Kapitel 45

Ian summte ein Lied. Er kannte die Weise nicht, die andere Hälfte seines Sinns schon. Doch jene Hälfte konnte nicht singen. So war es eine neue Erfahrung für sie beide. Die Melodie hallte von den Wänden wider, verband sich mit dem Tropfen des Wassers und dem Gurgeln der Rinnsale. Nach einem Weilchen hörte er auf zu singen und versuchte, sich zu konzentrieren. Es war schwierig. Sie hatten nur einen Verstand, und sie wollten selten das Gleiche.

„Du wirst mich nicht bekommen, weißt du“, sagte er in die Einsamkeit.

„Ich habe dich schon“, antwortete seine eigene Stimme. „Von dir ist nicht viel übrig, und wehren kannst du dich nicht. Nicht einmal überleben kannst du ohne mich.“

Ein trockenes Gegacker ertönte aus Ians Mund und wandelte sich in ein gezwungenes Kichern.

„Du ohne mich auch nicht. Glaub ja nicht, ich wüßte das nicht.“

Er begann wieder zu singen. Diesmal kannte er das Lied, und dafür war er dankbar. Er würde nicht aufgeben. Er war Schotte und stolz darauf. Er würde sich nicht beugen.

Einen Monat lang hatte er nichts gegessen. Es war nicht nötig gewesen. Das Salz, die Luft und das Lied des Wassers hatten ihn am Leben erhalten. Nur Menschen brauchten geregelte Mahlzeiten.

„Ich bin ein Mensch!“ fuhr er auf und unterbrach sein Lied.

„Du bist tot“, entgegnete er. Ein Alptraum liebkoste seinen Sinn und zog sich dann frustriert zurück.

„Nein. Ich könnte tot sein; ohne dich wäre ich es, aber ich lebe. Tot nütze ich dir nichts. Sie werden mich finden. Meine Eltern werden jemanden schicken, möglicherweise sogar Onkel Aengus.“

„Niemand ist gekommen, und es kommt auch keiner. Nimm dein Schicksal an! Es ist doch nicht schlecht. Du kannst immer noch mit deinesgleichen reden. Wie vorhin.“

„Meinesgleichen, eben. Ich bin ein Mensch. Menschen sind wie ich. Wer war das Mädchen?“

„Es geht durch den Berg. Sein Herz ist schwer. Es brauchte einen Traum von Geborgensein und Liebe. Den haben wir ihm geschenkt.“

„Gibst du allen Menschen die Träume, die sie brauchen?“

„Wir werden den Menschen Träume geben, die ihr Schicksal beeinflussen und ihre Gefühle zurechtschnitzen.“

„Du bescherst Alpträume.“

„Das Gute kommt stets mit dem Schlechten. So ist das Leben.“

„Du bist kein Mensch. Was weißt du denn schon vom Leben?“

„Menschen sind nicht die einzigen Wesen, die ein Leben haben oder dessen Wert kennen. Jede Kreatur träumt. Sogar die Berge – auf ihre Art. Manchmal, weit weg, spucken sie ihre Alpträume aus wie flammendes Blut.“

„Du meinst Vulkane.“

„Ich meine Leben.“

„Du bist Salz.“

„Salz ist in allem, und ich bin nicht nur Salz.“

„Ich will nicht bleiben. Warum willst du mir nicht hinaushelfen? Wir könnten zu mir nach Hause gehen, und du könntest dort neue Berge kennenlernen und andere Menschen, denen du Träume schicken kannst.“

„Ich bin Teil dieses Landes“, entgegnete die Stimme in ihm.

„Aber ich nicht“, gab Ian zurück. „Ich kann nicht ewig in der Dunkelheit überleben, und wenn ich das nicht kann, kannst du das auch nicht.“

„Du kannst lange im Dunkel überleben – mit meiner Hilfe.“

„Du könntest unter Menschen gehen, durch Städte spazieren – mit meiner Hilfe.“

„Dein Horizont ist zu beschränkt, als daß du wissen könntest, wovon du redest.“

„Du bist zu feige, um die Beschränkung deines eigenen Horizontes zu erkennen.“

Sie schwiegen.

Ian stand auf. Er hatte es wieder gelernt. Sein Leib schmerzte, seine Knochen wollten vor Anstrengung bersten, seine Muskeln kreischten geradezu. Doch er zwang sich, zu stehen und zu gehen, einen Schritt, dann noch einen und noch einen.

„Ich kann laufen. Also werde ich von hier fortgehen“, sagte er.

