»Und nun wollen Sie in die USA?« Hawkins setzte sich, schob ein Päckchen Zigaretten über den Tisch und lehnte sich zurück. Good night, liebe Maud, dachte er. Dieser Russe kostet uns fünf Stunden Zärtlichkeit. Und gerade heute bin ich so gut in Form.

»Ich will nach Deutschland«, sagte Dimitri glücklich.

Major Hawkins atmete auf. »Da sind Sie hier falsch, Mister Sotowskij. Hier ist die US-Botschaft. Sie müssen zur deutschen Handelsmission gehen.«

»Da komme ich her.«

»Und?«

»Sie sind alle im Hotel ›Arab‹. Vor morgen neun Uhr …«

»Und Sie haben es eilig?«

»Ich werde überwacht.«

»Sind Sie eine berühmte sowjetische Persönlichkeit?« Major Hawkins überflog rasch die Namen der russischen Personen, die in den Listen der Prominenten verzeichnet waren. Soviel er sich erinnern konnte, war ein Sotowskij nicht genannt. »Sind Sie ein großer Wissenschaftler?«

»Nein. Ein kleiner Ingenieur.«

»Sie werden politisch verfolgt?«

»Nein. Ich habe eine gute Stellung in Tiflis.«

Major Hawkins zuckte nervös mit den Schultern. »Sie sind Antikommunist?«

»Nein! Ich bin ein guter Kommunist. Ich habe sogar ein Parteidiplom.«

»Und warum wollen Sie dann in den Westen?«

»Ich liebe ein deutsches Mädchen.«

»O Jammer!« Major Hawkins kratzte sich den Haaransatz. Ein schmalziger Liebesroman in natürlicher Größe, abends um 21 Uhr. Und Maud wartet im ›Arab‹ und hat sich bestimmt den tiefen Ausschnitt mit Maiglöckchenparfüm eingesprüht. Das roch dann wie eine Frühlingswiese, wenn er den Kopf darauf legte. O Maud …

»Ich kann bleiben?« fragte Dimitri fast demütig. Seine schwarzen Augen bettelten. Major Hawkins leckte sich über die Lippen. Er hatte Mitleid mit diesem großen Russen in dem schlecht sitzenden Leihsmoking, aber die Diplomatie hat nun einmal gewisse Formen und Gesetze. Entscheidungen aus dem Handgelenk treffen nur Genies. Ehrlich, wo gibt es heute noch Genies in der Diplomatie?

»Bleiben können Sie«, sagte Hawkins. »Aber nur als Gast. Ich lasse Ihnen ein Zimmer geben hier im Haus, wo Sie warten können. So einfach ist das nämlich gar nicht. Sie wollen nie mehr nach Rußland zurück?«

Dimitri senkte den Kopf. Welche Frage, dachte er. Wie kann man einem Russen eine solche Frage stellen? Ich gehe in ein anderes Land, jawohl, aber im Herzen verlasse ich Rußland nie. Wie kann man Mütterchen Rußland vergessen? Nur ein Amerikaner kann so etwas fragen.

»Ja«, sagte er leise. »Ich will in Deutschland bleiben.«

»Dann werden wir Sie morgen vormittag an die Deutschen weitergeben.« Major Hawkins sah Dimitri mit einem leichten Kopfschütteln an. Er sieht nicht aus, als ginge er fröhlich in den freien Westen, dachte er. Er macht eher den Eindruck, als verbanne man ihn aus Rußland in eine Sklaverei. »Hat im Hotel jemand Ihren Weggang bemerkt?«

»Als ich ging, nicht. Jetzt wird man mich sicherlich vermissen.«

»Und keiner ahnt, wohin Sie sich gewandt haben?«

»Nein. Man wird vor einem Rätsel stehen. Ich gelte als ein treuer, guter Kommunist.«

Major Hawkins ließ Dimitri in den zweiten Stock der Botschaft führen, wo einige Gastzimmer waren. Ein Nachtwächter brachte ihn hoch.

Ein merkwürdiger Mensch, dachte Hawkins, während er die letzten Meldungen abzeichnete, in der Nase schon das Maiglöckchenparfüm von Mauds Kleiderausschnitt. Bittet um Asyl und ist stolz darauf, ein guter Kommunist zu sein.

Der Mann wird es schwer haben im Westen. Er sollte lieber in Rußland bleiben.

Oben, in dem kleinen Zimmer, legte sich Dimitri, so wie er war, aufs Bett und starrte gegen die niedrige Decke. Nur die Smokingschleife löste er und öffnete den etwas engen Kragen.

Der zweite Schritt in die Freiheit war schwerer als der erste gewesen.

Der Westen, die sogenannte ›freie Welt‹, wartete nicht auf ihn, das sah und merkte er jetzt. Und erschreckend erkannte er, daß es unmöglich sein würde, eine neue Heimat zu finden. Wo immer er auch sein würde, auch in den Armen Bettinas – es würde immer nur ein Asyl sein.

Die Heimat blieb Rußland.

Man kann sie nicht ablegen wie ein schmutziges Hemd.

Und es war Dimitri, als sammelten sich in seinem Mund die Tränen an, die seine Augen nicht weinen wollten.

*

Der Leiter der sowjetischen Handelsmission in Beirut, der häßlich bebrillte Genosse Andreij Safonowitsch Schejin, geriet in große Not, als er seine Tifliser Schäfchen um sich versammelte und feststellte, daß einer, der schöne Dimitri Sotowskij, fehlte. Und gerade mit Sotowskij hatte Schejin etwas vor; er sollte Tischherr der ägyptischen Prinzessin Sharifa werden, denn der Kontakt zu den ägyptischen Einkäufern für Landmaschinen war nicht fließend genug. Der Ehemann Sharifas aber, ein Kriegsakademiekamerad Nassers, saß an der Stelle, an der man den Einkauf von Traktoren unterschrieb. Ein galanter Mann wie Sotowskij konnte schon durch seine bloße Anwesenheit viel erreichen.

»Wo ist Dimitri Sergejewitsch?« frage Schejin und blinzelte die anderen Ölfachleute an. Professor Swinzow, der, allen Alterserscheinungen spottend, in Beirut seine Potenz entdeckt hatte, flirtete mit einer rassigen Dame, die durch die Halle kam. Schejin stieß ihn an. »Wo ist Sotowskij?« schrie er unhöflich.

»Auf seinem Zimmer, was weiß ich?« Swinzow atmete tief auf. Diese Kultur der Weiber im Westen, dachte er. Diese Raffinesse in Kleidung und Bewegung.

»Er war doch eben noch hier?«

»Vielleicht ist er auf dem Lokus?«

Man wartete. Aber Sotowskij kam nicht wieder. Als einer der Ölleute den faden Witz machte, Dimitri hätte sich doch wohl nicht mit hinuntergespült, rannte Genosse Schejin in die Toiletten und rief mehrmals den Namen Sotowskijs.

Schwitzend vor Angst lehnte sich Schejin an die gekachelte Toilettenwand. Nur das nicht, dachte er zitternd. Himmel, nur das nicht! Laß ihn mit einem Weibsstück weg sein, soll er in einem Bordell die Möbel zertrümmern, möge er besoffen in der Gosse liegen … man kann das ausbügeln wie eine zerknitterte Hose. Aber weg sein, einfach weg, womöglich unter dem Schutz einer westlichen Macht, das war auch für den Genossen Schejin das Ende einer erfolgreichen und schönen Laufbahn.

Im großen Saal tanzte man. Der Sekt perlte in den schlanken hohen Gläsern. Am Ehrentisch brachte der amerikanische Botschafter einen Toast aus auf Ralph Bunche und seine Bemühungen um den Frieden der Welt. Fotoreporter und Wochenschauen filmten.

Und zur gleichen Zeit flüchtet ein russischer Experte aus den Armen seines Mütterchens Rußland.

»Seien Sie völlig unbefangen«, sagte Schejin, als er aus der Toilette zurückkam in die Halle, wo die Ölleute aus Tiflis noch immer herumstanden. Professor Swinzow war sogar unruhig. An der Tür zur Bar wartete die schöne Dame auf ihn. Sie wechselten Blicke, und in Swinzow blähte sich das Herz wie eine aufgeblasene Schweinsblase.

»Dem Genossen Sotowskij ist es schlecht geworden. Er verträgt keinen Sekt. Er ist auf sein Zimmer gegangen.«

Die Russenversammlung löste sich auf. Professor Swinzow verschwand in der Bar und wurde erst am nächsten Mittag wiedergesehen, hohläugig und bleichwangig, aber mit glühenden Augen.

»Diese Weiber!« rief er ein ums andere Mal. »Ein Vulkan ist blubbernder Pudding dagegen! Diese Rasse, diese schmiegsamen Körper, diese Ausdauer – Genossen, man merkt immer zu spät, daß die Welt nicht nur aus Berechnungen und wissenschaftlichen Experimenten besteht.«

*

Schneller, als sie es für möglich gehalten hatte, saß sie Jurij Alexandrowitsch Borokin gegenüber und fand ihn so nett und höflich, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Niemand wußte, daß Agnes Wolter sich auf den Weg gemacht hatte zur sowjetischen Botschaft in Rolandseck, um als Mutter zu versuchen, mehr zu erreichen als alle Diplomaten.

Wolfgang hatte Dienst an der Zonengrenze für einige jener Tage, über die man nicht sprach und von denen außer einem kleinen Kreis Eingeweihter niemand wußte, was während derselben geschah. Borokin interessierte sich sehr dafür und wartete auf die Rückkehr Wolters und seinen Bericht.

Die Abwesenheit ihres Sohnes hatte Agnes Wolter zum Anlaß genommen, mit einer Taxe von Bonn nach Rolandseck zu fahren und sich bei Borokin zu melden. Irene Brandes war in Köln und kaufte ein; so störte niemand den Alleingang Agnes Wolters, von dem sie sich alles versprach. Sie haben alle eine Mutter, ob Deutsche, Russen, Chinesen oder Schwarze, und lieben sie. Nichts ist stärker als die Mutterliebe, denn sie alle waren ja einmal Kinder und haben nicht vergessen, wie sie an der Hand der Mutter durch ein Märchenland gegangen sind.

Borokin ließ Agnes Wolter nicht eine Minute warten. Er unterbrach sofort ein Telefongespräch, schickte die Sekretärin mit den Akten hinaus und bestellte starken Kaffee mit Zucker und Schlagsahne. Alte Damen trinken so etwas gern; oft schrumpft ihre Welt zusammen zu einer Tasse Kaffee, in deren Aroma alle Erinnerungen eines Lebens liegen.

»Es freut mich, die Mutter eines Freundes zu sehen«, sagte Borokin geschmeidig und küßte Agnes Wolter sogar die Hand, was sie sehr verlegen machte, denn nur dreimal hatte jemand ihr in ihrem Leben die Hand geküßt. Zweimal ein Vertreter einer kleinen Frottierhandtuchfabrik, der etwas verkaufen wollte, und einmal der Bürgermeister von Göttingen bei einer Gedenkfeier für die Opfer des Krieges.

»Es wird sofort ein Kaffee gebracht. Sie trinken doch Kaffee, gnädige Frau?«

»O danke, ja … sehr … danke.« Agnes Wolter setzte sich in einen Sessel und sah Borokin gütig an. Ein feiner Mensch, dachte sie. Ein offener Blick. Manieren. Man kann Vertrauen zu ihm haben. Wolfgang sieht ihn ganz falsch, aber das ist seine Jugend. Wo soll die Jugend Menschenkenntnis herhaben? Eine Mutter sieht das ganz anders. Sie fühlt den guten Menschen.

»Ich wollte mit Ihnen über Bettina sprechen«, sagte Agnes Wolter ohne lange Einleitungen. Sie war es gewöhnt, ehrlich an die Dinge heranzugehen. Wozu umschweifende Worte, wenn man alles so klar sagen kann? »Bettina ist bei Ihnen in Rußland, durch diesen schrecklichen Unglücksfall in Tiflis …«

»Ganz recht, gnädige Frau.« Borokin nahm der Sekretärin, die hereinkam, das Tablett ab, winkte mit den Augen, die Tür schloß sich, und Borokin bediente eigenhändig die etwas verhärmte Agnes Wolter.

Es ist alles falsch, was man über die Russen sagt, dachte sie. Alles nur Hetzpropaganda. Es sind liebe, zuvorkommende Menschen. Ich werde es Wolfgang einmal ganz deutlich sagen müssen.

»Ein guter Kaffee«, sagte sie nach dem ersten Schluck. Viel Schlagsahne hatte sie genommen. Borokin lächelte still. Es war ein zufriedenes Lächeln … aber an seine eigene Mutter dachte er nicht.

»Ihre Tochter ist in Moskau. Gesund und munter.«

»Das ist schön.« Agnes Wolter holte aus der schwarzen kleinen Wildledertasche auf ihrem Schoß ein Taschentuch. Nicht weinen, dachte sie. Nein, du darfst nicht weinen. Auch nicht vor Freude, daß Bettina lebt und gesund ist. Du mußt tapfer sein, Agnes.

»Warum lassen Sie sie dann nicht zurück nach Deutschland?« fragte sie geradezu.

Borokin setzte sich ihr gegenüber und rauchte eine Zigarette an. »Das ist nicht so einfach. Wenn es nach mir ginge … sofort, gnädige Frau. Aber die Politik!«

»Meine Tochter ist eine einfache Stewardeß.«

»Gewiß. Aber in dem abgestürzten Flugzeug befand sich antisowjetisches Propagandamaterial. Flugblätter, Hetzzeitungen, Spottbilder. Das muß erst geklärt werden.«

»Das wußte ich nicht«, sagte Agnes Wolter leise. »Das hat mir auch niemand gesagt.«

»Ich habe das auch gar nicht anders erwartet.« Die Stimme Borokins war weich wie ein Streicheln. »Man wird sich doch nicht blamieren.«

»Weiß die Fluggesellschaft DBOA es?«

»Natürlich.«

»Auch sie haben mir das verschwiegen.«

»Es ist eine Gemeinheit, eine sorgende Mutter in solcher Ungewißheit zu lassen.« Borokins Stimme zitterte wahrhaftig voll Bitterkeit. »Wir Russen tun alles, um diese peinliche Affäre aus der Welt zu schaffen. Aber darüber vergeht eben Zeit, weil der Westen so unehrlich ist. Leidtragende sind Ihre Tochter Bettina und Sie, verehrte gnädige Frau. Ich drücke Ihnen mein tiefstes Mitgefühl und die Empörung meiner Regierung aus. Ihre Tochter ist ein Opfer der immer uneinigen Politiker.«

»Und was soll nun werden?« fragte Agnes Wolter kläglich.

»Wir müssen warten, gnädige Frau.«

»Wie lange?«

»Ich hoffe, daß in ein paar Wochen alles vorbei ist und wir Ihre Tochter nach Deutschland fliegen lassen können.«

»Ein paar Wochen noch …« Agnes Wolter weinte nun doch, obwohl sie es nicht wollte. Aber die Erregung in ihr war stärker. Borokin ließ sie weinen, rauchte seine Zigarette und dachte an Wolfgang Wolter, der irgendwo an der Zonengrenze etwas Geheimnisvolles tat, was Borokin unruhig machte. »Darf sie denn Post empfangen?«

»Aber ja. Ihre Tochter ist doch ein freier Mensch in einem freien sozialistischen Land. Sie ist Gast der Sowjetunion; ein entzückender Gast außerdem.«

Agnes Wolter nestelte einen Brief aus ihrer Handtasche. Sie legte ihn auf den Tisch, und Borokin beugte sich vor, nahm ihn an sich und las die Anschrift ›Fräulein Bettina Wolter‹.

»Wenn Sie die Adresse ergänzen und den Brief weiterleiten könnten, Herr Borokin«, sagte Agnes Wolter. Sie hielt ein Portemonnaie in den Händen und drehte es nervös zwischen den Fingern. »Was kostet das Porto?«

»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau!« Borokin sprang auf und legte den Brief deutlich sichtbar auf seinen Schreibtisch. »Ihr Brief geht natürlich mit diplomatischer Kurierpost heute noch und kostenlos nach Moskau.«

»Mit Kurierpost …« Agnes Wolter sah Borokin dankbar an. Dann sprang sie plötzlich auf, streckte ihm beide Hände entgegen und hätte ihn fast umarmt. »Ich danke Ihnen«, rief sie, und die Tränen liefen ihr wieder über die Wangen. »Ich danke Ihnen. Sie sind ein so guter Mensch. Sie wissen, wie es einer Mutter ums Herz ist. Haben Sie auch noch eine Mutter?«

»Ja«, sagte Borokin. »In Kiew.«

»Und einen Vater?«

»Nein, er fiel bei der Eroberung von Danzig.«

»Auch mein Mann ist gefallen. In russischer Gefangenschaft gestorben.«

»Der Krieg ist ein Verbrechen, gnädige Frau«, sagte Borokin elegant. »Damit es diese Opfer nie mehr gibt, kämpfen wir jetzt um den Frieden.«

»Gott möge Ihnen dabei helfen!«

Agnes Wolter trank noch zwei Tassen Kaffee mit einem Berg Schlagsahne darauf; dann brachte sie Borokin selbst bis auf die Straße und zu der dort außerhalb des Botschaftsbereichs wartenden Taxe.

