HEINRICH MANN
KÜNSTLERNOVELLEN
HENSCHELVERLAG BERLIN 1965
INHALT
Der Löwe ..
....................... 7
Das Stelldichein
............ 23
Pippo Spano
................. 29
Die Branzilla
................. 87
Szene
............................135
Die roten Schuhe
.........146
Nachwort
......................159
Quellennachweis ..
.....165
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DER LÖWE
„Wünschen Sie nichts dem Ähnliches!" sagte der
alte Herr Franz Ruhnach, als wir nach der Vorstellung in seinem
Arbeitszimmer beisammensaßen. „Wünschen Sie nicht die vollkommene
theatralische Illusion kennenzulernen, das heißt diejenige
Illusion, in welcher Wirklichkeit und Kunst unbedingt - und nicht
etwa im Sinne einer ungenauen Phrase - ineinander übergegriffen
haben. Denn der Vorgang, den ich meine, gehört zu den
schrecklichsten inneren Erlebnissen, die sich auf zwei oder drei
Herzschläge zusammendrängen lassen. Insofern wenigstens, als es
sich um die tragische Illusion handelt, ist diese schlimmer als die
tragische Wirklichkeit selbst. Der Augenblick, den wir in ihr
durchleben, ist gleichsam der, den wir auf einer hohen, scharfen,
unsere Füße durchschneidenden Kante ständen, bevor wir das
Gleichgewicht verloren haben und es sich entscheidet, nach welcher
Seite wir fallen - der Dichtung oder der Wirklichkeit zu. Da der
Vorgang, den ich ein einziges Mal, als dreizehnjähriger Knabe,
erlebt habe, gewiß zu den größten Seltenheiten gehört, so ist es
Ihnen vielleicht angenehm, mir zuzuhören, während Sie Ihre Zigarre
rauchen.
Von dem Gutshofe meines Vaters, der ein gutes Stück von der Küste
fort hinter den Dünen lag, erstreckte sich das Dorf inmitten von
Äckern und Wiesen in einer einzigen langen Straße bis an den
Kirchplatz, der von Kirche, Gendarmerie und den Wirtschaftsgebäuden
des Großbauern Prahl abgeschlossen wurde. Ich trieb mich, wenn ich
in den Sommerferien zu Hause war, viel im Dorf umher, besonders zur
Zeit des Marktes, der alljährlich in diese Wochen fiel und nicht
nur bei uns, sondern im weiten Umkreise alles, was Bauer und
Händler hieß, auf die Beine brachte. Ein unabsehbarer Zug von
Landbewohnern und Vieh drängte dann von den Feldern durch den
Lindengang bei der Kirche auf den Platz und quoll zur Gasse herein,
so dicht, daß er die beiden niedrigen Häuserreihen noch weiter
auseinanderschieben zu wollen schien, als sie schon standen. Die
Geschäfte wurden meist in ziemlicher Stille, mit viel List und
Vorsicht und wenig Worten, nach der Art unserer Bauern dort im
Norden, geführt. Es war ein ungeheures Summen, das von dem Blöken,
Brummen und Grunzen des Viehs übertönt wurde. Die Kleidung der
Leute war in jener entfernten Zeit noch streng so bewahrt, wie sie
von Urvätern überkommen war. Die Männer erschienen mit
außerordentlich hohen, gradkrem-pigen Hüten und blauem,
blankbeknöpftem Tuchwamse, an dem, wenn die Würde eines großen
Besitzes es erforderte, ein Paar Frackschöße hingen, die Frauen in
kunstvoll gekrauster Haube und unendlich weiten, eigengemachten
Faltenröcken, die, schonend aufgehoben, leuchtende rote oder blaue
Wollstrümpfe über strammen Waden und kaum weniger breiten Knöcheln
sehen ließen. Das alles roch nach den stets ungelüfteten Spinden,
in denen es aufbewahrt gewesen war, die Menschen selbst hatten
einen Erd- und Stallduft an sich, dazu die durchdringenden
Ausdünstungen des Viehs und über den verschiedenen Gerüchen und sie
alle beherrschend, derjenige von Schmalzgebackenem. Es war ein
achttägiges Fest, das mit Essen und Gelagen, die, von den beiden
Schenken nicht mehr gefaßt, sich auf der Gasse fortsetzten, und
meist auch mit Schaustellungen gefeiert wurde.