„Du könntest fliegen. Auf den Kraftlinien der Gefühle, auf der Macht der Liebe – und des Hasses und der Angst. Du könntest die Träume der kleinen, kurzlebigen Fleischhaufen im Flug besuchen. Fliegen ist reizvoller als gehen.“

„Du bist nie geflogen“, antwortete Ian verächtlich. „Du hast den Berg nie verlassen. Du warst nie draußen. Nicht körperlich.“

„Die körperliche Welt wird überschätzt. Sie ist nur ein kleiner Aspekt des riesigen Gesamtangebotes des Seins. Ihr Menschlein krabbelt auf der Erde herum und versteht gar nichts.“

„Ich verstehe viel. Eventuell nicht genug, aber ich kann lernen, und du auch. Stell dir vor, Städte voller Menschen. Du könntest mit dem wundervollsten Mädchen im Saal tanzen und es von dir träumen lassen.“

„Von dir, meinst du wohl. Mädchen, Knaben – ein und dasselbe.“

Ian ignorierte diese Äußerung.

„Wäre das nicht schön? Du könntest die Liebe in ihren Augen sehen und das Begehren in ihr fühlen. Du könntest ihr einen Traum senden, der sie zu dir bringt.“

„Zu dir, meinst du. Du würdest eine Gabe, die so alt ist wie die meine, dazu verwenden, dich mit Mädchen zu versorgen?“

„Ja und? Mädchen sind immer verführt worden, von dem Tag an, an dem Eva den Apfel ...“ Er hielt inne, auf einmal sicher, daß er keine religiösen Details mit dem Monster, das in seinem Körper lebte, diskutieren wollte.

„Eva ...“ murmelte die andere Stimme. „Der erste Sündenbock der Menschheit.“

„Die Mutter der Menschheit“, gab Ian ungestüm zurück.

„Möglich“, räumte die Stimme ein. „In der Endlosigkeit der Universen gibt es gewiß einen Ort, an dem sie das ist. Würdest du sie gern sehen?“

„Sehen? Eva?“

„Ja. Die Frau mit der Vorliebe für frisches Obst.“

„In einem Traum? Nein. Ich will nicht die Mutter der Menschheit in einem Traum sehen. Ich will meine eigene Mutter wiedersehen – in der Realität.“

„Deiner Religion nach hat sie den gleichen Charakter wie Eva, gibt den gleichen Versuchungen nach und ist auch immer noch Sündenbock für die Männer.“

„Hör auf!“ befahl Ian ärgerlich. „Das ist Gotteslästerung.“

Ein Lachen kam über seine Lippen.

„Ich bin Gotteslästerung“, sagte er.

„Ich bin ein guter Christ.“

„Du bist ein halber Feyon. Das Gefäß eines Mythos. Der Kelch meiner Existenz. Deine Mutter würde dich nicht wiedererkennen, und bald wird von deinem Glauben wenig übrig sein. Na Daoine-Maithe haben nie gelernt, Dogmen zu verstehen. Es ist so nutzlos.“

„Aber du weißt, was es ist“, konstatierte Ian interessiert – und gleichzeitig amüsiert ob seines Interesses. So jung, dachte er und begriff dann, daß dies nicht seine Gedanken waren.

„Ich habe deine Erinnerungen“, erläuterte sein Alter Ego.

„Warum habe ich dann deine nicht?“

„Weil du nur ein Mensch bist.“

„Ach, auf einmal? Was bist du denn dann? Ein Halbmensch!“ Er triumphierte.

„Werde nicht frech!“

„Betrüge dich nicht selbst! Was immer du warst, du bist jetzt Teil von mir. Ein kleiner Teil. Ein Anhängsel.“

„Kein Anhang. Ich bin der Inhalt. Du bist nur die Hülle.“

„Dreh mir nicht die Worte im Mund herum!“

Abermals schwiegen sie ein Weilchen.

„Warum ist das Fräulein im Berg?“ fragte Ian dann und ließ sich seufzend nieder.