»Sie können ganz beruhigt sein«, sagte er zum Abschied. »Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.«

Agnes Wolter setzte sich glücklich in den Wagen, ja, sie winkte durch das Rückfenster, als der Wagen anfuhr. Und Borokin winkte zurück.

»Ein ausgesprochen netter Mensch!« sagte Agnes Wolter laut. Der Taxifahrer sah sie durch seinen Innenrückspiegel an. »Gehört alles zu deren Propaganda«, sagte er.

»Was wissen Sie davon, junger Mann?« Agnes Wolter lehnte sich aufgebracht zurück. »Sie glauben ja auch nur, was die Zeitungen schreiben.«

Borokin war in sein Büro zurückgegangen und wartete nun, bis die Sekretärin das Kaffeegeschirr abgeräumt hatte. Dann ging er hinter seinen Schreibtisch, nahm den Brief Agnes Wolters an ihre Tochter, las noch einmal die Anschrift, lächelte mokant und zerriß den Brief in kleine Fetzen. Aus der hohlen Hand ließ er die Schnipsel in den Papierkorb zu seinen Füßen regnen und schnalzte dann mit den Fingern.

Er hatte das Gefühl, nur noch wenig Zeit zu haben, denn irgendwann mußte Bettina einmal auftauchen. Dann war das große Spiel zu Ende. Bis dahin mußte man noch allerhand erreicht haben.

*

Nach sechs Tagen Segeln und Rudern, Segelsetzen und Taueziehen, bei Windflauten fahren und gegen die Wellen zu steuern, fühlte sich Kolka Iwanowitsch Kabanow stark genug, weiter und allein in die Freiheit zu fahren. Auch Agafonow war zufrieden; sein Lehrjunge hatte schnell begriffen, worauf es ankam beim Bootsführen.

»So wird bei einem guten Lehrer aus einem Rindvieh ein Meister«, sagte er, als er Kolka mit Meerwasser zum Schiffer taufte. »Du kannst jetzt segeln, Brüderchen! Beweise es, indem du die Küste anläufst und mich absetzt.«

Kolka tat es. In der Nacht erreichten sie die Küste so nahe, daß man sogar die Lichter verstreuter Häuser sehen konnte. Eine flache Küste war's, und Agafonow, der an der Bordwand stand und lotete, gab das Kommando, Anker zu werfen.

»Lebt wohl, Freunde!« sagte er, umarmte Kolka herzlich, küßte Bettina, schnallte sich einen Plastikbeutel mit seinen erworbenen Zigarren und Kognakflaschen vor die Brust und sagte sich im stillen, daß Kolka bei allen Qualitäten ein Idiot sei. Achthundert Rubelchen zu geben, zwei Pferde und einen Karren für ein Boot, das nicht mehr zu den rüstigen Dingen gehörte, sondern bei einem richtigen Sturm auf die Gnade Gottes angewiesen war.

»Was wirst du sagen, wenn du nach Hause kommst?« fragte Kolka, ehe Agafonow ins Meer sprang und die letzten paar hundert Meter bis ans Land schwamm.

»Die Wahrheit: Entführung, Erpressung, Mißhandlung. Ich werde mich bemitleiden und bewundern lassen, Freunde.« Agafonow grinste breit. »Bis dahin seid ihr längst in Sicherheit. Noch zwei Tage Fahrt nach Süden und ihr habt die persische Küste neben euch.«

»Das ist ein gutes Wort, Herzchen!« Kolka klopfte Agafonow noch einmal auf die Schulter, dann stellte sich dieser auf die Bordkante, streckte die Arme vor, rief »Hupp!« und schnellte ins Wasser. Nur Hemd und Hose trug er, und er schwamm wie ein Delphin, drehte sich noch einmal nach seinem Boot um, winkte Kolka und Bettina zu und strebte dann mit langen Schwimmstößen zum Land. Nach wenigen Metern hatte ihn die Nacht aufgenommen.

Nun waren sie allein auf dem Boot, Kolka und Bettina, zogen den Anker wieder ein, was ein verteufeltes Stück Arbeit war, denn die Winde war rostig und knirschte schauerlich. Dann drehte Kolka das Segel, wie er es gelernt hatte, und fuhr wieder hinaus aufs Meer. In genügender Entfernung zur Küste warf er den Treibanker über Bord, man trank noch einmal Tee und aß eine Büchse Gulasch, rollte sich in die Decken und wünschte sich eine gute Nacht.

Noch zwei Tage, und dann frei!

Was sind schon zwei Tage nach dem, was hinter ihnen lag!

Sie wurden geweckt von einem heftigen Schaukeln.

Über das Meer heulte ein um diese Jahreszeit völlig widersinniger Wind, die Wellen hatten Schaumkronen und waren so hoch wie die Bordwand, der Himmel war gar kein Himmel mehr, sondern sah aus wie das Meer: Grau und aufgewühlt, fleckig und tobend.

Kolka und Bettina hielten sich an den Stricken fest und bezogen ihre Positionen: Kolka am Ruderbalken, Bettina am Mast, um das Segel zu regulieren. Der Sturm peitschte den Gischt in ihre Gesichter, und das Boot tanzte wie ein Kosak um ein Lagerfeuer.

»Es weht richtig, das Stürmchen!« schrie Kolka durch das Brausen des Windes. »Nach Süden! Setz das Segel hinein, Töchterchen … mit diesem Wind sind wir in einem Tag in Persien!«

An der Leine knatterte das Segel hoch. Der Sturm ergriff es, blähte es, der Mast schwankte und bog sich, und dann wurde das Segel zu einem Ballon und das Boot schien über die Wellen zu fliegen.

»Hoij!« schrie Kolka und umklammerte seinen Ruderbalken. »Hoij! Das geht ja! Halt dich fest, Bettina!«

Bettina hatte den Mast umklammert und starrte auf das grüngrau schillernde Meer. Große Brecher, die über sie hinwegstürzten, hatten sie völlig durchnäßt, und nun begann auch noch ein Regen, der die Tropfen auf sie herunterpeitschte, und der Sturm drehte sich plötzlich, das Segel schlug zur Seite, das Boot legte sich schief.

»Scheiße!« brüllte Kolka. »Der Wind dreht! Er kreiselt, der Hund! Das Segel rum, Betti … das Segel rum, Kind … wir schlagen ja um!«

Bettina riß an der Leine, aber irgendwo klemmten die Rollen. Das Segel fiel nicht zusammen, sondern es blähte sich im Sturm, riß das Boot herum wie einen Kreisel, die Wellen brachen über Kolka und Bettina herein, die Kiste mit Agafonows Handharmonika wurde erfaßt und weggetragen in das tobende Wasser.

»Herunter mit dem Segel!« brüllte Kolka. Er konnte nicht helfen, er hing am Ruderbalken und versuchte, das Boot zu halten. Aber was nutzt ein dummes Ruder, wenn ein großes Segel tut, was es will?

»Es klemmt!« schrie Bettina zurück. Sie zerrte an den Leinen, sie warf sich in die Taue, aber es nutzte nichts. Das Segel lief nicht zurück, sondern wölbte sich wie ein Ballon.

»Kappen!« brüllte Kolka. »Kappen!«

»Ich habe kein Messer!« Der Sturm riß die Worte von Bettinas Mund. Brecher krachten über ihr zusammen, keine Luft bekam sie mehr, überall war nur tobendes Wasser, sie umfaßte den Mast, preßte sich an ihn und schloß die Augen.

Über ihr zerriß mit einem heulenden Laut das Segel und flatterte in Fetzen davon. Die Mastspitze brach und stieß neben ihr herunter in das Deck. Aber das war ein großes Glück für sie, denn nun hatte der Sturm keine Angriffsfläche mehr, das Boot verlor an Fahrt und wurde zu einem toten hölzernen Gegenstand, mit dem die Wellen machen konnten, was sie wollten.

Kolka hatte sich an den Ruderbalken mit einigen Stricken festgebunden. Er atmete kaum. Über ihn hinweg, von hinten, brachen die Wellen herein, und er hatte das Gefühl, sein Rückgrat würde zerstampft, Wirbel für Wirbel einzeln, Rippe nach Rippe. Er stöhnte, hielt sich am Ruder fest, stemmte die Beine gegen den Boden, hing in den Seilen.

Nie werden wir Persien erreichen, dachte er immer wieder. Nie! Nie! Im Kaspischen Meer werden wir ersaufen wie junge Katzen.

Sein Körper fiel nach vorn. Eine neue Welle. Sein Rücken schien zerfetzt zu sein. Er schrie gegen den Sturm an, und seine Augen quollen hervor wie bei einem Erdrosselten.

Dann plötzlich war alles wieder anders. Das Boot hatte sich gedreht. Keine Welle krachte mehr über das Deck … sie ritten auf dem Meer, wie in der Achterbahn war's … hinauf in die Höhe, dem Himmel entgegen … und dann hinunter in schwindelnde Tiefen … auf Wellenkämmen schwebten sie dahin, umspritzt von Gischt, rasten hinab in grünschillernde Täler, wurden emporgetragen wie auf einem riesigen Hebearm und sahen die geballten, jagenden Wolken näher und immer näher kommen, als würden sie hineingeschleudert in den tobenden Himmel.

Kolka Iwanowitsch richtete sich auf. Wie gefoltert kam er sich vor, und er wunderte sich, daß er noch sehen, hören und begreifen konnte.

Bettina hing an dem zerbrochenen Mast, ebenfalls mit Seilen umschlungen, umweht von dem Rest des zerfetzten Segels … ein schmaler, aufgeweichter, verkrümmter Körper, die Arme um das glatte Mastholz geschlungen und mit Augen, die leer vom überstandenen Grauen in das brüllende Meer starrten.

Der Wind hatte etwas nachgelassen, aber das Reiten auf den Wellen ging weiter, der Höhenflug und das Eintauchen in die grünschimmernde Tiefe. Ein Stück Holz waren sie ja, weiter nichts. Und das Meer spielte mit ihnen und brüllte vor Freude.

Sie lebt, dachte Kolka und lehnte sich zurück. Das Meer hat sie nicht weggenommen. Wir beide leben! Und am Horizont kriecht ein heller Streifen herauf. Die Sonne.

»Mein Gott!« sagte Kolka laut. »Manchmal erkennt man, daß es dich gibt …«

Und das Meer spielte weiter mit ihnen. Vier Stunden lang. Und als die Wellen länger und glatter wurden, lagen Kolka und Bettina in ihren Seilen, waren ohnmächtig vor Erschöpfung und sahen die Küste nicht, die langsam näher kam.

*

Es war ein schwerer Gang, den der Genosse Andreij Safonowitsch Schejin unternahm. Als es sich am Morgen herausstellte, daß Dimitri Sergejewitsch Sotowskij nicht das Opfer eines glutäugigen Beiruter Tanzmädchens, sondern das Opfer einer unverständlichen politischen Geistesverwirrung geworden war, meldete sich Schejin in der sowjetischen Botschaft von Beirut und erzählte dem Genossen Botschafter, was vorgefallen war.

»Unerklärlich ist das!« sagte Schejin und schlug die Hände zusammen wie ein Beckenschläger in einer Militärkapelle. »Er wurde aus Tiflis als ein treuer, als ein mustergültiger Genosse gemeldet. Zum Oberingenieur hatte man ihn vorgeschlagen. Ein junger, begeisterter Kommunist war er! Es ist undenkbar, daß er aus politischer Überzeugung sich in den dekadenten Westen abgesetzt hat. Ein Unglück muß passiert sein.«

Das Unglück klärte sich schnell auf.

Ein Mittelsmann in der amerikanischen Botschaft rief vom Bazar aus an. Im Gebäude der Botschaft befinde sich ein junger Russe und werde schon den ganzen Vormittag vom Militärattaché verhört.

»Aha!« schrie Schejin und tanzte durch das Zimmer wie ein von Ameisen Gestochener. »Die Amerikaner! Immer die Amerikaner! Da haben wir es! Entführt haben sie ihn! Und nun pressen sie aus ihm die neuen Raffinieranlagen in Tiflis heraus!«

Zwischen Beirut und Moskau gab es ein langes Telefongespräch. Im Außenministerium in Moskau war man etwas betroffen, mehr aber nicht. Abwarten, sagte man. Genauere Informationen bekommen. Wir werden in Tiflis einmal die Familie Sotowskij durchleuchten.

Und während Dimitri ein gutes Mittagessen bekam, aber nicht wußte, was weiter mit ihm geschehen würde, erschienen vor der Wohnung Kolka Iwanowitsch Kabanows drei Milizsoldaten, klingelten und traten die Tür ein, als sich niemand meldete.

Die Wohnung war so, wie Kolka und Bettina sie verlassen hatten. Nicht einmal staubig war sie, denn es waren ja gerade einige Stunden seit ihrem Weggang verstrichen. »Verreist sind sie«, sagte die Nachbarin, die neugierig in das Haus sah, weil der Jeep der Miliz vor der Tür stand. »Zu einer Tante oder sonst wohin. Nach Batum, sagte Kolka Iwanowitsch. Und sein Sohn, der Dimitri ist in Beirut.«

In der Wohnung fanden die Polizisten nichts, was nach Vaterlandsverrat aussah. Sie versiegelten die Tür und schrieben eine Meldung, daß hier ein Irrtum vorliegen müsse.

»Ich verstehe das nicht«, klagte Schejin, als ein Fernschreiben aus Tiflis eintraf und neue Rätsel aufgab. »Ein so lieber Mensch. Er muß verrückt geworden sein, plötzlich verrückt. Anders ist es nicht erklärlich, Genossen.«

Der liebe Mensch saß unterdessen in der deutschen Handelsmission und erzählte noch einmal seine Geschichte. Die Amerikaner hatten ihn zu den Deutschen gebracht, nachdem er auf die Frage: »Wollen Sie in die USA?« ebenso klar geantwortet hatte: »Nein. Ich will nach Deutschland.«

»Dann sind Sie hier falsch, Mister Sotowskij«, antwortete man, hielt sich nicht länger mit ihm auf und brachte ihn auf deutschen diplomatischen Boden.

»Das ist alles sehr wildbewegt, was Sie da erzählen«, sagte der Leiter der Handelsmission, der Sotowskij ausfragte, und musterte den jungen Russen nachdenklich. »Aber bevor wir Ihnen Schutz und Hilfe gewähren, müssen wir nachprüfen, ob Ihre Angaben auch stimmen. Sie können sich nicht ausweisen?«

»Nein«, sagte Dimitri. »Man hat mir ja meinen Paß bei der Ankunft in Beirut abgenommen.«

»Und Sie behaupten, die deutsche Stewardeß Bettina Wolter zu kennen und ihretwegen Rußland verlassen zu haben. Fräulein Wolter ist nach einer Notlandung in Tiflis zu Ihnen geflüchtet? Wieso überhaupt geflüchtet und wieso zu Ihnen? Hatten Sie früher schon Verbindung zu Fräulein Wolter?«

»Es war ein Zufall. Ich erklärte es Ihnen doch. An der Ölleitung, in der Nacht.«

»Natürlich, natürlich.« Der deutsche Bevollmächtigte nickte. Das hört sich an wie ein Roman, dachte er. Irgendwo habe ich so etwas auch schon gelesen. Aber wo? Er sah Dimitri forschend an, hob dann die Schultern und verließ das Zimmer. Dimitri blieb allein zurück mit drei Zigaretten und einer Flasche Sprudelwasser.

Andreij Safonowitsch Schejin sprang wie elektrisiert auf, als bei ihm das Telefon läutete und sich die deutsche Handelsmission meldete. Ein Beamter der Mission bat darum, ihn mit dem Delegationsmitglied Sotowskij zu verbinden.