Außer den Gauklern und Tausendkünstlern, die
tagsüber einen Kreis von Bewunderern um sich sammelten, war für den
Abend meist eines der vielen herumziehenden Theater da, die es
damals gab. Öiese Wandertruppen hatten in jener Zeit häufig noch
ein eigenes, altmodisch-romantisches Gepräge, das ihnen heute in
dem Maße, wie sich die Verkehrsbedingungen erleichtert haben,
gründlich verlorengegangen ist. Es fanden sich noch Gesellschaften
von einer Zusammensetzung und Art, die an die unter Leitung Wilhelm
Meisters stehende erinnerten und höhere, sozusagen künstlerische
Ansprüche stellten, die auf das komischste mit den armseligen
Bedingungen, unter denen sie auftraten, zusammenstießen. Nicht, daß
die Truppe des Jahres, von der ich rede, so ausgesehen hätte; es
befand sich indes ein Mitglied dabei, das solche Erinnerungen
hervorrief. Es war ein junges oder nicht mehr ganz junges Mädchen,
jedenfalls aber eine so seltsam unbewußt gebliebene Schauspielerin,
wie sie uns heutzutage gleichfalls nicht mehr möglich dünkt. Es war
vielleicht jener Typus der unverstandenen, auch von sich selbst
unverstandenen Tragödin, wie er in Paul Heyses ,Kreisrichter'
erscheint. Ein Mädchen, das ohne Liebe für die Bühne, nur durch
irgendwelche Gewohnheitsbande, etwa als Theaterkind, dort
festgehalten wird, das alle Instinkte ihrer Kunst hat, die aber in
einem trägen, toten Spiel begraben liegen und erst mit dem
Temperament erwachen, das durch eine starke Leidenschaft
aufgerüttelt wird. Die große Frieda, wie sie genannt wurde, war so
hoffnungslos den Untergründen der Kunst verfallen, daß sie damals
sogar als Tierbändigerin auftrat. Zu der Gesellschaft gehörte auch
eine Menagerie, vor deren Eingang, hinter der Kirche draußen auf
freiem Felde, der Theaterdirektor, der hier als starker Mann
fungierte, mit gewaltigen Paukenschlägen zum Besuche einlud. Außer
einer matten Boa und ein paar gelangweilten Panthern gab es hinter
dem Zeltvorhange in den hölzernen Käfigen auch einen wirklichen
Seehund, der den Küstenbewohnern gar nichts sagte, und einen Löwen,
der dagegen ihr ganzes Interesse in Anspruch nahm.
Das gefährliche Aussehen des Tieres ward ihm durch eine mächtig
breite Brust verliehen, über die eine zottige Mähne herabfiel.
Dagegen hatte der Kopf bei aller Wildheit etwas Abgehärmtes, die
Flanken lagen kläglich schmal und eingesunken zwischen den Rippen,
die wie die eines Droschkengauls hervorstanden. Sein Äußeres
deutete auf die Art der Zähmung hin, der er unterworfen war: Man
hatte ihn offenbar durch anhaltendes Fasten an einen Zustand
gewöhnt, wo der Hunger nicht mehr als Wildheit und Blutgier,
sondern als winselnde Unterwürfigkeit auftrat. Er mußte, wenn die
Bändigerin zu ihm in den Käfig trat, ganz genau wissen, daß er nur,
falls er sich während der Vorstellung tadellos aufgeführt hatte,
hinterher seine Fleischration erhalten werde. Wie aber benutzte sie
diesen verzweifelten Zustand! Sie hatte nicht die vorsichtigen,
stets auf einen plötzlichen Rückzug gefaßten Bewegungen des Wärters
im Verkehr mit der Bestie. Sie faßte ihn ohne Rücksicht an, schob
ihn aus dem Wege, neckte und schlug ihn; oder sie nahm seinen Kopf
in ihren Arm, drückte ihn gegen ihre Brust und küßte ihn, während
ihre freie Hand seine Mähne kraute. Sie ging mit ihm als Kraftweib
wie mit einem Schwächeren um, wahrscheinlich in der Weise, wie sie
mit einem Manne umgegangen wäre. Die Bauern fühlten etwas davon,
wenn sie sagten:
,— Hei is ganz weg in sei.'
