzig Jahren, währenddessen man täglich für einige Kupfermünzen Leid verzehrt und für einen Nickel Behagen. Der Künstler gräbt umständlich in seiner verstopften Seele, immer nur in seiner eigenen, und fördert Traurigkeiten zutage, die er eitel umherzeigt. Mit feindseliger Ironie blinzelt er über alles weg, was stark ist und in ganzen Farben lebt.
So aber will ich leben! Ich will verschwenden; innerhalb meiner kurzen Jahre soll meine Kunst mir ein zweites, mächtigeres Leben schaffen. Nichts will ich wissen von mir, dem Schwachen; er lehrt mich immer noch genug von sich. Ich will fremde Schönheiten erleben, fremde Schmerzen. Recht fremde. Geopferte Frauen; Vornehme, die zuviel begehren; Meister, die einen vollen Schmerz an einem Stück Marmor austoben. Sie schlagen die Gestalten der Hölle aus dem Block heraus, und ihr Schmerz ist der Wirbelwind, der die Seelen durch purpurne Finsternis treibt... Zu denen will ich auswandern, in die hinein, die noch nicht auf die Launen ihrer Nerven lauschen; deren Schicksal noch nicht in ihrem armen Blut gefangen sitzt. Nein, draußen in freier Welt erwartet es sie zum Kampf, und sie dürfen hinstürmen! In ihr Leben dringe ich ein, wie in eine mit Dornenhecken umstellte, üppigere und jähere Welt, wo Gewalt geübt wird und trunkene Hingabe; wo namenlose Untergänge ausgekostet werden und unfaßbare Herrlichkeiten; wo man ganz lebt und auf einmal stirbt. Und die Frau, die du lieben könntest, Pippo Spano, die ist der Preis aller meiner Sehnsucht. Die tritt mir als die Letzte aus der von mir entzauberten Welt entgegen. Nicht wahr.
Und Mario Malvolto vergaß sich, er redete lauter. „Nicht wahr, sie tritt mir entgegen? Glaubst du es, Pippo Spano? Sie tritt -" Er brach ab: Da stand sie.
Sie stand auf der Schwelle des kleinen weißen Salons, den Mondstrahlen plötzlich aus seinem Schatten hoben. Sie war selber weiß und bedeckt mit Mondlicht. Ihr bleiches, kurznasiges Gesicht mit starken Lippen umrahmten schwere schwarze Flechten. Von ihrer kleinen, schmalen Gestalt, von Schultern und Nacken lösten sich gestickte Silberblumen bei jedem ihrer Atemzüge; sie lebten mit ihrem Atem. Sie hob ihren Arm zum Vorhang an der Tür - und der Ärmel aus lauter Blumenkelchen fiel auseinander in viele blasse Blätter, ihr Arm stand darin als Blütenstempel, schimmernd von Mond.
Mario Malvolfo war zurückgewichen. Er griff sich an die Stirn. Eine Sinnestäuschung? Er hatte viel getrunken und noch mehr geschwärmt. Aber sein Herz ging ruhig und stark, er fühlte sich helleren, freieren Geistes als gewöhnlich. Wollte das da noch immer nicht verschwinden? ... Er machte zwei rasche Schritte darauf zu. Aber es blieb da, es sprach sogar. Das junge Mädchen sagte leise und einfach: „Mario Malvolto, ich liebe dich. Ich bin hergekommen, damit wir uns lieben."