»Haben wir nicht!« rief Schejin mit Trompetenstimme. Dabei zuckte sein Herz. Die Deutschen! Was haben die Deutschen mit Sotowskij? Sollte es doch politisch sein? Er begann zu schwitzen und verfluchte die Politik, die den Menschen doch nur Ärger und Aufregung bringt und im Grunde genommen doch nur ein Windei ist, ohne das man existieren könnte. Mit Ausnahme der Politiker, die diese Windeier bebrüten.

»Nie gehört!« schrie Schejin ins Telefon. »Wer soll das sein?«

Die deutsche Handelsmission entschuldigte sich und beendete das Telefongespräch. Schejin aber rief sofort die eigene Botschaft an und äußerte den Verdacht, daß eine große Schweinerei in der Geburt sei und er nichts, gar nichts dafür könne. Er habe Sotowskij nicht ausgesucht zur Delegation, und überhaupt die Genossen in Tbilisi … was die herübergeschickt hätten! Zum Beispiel diesen Professor Swinzow, den man gegen Morgen aus einer üblen Hafenkneipe habe herauskommen sehen, seine Hose in der Hand und unten herum nichts.

Dimitri Sotowskij wurde in der deutschen Handelsmission in das Wartezimmer gebracht. Dort lagen auf runden Tischchen Zeitungen und Bildbändchen aus Deutschland, an den Wänden hingen Fotos deutscher Landschaften, und Dimitri sah sie genau an, denn zum erstenmal hatte er Gelegenheit, ein Bild Deutschlands zu betrachten.

»Bitte, warten Sie hier«, sagte ein Sekretär, zeigte auf die Sessel, die herumstanden, und ließ Dimitri allein.

Dimitri wartete viele Stunden. Niemand kümmerte sich um ihn. Er blätterte alle Bücher durch, las mühsam, denn so gut beherrschte er Deutsch noch nicht, etwas von der Lüneburger Heide, von den ostfriesischen Inseln, von der Schwäbischen Alb, betrachtete die schönen Bilder und fand, daß Deutschland ein schönes Stück Erde sein müßte, wenn alles so aussah, wie es abgedruckt war.

Schließlich verspürte Dimitri Hunger und war durstig. Er meldete sich aber nicht, um die deutschen Beamten nicht zu erzürnen. Erst am Abend erschien wieder der Leiter der Mission und war weniger höflich als um die Mittagszeit. Er hatte ein paar Fernschreiben in der Hand und sah Sotowskij mißmutig und geradezu verächtlich an.

»Halten Sie uns für Idioten?« fragte er, als Dimitri bei seinem Eintritt aufsprang und hörbar aufatmete.

Dimitri war verwirrt. »Ich würde das nie behaupten«, sagte er ratlos. »Wieso fragen Sie so etwas Unschönes?«

»Wir haben Ihre Angaben gründlich überprüft.« Der Beamte warf die Fernschreiben auf den Tisch, mit einer Bewegung, die ausdrückte: Na siehst du, uns führst du nicht hinters Licht. Da müssen andere kommen. Und die sind noch nicht geboren, die uns hinters Licht führen. »Bei der Delegation, der Sie angehören wollen, kennt man keinen Dimitri Sergejewitsch Sotowskij.«

»Das ist unmöglich«, stotterte Dimitri. »Ich bin doch hier. Ich lebe doch! Ich bin doch mit dem Flugzeug von Tbilisi nach Beirut geflogen. Auf Kosten meines Staates.«

»Es stimmt, daß ein Flugzeug der DBOA in Tiflis notlanden mußte und dabei zerstört wurde. Wir haben bei der Fluggesellschaft in Hamburg angefragt.«

»Sehen Sie?« sagte Dimitri glücklich.

»Aber …«, der Deutsche sah Dimitri scharf an, »… die Stewardeß Bettina Wolter ist tot. In den Trümmern verbrannt.«

»Bin ich wahnsinnig?« sagte Dimitri leise. »Mein Herr, bin ich wahnsinnig? Ich habe Wanduscha selbst an der Ölleitung überwältigt, ich habe sie ins Haus gebracht, ich … ich … Sie lebt doch! Ihr Bild war in allen Zeitungen! Damit sie nicht erkannt wurde, haben wir ihr die Haare gefärbt. Die Meldungen, die Sie haben, müssen falsch sein.«

»Aus Deutschland kommen keine falschen Meldungen!« Der Beamte nahm die Fernschreiben und faltete sie erregt zusammen. »Herr Sotowskij, oder wie Sie heißen mögen, ich finde es unerhört, sich mit Lügen hier einzuschleichen, einen diplomatischen Apparat in Bewegung zu setzen und auch noch so zu tun, als seien Sie ein Opfer und nicht ein Betrüger, der politische Situationen ausnützt, um einen billigen Vorteil zu erlangen.«

»Ich verstehe Sie nicht …«, sagte Dimitri verwirrt und strich mit zitternden Händen über das Gesicht. »Mein Herr … ich schwöre es Ihnen, beim Andenken meiner Mutter – ich bin der Ingenieur Sotowskij aus Tbilisi, und meine Braut ist die deutsche Stewardeß Bettina Wolter.«

»Lassen Sie die Faxen!« Der Beamte steckte wütend die Papiere in die Rocktasche. »Verlassen Sie bitte die Handelsmission.«

»Aber … aber … wo soll ich denn hin?«

»Woher Sie gekommen sind!«

»Man wird mich in Tbilisi sofort wegen Landesverrates in ein Straflager stecken.«

»Bitte, unterlassen Sie es endlich, mir den politischen Flüchtling vorzuspielen!« Der Missionsleiter schlug gegen seine Rocktasche. »Hier haben wir die einwandfreien Beweise, daß Sie lügen. Halten Sie mich nicht auf mit Ihren unverschämten Lügen! Man sollte Sie der Polizei übergeben.«

»Mein Herr!« Dimitris Augen wurden starr. »Was soll ich denn tun? Ich habe keinen Paß mehr, keine Heimat, kein Geld, keine Kleidung, nur diesen geliehenen Smoking. Ist das denn kein Beweis genug? Wenn ein Mensch in einem Smoking flüchtet … hat er dann nicht einen großen Grund?«

»Ich habe mich an meine Anweisungen und an die Recherchen zu halten, die vorliegen.« Die Stimme des Deutschen klang kalt. »Bitte, gehen Sie!«

Dimitri verzichtete auf weitere Worte. Er schob ein Buch beiseite, auf dessen Einband stand: ›Das gastliche Deutschland‹, und ging in die Eingangshalle. Bevor er das Gebäude verließ, drehte er sich noch einmal um und schüttelte den Kopf. Sein Blick war wehmütig, wie der eines Kindes, das man von einer Wiese vertreibt, auf dem es so fröhlich mit einem Ball gespielt hat.

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte er. »Ich bin doch Dimitri Sergejewitsch Sotowskij. Warum glauben Sie den anderen und nicht mir?«

Dann ging er, den Kopf nach vorn gesenkt, mit hängenden Armen, ging die Straße hinunter, zwischen Palmen und Agavenhecken, bis die Nacht ihn aufnahm wie einen schmalen Schatten.

Er ging ins Nichts.

Der Leiter der Handelsmission schloß die Tür, sah auf seine Armbanduhr und knurrte etwas von verlorenen Stunden. Man darf ihm das nicht übelnehmen. Zuviel wird im Orient betrogen, und sehr kritisch muß man sein, um aus vielen Lügen die wenige Wahrheit herauszuschälen. Eine Zwiebel, sagt man, hat sieben Schalen, bis der eigentliche Kern kommt – eine Lüge hat hundert, und der Kern der Wahrheit ist klein wie ein Mohnkorn.

Es war die Tragik Dimitris, daß Lüge und Verschleierung der Wahrheit dicker waren als hundert Zwiebelschalen.

*

Die Nachrichtenübermittlung zwischen Wolfgang Wolter und Jurij Alexandrowitsch Borokin stockte. Oberleutnant Wolter war seit vierzehn Tagen irgendwo an der Zonengrenze und schwieg. Das machte Borokin nervös, denn so viel Zeit die russische Diplomatie sonst hat und sich mit der Uhr verbündet, die auf ihrer Seite ist – was bedeutet für einen Russen schon ein Jahrzehnt? –, so eilig war es jetzt, die Spanne zwischen Verschwinden und Wiederauftauchen dieser Bettina Wolter auszunützen. Daß die Lüge, Bettina befände sich in Moskau, einmal platzen würde wie ein morscher Ballon, war Borokin klar; aber bis zu diesem Ereignis mußte man wissen, was in den Wäldern entlang der Zonengrenze geschah und welche psychologischen Propagandamittel eingesetzt wurden, um die Bewohner der DDR ideologisch zu unterhöhlen.

Wolfgang Wolter schwieg. Borokin sah ein, daß es unmöglich war, an ihn heranzukommen, und daß auch der Oberleutnant keine Möglichkeit hatte, sich bei ihm zu melden. Aber Irene Brandes war greifbar. Sie konnte zum Drehpunkt aller Nachrichten werden, zu einer Zwischenstation zwischen Bonn und Moskau.

Borokin handelte so kalt, wie es in seiner Natur lag. Er bestellte Irene Brandes in die sowjetische Botschaft und bewirtete sie mit Krimwein und Buttergebäck. Ein lauer Sommerabend war es; über den Rhein strich ein warmer Wind; von Bonn her zog eine Flotte weißer, mit bunten Lampen illuminierter Schiffe den Strom hinauf.

Abendfahrt zum Siebengebirge mit Tanz.

Restauration an Bord.

Singen und Schunkeln.

Warum ist es am Rhein so schön …

Wenn das Wasser im Rhein gold'ner Wein wär' …

Der Gesang klang hinüber bis zu dem weißen Schlößchen unterhalb des Rolandsbogens. Borokin stand am Fenster seines Büros und wippte auf den Zehenspitzen.

»Das Leben ist schön, Irene«, sagte er.

»Was wollen Sie von mir, Borokin?« Irene Brandes hatte sich widerwillig gesetzt. Eigentlich war sie nur gekommen, um zu sagen, daß dies ihre letzte Begegnung mit Borokin sein würde. »Ich habe den Kontakt mit Wolfgang Wolter ermöglicht. Es ist meine letzte Arbeit für Sie. Und Sie haben versprochen, daß danach meine Mutter freigelassen wird.«

Borokin nickte. Er trat ins Zimmer zurück und schloß das Fenster. »Ihre Mutter befindet sich bereits in der Nähe der Grenze.«

»Ist das wahr?« Irene sprang auf. Alle Vorsätze, hart mit Borokin zu sprechen, jetzt ihrerseits Forderungen zu stellen, waren mit diesem einen Satz wie weggewischt. Ihr Herz zuckte, und sie spürte, wie das Zucken sich auf ihrem Gesicht fortsetzte.

»Habe ich jemals gelogen?« fragte Borokin ruhig.

»Wo ist meine Mutter?«

»In Eisenach.«

»O Gott!« Irene preßte die Hände gegen ihre Brust. »Wann … wann kann ich sie abholen? Wo kommt sie herüber. Bei Bebra? Oder über Hersfeld?«

»Wo ist Wolfgang jetzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie lügen! Sie bekommen Post von ihm.«

»Keine Karte!«

»Was hat er Ihnen erzählt über seinen Einsatz?«

»Nichts.«

»Irene, Sie kennen mich.« Borokin lächelte mokant. »Man kann mich mit dem nichtssagenden Wort Nichts nicht abspeisen. Sie sollten sich solche Dummheiten endlich abgewöhnen. Unter Verliebten redet man mehr, als es normale Menschen tun. Verliebtsein ist eine Art Rauschzustand. Was hat Ihnen Wolfgang über seinen Einsatz an der Zonengrenze erzählt?«

»Ich schwöre Ihnen – nichts!« Irene Brandes rang die Hände. Mutter, dachte sie. In Eisenach. So greifbar nahe und doch so fern wie auf einem anderen Stern. Wenn sie schon in Eisenach ist, heißt das, daß man sie freiläßt?

Borokin hob die Schultern. »Es muß ein merkwürdiges Liebesverhältnis zwischen euch herrschen«, sagte er anzüglich. »Geheimnisse bleiben geheim bis ins Bett. Das ist eine alte Weisheit.«

»Wir haben andere Themen, über die wir uns unterhalten«, sagte Irene Brandes hart.

»Bedauerlich. Sie machen in letzter Zeit viele Fehler, die ich von Ihnen bisher nicht gewöhnt bin.« Borokin umkreiste seinen Schreibtisch; er schien auf etwas zu warten, sah öfter auf das Telefon und dann auf seine Uhr. »Sie wissen also nicht, wo sich Wolter zur Zeit befindet?«

»Nein.«

»Und wenn Sie krank werden? Wenn seiner Mutter etwas passiert – wie wird er benachrichtigt?«

»Über das Ministerium, nehme ich an.« Irene hob die Schultern, sie wußte es wirklich nicht. »Wir haben diese Möglichkeit nie in Erwägung gezogen.«

»Aber Borokin denkt daran.« Jurij Alexandrowitsch lächelte zufrieden. »Nehmen wir an, Sie werden plötzlich sehr krank.«

»Ich fühle mich sehr gesund, Borokin.«

»Sie haben ein schwaches Herz, Irenuschka. Ihr Kreislauf ist labil. Sie bekommen einen Kollaps. Man muß Oberleutnant Wolter rufen … wie geschieht das wohl?«

»Über seine Dienststelle.«

»Versuchen wir es mal?«

»Nein!« sagte Irene Brandes laut. Sie warf den Kopf in den Nacken und preßte die schönen, vollen Lippen zusammen. »Ich spiele nicht mehr mit!«

Borokin wollte eine Antwort geben, aber das Telefon unterbrach ihn. Mit einem diskreten Schnarren zerriß es die wie mit Elektrizität geladene Stille. Die gepflegte Hand Borokins legte sich breit über den weißen Hörer.

»Meine Antwort …«, sagte er ruhig. »In fünf Minuten wollen wir uns weiter unterhalten.«

Er nahm den Hörer ab und blickte zur Decke, als er sich meldete.

»Das ist schön«, sagte er. »Ja, sie steht neben mir. Ich danke Ihnen, Genosse, daß alles so vorzüglich klappt.«

Er hielt den Hörer Irene hin und nickte ihr zu, als sie mit ungläubigen starren Augen auf die Hörmuschel blickte.

»Für Sie, Irene. Ein Ferngespräch.«

»Für mich? Hierher? Wolfgang …? Aber das ist doch nicht möglich.«

Mit steifen Beinen ging sie die drei Schritte bis zu Borokin und nahm ihm den Hörer ab. »Ja?« sagte sie, und ihre Stimme schwankte vor Erregung. »Ja? Hier Irene.«

Und dann fuhr es wie ein Schlag durch sie … sie schrie auf, umklammerte das Telefon mit beiden Händen, und Borokin schob ihr einen Stuhl hin und drückte sie an den Schultern auf den Sitz.

»Irene … Kind …«, klang ganz weit weg eine Frauenstimme. »Irene … hier ist Mutti …«

»Mutti …«, stammelte Irene Brandes. Ihr Kopf fiel nach vorn auf die Tischkante, aber sie hielt den Hörer am Ohr, und so lag sie mit der Stirn auf dem Tisch, hatte die Augen geschlossen und hörte die Stimme ihrer Mutter aus einem Land, das so nahe und doch so unendlich weit weg war. »Kind, wie geht es dir?« fragte die Stimme. »Bist du gesund? Ich habe gehört, du hast eine gute Stellung. Stimmt das?«

»O Mutti … Mutti …« Irene weinte laut. Sie richtete sich auf, sprang vom Stuhl, und die Tränen liefen ihr über das verzerrte Gesicht, während sie Borokin ansah, der sich eine Zigarette anzündete. »Wo bist du jetzt?«

»In Eisenach, mein Kleines. Ich soll bald freigelassen werden. Sie haben mir gesagt, daß alles ein Irrtum gewesen sei. Wie ich mich freue! Nur die Formalitäten dauern noch etwas.«

»Wie geht es dir?« Irenes Stimme war kaum hörbar, sie ertrank im Schluchzen. »War … war es schlimm?«

»So etwas fragt man nicht«, sagte Borokin ruhig. »Wie können Sie darauf eine Antwort erwarten. Ihre Mutter ist doch nicht allein im Zimmer. Sie lassen in der Logik, in der Einschätzung der Realität nach, Irenuschka.«

»Mir geht es gut«, sagte die Frauenstimme in Eisenach. »Ich habe nie zu hungern brauchen. Sie waren alle höflich zu mir. Nur große Sorge hatte ich um dich, mein Liebling.«

»Ich … ich bin glücklich, Mutti.« Irene nagte an den Lippen. Stark sein, sagte sie sich vor. Ganz stark sein. Nicht mehr weinen. Der erste Schock war vorüber. Nun heißt es, klar zu denken. Nicht aus purer Menschlichkeit hat Borokin dieses Gespräch vermittelt.