,- Sei tähmt em mit de Oogen', bemerkte ein anderer. Es war
richtig, daß sie die Augen keinen Augenblick von ihm ließ. Sie
hatte Augen, in denen wie unter Schleiern eine tiefe Grausamkeit
und zugleich ein starrer Schrek-ken vor dieser Grausamkeit und vor
ihr selbst schlummerte. Es war, halb versteckt, in ihren Augen
vielleicht alles das ausgedrückt, was sie selbst nicht wußte. Das
Fremdartige in diesem strengen dunklen Wesen erhielt für unsere
behäbigen blonden Bauern um so mehr Faszinierendes dadurch, daß
ihre Gestalt das allgemeine Ideal all dieser Leute verkörperte, mit
ihren starken Gliedmaßen, weit ausladenden Hüften, dem kräftig
gewölbten Nacken und der großen Brust. Sie war, was sie alle ein
schönes Mädchen nannten. Der Eindruck, den sie auf diese Leute
machte, trat am deutlichsten hervor, wenn sie spielte. Ihr Spiel
war ruhig und im Grunde vollständig leidenschaftslos; aber eine
lärmende Beweglichkeit wäre bei diesen naiv-fatalisti-schen
Zuschauern auf kein Verständnis gestoßen. Dagegen begriff jedermann
und war ergriffen, wenn ihr schwerer Körper, während ihre klassisch
geraden, groß gemeißelten Gesichtszüge unbewegt blieben, wie unter
dem Druck einer unsichtbaren Schicksalshand ruckweise zusammensank.
Auf solche Weise kamen auch die Vorzüge ihrer Figur am besten zur
Geltung. Wenn beim Falle sich die Schenkel unter dem eng
zusammengerafften Gewände abzeichneten und die Brust im großen
Winkel vorsprang, entzündete sich eine Flamme in den gewöhnlich
ausdruckslosen blauen Augen der Männer. Die Füße begannen den Boden
zu scharren, als setzte sie ein übermächtiger Instinkt in
Bewegung.
Einer war dabei, der am wenigsten stillehielt und dabei seine
Erregung am unliebsten merken ließ, das war der Polizeisergeant
Matthiessen. Dieser war ein großer Teufel von einigen dreißig
Jahren, mit ungeschickten Gliedmaßen, einem Ansatz zum Schmerbauch
und einer widerspenstigen rotblonden Haarlocke, die immer wieder
unter dem Helm hervor auf die ewig feucht glühende Stirn fiel, die
gleich dem ganzen Gesicht die Anlage zur Apoplexie
verriet.
Des Sergeanten Lebensführung war seit der Ankunft der Schauspieler
auf den Kopf gestellt. Wenn er in der Frühe seinen Rundgang über
Land beendet, pflegte er sich sonst mit seinen Schreibereien bis
Mittag im Wachthause einzuschließen. Es war dies ein altes
steinernes Häuschen, das an das an dieser Seite bis auf die
Grundmauer herabfallende Kirchdach angeklebt war und früher als
Küsterwohnung gedient hatte: Auf der Mauer neben der Tür war der
alte Ortsheilige, ein gewappneter, den Drachen mit seinem Fußtritt
zermalmender Sankt Georg, in grobem Relief abgebildet. Nun aber
trat Matthiessen, die Feder hinter dem Ohr, alle zehn Minuten auf
den verödeten, sonnenheißen Platz hinaus und spähte unter dem
Lindendach hindurch nach den beiden Zelten, Theater und Menagerie,
aus, woher ein verworrenes Geräusch von Menschen- und Tierstimmen
herüberklang. Regelmäßig um elf Uhr war sein innerer Kampf
entschieden, und er suchte den mit Zuschauern gefüllten, erstickend
schwülen Zeltraum auf, wo er sich ganz hinten am Eingang
aufpflanzte, um den Sicherheitsdienst zu übernehmen, wie er sagte,
obwohl jedermann fand, daß diesen auch sein Untergebener, der
Polizeidiener Knoop, hätte besorgen können. Um einen halben Kopf
über alle Welt hinwegblickend, beobachtete er still und
unausgesetzt den Löwenkäfig, in dem die große Frieda mit dem Löwen
in ihrer nachlässigen Weise bald scherzte, bald zankte. Wenn er