„Er hat einen Eingang verschlossen. Sie ist gefangen. Sie reist mit einem jungen Verwandten von mir. Er meint es gut – was recht überraschend ist –, aber er wird sie früher oder später töten.“

„Nein. Wird er nicht!“ widersprach Ian starrköpfig. „Der junge Mann wird sie noch rechtzeitig retten.“

„Oh, der hat andere Träume“, antwortete seine eigene Stimme, „und er hat längst aufgehört, sich von ihnen leiten zu lassen. Er denkt, Liebe sei eine unwirkliche Vorstellung. So etwas geschieht, wenn man die Realität für wirklich hält. Eure Art läßt sich so schnell von zu viel Wirklichkeit blenden. Du hast ihr Herz an ein Nichts gebunden. Er glaubt nur, was er sieht, und er sieht ihre Not nicht. Er wird sie zu Grunde gehen lassen.“

„Nein!“ fuhr Ian auf. „Das lasse ich nicht zu.“

„Was willst du denn dagegen tun? Du kannst Menschen nicht träumen lassen. Du kannst Menschen nicht nach deinen Plänen handeln lassen. Dir ist nur wichtig, ein Fräulein nach einem Tanz verführen zu können.“

„Aber nicht sie.“ Sie hatte hübsch ausgesehen, war aber zu alt, mindestens einundzwanzig. Außerdem war sie zu groß. Ian war klein, und er hatte sie ja einem anderen Mann verbunden – oder sie hatten es beide getan. Er hatte ihre Liebe gespürt, und die Aufgabe hatte ihm Freude bereitet. Auch die Liebe des Mannes hatte er gespürt, wachsam, bedeckt und versteckt, eingekerkert hinter einem starken Willen und eiserner Zurückhaltung. Doch sie war da.

„Dann nicht“, entgegnete die Salzstimme. „Du kannst sie ohnedies nicht haben. Sie gehört dem Bluttrinker. Sie ist sein. Seine Fang, seine Beute, sein Überleben. Er wird sie nehmen. Sie hat nicht die Macht, ihm zu widerstehen.“

„Doch, die Macht der Liebe.“

„Was für eine Macht soll das sein?“ fragte der andere hochnäsig.

„Die Macht, die dir erlaubt, durch Menschengedanken zu gleiten, während sie schlafen. Das hast du selbst gesagt. Ich denke, es ist eine ganz außerordentliche Macht.“

„Sie gibt mir als Feyon Kraft über die Menschen – aber nicht umgekehrt.“

„Jetzt liebt sie aber den Blonden.“

„Sie hat ihn vorher auch schon gemocht, bevor du ihre Herzen aneinander gekettet hast. Es war leicht.“

„Doch ich habe es getan.“

„Nein, ich. Du willst nur ein Mensch sein, erinnerst du dich? Das ist alles. Du willst nach Hause gehen, willst, daß dein Onkel dich abholt. Du willst, daß deine Mutter dich in die Arme schließt. Du träumst von hübschen Fräuleins, mit denen du tanzt. Du willst meine Macht nicht. Hast du das nicht gesagt?“

Ian schwieg eine Weile. Es war schwierig, mit sich selbst zu streiten, verunsichernd, mit Argumenten geschlagen zu werden, die aus dem eigenen Kopf kamen. Der Teil von ihm, der nicht er selbst war, war so viel älter, und obwohl er nicht glaubte, daß er auch viel klüger war, einfach nur, weil Ian nie an die unanfechtbare Klugheit derer geglaubt hatte, die schon länger lebten als er selbst, fand er sich dennoch mitunter schachmatt gesetzt. Er war ehrlich genug zuzugeben, daß er sich das selbst zuzuschreiben hatte. Er hätte der Verlockung widerstehen müssen, Macht auszuüben, die ihm nicht zustand. Jetzt sehnte er sich danach. Das konnte er nicht wegdiskutieren. Von einem Wissen hatte er gekostet, das nicht für ihn bestimmt war, und jetzt wünschte er sich, in das Schicksal der Menschen einzugreifen, dabei konnte er noch nicht einmal sein eigenes ändern. Er konnte nicht einmal hier heraus.

„Ich will heim.“

„Du bist daheim. Das wird dir bald klar werden. ‚Heim‘ ist ein Gemütszustand und nicht abhängig von geographischen Gegebenheiten.“

„Trotzdem kannst du den Berg nicht verlassen. Ich finde einen Weg hier raus, und wenn du nicht aus meinem Sinn verschwindest, nehme ich dich eben mit.“

„Wenn du gehst, wird das Fräulein sterben.“

„Hast du nicht gesagt, sie stirbt ohnedies?“

„Nichts ist endgültig.“

„Gut“, sagte Ian. „Das heißt, daß ich irgendwann hier herauskomme und du hier bleibst, und das Mädchen ...“

„Das Mädchen wird von meinem hungrigen jungen Vetter ausgesaugt, der erst ihren Körper und dann all ihr Blut besitzen wird.“

„Du hast gesagt, er meint es gut.“

„Tut er. Doch er ist, was er ist, und er weiß das.“

„Nichts ist endgültig“, konterte Ian.

„Trotzdem ändert sich fast nie etwas“, gab sein Kopf zur Antwort.