»Ich habe mich verlobt, Mutter«, sagte sie gefaßt. »Mit einem wunderbaren Mann. Er ist Oberleutnant der Bundeswehr. Ich bin so glücklich, Mutti.«

Borokin legte die Zigarette weg. Die Wandlung Irenes überraschte ihn. Er hatte gehofft, daß die Erschütterung so tief gehen würde, daß ein willenloses Bündel Mensch nach diesem Gespräch auf dem Stuhl hockte … eine Rohmasse, die er wieder zurechtkneten konnte, wie er es wollte. Statt dessen bekam sie einen harten, entschlossenen Blick, das Weinen erlosch nach einem kurzen, trockenen Schluchzen, als habe man es abdrehen können, und ihre Haltung drückte Widerstand aus. Widerstand gegen die Schwäche, auf die Borokin gesetzt hatte.

Ohne Erklärung legte Borokin seine Hand auf die Gabel und unterbrach das Gespräch.

»Was soll das?« rief Irene Brandes und warf den Hörer auf den Tisch. Eine Ecke splitterte ab. Als Borokin die Hand wieder hob, ertönte grausam laut das Rufzeichen des Amtes.

»Genug mit Mutti!« sagte Borokin hart. »Ich wollte nur beweisen, daß Ihre Mutter in Eisenach ist.«

»Morgen kann sie schon wieder in Berlin oder in Moskau sein … was bedeutet das?«

»Sie bekommen einen Herzanfall und lassen Wolfgang Wolter benachrichtigen.«

»Nein!« schrie Irene und ballte die Fäuste. »Nein! Nein!«

»Ich muß wissen, wo Wolfgang sich befindet, und ich muß ihn unbedingt in den nächsten zwei Tagen sprechen.«

»Ich spiele nicht mehr mit!« schrie Irene verzweifelt. »Sie sind ein Teufel, Borokin! Ein Teufel!«

»Wir sind alle Teufel, Irene. Wir müssen es sein, um in dieser Welt leben zu können, die zur Hölle geworden ist.« Borokin rauchte seine Zigarette weiter und ging zurück zum Fenster. Unten auf dem Rhein umfuhren die Schiffe mit den bunten Lichterketten die Insel Nonnenwerth mit dem weißen Kloster. Im Scheinwerferlicht strahlte romantisch die Ruine Drachenfels.

»Spätestens übermorgen ist Wolfgang Wolter hier. Wie Sie das einrichten, überlasse ich Ihrer weiblichen List, oder Ihre liebe Mutti wird zurückgebracht nach Berlin-Karlshorst.«

Irene Brandes schwieg. Bleich wie eine Wachsfigur stand sie wenig später unten am Rhein und starrte in die schmutzigen Wellen, die auch im Mondlicht nicht einladender wirkten.

Die Augen zu und sich hinabfallen lassen, dachte sie. Nur ein paar Sekunden dauert die Angst, zerreißt einen der Todeskampf, dann ist alles vorbei und herrliche, göttliche, ewige Ruhe umgibt einen.

Sie beugte sich vor, die Arme vor der Brust gekreuzt, und das Wasser gurgelte, und drüben um die Insel fuhren die weißen, fröhlichen Schiffe und spielte eine Kapelle zum Tanz.

Noch ein paar Zentimeter, dann ist das Gleichgewicht verschoben, dachte sie. Dann wird das Wasser aufspritzen, und ich werde den Mund aufreißen und das Wasser schlucken und schreien, schreien und keiner wird mich hören, denn von den Schiffen fliegt das Lachen über den Rhein und übertönt der Gesang aus Hunderten von Kehlen die letzten Laute eines einsamen Menschen.

Eine Hand berührte sie. Sie zuckte zusammen, aber dann griffen zwei Hände ihre Schultern und zogen sie zurück.

»Komm«, sagte eine Stimme. »Laß uns nach Hause fahren.«

»Wolfgang!« Sie fuhr herum, sie wollte aufschreien, aber er legte ihr die Hand auf den Mund und preßte sie an sich. »Wolfgang …«, schrie sie in seine Handfläche. »Wieso bist du hier? Wo kommst du her?«

»Ich bin schon seit drei Tagen hier«, sagte er und führte sie zu ihrem Wagen, der auf einem kleinen Parkplatz am Rhein stand. »Ich erkläre dir das alles später. Komm jetzt nach Hause.«

Er trug sie fast die wenigen Meter bis zum Wagen, und als sie in den Polstern saß, fiel ihr Kopf nach vorn und sie weinte haltlos.

Schnell fuhr Wolfgang Wolter nach Bonn zurück.

Jurij Alexandrowitsch Borokin wäre nicht so fröhlich gewesen, wenn er dies beobachtet hätte. So aber saß er zufrieden bei einem Glas Kognak auf der Terrasse der Botschaft, sah über den nächtlichen Rhein und das hell glitzernde Bad Honnef und kam sich wie ein Sieger vor.

Daß er der Verlierer war, erkannte er erst viel später.

Zu spät.

*

Wohin geht ein Mensch, der nichts mehr ist und nichts mehr hat? Der aus dem Osten floh und vor der Mauer des Westens zerschellte, der keinen Namen mehr hat, dem niemand mehr glaubt, der nur einen alten, geliehenen Smoking auf dem Leib trägt und in der Tasche genau 123 Rubel und 19 Kopeken? Wohin geht ein solcher Mensch?

Das ist eine berechtigte Frage, denn Dimitri Sergejewitsch Sotowskij wußte darauf keine Antwort, obgleich es ihn ja anging und im wahrsten Sinne des Wortes eine lebensnotwendige Frage war. Zurück zum Hotel war unmöglich, denn ein Hotel, in dem Schejin wohnte, war kein internationaler Boden mehr. Es gab Schrankkoffer genug, mit denen man einen unliebsamen Menschen aus dem Hotel bringen kann, und keiner ist da, der zu einem sowjetischen Diplomaten sagt: »Bitte, öffnen Sie den Koffer!« Es wäre gegen alle diplomatischen Abmachungen, eine Verletzung der Immunität. Auch wenn die Immunität dazu dient, ein Verbrechen zu decken.

Als erstes wandte sich Dimitri zum Hafen; wo sollte er auch hingehen? Ihm war bewußt, daß die Regierung in Tiflis, das Ölkombinat, das Ministerium in Moskau längst über die Flucht des Genossen Sotowskij unterrichtet waren, daß man die Wohnung durchsucht hatte und eigentlich nicht wußte, warum das alles geschehen war. Er ahnte, daß auch in Beirut die Agenten des KGB alle Hotels überwachten und es darum unmöglich war, sich ein Zimmer zu suchen, um diese Nacht in aller Ruhe zu verbringen und die Lage genau zu überdenken.

Im übrigen verstand er wirklich nicht, was man mit ihm getan hatte. Gut, die Amerikaner hatten ihn den Deutschen weitergereicht, denn er wollte ja nach Deutschland. Aber was der deutsche Beamte ihm vorgelesen hatte, war eine Lüge, und er begriff einfach nicht, wieso man einer Lüge mehr glaubte als ihm, der aus Liebe zu einem deutschen Mädchen seine Heimat, seinen Beruf, seine gute Zukunft verlassen hatte.

Für Dimitri Sotowskij kam jetzt die Zeit des Wartens. Wenn Väterchen Kolka und Bettina die Flucht aus Tiflis glückte, würden sie nach Beirut kommen. Das war besprochen, und so blieb es. Zu dreien würden sie dann wieder zur Handelsmission gehen und sich vorstellen: Seht, da sind wir! Wieso ist Bettina Wolter tot? Hier ist sie! Und wir wollen nach Deutschland, in die Freiheit, in ein neues Leben. Und dann mußte man ihnen glauben, denn ein lebender Körper ist mehr wert als ein Stückchen amtliches Papier.

Der gute, liebe, treuherzige, glaubenswillige, idiotische Dimitri. So saß er also in der Nacht, angetan mit einem zerknitterten Smoking, am Hafen, kaufte sich von einem Limonadenhändler einen Becher süßer, klebriger Limonade aus Orangen, und sah über die schaukelnden weißen Leiber der Schiffe und den Wald von Mastbäumen und Takelwerk.

Wie lange würden sie brauchen, Kolka und Wanduscha, dachte er. Über die türkische Grenze … in vier Tagen müßte es gelingen. Bei einem Umweg über Persien … zwei Wochen. Eine lange Zeit, wenn man sie abwarten muß. Mit 123 Rubel und 19 Kopeken in der Tasche und einem Smoking auf dem Leib. Ohne Paß, ohne die einzige Empfehlung seiner ehrlichen Absichten, als den treuen Blick seiner Augen und seine Beteuerung: Ich bin ein ehrlicher Mensch. Ein Akademiker bin ich sogar! Und das Opfer eines Irrtums bin ich, vielleicht auch das Opfer eines Mißtrauens; denn was ich zu erzählen habe, zu unglaubwürdig klingt es, Brüder. Aber, bei der Seele meiner Mamuschka, es ist die Wahrheit!

Es mochte gegen ein Uhr morgens sein, da fand Dimitri in der Nähe des Badestrandes eine Bar, die noch geöffnet hatte und einem Russen gehörte. Sie nannte sich ›Datscha‹, diese Bar, hatte einen Eingang aus verkitschten byzantinischen Bögen, und aus dem Inneren klang Balalaikamusik. Allerdings spielte man keine Lieder vom Don oder der Wolga, sondern amerikanische Songs auf russische Art. Sie war eine Fremdenattraktion, diese ›Datscha‹.

Auf einem gläsernen Parkett tanzte hier jede Nacht Darja, die ›schönste Russin von Astrachan‹ und warf ihre Kleider den Männern an den Kopf, bis sie nichts mehr anhatte als einen roten Stern im Bauchnabel. Das gefiel den Gästen, und Ilja Matwejewitsch Pikalow, dem Besitzer, füllte es die Kassen.

Machte es etwas aus, daß Darja, das schöne Vögelchen aus Astrachan, Monika Kepmeier hieß und aus Oelde in Westfalen stammte? Wer fragt danach, wenn nur ein roter Stern im Bauchnabel schillert?

Dimitri Sotowskij betrat die ›Datscha‹, nachdem er dem Portier in altrussischer Kosakenuniform einen Rubel gegeben und mit »Frieden und Freiheit, Brüderchen!« angeredet hatte. Der Portier gab keine Antwort, denn er kam aus Brisbane in Australien und hatte keine Ahnung von russischen Vokabeln. Dagegen empfing in der kleinen Garderobe Ilja Matwejewitsch Pikalow den neuen Gast, und musterte verdrossen den zerknitterten Smoking und schätzte ihn als einen mittelmäßig finanzkräftigen Touristen aus dem Balkan ein.

»Eine Dame, Monsieur?« fragte Ilja und überlegte, wer in der Preislage des neuen Gastes noch frei sei.

Dimitri winkte ab und sah Ilja etwas gequält an. »Kann ich Sie allein sprechen, Bürger?« fragte er leise. Ilja Pikalow zog den Kopf etwas ein, einen dicken, vollgefressenen, richtig kapitalistischen Kopf, und sah Dimitri aus rotumränderten grauen Mausaugen an.

»Ein Landsmann?« fragte er, drängte Dimitri aus der Garderobe durch eine Tapetentür in einen dunklen Flur und von dort in ein Büro, an dessen Wänden große Fotos nackter Tänzerinnen der ›Datscha‹ klebten. »Was soll's? Was wollen Sie? Woher kommen Sie?«

»Aus Tbilisi, Freund.« Dimitri setzte sich auf einen der ledergepolsterten Stühle. »Ich bin geflüchtet.«

»Krumme Dinger gemacht, Herzchen?«

»Nein. Ich bin politischer Flüchtling.«

Ilja Matwejewitsch Pikalow hob den Blick zur Decke. Politisch, dachte er. Immer diese Idealisten. Denken, im Westen fliegen ihnen die gebratenen Tauben in den Hals und die Weibchen liegen wie die Hühnchen aufgereiht auf der Theke und man kann sie aussuchen nach Farbe und Form. Was sie sich denken, die Brüder im Osten. Keiner wartet auf sie. Jeder ist froh, wenn er selbst genug zu beißen hat, und der Westen ist nicht golden, Brüderchen, o nein, er ist blutig, denn der eine ist des anderen Feind, und er bringt ihn um für weniger als dreißig Silberlinge. Welch ein harmloser Stammler war da Judas!

»Und was nun?« fragte Pikalow. »Was soll ich mit deinen Problemen?«

»Brauchst du einen Kellner, Ilja Matwejewitsch?« fragte Dimitri zurück.

»Bist du ausgebildet?«

»Nein. Aber wenn nach der Revolution Großfürsten Taxis fuhren und Großfürstinnen Geschirr spülten, kann das ein Dimitri Sotowskij auch.«

»Ich brauche jemanden, der morgens die Bar putzt und die Toiletten schrubbt.« Ilja Matwejewitsch setzte sich seufzend hinter den Schreibtisch und sah seine nackten Fotomädchen an. »Alles kannst du hier bekommen, Brüderchen. Tänzerinnen, Kellner, Barmädchen, Schwule, Lesbierinnen … sie führen dir alles vor, brauchst nur zuzusehen und zu sagen: Engagiert! Aber einen, der die Toiletten schrubbt – keine Seele!«

Dimitri Sotowskij nickte. Ihm war alles gleichgültig. Nur ein Dach über dem Kopf, ein Bett zum Langliegen, ein paar Geldstücke, um nicht zu verhungern. Es war ja nur für eine kurze Zeit, vielleicht zwei Wochen, wenn's hoch kam.

»Ich tue es, Ilja Matwejewitsch. Wenn du ein Bett für mich hast.«

»Natürlich. Aber du wirst einsehen, daß mit dieser Stellung keine Reichtümer zu erwerben sind. Und was soll der Smoking, Freund? Häng ihn weg! Es geht doch nicht an, daß ich einen Mann beschäftige, der im Smoking die Toilette schrubbt. Man wagt ja nicht zu pissen, wenn du so herumläufst.«

Dimitri lachte, aber es war ein bitteres Lachen. Er trank mit Ilja zum Einstand noch ein großes Glas Krimsekt, und als er den unverkennbar halbsüßen, würzigen Geschmack des Sektes auf der Zunge spürte, kamen ihm wieder die Tränen in die Augen, denn er schmeckte nach Rußland … die Heimat, die er nun nie wiedersehen würde.

»Wo willst du hin?« fragte Ilja Matwejewitsch. »Bleibst du in Beirut? Was hast du gelernt?«

»Ich bin Ölingenieur.«

»Aha! Also nach Amerika oder in den Irak?«

»Nein. Ich will nach Deutschland.«

»Nach Deutschland?« Ilja Matwejewitsch Pikalow schüttelte den fetten Kopf, erhob sich, hieb Dimitri auf die Schulter und sagte: »Komm mit. Ich zeige dir den Männerlokus. Nach Deutschland! Bist du ein armer Idiot, mein Freundchen.«

*

Das Boot trieb auf dem sich schnell beruhigenden Meer und schaukelte auf die Küste zu. Flach war diese Küste, sandig und öde, und nur am Horizont stiegen nackte Felsen auf, durchsetzt mit einzelnem Grün, was wohl wilde Aprikosenbäume, Tamarisken und Wildkirschen waren.

Das alles sahen Kolka und Bettina nicht. Sie hingen bewußtlos in ihren Seilen, aufgeweicht wie ein Stück Brot, das ins Wasser gefallen ist, und die Bordwand des Bootes war tief in den flachen Wellen, denn halb voll hatte der Sturm es geschlagen, und es war keiner da, der das Wasser wieder ausschöpfte.

So sahen Fischer am Ufer das treibende Wrack, machten zwei kräftige Ruderkähne flott und ruderten auf das merkwürdige Gebilde zu.

Sie umkreisten es, sahen die beiden totenbleichen Gestalten an Bord, fuhren nahe heran und sprangen in das Boot. Seile flogen hin und her, eine Strickleiter verband das Geisterboot mit dem Kahn, und dann hatte man es fest und Zeit genug, sich zu wundern.