einmal einen bösen Blick der Bestie aufgefangen zu haben meinte,
rief er wohl durch den Raum:
,- Seihen Sei sick vor, Mamsell!' Unter dem durchdringend auf ihn
gehefteten Blick des Mädchens wurden dann die Bewegungen des Tieres
aus katzenhaften zu hündischen; es sah aus, als suchte es seinen
gewaltigen Kopf zu verstecken, und das Schlagen des Schweifes glich
einem demütigen Wedeln. Der letzte Tag des Marktes wurde, wie
üblich, besonders gefeiert. Punkt zwölf Uhr begann das Festmahl in
dem Riesensaal, der das ganze Erdgeschoß des ,Blauen Engels'
einnahm. Man hatte dazu auch die Schauspieler geladen. Von einigen
Seiten war wohl Einsprache gegen diese Maßregel erhoben, aber im
ganzen war die Abneigung der seßhaften, besitzenden Bauern gegen
das bettelhafte Vagabundentum durch die Reize der großen Frieda
zeitweilig besiegt. Sie saß an einem Ende der Haupttafel zwischen
dem Direktor und dem Sohn des reichen Prahl. Der gutmütig eitle
Junge, an leichte Erfolge gewöhnt, hatte sich bald einen
vertraulicheren Ton als die andern gegen sie herausgenommen, den
sie mit freundlicher Geringschätzung duldete, ohne ihn zu erwidern.
Zuweilen richtete der Bursche seinen Blick, dem die Blicke seiner
Nachbarn folgten, auf den Sergeanten Matthies-sen, der seinen Platz
am andern Ende des Tisches hatte. Trotz seiner dem Amte
geschuldeten Zurückhaltung hatten die schlauen Bauern wohl bemerkt,
wie es um den gefürchteten Vertreter der Obrigkeit stand, und
machten sich mit heimlichen Rippenstößen darauf aufmerksam, wie
unbeweglich seine runden Augen unter den strenge hochgezogenen
Brauen auf die Gestalt der Fremden gerichtet waren. Da tat
innerhalb des unentwirrbar gewordenen Lärmes von Schreien und
Lachen der junge Prahl einen Faustschlag auf den Tisch, daß die
nächststehenden Gläser umfielen, und in der augenblicklich
eingetretenen Stille rief er durch den Saal:
,- Sergeant, Mamsell will mit Di drinken!' Unter dem schon
karmesinleuchtenden Rot stieg in Matt-hiessens Gesicht eine noch
tiefere Röte auf. Er zögerte noch; da er aber unter all den auf ihn
gerichteten Blicken fühlte, daß man etwas von ihm erwarte, erhob er
sich schwerfällig und ging gerade und steifbeinig mit kleinen
Schritten auf das Mädchen zu, von der sein Auge keinen Augenblick
abließ. Ihr von der Schminke entfärbter Teint war farblos
geblieben. Sie streckte ihm gemächlich ihr Glas entgegen. Daß sie
die Sache ruhig nahm, machte ihm Mut, die Gelegenheit zu benutzen.
Er nahm ihren Arm unter den seinen, und sie tranken kreuzweis. Als
Beifallsbezeigung erhob sich ein verdoppelter Lärm, den das
Kreischen der Weiber durchdrang. Indes gab der Direktor seinen
Leuten das Zeichen zum Aufbruch. Er hatte all seine beredte Kunst
eingesetzt, um dem mißtrauischen Widerstand des alten Prahl die
Erlaubnis zur Benutzung seiner großen Scheune abzuringen. Da die
,Komedi' sich ja dort so viel schöner als in dem engen Zelte
ansehen würde; und da heute Marktschluß war, hatte der alte Bauer
endlich, unter vielen Vorbehalten, seine Zustimmung erteilt. Nun
mußten die Dekorationen und Kostüme hinübergeschafft werden, und
die große Frieda folgte ihren Kameraden. Es fiel ihr ein, daß der
Löwe, da am Morgen keine Vorstellung stattgefunden hatte, noch
unversorgt sei. Bevor sie die blutigen Hammelknochen herbeiholte,
trat sie in den Käfig, ging auf das zurückweichende Tier zu,
umfaßte die gewaltige Schulter und stieß mit der freien Hand den
Kopf des Löwen langsam drei-, viermal gegen ihre Brust.