»Sie leben beide«, sagte der Fischer, der als erster an Bord gesprungen war. »Ohnmächtig sind sie. Der Sturm hat sie schön erwischt. Und die anderen sind von den Wellen weggespült. Verdammt, woher mögen sie kommen?«

Zunächst war es wichtig, das Boot soweit leer zu schöpfen, daß es im Schlepp der beiden Ruderboote mitglitt. Fünf Fischer holten mit Eimern das Wasser aus dem Boot, bis nur noch der Boden bedeckt war. Zwar lag Kolka noch immer mit den Füßen im Wasser, aber das beachtete man nicht, denn aufgeweicht war er sowieso.

Am Ufer erwarteten Frauen, Kinder und die anderen Fischer den Schleppzug. Das ganze Dorf war versammelt, und als man von den Kähnen an Land rief: »Wir haben zwei Ohnmächtige an Bord!« rannten zwei größere Jungen los und holten den alten Fedja aus seiner Hütte, den einzigen, der etwas von Heilkunde verstand, denn er war früher Sanitäter beim Militär gewesen.

Man muß das Leben in diesen einsamen Gegenden kennen, um zu verstehen, wie wichtig der alte Fedja war. Der nächste Arzt wohnte 57 Werst nördlich, und ehe er kam, auch wenn er guten Willens war und mit einem Jeep über die staubige Küstenstraße raste, war es oft schon zu spät, denn die Fischer riefen einen Arzt nur, wenn es aufs Letzte ging. Zwar gab es, ganz in der Nähe, noch einen anderen Arzt, 21 Werst südlich, an der persischen Grenze, einen Militärarzt der dort stationierten Schützenbrigade, aber den hatte man nur einmal geholt. Er war ein guter Arzt, gewiß, aber er trug eine Uniform, und wer das Dorf, in das Kolka und Bettina vom Sturm verschlagen wurden, genauer kennt, wird verstehen, daß eine Uniform das letzte ist, was die Fischer ertragen konnten.

So war Fedja der richtige Mann. Er kannte Aspirin und Tees, er scheute sich nicht, bei den Geburten die Weiber kräftig anzufassen und sie anzuschnauzen, wenn sie jammerten (was ungemein guttut, Freunde, denn eine gebärende Frau kann keine wehleidigen Gesichter ertragen!), kurzum: Fedja, der Alte, wurde geholt.

Unterdessen hatte man Kolka und Bettina aus dem Boot gehoben und trug sie in die Vorratshalle, wo die Netze trockneten und geflickt wurden, wo die Fische in großen Fässern gesalzen wurden, wo man Ruder ausbesserte und Reusen flocht. Eine große Hütte mit festem Strohdach, an deren Dachbalken die Schnüre mit Stockfisch hingen.

Je zwei Fischer trugen die schlaffen, aufgeweichten Körper in die Hütte und legten sie vorsichtig auf lange Kisten nieder, entkleideten sie und begannen, das Wasser aus ihren Brustkörben herauszupumpen. So traf sie der alte Fedja an, der mit einer Flasche Wodka und Riechsalz herankam. Zwei weiße Menschlein, denen das Meerwasser aus den Mündern rann und deren Körper zuckten unter den breiten Händen der kräftigen Fischer.

»Ein herrliches Weibchen!« sagte einer, der Bettinas Brustkorb drückte. »Eine wahre Freude ist's, da zu massieren.«

»Er bleibt ein Ferkel, der Wassilij«, rief ein älterer Mann, der sich um Kolka bemühte, ihn ohrfeigte, anrief und immer wieder schüttelte, »lös in ab, Fedja … in der Lunge hat sie Wasser, nicht in den Brustwarzen!«

»Sie werden gleich sagen, wer sie sind«, behauptete Fedja, drängte Wassilij, den Streichler, weg und hielt Bettina das Riechsalz unter die Nase. Dann holte er einen kleinen Löffel aus der Tasche, wischte ihn am Ärmel ab, goß ein wenig Wodka darauf, preßte mit den Fingern Bettinas verkrampfte Zähne auseinander, schüttete den Wodka in den Mund und ließ die Zähne wieder zuschnappen.

Bettina hustete. Ihr weißer zitternder Körper verkrampfte sich, sie rollte sich auf die Seite, die Arme bewegten sich, die Hände krallten sich an die Kiste, und dann übergab sie sich und der Rest des Meerwassers kam aus ihrer Lunge und dem Magen. Nicht schön sah es aus, aber es rettete ihr das Leben.

Nebenan erging es Kolka nicht anders. Nur reagierte er schneller als Bettina. Er roch den Wodka, er schmeckte ihn auf der Zunge, er schluckte ihn hinunter und er erbrach ihn wieder – aber gleich munter war er dadurch, die Augen nahmen die Umwelt wahr, und während er noch würgte, in den kurzen Pausen bis zum nächsten Schuß Meerwasser aus seinem Magen, keuchte er: »Haltet den Wodka bereit … Dank, Freunde, Dank … Oh, dieses Meer! Oh! … Mein Magen kommt mit, Genossen … Ich kotze mir die Lunge aus …«

Dann saß er auf der Kiste, schlaff und müde und mit zuckendem Magen, sah auf Bettina, die von Fedja gehalten wurde und ganz langsam, Schlückchen für Schlückchen, Wodka aus dem Löffel trank, und umarmte die beiden neben ihm stehenden Fischer und tat einen Schrei, der alle zusammenzucken ließ.

»Wir leben!« brüllte er dann. »Wir leben! Freunde, wo sind wir? Seid ihr gute Menschen? Ach, was frage ich? Und wenn ihr Satane wärt: Wir atmen wieder. Schrecklich ist's, mit offenen Augen zu sterben. Oh, wie ich es hasse, das Meer!«

»Du bist kein Fischer?« fragte der ältere der Männer und schob Kolka als Stütze einen Sack Hirse in den Rücken.

»Ich komme aus Tiflis, Bürger.«

»Und das Boot? Es war einmal ein gutes Fangboot. Woher ist es?«

»Von einem guten Freund. Agafonow heißt er.« Kolka blickte zur Seite. Dort hatte man Bettina wieder zurückgelegt, wickelte sie in Decken und hob sie hoch, um sie wegzutragen. Sie sagte kein Wort; nur ihr großen blauen Augen sahen umher, erfaßten Kolka und blickten ihn lange an. Sie war zu schwach, um zu sprechen, und doch schien sie etwas zu sagen, denn ihre Lippen bewegten sich.

»Ich komme mit«, sagte Kolka und nickte ihr zu. »Freunde, wohin bringt ihr sie?«

»Zu mir«, sagte der große Fischer. »Meine Frau wird euch pflegen. Ich bin Gawril Andrejewitsch Kokurin.«

Es war eine gute Idee, Bettina und Kolka dorthin zu bringen. Die Kokurina, eine große, stämmige Frau, fragte nicht lange, ob es recht sei, sie wusch Kolka und Bettina mit heißem und dann kaltem Wasser und schrubbte sie mit einer harten Bürste, daß die Haut brennendrot wurde.

Dann gab sie ihnen heiße Milch mit Honig zu trinken, kochte einen fleischigen weißen Fisch und übergoß ihn mit Dilltunke. Es war ein Festtag nach all der Qual, und Kolka und Bettina fühlten sich, als habe der Sturm sie geradewegs in den Himmel getrieben.

Am frühen Morgen wachte Kolka auf und fühlte sich frisch wie nie. Neben ihm lag Bettina und schlief noch, und er kroch ganz leise unter den Decken heraus, tappte mit bloßen Füßen aus der Stube und suchte die Küche, den Zentralraum eines russischen Hauses.

Das Haus war leer. Gawril war schon auf dem Meer und fischte, und die Kokurina stand draußen an einem Holzbottich und wusch Wäsche. Dazu schlug sie mit einem flachen Schlegel auf die dampfenden Teile, und ihre mächtige Brust wogte im Dunst der kochenden Lauge. Ein wohltuendes Bild von Kraft, so fand es Kolka, trat vom Fenster weg und schnupperte zum Herd hin, wo es nach gebratenem Fisch roch.

Aber er kam nicht bis zu der angestellten Pfanne. In der schönen Ecke – der Ecke, in der der Tisch steht und wo früher eine Ikone mit dem ewigen Licht und einem Strauß Strohblumen hing – sah Kolka ein Bild.

Eine in einen einfachen Holzrahmen eingefaßte, verwaschene, undeutliche, verblichene Fotografie. Ein tief verschneiter Wald. Im Eis erstarrte Bäume. Die himmelhoch ragende Wand eines Urwaldes. Taiga …

Und davor, im Schnee, bis zu den Knien eingesunken, eine Gruppe Menschen.

Männer in grauen langen Mänteln. Den Kragen hochgeschlagen. Selbstgeschnitzte Pfeifen im Mund. Auf den Köpfen die sibirischen Pelzmützen mit den langen Ohrenklappen. Hohlwangige, ausgehungerte, aber lachende Gesichter. Tiefliegende Augen, aber ein Glanz in ihnen, der hieß: Wir haben überlebt!

Und der Rauch ihrer Pfeifen lag wie eine geballte Masse Dampf über ihren Köpfen, zwischen den kleinen Menschen und der riesigen Taiga.

Kolka hob den Kopf und schnupperte.

Der beißende Geruch von Machorka und getrocknetem Farnkraut. Er war wieder in der Nase. Er kitzelte, aber er war so herrlich, so lebensbejahend, so heiß voll Leben.

Eine Pfeife Machorka … Sibirien 1947 …

Und man lebte.

O Gott!

Kolka starrte das Bild an. Deutsche Plennys im Wald. Die Wachmannschaften machten manchmal solche Bilder. Heimlich, denn es war verboten. Und sie tauschten die Fotos: Ein Abzug gegen den Ehering. Zwei Abzüge gegen ein Bild, gemalt auf Zuckersackpapier mit Ölkreide. Sibirien …

Mit zitternden Händen nahm Kolka das Bild von der Wand, drückte es gegen seine Brust und ging hinaus zu der dampfenden Kokurina. Dort hielt er das Foto hoch wie ein Kreuz, das ein Pope segnend schwingt, und schrie in den Morgen:

»Was ist das, Töchterchen? Welch ein Foto! Wie kommst du oder Gawril an solch ein Bild?«

Die Kokurina unterbrach ihr Wäscheklopfen, strich sich die nassen Haare aus der Stirn und wedelte den Dunst der Lauge weg.

»Häng es wieder hin, Väterchen!« rief sie zurück. »Gawril hat es nicht gern, wenn man es anfaßt. Am besten, du hast es nicht gesehen.«

»Woher kommt das Bild?« schrie Kolka. »Es sind Deutsche auf dem Foto!«

»Natürlich sind sie es, Väterchen.« Die Kokurina nahm ihren Wäscheschläger in die Hand. »Erreg dich nicht. Du bist unser Gast, bis du weiterziehst. Ist es eine Sünde, daß Gawril Andrejewitsch ein Deutscher ist?«

In diesem Augenblick war es Kolka, als flamme die Sonne auf. Die Welt wurde heller und weiter, und sogar das verhaßte Meer versilberte sich. Er drückte das Bild an die Brust und lief ins Haus zurück.

*

Gegen zehn Uhr kamen die Fischer vom Meer zurück.

Ein guter Morgen war's gewesen. Die Netze hatten sie prall voll Fische aus dem Wasser gezogen, und nun lagen die Kähne tief in den Wellen, und die Frauen und Kinder freuten sich, denn den eingesalzenen Fisch holten die Lastwagen des Fischereikombinats jeden Monat ab, und sie zahlten einen guten, festen Preis. Am besten war, daß man hier kein Soll einführen konnte, denn weder das Meer noch die Fischschwärme richteten sich nach Fünf- oder Siebenjahresplänen, und was im Netz zappelte, ob es nun wenig oder reichlich ist, wie heute etwa, mußten die Genossen vom Fischereikombinat akzeptieren.

Gawril kam ins Haus, frohgestimmt und hungrig. Er traf Kolka an, der eine Fischsuppe rührte, während die Kokurina Brote schnitt und mit Ziegenbutter beschmierte.

»Guten Morgen«, sagte Kolka auf deutsch, als Gawril seinen Ölanzug an den Haken hängte. »Ein schöner Tag.«

Gawril Andrejewitsch Kokurin sah kurz zu Kolka hinüber, dann schweifte sein Blick zu dem Bild an der Wand und hinüber zu seiner stämmigen Frau.

»Du weißt es also«, sagte er auf russisch. »Ein Geheimnis ist es ja auch nicht. Und nun sprich wieder vernünftig, Bürger. Wie geht es deinem Töchterchen?«

»Es schläft noch.« Und wieder sprach Kolka deutsch, und die Kokurina sah Gawril an, als wolle sie sagen: Meine Schuld ist es nicht. Das Bild hat er gesehen, von der Wand genommen und mit sich herumgetragen. Ein merkwürdiger Mensch ist er.

»Laß das, Kolka Iwanowitsch!« Gawril setzte sich an den Tisch, zog sich die hohen Gummistiefel aus und massierte sich die Zehen. »Wir sind hier ein glückliches Dorf. Und neun Werst nördlich ist ebenfalls ein glückliches Dorf. Koronetkaja. In beiden wohnen Deutsche, die hier eine neue Heimat gefunden haben. Ist das etwas so Außergewöhnliches? Wir fühlen uns wohl hier, wir sind Sowjetbürger geworden, wie damals die Deutschen an der Wolga zur Zeit Katharina der Großen. Ein mustergültiges Dorf ist es … und nun laß uns davon reden, was aus euch werden soll, wer ihr seid, und wohin ihr wollt.«

Kolka Iwanowitsch füllte mit einer großen hölzernen Kelle die Fischsuppe in eine Schüssel und trug sie zum Tisch. Dann setzte er sich Gawril gegenüber und atmete tief auf.

»Ich bin auch ein Deutscher«, sagte er.

Die Kokurina hörte mit Broteschmieren auf; Gawril schob den Teller von sich und starrte Kolka nachdenklich an. Gar keine helle Freude war da, kein Aufspringen und Umarmen, auf die Wangen küssen und Schulterklopfen. Man sah sich stumm an und wartete darauf, was nun weiter werden würde.

»Woher?« fragte Gawril endlich.

»Aus Göttingen. Bei Shitomir kam ich in Gefangenschaft. Dann habe ich erfahren, daß in der Heimat alles kaputt sein soll … das Haus, meine Frau und die Kinder im Keller erstickt … da bin ich in Rußland geblieben, habe geheiratet und lebte bis vor zwei Wochen in Tiflis. Ich heiße Karl Wolter.«

Kolka sah an dem breiten Kopf Gawrils vorbei gegen die Wand, aber sein Blick durchdrang die Balken und durchflog die Entfernungen.

»Es war ein Irrtum, Gawril Andrejewitsch. Sie leben alle, und nun bin ich auf dem Weg zu ihnen. Auf der Flucht in die Heimat … zwanzig Jahre zu spät. Und ein alter Mann bin ich geworden.«

»In einer bösen Zeit leben wir, Bruder.« Gawril holte seinen Teller wieder heran. »Ich war Fischer auf Spiekeroog. Man nahm mich gefangen in Stalingrad. Zwanzig Jahre alt war ich damals, ein Milchbart, der überhaupt nicht wußte, was mit ihm geschah. Und hier lernte ich Jelisaweta kennen. Meine erste Liebe war's. Und ich hatte wieder ein Meer vor der Tür, ein Boot, Netze zum Fischen, ein Segel für den Wind. Und ein liebendes Weibchen. Was wollte ich mehr vom Leben! Was kenne ich von der Heimat, Bruder? Mit dreißig anderen Kameraden bin ich hiergeblieben, wir haben ein neues Dorf gebaut, wir haben Kinder, wir sind glücklich, wir entbehren nichts. Was soll's da mit dem Geschwätz: Du bist Deutscher? Wo die Menschen zueinander friedlich sind, wo man leben kann mit Frau und Kind, da ist Heimat.« Gawril kaute an einem Stück Fisch, die Gräten knackten zwischen seinen starken, mahlenden Zähnen. »Was sagst du dazu, Kolka Iwanowitsch?«

»Ich habe genauso wie du gedacht, zwanzig Jahre lang. Aber nun leben sie alle. Meine Frau Agnes, mein Sohn Wolfgang, und Bettina schläft dort nebenan. Ich muß nach Deutschland zurück.« Kolka schob die Arme über den Tisch und legte die Hände auf die Finger Gawrils. »Kannst du mir helfen, Kamerad? Wir müssen hinüber in den Iran.«

Gawril nickte. »Wir wollen keine Unruhe haben«, sagte er. »Sag den anderen nicht, daß du ein Deutscher bist. Du bist Kolka Iwanowitsch, und deine Tochter ist Wanduscha. Es gibt noch einige, die träumen von der Heimat; wir wollen sie nicht in Versuchung führen, mit euch zu gehen. Das hier ist ein Musterdorf, weil wir alle zusammenhalten. Zwietracht ist immer ein steiniger Boden. Gut ist es, daß wir zwei wissen, wer wir sind, und ich helfe euch in das, was ihr Freiheit nennt. Und nun faß zu, Bruder, und iß!«

»Und das Foto?« fragte Kolka leise und füllte seinen Teller mit Fischsuppe. »Warum hängst du das Plenny-Foto an die Wand?«

»Um mich selbst zu warnen, Kolka Iwanowitsch. Das war eine böse Zeit in Sibirien, und ich wußte nicht, warum man mich so höllisch bestrafte. Ein halbes Kind war ich doch noch!« Gawril sah hinüber zu dem kleinen Foto an der Wand. Sein Mund war verkniffen und böse. »So etwas soll nie wiederkommen!« sagte er hart. »Hier, am Kaspischen Meer, leben wir friedlich. Ich verstehe nicht, warum auch jetzt wieder überall in der Welt geschossen und gemordet wird und von neuen Kriegen die Rede ist. Wer will denn einen Krieg? Du, ich, Jelisaweta, die anderen alle? Frag sie mal! Keiner will es! Aber die Zeitungen sind voll von Drohungen. Es ist fast so, als würden nur Menschen mit paralytischen Gehirnen zu Politikern.«

»Wer versteht das schon, Gawril?« sagte Kolka. »Aber sagst du so etwas laut, sperren sie dich ein.«

»Auch in Deutschland?«

»Auch in Deutschland. Es ist überall das gleiche. Und trotzdem muß ich hinüber, Bruder. Meine Frau, meine Kinder … es ist nun einmal die Heimat.«

»Wir werden morgen nacht fahren«, sagte Gawril. »Mit einem Motorkutter schaffen wir es bis zum Morgen.«

Kolka drückte ihm die Hände und sah ihn dankbar an. »Du bist ein guter Mensch«, sagte er. »Du hast ein ruhiges Leben verdient.«

Aber man soll sich nicht auf das verlassen, was einem zusteht. Das Schicksal denkt anders, und leiten läßt's sich durch schöne Reden schon gar nicht.

Am Nachmittag – Bettina und Kolka saßen in der großen Vorratshütte und schabten mit breiten Messern die Schuppen von den glänzenden Fischleibern – kam die Kokurina in den Raum gerannt und schob eine große Kiste zur Seite. Unter der Kiste sah man plötzlich einen quadratischen Einstiegdeckel, den sie an einem eisernen Ring hochzog.

»Hinein!« rief sie. »Schnell hinein! Miliz ist im Dorf! Man sucht euch! Das ganze Dorf wollen sie auf den Kopf stellen. Gawril ist dabei, sie zu belügen, aber sie glauben ihm nicht. Los, hinein in den Keller!«

Kolka und Bettina warfen die Messer weg. Über eine schmale Leiter kletterten sie in eine lichtlose, modrig stinkende Höhlung unter dem Raum, in der alte Säcke lagen, Tönnchen mit Salzfleisch und Fässer mit eingeschmolzenem Fett. Es war die heimliche Vorratskammer des Dorfes, die in schlechten Zeiten immer einen zufriedenen Magen garantierte.

»Keinen Ton!« zischte die Kokurina, warf den Deckel zu und schob die Kiste wieder darüber.

Kolka und Bettina kauerten sich auf die Tönnchen Fett und warteten. Die Luft war bedrückend, faulig und feucht. Wie lebendig begraben kamen sie sich vor, und Bettina hielt die Hand Kolkas fest, wie ein ängstliches Kind, das nicht weiß, was das Donnern am Himmel bedeutet.

»Agafonow hat uns also doch verraten«, flüsterte Bettina an Kolkas Ohr. »Was wird aus uns, wenn sie uns finden?«

»Sie finden uns nicht, Kind«, sagte Kolka auf deutsch. »Gawril wird sie ablenken.«

»Ich habe Angst, Vater.« Bettina legte den Kopf auf Kolkas Schulter. Über ihnen stampften jetzt schwere Stiefel, sie hörten Stimmen und das Klopfen von Gewehrkolben gegen die herumstehenden Kisten. Und dann die Stimme Gawrils, die sagte:

»Ich sage es euch doch, Genossen: Wir hätten sie sehen müssen, wenn sie hier gestrandet wären.«

»Sie stehen genau über uns«, flüsterte Bettina und zog den Kopf ein. »Wenn sie die Falltür sehen …«

»Psst!« machte Kolka. Auch ihm war ungemütlich, aber nun war er wehrlos, es gab keine Flucht mehr. Nur warten konnte er und inbrünstig beten, daß diese Minuten vorübergingen.

Die Stiefel über ihnen polterten hin und her. Ein Gewirr von Lauten drang durch den dicken Holzboden, aber so undeutlich, daß sie nicht verstehen konnten, was man über ihnen sprach. Aber sie krochen näher zusammen, umarmten sich, als seien es die letzten Minuten vor einem Abschied für alle Zeiten, und starrten auf die Falltür über ihren Köpfen. Wenn sie sich bewegte, wenn ein Lichtstrahl in den geheimen Keller fiel, sahen sie die Freiheit nie wieder. Das wußten sie ganz gewiß.

Die Milizionäre suchten gründlich. Alle Kisten ließen sie öffnen, stachen mit langen Bajonetten in die Fässer mit Salzfisch, denn man kennt ja solche Tricks: Ein leeres Faß, darüber eine Lage Fettpapier, darauf zwei Lagen Fische, und jeder glaubt, das Faß sei voll bis zum Rand. Dabei sitzt ein Mensch im Fäßchen und lacht über die Dummheit der anderen.

Doch dieses Mal suchte man vergebens. Ärgerlich verließen die Milizionäre das Vorratshaus, und der Leutnant, der die Suche führte, ließ die Fischer samt ihren Frauen, Kindern und Alten am Ufer aufmarschieren und hielt ihnen einen Vortrag.

»Wer die beiden Flüchtlinge verbirgt«, schrie er, »ist ein Volksverräter! Er wird bestraft, als sei er selbst der Flüchtling! Ich lasse zwei Milizionäre hier, denn irgendwo in dieser Gegend müssen sie an Land getrieben sein. Eine Kiste ihres Bootes, mit einer Handharmonika darin, lag drei Werst von hier im Sand. Ich warne euch, Genossen, wenn ihr uns belügt!«

Vorausgegangen war dieser Suche eine ausgesprochen tragische Situation. Es war natürlich, daß man Agafonow vermißte, und sein Weibchen stimmte ein helles Geschrei an, raufte sich die Haare, spuckte ins Meer, nannte es eine Hure und beklagte ihr Leid als Witwe. Das ganze Dorf empfand mit ihr, denn Agafonow war ein guter Mensch gewesen, ein treuer Kamerad und lieber Säufer. Daß er so enden mußte, war ungerecht.

Die Agafonowa trauerte vier Tage um ihren Daniel Alexandrowitsch, aß nichts, trank nur Wasser und war das Bild eines tiefen Jammers. Das änderte sich allerdings, als ein Kontrolleur der staatlichen Versicherungsgesellschaft aus Saljany eintraf, um zu sehen, was da geschehen war, denn Agafonow war versichert. 5.000 Rubelchen war ihm sein Leib wert gewesen, und wenn ihn das Meer verschluckt hatte, mußte die Versicherung nun der gebrochenen Agafonowa die 5.000 auszahlen.

Freunde, welche Versicherung tut so etwas gern? Das Personal einer Versicherung ist darin geschult, Geld einzutreiben – vom Auszahlen wird selten gesprochen. Und wenn, dann gibt es Schwierigkeiten über Schwierigkeiten, lange Fragebogen, Erklärungen, Zeugenvernehmungen; alles Dinge, die man bei der Aufnahme in die Versicherung nicht nötig hatte. Da brauchte man nur zu unterschreiben. Aber wem erzähle ich das? Wir kennen das doch alle, Genossen.

Der Inspekteur aus Saljany ließ sich von den Tränen und Trauerschreien der Agafonowa nicht beeindrucken. Wer Geld hergeben soll, muß einen klaren Kopf behalten. Dagegen fragte er, bohrte er und verhörte er, und es ergab sich ein Bild, das merkwürdig war. Daniel Alexandrowitsch war aufs Meer gefahren zu einer Zeit, in der ein Fischer gar nicht fischen geht. Vielmehr schien es so, als habe der gute Agafonow plötzlich die Lust verspürt, einen kleinen Ausflug zu machen, eine Lustfahrt auf See.

»Aha!« sagte der Inspekteur aus Saljany. »Versichert ist er gegen einen Betriebsunfall. Aber er war nicht im Betrieb, er fuhr zum Vergnügen hinaus. Sollen wir sein Vergnügen noch bezahlen: Mit 5.000 Rubeln? Das riecht ja nach Sabotage, Leute! Gut, er ist tot, aber es war ein Vergnügungstod. Das gilt nicht. Nur in Ausübung seines Dienstes … Wollt ihr den Staat um 5.000 Rubelchen betrügen? Warum muß er hinaus aufs Meer? Nicht um Fische zu fangen. Wer weiß, was er dort wollte. Nicht einen Rubel gibt es!«

Die Agafonowa heulte laut, ihr Kummer war nun doppelt groß, und das ganze Dorf nahm noch mehr Anteil, denn nun gab es keinen Leichenschmaus und keine Fässer Kwaß, mit denen man des guten Daniel Alexandrowitsch gedenken konnte.

Alle aber verfluchten den Inspekteur aus Saljany.

Und siehe da, plötzlich tauchte Brüderchen Agafonow wieder auf! Fröhlich, lebendig, Zigarren rauchend, mit Geld in der Tasche. Die Agafonowa fiel in Ohnmacht, als sie ihn wie einen Kobold über den Strand kommen sah; nur der Inspekteur verstand keinen Spaß und alarmierte die Miliz. Wie konnte Daniel Alexandrowitsch auch wissen, daß ein Inspekteur im Dorfe war?

Nun kam alles heraus. Agafonow, der erst stumm wie ein Fisch sein wollte, begann zu reden, als der Milizkommandant eine Gerte aus dünnem Stahl auf den Tisch legte und erklärte, daß selbst eine Elefantenhaut davon aufplatzen würde.

Freunde – Agafonow war kein Elefant, sondern nur ein kleiner, schwacher Mensch. Und so erzählte er alles, und die große Suchaktion begann. In Tiflis, wo man noch immer glaubte, der brave Kolka Iwanowitsch Kabanow besuche eine Tante in Batum, wurde man rot bis hinter die Ohren und bat um wenig Aufsehen.

Die Maschinerie der Polizei rollte an.

Und Agafonow hoffte im stillen, daß sie schon längst über die Grenze seien, der gute Kolka und sein Töchterchen Wanduscha, das so schön war wie ein Mädchen aus den Zeitungen.

*

Als es an der Wohnungstür klingelte, glaubte Agnes Wolter, es sei der Briefträger. Die Zeit dazu war es; sie band ihre Küchenschürze ab, trocknete die feuchten Hände – sie hatte gerade Kartoffeln geschält – an einem Küchenhandtuch ab und öffnete dann die Tür.

Es war nicht der Briefträger. Ein ernster, großer Mann im dunklen Anzug und mit einem schwarzen Hut in der Hand stand im Treppenhaus und legte sein Gesicht in kummervolles Mitgefühl.

»Mein Sohn ist nicht da«, sagte Agnes Wolter schnell, denn ein solcher Besuch konnte nur für Wolfgang sein. So sahen viele Herren aus, die irgendwelche Positionen in der Regierung bekleideten; Agnes Wolter kannte sich da nicht aus, sie hatte nur mit Verblüffung entdeckt, daß der Dienst in einem Ministerium eine Art Schleifstein sein mußte: die Beamten sahen alle gleich aus.

»Mein Sohn kommt gegen Abend wieder«, sagte sie, als der dunkel gekleidete Mann ergriffen schwieg. »Sie können ihn in seiner Dienststelle im Verteidigungsministerium sprechen.«

»Ich komme aus Hamburg«, sagte der dunkle Herr und sah Agnes Wolter tief in die Augen. »Karl Malitzer, mein Name. Von der DBOA.«

»Ach!« Durch das Herz Agnes Wolters fuhr ein Stich. Die Fluggesellschaft Bettinas. Ein Herr kam aus Hamburg zu ihr. »Bitte, treten Sie ein«, sagte sie, plötzlich unsicher. »Es ist ein wenig eng hier … nur eine Notwohnung … ich wohne ja eigentlich in Göttingen.«

»Ich weiß, gnädige Frau.« Karl Malitzer setzte sich und starrte auf ein Bild, das an der Wand hing. Ein Foto von Bettina Wolter als Stewardeß. Es hatte keine schwarzen Schleier als Dekoration; es war das Bild einer Lebenden. Herr Malitzer bekam einen roten Kopf. Er verdammte seinen Auftrag.

»Eine Tasse Kaffee, Herr Malitzer?« fragte Agnes Wolter und wußte nicht, wohin sie ihre unruhigen Hände tun sollte. »Was … was führt Sie zu mir? Haben Sie Nachricht von Bettina? Kommt sie frei?«

Herr Malitzer fuhr sich mit dem Zeigefinger in den Kragen. Man soll nicht sagen, daß es leicht ist, einem anderen Menschen schonungsvoll klarzumachen, daß alles Warten umsonst ist.

»Wieso frei?« fragte er deshalb dumm.

»Aus Moskau, meine ich.«

»Was ist mit Moskau?«

»Bettina ist doch in Moskau.«

»Nein, sie ist in Tiflis. Das heißt … ich meine …« Herr Malitzer putzte sich ergriffen die Nase. »Sie haben doch sicherlich damit gerechnet, gnädige Frau … Nach solch einem Unglück …«

»Womit soll ich gerechnet haben?« fragte Agnes Wolter leise. Eine ungeheure Unruhe kroch in ihr hoch.

»Ihre Tochter Bettina ist beklagenswerterweise unter den Opfern des Unglücks. Wir haben jetzt Gewißheit. Leider. In den Trümmern … bitte, erlassen Sie mir die Einzelheiten … Wir haben die Fotos gesehen, von unserer Expertenkommission aufgenommen … Wir werden Ihre Tochter natürlich auf Kosten der DBOA nach Deutschland überführen …«

Karl Malitzer atmete auf. Jetzt ist es heraus. Zwar stotternd, durchaus nicht tröstend, aber klar. Und sie nahm es mit Haltung auf, die Mutter, das sah er mit Staunen. Sie weinte nicht, sie fiel nicht in Ohnmacht, wie es Malitzer befürchtet hatte. Nicht einmal einen Klagelaut stieß sie aus. Sie lehnte nur an der Wand, mit hängenden Armen, und starrte den Boten der DBOA ratlos an.

»Sie brauchen sich um nichts zu kümmern«, sagte er, nur um die Stille zu überbrücken. »Für alles sorgt unsere Gesellschaft.«

»Aber … aber sie ist doch gar nicht tot …«, sagte Agnes Wolter leise. »Sie lebt doch in Moskau …«

An Malitzer kroch es eisig hoch. Jetzt wird sie wahnsinnig, dachte er. Das ist der schleichende, stille Schmerz, der sich im Hirn festsetzt. Jetzt wird sie wahnsinnig. Mein Gott, man sollte einen Arzt rufen.

»Ihre Tochter ist anhand von Kleinigkeiten identifiziert worden …«, stammelte er. »Liebe gnädige Frau … tragen Sie es mit Fassung. Ihren Schmerz teilt unsere Gesellschaft mit Ihnen. Wir verlieren eine Mitarbeiterin …«

»Bettina ist gesund in Moskau!« sagte Agnes wie ein Automat. »Man hat meinem Sohn ihre Mütze, ihre Uniformjacke gezeigt.«

Karl Malitzer sprang auf. Nicht jeder Mensch ist stark genug, den Ausbruch eines Irrsinns mitzuerleben.

»Wer sagt Ihnen das?« fragte er heiser.