Das gegebene Stück war eines der zugleich
abenteuerlichen und gefühlvollen Art, halb Schicksalsdrama, halb
Robinsonade, wie sie damals im Gefolge von Kotzebues ,Gur!i'
inMassen aufgetreten waren. Auf dieSchultern der großen Frieda war
eine starke Last von Tragik gehäuft, das Schicksal zwang sie noch
öfter als gewöhnlich, mit ihrer imposanten Schwere in die Knie zu
sinken. Mochte sich nun eine Wirkung der vielen Gläser Doppelbier
zeigen,die man ihr freundschaftlich zugetrunken hatte, oder ob ihr
totes Temperament, spät genug, endlich auch seinen Erwecker
gefunden hatte - und welchen Erwecker! jedenfalls war ihr Spiel
belebter, Bewegungen und Sprache menschlicher. Zuweilen fand sie
Töne, die außer dem Beifall der Holzschuhe, die gegen den Boden,
und der harten Handflächen, die aneinanderklappten, auch das Bravo
verschiedener Zuschauer hervorriefen, die sich wie der
Amtsvorsteher, der Doktor und mein Vater ein wenig abseits im
Hintergrunde hielten. Ich selbst hatte mich bis dicht an den
Eingang des Theaters vorgedrängt. Was ich von meinem günstigen
Platze am meisten bewunderte, war die Szenerie, die sich zeigte,
als das als Vorhang dienende bunte Tuch vor Beginn des letzten
Aktes zurückgeschlagen wurde. Der Hintergrund stellte eine
unbegrenzte Sandwüste vor, und die Einfachheit des Gegenstandes
gestattete es der Dekorationsmalerei, nicht ungeschickt die
Einbildungskraft zu unterstützen. Die Kulissen waren mit einigen
kümmerlichen Palmen bemalt, das Ganze in ein gelbes Licht getaucht.
Frieda betrat in einem weiten, grauen Gewände, mit von der Furcht
angehaltenen Schritten, die Szene. Sie war mit ihrem Geliebten in
diese Einöde verbannt, der Mann hatte irgendeine Expedition
unternommen und sie allein gelassen. Ihr großer Monolog fiel von
matten und verbrannten Lippen, und gleichmäßig wie der Sand, der in
dem gelben Licht die Dünen hinabzurieseln schien. Bei aller Roheit
der Ausführung lag eine gewisse Stimmung in der Szene, für meine
abenteuerlustige Phantasie und für die grobe, an den Blick auf das
Meer und auf weite Flächen gewöhnte Einbildungskraft dieses
Publikums bereitete sie auf fabelhafte Dinge vor. Die
Schauspielerin hatte begonnen, eine gehobene Stelle ihrer Rede mit
weiter ausgreifenden, stumm verzweifelten Gesten zu begleiten, als
sie die in großem Schwünge vor das Gesicht geschlagenen Hände mit
einem Ausdruck zurückzog, der die Erfüllung einer schmerzlichen
Ahnung anzuzeigen schien. Zugleich ließ sich in dem Räume hinter
der zweiten rechtsstehenden Kulisse ein dumpfes, unheilvolles
Brüllen vernehmen, und der Löwe hielt, mit zögernden, der freien
Bewegung ungewohnten Schritten, seinen Auftritt. Er wurde mit
keinem Ausruf, weder des Schrek-kens noch der Überraschung,
empfangen. Warerausdem von der Wärterin bei ihrem letzten
flüchtigen Besuche schlecht verschlossenen Käfig entkommen und
hatte, an der Außenseite der nächststehenden Gebäude
herumschleichend, das ins Freie geöffnete Scheunentor gefunden?
Oder lag hier ein toller Dressierversuch vor? Die letztere
unsinnige Annahme lag uns ebenso fern wie die andere, natürliche.