»Was?«

»Das mit Moskau?«

»Die Russen. Und wer sagte Ihnen das … mit dem Tod?«

»Die Russen«, antwortete Malitzer bleich. »Mein Gott, was wird denn hier gespielt. Wir haben die Aufnahmen …«

»Und ich habe das Offiziersehrenwort eines russischen Majors.«

»Wissen Sie das genau?«

»Er heißt Borokin. Fragen Sie meinen Sohn.«

»Und Sie glauben daran?«

»Ganz fest.« Die Augen Agnes Wolters leuchteten. »Bettina lebt! Ich weiß es, weil ich es fühle. Bei Ihnen muß ein Irrtum vorliegen. Ein Glück, daß ich anders unterrichtet bin … stellen Sie sich vor, ich würde Ihren Irrtum glauben.«

Verwirrt verließ Karl Malitzer die kleine Wohnung. Den Kaffee hatte er nicht getrunken, obwohl er ihn jetzt gebrauchen konnte. Statt dessen trank er in der nächsten Wirtschaft drei große Kognaks und rief die Zentrale in Hamburg an.

In Hamburg wußte man keinen Rat. Die Direktion hatte Beweise, daß Bettina doch verunglückt und dann jämmerlich verbrannt war. Im völlig ausgebrannten Schwanzstück der Maschine fand man menschliche Überreste, und da alle anderen Toten identifiziert worden waren, blieb nur noch Bettina Wolter übrig.

Drei Amtsärzte bestätigten, daß es eine Menschenleiche sei, man beschaffte einen Zinksarg und lötete ihn zu, nachdem man die Reste Bettina Wolters, in einen Plastiksack gehüllt, hineingelegt hatte. Der Zinksarg stand zur Überführung bereit; man wollte ihn in den nächsten Tagen mit der Maschine einer befreundeten Fluggesellschaft, die Rußland anfliegen durfte, nach Hamburg bringen lassen.

»Die gute Frau ist durch den Schock verwirrt worden«, sagte einer der Herren begütigend zu Karl Malitzer. »Man kann das ja verstehen. Sie muß in der sowjetischen Botschaft das alles mißverstanden haben. Wir haben ja schließlich die sterblichen Überreste.«

Bis heute weiß man noch nicht, wer dieser Körper war, woher er kam und wer ihn in das völlig ausgebrannte Schwanzstück des Flugzeuges hineinpraktiziert hatte. Eines jedenfalls wußte General Oronitse: Bei der ersten gründlichen Durchsuchung der Trümmer war dieser verkohlte Menschenüberrest noch nicht dort gewesen.

Und Oberst Jassenskij vom GRU schwieg, so schief man ihn auch ansah. Und er wurde nicht einmal rot unter den forschenden Blicken.

Am Abend kam Wolfgang nach Hause und fand seine Mutter bleich und eingefallen vor. Irene hatte sich um sie gesorgt, hatte sie auf die Couch gelegt, ihr ein paar Herztropfen gegeben und kochte nun in der kleinen Küche das Abendessen.

»Was ist denn geschehen, Mama?« fragte Wolfgang Wolter besorgt und setzte sich neben seine Mutter auf die Couch. Einen Augenblick dachte er an Borokin. Wenn er hier war, wenn er die alte Frau auch in das schmutzige Geschäft der Politik gezogen hat, lasse ich den Ballon platzen. Noch ist es zu früh … aber man soll die Finger von meiner Mutter lassen!

»Ein Herr von der DBOA war hier«, sagte Irene, ehe Agnes eine Antwort geben konnte. »Er kam, um Mutter die Mitteilung von Bettinas Tod zu bringen.«

Eine ganze Weile war es still im Zimmer. Agnes tastete nach den Händen ihres Sohnes, und sie fand, daß sie kalt waren wie Totenfinger.

»Es ist doch nicht wahr, Wolf …«, stammelte sie. »Bettina lebt doch, nicht wahr … Es ist doch nur ein Irrtum … Der russische Offizier … du … Irene … ihr alle sagt doch, daß sie lebt. Oder … oder belügt ihr mich alle? Hat der Herr aus Hamburg recht?«

»Nein, Mama.« Wolfgang hielt die unruhigen Hände seiner Mutter fest. Vertrauen und Kraft gingen von ihm aus, aber auch eine fremde, eisige Kälte. »Betti lebt! Ob in Moskau oder noch in Tiflis oder sonstwo. Aber sie lebt! Sie ist ein Politikum geworden.«

»Was ist sie, mein Junge?« fragte Agnes mit hoffnungsfrohen Augen.

»Sie ist zum Spielball zwischen Ost und West geworden. Es ist schwer, dir das zu erklären, Mama. Du würdest es nie verstehen, weil du zu ehrlich, zu normal, zu rechtschaffen bist. Aber sie lebt und wird wiederkommen, wenn entweder Ost oder West das Spiel gewonnen haben.«

Man sah es Agnes Wolter an, daß sie wirklich nichts verstand. Wie sollte das auch möglich sein? Sie hatte nur ein mütterliches Herz. Um das, was um sie herum geschah, aber zu verstehen, mußte man ein politisches Herz haben.

Eine Spottgeburt aus Dreck und Feuer, um mit Goethe zu reden.

Wer aber liest heute noch Goethe?

Für Agnes Wolter gab es nur eine Gewißheit: Bettina lebte. Wolfgang sagte es auch. Ihr Junge belog sie nicht.

*

Dimitri schrubbte die Toiletten in der Nachtbar ›Datscha‹ und war zufrieden dabei. Er hatte ein kleines Zimmer, ein gutes Bett, ein vorzügliches Essen und täglich 10 Rubel – umgerechnet – Lohn. Außerdem war Ilja Matwejewitsch Pikalow, der ›Datscha‹-Inhaber, ein guter Mensch, der nach Schließung der Bar Dimitri in sein Büro holte, mit ihm scharfe Cocktails soff und ihm die schönsten Tänzerinnen offerierte. »Umsonst, Brüderchen!« schrie er dann völlig trunken. »Als Prämie für das erfüllte Soll. Die Pinkelrinnen glänzen vor Sauberkeit, und keine Brille ist beschissen. Bruderherz, du bist zum Toilettenputzen geboren!«

Man soll nicht denken, so eine Arbeit sei entwürdigend. Wer solches glaubt, ist kein Philosoph. Nirgends offenbart sich der Mensch so deutlich und klar wie auf einer Toilette. Da ist er frei von allen gesellschaftlichen Formen, da steht der Generaldirektor neben dem Lagerarbeiter, beide benetzen die gekachelte Wand und sind zufrieden. Keine Unterschiede gibt's mehr, Freunde. Auf der Toilette ist der Kommunismus vollkommen, die Vereinigung aller Werktätigen, die Gemeinschaft der Schaffenden. Man sollte das ernsthaft überdenken, und es wäre der Sache wert, jede Toilette mit einer roten Fahne zu dekorieren.

Das Schönste aber sind die Gespräche, so von Rinne zu Rinne, gelöst von allem inneren Druck, sich hingebend dem Genuß der Befreiung.

»Fahren Sie morgen mit hinaus aufs Meer?«

»Wenn ich bis dahin wach bin, haha! Haben Sie die süße Schwarze an meinem Tisch gesehen?«

»Mitten im Meer baden wir immer ohne.«

»Romantisch.«

»Übrigens soll der Benthier pleite sein.«

»Die dritte Pleite! Er ist ein Künstler im Konkurs.«

»Er soll einen Armenier als Berater haben. Der ist außerdem der Liebhaber der Frau.«

Das Rauschen der automatischen Spülung.

Händewaschen. Abtrocknen.

Ein Trinkgeld für den Wärter.

Danke, mein Herr.

Dimitri, ein neues Handtuch. Oben beginnt eine neue Tanzvorführung. Dann bleiben die Toiletten leer. Und man hat Zeit, die Brillen und Becken zu kontrollieren und abzuwischen.

Bitte, Freunde, nicht die Nase rümpfen. Dimitri Sotowskij bekam allerlei wichtige Dinge mit. An der Börse hätte er spielen können, auf dem Pferderennplatz; er hätte zollfreie Waren kaufen können und geschmuggelte Medikamente. Alles erfuhr er vor diesen geheimnisvollen gekachelten Rinnen, an denen der Mensch von einer kindhaften Sanftheit befallen wird.

Und erst die Damentoilette!

Freunde, ist es nicht ein soziologisches Problem, wenn die millionenschwere Gräfin sich auf die gleiche Kunststoffbrille hockt, auf der eben noch eine kleine, miese Nutte gesessen hat?

Warum hat Lenin nicht daran gedacht? Es gab doch immer schon die Gleichheit der Menschen untereinander.

So verlief die Nachtarbeit Dimitris. Am Tage schlief er bis gegen Mittag, dann wurde er Laufbursche, kaufte mit Ilja in der Stadt ein, putzte das Lokal, polierte Gläser und trug Handzettel herum zu den Jachten im Hafen:

Datscha, das große Erlebnis von Beirut. Ab 23 Uhr die schönsten Frauen Rußlands an Ihrem Tisch.

»Sie glauben es alle, die fetten Wanzen«, lachte Ilja Matwejewitsch. »So ein Weibsstück braucht nur zu quietschen und ›Nitschewo!‹ zu flüstern, und schon rollen ihnen die Augen wie Murmeln hervor. Es sind rechte, aber reiche Idioten, Brüderchen!«

»Und wenn einmal ein Landsmann kommt?« fragte Dimitri.

»Seit zehn Jahren habe ich die ›Datscha‹. Du bist der sechste Landsmann, der sich hierher verirrte.«

Neun Tage arbeitete Dimitri nun schon bei Ilja, und jeden Tag geschah das gleiche: Gegen Mittag rief er in der deutschen Handelsmission an und fragte:

»Sind Kolka Iwanowitsch Kabanow und Bettina noch nicht angekommen?«

Und jeden Tag erhielt er die gleiche Antwort:

»Nein. Keiner.«

Schließlich war es so, daß die Gespräche auf ein Mindestmaß gekürzt wurden.

»Hier Sotowskij!«

»Nein.«

Mehr wollte man ja auch nicht wissen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Dimitri am zehnten Tag. »Sie müßten längst über der Grenze sein. Ich habe Angst, daß ihnen etwas geschehen ist, Ilja Matwejewitsch.«

Pikalow hob die Schulter und kaute an einem Hühnerknochen. »Angenommen, es ist so. Was würdest du tun, Dimitri Sergejewitsch?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Verzweifelt wäre ich.«

»Das hält eine Woche an, höchstens. Und dann?«

»Zurück nach Tbilisi kann ich nicht mehr.«

»Auf gar keinen Fall. Aufhängen kannst du dich allein, dazu brauchst du keine Hilfe des Staates.«

»Ich werde hierbleiben müssen, Ilja Matwejewitsch.«

»Du bist ein guter Mensch.« Pikalow rülpste. Einen schwachen Magen hatte er, und er mußte Natron nehmen, um gut zu verdauen. »Wir haben uns aneinander gewöhnt. Ich werde dich befördern, wenn es dir gelingt, für dich einen Ersatz auf der Toilette zu bekommen. Ich hole dich hinauf ins Licht. Vom Pinkeln zum Sekt. Du wirst Saalchef, mein Freund. Du kannst die reichen Dicksäcke zu den Weibchen führen und die Huren zu den Lustgreisen. Du darfst der Baronin die Hand küssen und dem Stahldirektor die Nummer des reservierten Zimmers ins Ohr flüstern. Und Geld wirst du verdienen. Geld! Nur eine Vorbedingung: Ersatz für dich in der Toilette!«

Über solche Probleme machte sich Dimitri keine Gedanken. Er dachte an Kolka und vor allem an Wanduscha, und je mehr sich die Tage aneinanderreihten und der Telefonist in der deutschen Handelsmission sein knappes »Nein!« sagte, um so mehr verlor Dimitri seinen Glanz in den Augen, und seine Lippen wurden schmal und oftmals traurig. Dann saß er neben den plätschernden Kachelrinnen wie ein abgeschminkter Clown, starrte auf die zusammengekniffenen Gesäße seiner Kunden, reichte mechanisch Handtuch und Seife, nahm ebenso mechanisch das Trinkgeld an und sah im Geist den Weg vor sich, den Kolka und Wanduscha ziehen mußten. Und immer wieder schnürte ihm die Angst die Kehle zu: Welchen Weg sie auch immer genommen hatten, sie mußten längst über der Grenze sein – wenn alles so gelungen war, wie man es geplant hatte.

Er wußte nicht, daß mittlerweile in Tiflis sein Verschwinden eine interne Katastrophe heraufbeschworen hatte. Denn nachdem man die Wohnung des alten Kabanow durchsucht hatte, ließ man sie unbehelligt, bis vom Kaspischen Meer die erstaunliche Meldung kam, daß ein alter Mann und ein junges Mädchen ein Boot entführt und den Fischer Agafonow fast ersäuft hätten. Der Mann sollte Kabanow geheißen haben und das Mädchen Bettina.

Hier schlug ein Funken bei General Oronitse und Oberst Jassenskij ein.

»Blamabel!« schrie Jassenskij. »Man sollte sich selbst anspucken können. Wir suchen in den Bergen, und wo ist das Mädchen? Am Kaspischen Meer! Mit einem alten Mann. Wer ist dieser Kabanow?«

Die Lösung dieser Frage warf General Oronitse auf seinen Sessel. Oberst Jassenskij rannte herum, klagte die Dummheit der Menschen an, nannte jeden, der ihn beruhigen wollte, einen Ferkelmist, kurzum, es war eine Stimmung, aus der man hätte Riemen schneiden können.

»Ein Ölingenieur flüchtet in Beirut, sein Vater flüchtet mit der Deutschen – merken Sie etwas, Genosse General?« schrie Jassenskij. »Das ist ein Komplott. Das ist lange vorbereitet. Das ist ein Tritt in den Hintern der Nation. Und wir sitzen hier herum und warten, bis ein blödsinniger Steckbrief uns das Mädchen frei Haus liefert. Aber es ist gut, daß wir jetzt den Weg wissen! Das Kaspische Meer ist ein sowjetisches Meer. Was kümmern mich Dreimeilenzonen nach dem Iran? Wir werden alle Motorboot-Flottillen in Marsch setzen. Wir riegeln die iranische Küste ab! Hubschrauber in die Luft! Zum Teufel noch mal, sollen wir von zwei Menschen zu Bettnässern gemacht werden?«

Zunächst aber wurde die Wohnung ausgeräumt. Das ist ein beliebtes Spiel bei autoritären Staaten. Man beschlagnahmt, transportiert ab, vernichtet alles, was an den Staatsfeind erinnert, und man gibt die Wohnung einem braven, treuen Genossen, der sie neu tapezieren läßt und den letzten Geruch des miesen Vorgängers mit Pinsel und Farbe entfernt.

In diese Zeit fiel die Entlassung der letzten Verwundeten des Flugzeugunglücks in die Heimat. Auch Copilot Paul Andresen wurde abgeholt; Chefpilot Pohlmann blieb in Tiflis, seine Verletzungen waren noch nicht so verheilt, daß er transportfähig war. Außerdem war er das Paradestück des Grusinischen Krankenhauses Nr. I, und Professor Semlakow kämpfte um ihn wie eine Amme um das Kind. Die zerstörten Hornhäute vor den Augen Pohlmanns wollte er durch ein Transplantat ersetzen. Die Spender waren schon gefunden: zwei junge Kaukasier, die bei einem Autounfall verunglückt waren und im Sterben lagen.

Noch einmal verhörte Oberst Jassenskij den glücklichen Andresen, zehn Minuten vor dem Abflug nach Deutschland.

»Sie haben gelogen!« sagte Jassenskij scharf. »Nix Mann wie Schweinchen war Begleitär von Bettina, sondern altes Mann.«

»Nein.« Paul Andresen bekam einen großen Schrecken. Fing es schon wieder an? War das der Beginn einer Verhaftung? Wer wollte Jassenskij hindern, zu sagen: Dieser Mann bleibt hier?! »Er war jung.«

»Aha! Jungar Mann. Schwarzä Locken!«

»Nein. Ich habe ihn genau beschrieben.«

»Alle Deutschen sind Lügner!« sagte Jassenskij verächtlich, drehte sich herum und ging. Befreit ließ sich Andresen in das bereitstehende Flugzeug tragen; sein Bein war neu gegipst worden und durfte noch nicht voll belastet werden.

Aber erst als er über Tiflis schwebte und die herrliche Stadt unter ihm verschwand und die Berge des Kleinen Kaukasus bizarr um ihn herum in der Sonne glänzten, atmete er auf und wußte, daß das größte Abenteuer seines Lebens beendet war.

Aber die Sorge, was aus Bettina Wolter geworden war, flog mit ihm nach Deutschland.

Er ahnte nicht, daß hinten im Gepäckraum ein Zinksarg mitflog, der angeblich die sterblichen Überreste Bettinas enthielt. Auch General Oronitse erfuhr es zu spät, als das Flugzeug schon sowjetischen Luftraum verlassen hatte. Hier wußte wieder einmal einer nicht, was der andere tat. Austausch behördlicher Gedanken ist eine Seltenheit.