Jedes, auch das allgemeinste Urteil war gelähmt, in seltsamster
Weise die Hingabe an den Augenblick und an die Illusion
vorbereitet. Für mich wenigstens war die Grenze zwischen dem wachen
Leben und einer gesetzlosen Traumwelt vollständig ausgelöscht; aber
wie ich später meinen Vater sagen hörte, war sie auch für ihn in
jenem Augenblick stark verwischt.Meiner Spannung wurde durch die
Haltung der beiden Handelnden, des Mädchens und des Löwen, nichts
von ihrer Fieberhaftigkeit genommen. Die Unglückliche hatte ihre
fatalistisch tragische Pose nicht verloren, ihre Arme waren schlaff
herabgesunken, sie war sogar einen Schritt auf die Bestie
zugetreten, zweifellos, wie man sich später sagte, um auf die
gewohnte Weise ihre Macht über den Löwen auszuüben. Er aber kam von
seiner blutigen Mahlzeit und fühlte sich frei: ihre Herrschaft war
gebrochen. Sie mußte es verstanden haben, denn sie ging, von dem
Tiere mit längeren, schon zu Sprüngen werdenden Schritten gefolgt,
um eine der papierenen Palmen herum, sich stets im rechten Winkel
kurz umwendend, wohl mit der Absicht, einen größeren, über das Ziel
hinausgetanen Satz des Tieres zum Entkommen zu benutzen. Die
überlegteste Darstellung hätte keine anderen Bewegungen gefunden
als hier die von der höchsten Lebensnot geschärfte
Geistesgegenwart. Es war ein stiller, fürchterlicher Kampf, der
nicht von Dauer sein konnte. Sie blieb schwer atmend stehen, und
ihr Blick, den sie nicht von dem Verfolger gelassen, erhielt einen
namenlosen Ausdruck; es zog sich darin wie der Krampf einer
übermenschlichen Willensanstrengung zusammen. Der Löwe zog sich
zwei Schritte zurück, dann schlich er vorsichtig um sie herum, bis
sie ihn nicht mehr sah. Sie versuchte sich zu wenden, sie
schwankte, da saß er ihr schon im Nacken. Es waren Sekunden gewesen
von der Art, von der nur ganz wenige aufeinander folgen können, die
aber dennoch nicht zu zählen sind. Ich hatte mir noch keinerlei
Vorstellung von dem Geschehen gebildet, als ich neben und hinter
mir alles schwanken, einige stürzen fühlte.Zugleich erhielt ich
selbst einen Ruck, der mich umwarf. Zwischen den gespreizten Beinen
eines Mannes hervor tauchte ich sofort wieder auf - wie das
Stehaufmännchen von seinem Blei, so ich von dem Instinkt in die
Höhe gerissen, daß noch nicht alles beendet sei. In dem Augenblick
aber, während ich die Szene aus dem Gesicht verloren, war das
übrige geschehen. Als ich wieder hinblickte, sah ich den Löwen mit
ausgestreckten Gliedmaßen auf der Seite liegen, und auf seiner
Flanke stand ein Fuß, es war der des Sergeanten Matthiessen. Das
andere Bein war weit zurückgeschoben, so daß sich der Mann steif
aufrechthalten konnte, obwohl sich seine Hand nahe am weit
aufgesperrten Maul der Bestie befand, in deren Rachen sein
Hirschfänger bis ans Heft steckte. Sein Kopf sah mit einer gewissen
steifen, steinernen Neigung auf das besiegte Tier nieder, die Brust
trat mächtig heraus mit einer unnatürlichen Anstrengung der
Muskeln. Wo hatte ich doch diese seltsame Haltung schon gesehen? Ja
wahrhaftig, das war ja das Bild Sankt Georgs des Drachentöters auf
der Mauer des Wachthauses.
Der Bann war gebrochen, und die Menge umringte mit lautem Schrecken
und Staunen die Bühne, auf der eine wirkliche Tragödie der
erdichteten gefolgt war. Durch die Anrufe schien der Sergeant zu
sich gebracht zu werden. Er ließ den Griff des Messers fahren,
seine steifen Glieder lösten sich, begannen zu zittern, er stand in
kläglicher Verwirrung da, seine runden Augen ganz ohne Verständnis
rollend.
Der Arzt, der sich von dem schrecklich verstümmelten Körper des
Mädchens zu ihm wandte, legte die Hand auf seine blaurote Stirn,
aus der das angestaute Blut plötzlich abfloß, und erklärte es für
ein Mirakel, daß den Mann nicht der Schlag getroffen habe. Wie er
das denn so schnell gemacht habe, fragte man ihn. - Ja, das sei so
gekommen, ja, er wisse selbst nicht. Ihm sei ganz verdreht zumut
gewesen, als ob er hab' Komedi spielen, aber doch was mächtig
Großes tun sollen, nur sei er gar nicht mehr er selbst gewesen,
sondern ganz ein anderer.
,- Ein Held', sagte feierlich der Amtsvorsteher. In dem Maße, wie
er sich erholte, leuchtete dem Sergeanten diese Auslegung, die zur
allgemeinen Meinung wurde, ein, und er fand bald ein naives
Vergnügen an dem schmeichelhaften Rufe, der ihm aus jener
Begebenheit erwuchs.
Kurze Zeit darauf erhielt er die Verdienstmedaille."
DAS STELLDICHEIN
Die Märchen erzählen von Königen, die sich
aufmachten, um eine Prinzessin zu freien, deren Existenz ihnen
nicht einmal verbürgt war, deren Namen ein Sänger vor ihnen genannt
hatte und um derentwillen sie über Einöden und durch Wälder irrten,
auf die Gefahr hin, von Hexen verzaubert oder von Drachen
verschlungen zu werden.
Der Maler Philipp Seegers hatte seit Jahren eine Frauenerscheinung
wie eine farbige Ahnung mit der Seele geschaut. Sobald er die
Akademie verließ, kannte er nur noch das eine Streben, sein Ideal
zu porträtieren. Denn er fühlte, daß sie irgendwo leben und daß
sie, oder vielmehr ihr Bildnis, sein Glück machen müßte. Ohne
Irrfahrten und Gefahren zu bestehen wie die Märchenkönige, denen er
nicht glich, fand er in der Tochter eines rheinischen Industriellen
diejenige, die seine geheime Erscheinung zu verkörpern schien, und
da er praktisch und korrekt wie ein junger Künstler war, entführte
er sie in Kürze als seine Frau nach München. Nach Ablauf des ersten
Ehejahres hatte er ihr Bildnis vollendet, mit dem es ihm seltsam
erging. Obwohl die Wangen seiner Frau schimmerten, wie das wolkige
Rot auf dem milchweißen Grunde des antiken Pfirsichmarmors
schimmert, obwohl ihr Nacken frisch war und ihre blauen Augen
süßträumerisch blickten, hatte das Porträt nichts von Marmorglanz,
denn es dämmerte wie in Schleiern, nichts von Frische und
Träumerei, denn der Hals, dessen Haltung oft so voll Ausdruck ist,
klagte von gedankenschwerer Trauer, und die grünlichen Augen waren
weit offen in eine blasse Welt von Angst gerichtet. Der Maler nahm
es sich zu Herzen, die gewollte realistische Auffassung verfehlt zu
haben. Aber seine Freunde erklärten das Bild, wenn schon ohne
Porträtwert, für ein koloristisches Geniewerk. Nach der
Ausstellung, auf der das Gemälde, das nun „Ein Traum" hieß, Erfolg
gehabt hatte, war der Ruf Seegers' als „eines der kräftigsten
Talente unserer aufstrebenden symbolistischen Schule" befestigt.
Auch auf dem Pariser Salon fand im folgenden Frühjahr das Werk
viele Beachtung, und ein Florentiner Kunstfreund bezahlte es hoch.
Als dieser es im Herbst in seiner Heimatstadt ausstellte, erfuhr es
dort eine so begeisterte Aufnahme, daß der Käufer den Künstler zu
sich entbot, um über weitere Aufträge mit ihm zu verhandeln.
Seegers kam und sonnte sich im Erfolge. Als er sich eines Tages von
den Freunden und Bewunderern, die ihn wochenlang umringt hielten,
bereits verabschiedet hatte, fühlte er sich unvermuteterweise zur
Abreise ganz unlustig, und es geschah nur halb unfreiwillig, daß er
den Zug versäumte. So kehrte er noch einmal und diesmal allein
zurück und schlug den Weg in die Cascine ein.
Die Cascine, ein Garten, der zwischen duftenden Hecken am Arno
weithin in blauenSonnendunst hineinzieht,dient der Florentiner
Gesellschaft und den eleganten Fremden nicht nur als Promenade,
sondern auch als ihr gemeinsamer Salon. Hier empfangen die Damen am
Wagenschlag den Besuch der Herren, und alle Welt kennt einander. Da
die distinguierten Europäer sich zu bestimmten Zeiten immer wieder
an denselben Orten zusammenfinden, so war es etwas Unerhörtes,
wovon Florenz noch lange gesprochen hat, an jenem Tage eine Fremde
von unzweifelhafter Vornehmheit zu bemerken, deren Namen niemand
wußte. Sie erntete gleichwohl, wie sie schlank und weiß
vorüberfuhr, fröstelnd unter dem Hermelinkragen, den sie trotz des
warmen Oktobertages über ihre blaßviolette Bluse gelegt hatte, hier
und da einen zögernden Gruß, den sie nachlässig erwiderte, ohne
hinzublicken. Nur einmal sah sie zur Seite, und ihre Augen trafen
genau in die eines Mannes, der allein an einem Tisch auf der
Terrasse des Restaurants Doney saß. Jener stutzte, und während er
langsam sein Haupt entblößte, hielt er ihren Blick so fest, daß sie
gezwungen war, den Kopf ein wenig zu wenden, als ihr Wagen bereits
vorüber war.
Wie dieselbe Fremde am Abend verspätet bei der Hoteltafel erschien,
fand sie den Platz zu ihrer Linken von eben dem Herrn eingenommen,
der sie so aufmerksam begrüßt hatte. In freier Art, wiewohl
unmerklich nervös, redete sie ihn an.
„Wir sehen uns nicht zum ersten Male, doch weiß ich wirklich nicht,
ob die Begrüßungen, die ich während der Promenade erfuhr, ohne
Verwechslung mir galten, da ich seit zehn Jahren nicht in Florenz
war." „Gnädige Frau dürfen gar nicht daran zweifeln", entgegnete
ihr Nachbar. „Man wagt Sie bereits mehr oder weniger als eine
bekannte Erscheinung anzusehen, da Sie der weiblichen Figur auf
einem vielleicht zu sehr gelobten, zur Zeit hier ausgestellten
Gemälde in frappanter Weise gleichen, ja, sie sind." „Der Name des
Malers?" fragte hastig die Dame. „Philipp Seegers."
„Das ist sonderbar." Sie wiederholte: „Das ist
sonderbar", und während sie wie abwesend vor sich hin sah, schenkte
sie, vielleicht ohne daran zu denken, dem Fremden ihr Vertrauen,
indem sie mit der eintönigen und zuweilen pfeifenden Stimme der
Brustkranken sagte: „Der Name, den Sie soeben nannten, ist vor mir
erst einmal ausgesprochen, aber ich habe ihn nicht vergessen. Ich
lebe im Sommer sehr einsam auf meiner Besitzung nahe der russischen
Grenze. Ich erinnere mich, es war am Tage vor meiner Abreise, als
meine Gesellschafterin mir aus dem ,Figaro' eine Notiz vorlas, die
besagte, daß jenes Bild von Philipp Seegers, das auf dem letzten
Salon ein so eigenartiges Interesse erregt habe, nun auch in
Florenz mit Begeisterung aufgenommen sei. Warum, weiß ich nicht,
aber ich bekam Lust, das Werk zu sehen, und obwohl mir jede
Änderung meiner Lebensgewohnheiten recht lästig fällt, habe ich
doch diesmal meine Reise von Venedig nicht sofort nach Brindisi und
Kairo fortgesetzt, sondern den beschwerlichen Umweg über Florenz
gemacht, eigentlich nur dieser sinnlosen Laune zuliebe."
„Das ist sonderbar", murmelte nun auch der Fremde, ohne seine
Nachbarin anzusehen. Beim Verlassen derTafel wurde die Dame von der
Direktrice der Pension aus dem Saal geleitet. Diese sagte: „Gnädige
Frau sind mit dem Platz neben Herrn Seegers zufrieden?"