»Diese Idiotie!« schrie General Oronitse. »Wir schicken einen Sarg nach Deutschland, und diese Bettina sitzt am Kaspischen Meer! Und wenn sie gar schon über die Grenze ist? Ein amtlich versiegelter und verlöteter Sarg, und sie lebt! Safon Kusmajewitsch, wie wollen Sie da wieder herauskommen?«

Oberst Jassenskij schwieg. Rote Ohren hatte er und einen abwesenden Blick.

In solchen Minuten denken normale Männer an Selbstmord.

Nicht so Jassenskij. Er dachte an einen Ausweg. Er wollte General Oronitse für dieses Versagen verantwortlich machen.

*

Die Nacht war windig und mit jagenden Wolkenfetzen durchsetzt, als Gawril, Bettina und Kolka an Bord des Motorkahnes gingen. Niemand wußte davon, nur die Kokurina und der alte Fedja. Alles schlief auch schon, froh, bei diesem unfreundlichen Wetter nicht außerhalb der Hütten zu sein. Der nächste Morgen würde schon windig und naß genug sein; da mußte man hinaus aufs Meer, ganz gleich, ob der Himmel tobte oder die Sonne brannte.

Der Abschied war kurz. Man umarmte die Kokurina, die voller Sorgen war, denn die Fahrt, die Gawril antrat, war gefahrvoll und konnte sein Leben kosten. Aber sie klagte nicht und versuchte auch nicht, ihn umzustimmen oder auf die Kinder hinzuweisen, die er verwaist zurückließ, wenn das Schreckliche geschah. Gawril hatte Kolka sein Wort gegeben, und dabei blieb es.

Nur der alte Fedja hatte noch etwas zu sagen. Er nahm Kolka zur Seite, bevor dieser das Boot bestieg, und zupfte ihn an der Brust.

»Wohin kommst du in Deutschland?« fragte er leise.

»Nach Göttingen, Fedja.«

»Kannst du auch nach Koblenz kommen?«

»Natürlich.« Kolka sah den Alten fragend an. »Bist du auch ein Deutscher?« fragte er dann.

»Ja.« Fedja wischte sich über die Augen. »1919 bin ich hiergeblieben. Als ich von Koblenz auszog, als junger Sanitäter, ritt der Kaiser auf seinem Pferd als Denkmal am Deutschen Eck. Steht der Kaiser noch da, Brüderchen?«

»Ich weiß es nicht, Fedja. Als ich vor zwanzig Jahren aus Deutschland weg mußte, ritt er noch auf seinem Sockel.«

»Was für ein Leben haben wir hinter uns, Kolka!« Fedja umarmte ihn und küßte ihn dreimal auf beide Wangen. »Grüße Koblenz von mir«, sagte er an Kolkas Ohr, und es war rührend, welch ein hartes und holpriges Deutsch er jetzt sprach. »Ich habe in Koblenz mein erstes Mädchen geliebt. Das habe ich nie vergessen. Rosemarie hieß sie. Ein Name voller Blütenduft. Gott sei mit dir, Brüderchen!«

Das letzte, was Kolka von Rußlands Küste sah, war der alte Fedja, der humpelnd neben dem Wasser herlief und mit beiden Armen winkte. Dann verschluckte ihn die Dunkelheit, und nur noch das Meer war um sie, und ein wilder Himmel mit Wolken, die aussahen wie galoppierende Reiterscharen.

Sie machten eine gute Fahrt. Mit einem Motor kommt man schnell voran, und Gawril meinte, daß sie vor dem Morgengrauen in der Dreimeilenzone des Irans seien und dann sicher wären vor allen Verfolgungen.

Aber so sicher Gawril auch sprach – sie waren alle unruhig.

Da war die Razzia durch die Miliz gewesen, da war die Sorge, daß auch die Seekreuzer Alarm bekommen hatten, und vor allem packte sie die Unruhe, je näher sie dem Iran kamen und damit der Freiheit.

»Wie kommst du wieder zurück?« fragte Bettina, die neben Gawril am Führerstand lehnte.

»Ich werde sagen, ich hätte mich verfahren. Wer will's mir beweisen?«

So fuhren sie vier Stunden, tankten zweimal aus den mitgenommenen Kanistern auf, denn der alte Motor fraß den Brennstoff wie ein Wolf im Winter einen Hasen, zumal sie immer mit höchster Geschwindigkeit fuhren.

In der fünften Stunde schreckte Bettina hoch. Sie hatte mit einem Fernglas den Horizont abgesucht, und plötzlich sah sie einen Schatten links von ihnen. Ein länglicher Schatten, nach oben ausgebogen. Ein dunkles Schiff.

»Laß sehen!« sagte Gawril, nahm das Glas, sah kurz hindurch und wendete das Boot mit einer scharfen Kurve zur Küste.

»Sie sind's!« sagte er ruhig.

»Die Wachboote?« fragte Kolka heiser und rang die Hände.

»Ja. Nur Ruhe, Freunde. Sie müssen sich verfahren haben. Nach meiner Ansicht sind wir schon in persischen Gewässern. Rechts von uns liegt die iranische Küste. Wir sind innerhalb der Dreimeilenzone. Ein Schnippchen haben wir ihnen geschlagen, haha!«

In diesem Augenblick blitzte es gegenüber auf. Ein trockener Knall zerriß den Zusammenklang von Wind und rauschendem Meer, und dann rauschte es über ihnen, brummte und summte, und vierzig Meter vor ihnen schlug eine Faust in das Meer und schoß eine Fontäne in den Nachthimmel.

»Sie schießen auf uns!« schrie Kolka und riß Bettina an sich. »Das war eine Granate!«

»Der typische Schuß vor den Bug«, Gawril lachte böse. »Stark fühlen sie sich. Aber wir sind in persischen Gewässern.«

»Was willst du tun?« rief Kolka. Am Horizont flammten Scheinwerfer auf und blinkten. Halt! hieß das. Sofort anhalten! »Ich fahre weiter!« sagte Gawril hart. »Sie werden nicht die iranische Hoheit verletzen.«

»Und wenn sie es doch tun? Wer will sie hindern?«

Gawril schwieg. Aber der Motor heulte auf, das Boot schoß vorwärts und raste der Küste entgegen.

Wieder durchbrach ein Knall die Nacht – der zweite Schuß.

Kolka zog den Kopf ein, als es über ihnen orgelte.

Kürzer dieses Mal. Nur zehn Meter seitlich von ihnen. Das Meer schien aufzujaulen, als sei es verwundet.

»Der nächste Schuß sitzt!« brüllte Kolka. »Dreh bei, Gawril! Mach dich nicht unglücklich! Halt den Motor an! Es ist vorbei mit uns! Es ist vorbei! Wir haben das Rennen verloren.«

Gawril schwieg. Sein breites Gesicht war versteinert. Er stellte den Motor nicht ab, er gab das letzte Gas hinein. Die Scheinwerfer des sowjetischen Kanonenbootes blinkten wieder. Und dann der dritte Schuß.

»Gott sei bei uns!« schrie Kolka. Mit beiden Armen preßte er Bettina an sich und drückte ihr Gesicht an seine Brust. »Wir werden in die Luft fliegen wie ein Stück Holz im Sturm.«

Der dritte Schuß lag wieder etwas weiter vor ihnen, der nahen Küste zu. Das Meer wurde hochgepeitscht, eine Wassersäule ringelte sich in den Nachthimmel. Die Scheinwerfer glitten über das dunkle Wasser, tastende, grellgelbe Finger, die nun keine Signale mehr gaben, sondern das auf den Wellen tanzende kleine Fischerboot zu ergreifen versuchten.

»Diese Hunde!« schrie Gawril. »O diese Hunde! In persischen Gewässern sind wir! Sie verletzen die Grenze! Seht sie euch an, näher kommen sie, ohne Rücksicht auf die Politik! Schämen sollte man sich, Russe zu sein!«

Das sowjetische Wachboot rauschte mit hoher Bugwelle heran. Kleiner wurde der Abstand, aber nun schoß es nicht mehr, sondern versuchte, den Weg des Fischkutters abzuschneiden und ihn von der Küste wegzudrängen.

Kolka und Bettina starrten mit weiten Augen auf dieses Rennen, bei dem ihr Leben entschieden wurde. Keine Hoffnung sahen sie mehr. Die starken Motoren des sowjetischen Kriegsschiffes trieben es über die Wellen, als könne es fliegen. Dagegen rumpelte und stotterte der Motor Gawrils zum Gotterbarmen, und hier half kein Beten mehr, kein Glaube an das Gute, keine Hoffnung auf ein Wunder. Der Stärkere siegte wieder, und das wird sich nie ändern auf der Welt.

»Hurra! Hurra!« schrie plötzlich Gawril, und es war erschütternd, daß er es auf deutsch brüllte. In diesen Minuten der Todesangst fiel alles von ihm ab, was er in den vergangenen Jahren angenommen hatte: sein Russentum, sein Name Gawril Andrejewitsch Kokurin, sein Leben als Fischer in einem Dorf an der Küste des Kaspischen Meeres. Er war wieder Gustav Korras aus Spiekeroog, der ostfriesischen Insel, und er fuhr um sein Leben, um dieses herrliche, wilde, schwere, verfluchte, geliebte Leben, das er schon einmal um Haaresbreite verloren hatte, damals bei der Kesselschlacht von Kalatsch, westlich von Stalingrad. Als die sowjetischen Panzerspitzen seine Stellung überrollten und sie nicht an Gegenwehr dachten, sondern einfach dastanden, die brummenden T 34 anstarrten und nicht begriffen, daß es Russen waren. Denn als sie die Panzer aus dem Wald kommen sahen, hatten sie ihnen noch zugewinkt … es sind Beutepanzer, Jungs, hatten sie gedacht … die Panzerschule in Kalatsch bildet ja an sowjetischen T 34 aus. Und dann krachte es um sie herum, und zu neunzig Prozent wurde die Kompanie zerfetzt … winkende, lachende, fröhliche Jungs, deren Gliedmaßen in einem Feuerwirbel durch die Luft flogen.

1942. Stalingrad. Und Gustav Korras aus Spiekeroog überlebte. Er überlebte auch die Gefangenschaft, er überlebte zweimal Typhus und einmal Gelbfieber, neunmal einen Sturm auf dem Kaspischen Meer und viermal einen Blitzschlag in die Mastspitze. Und nun, 1966, sollte es zu Ende sein? Nein, es war nicht zu Ende!

»Hurra!« schrie Gawril wieder und zeigte auf die Küste. Zwei längliche Schatten glitten auf sie zu, und nun flammte es auch dort auf, Scheinwerfer und Blinklichter, und im Widerschein der Lichter erkannten sie hochgereckte Geschützrohre und eingeschwenkte Vierlingsflak.

»Iranische Marine!« brüllte Gawril und tanzte um sein Steuerrad herum. »Wir sind gerettet! Wir haben es erreicht! Sie beschützen uns! Jetzt müssen sie abdrehen, die sowjetischen Hunde! Jetzt müssen sie zurück.« Und dann tat Gawril etwas, was Kolka wohltat, denn es entsprach seinem eigenen Denken: Er stellte sich an die Bordwand, mit dem Rücken zu dem langsamer fahrenden sowjetischen Kanonenboot, und streckte seinen Hintern vor.

»Am Arsch leckt mich, Brüderchen!« schrie Gawril hell. Dann wandte er sich wieder um, machte eine kleine Verbeugung vor Bettina und sagte brav: »Entschuldigung, Töchterchen. Aber es mußte sein. Ich wäre sonst geplatzt.«

Das sowjetische Kanonenboot stellte plötzlich alle Motoren ab. Ganz ruhig lag es auf den Wellen, tanzte ein wenig und war hell erleuchtet. Die iranischen Wachboote blinkten noch immer, ihre Scheinwerfer erreichten nun das Boot Gawrils und tauchten es in grelles Licht.

»Auch das sind Idioten!« sagte Gawril böse. »Was soll die Beleuchtung?«

Die Antwort kam sofort. Aus vier überschweren Maschinengewehren schossen die Sowjets. Ein Rattern und Pfeifen und Jaulen war in der Luft, in die Bordwand schlug es ein, und Kolka warf sich zu Boden, riß Bettina mit und legte sich schützend über sie.

»Licht aus!« brüllte Gawril und kroch auf allen vieren in den Schutz des Ruderhauses. »Eine Zielscheibe sind wir ja. Und sie schießen in persischen Gewässern. Keiner glaubt es, wer's nicht selbst erlebt hat.«

Das Licht erlosch. Die iranischen Boote schwenkten ein, nahmen die Sowjets in die Zange, ein Warnschuß donnerte durch die Nacht. Noch einmal jagte eine Salve der russischen MGs über das Boot, und Kolka stöhnte auf, griff sich an die Schulter und rollte zur Seite, weg von Bettina. Dann lag er auf dem Rücken, und sein ganzer Leib zitterte, und seine Beine schlugen auf den Plankenboden.

»Vater!« schrie Bettina und kniete neben ihm. Sie riß ihm die nasse Jacke und das Hemd vom Körper und sah den Einschuß in der linken Schulter. Ein großes Stück Fleisch war weggerissen, und das Blut strömte aus der Wunde, wie Wasser aus einer Felsenquelle.

Auch Gawril kroch heran. Noch war es nicht sicher, ob die Sowjets nachgaben und abdrehten und den sicheren Fang laufenließen. Ein leichtes war es, das Fischerboot in das Meer zu schießen, es mit zwei oder drei gutgezielten Granaten zu zerfetzen. Die Diplomaten würden dann schon alles regeln, am Verhandlungstisch sah alles anders aus, denn wer will einen Krieg, nur weil ein Fischerkahn versenkt wurde? Ein paar scharfe Noten gibt es, ein paar Proteste – doch sie sind nur Papier, das man abheftet und verstauben läßt. Sinnlose Worte, über die man lacht, denn nichts steht hinter diesen Protesten, keine Strafe, keine Repressalie, keine Vergeltung. Nur leere, tönende Worte sind's. Das Ansehen in der Welt? Pfeif was drauf! Nicht auf das Ansehen kommt es an, sondern auf den Beweis der Macht! Und in einer Woche ist doch alles vergessen. Diplomatische Noten sind kurzlebiger als ein Alkoholrausch. Manchmal glaubt man, daß sie daraus überhaupt erst geboren wurden.

Aber das sowjetische Kanonenboot schoß nicht. Es drehte ab und rauschte mit voller Kraft zurück in die neutralen Gewässer des Kaspischen Meeres.

»Er verblutet!« schrie Bettina, als sich Gawrils Kopf um das schützende Ruderhaus schob. »Die Schulter hat's ihm aufgerissen! Er ist schon ohnmächtig!« Sie hatte den Kopf Kolkas in den Schoß gelegt, ihre Bluse heruntergerissen und drückte den Stoff auf die sprudelnde Wunde. Wenig half es, wie ein Schwamm saugte sich die Bluse voll, und bald lief Bettina das Blut über die Hände und Unterarme und über die Schenkel.

Gawril rannte herum und suchte seinen Medizinkasten. Verbandszeug hatte er immer an Bord, denn oft kommt es vor, daß sich jemand an der Harpune verletzt, an den Ankerketten, an den Netzhaken, an der Winde. »Zum Teufel, wo ist der Kasten?« schrie er und warf alles auf Deck, was er in einer großen Kiste neben dem Ruder fand. Altes Ölzeug, Leinen, Stiefel, Ketten und zerbrochene Netzschwimmer aus Kork. Erstaunlich war's, was sich so alles ansammelt in einer einzigen Kiste, das Ruderhaus war fast voll von alten Sachen. Endlich stieß Gawril auf die Bordapotheke, lief mit ihr zu dem besinnungslosen Kolka und warf die blutnasse Bluse über Bord, die Bettina noch immer gegen die große Wunde preßte.

»Eine schöne Scheiße ist das!« sagte Gawril, als er dicke Lagen Zellstoff auf den Einschuß legte. »Aber keine Sorge, Töchterchen, nur eine Fleischwunde ist's. Er wird es überleben. Ein Loch wird er vielleicht in der Schulter behalten. Na ja, irgend etwas muß er ja als Erinnerung mitbringen von Mütterchen Rußland.«

Sie waren mit dem Verbinden so beschäftigt, daß sie nicht merkten, wie ein Ruderboot der iranischen Wachschiffe bei ihnen anlegte und drei Matrosen und ein Offizier an Bord kletterten. Erst als sie um das Ruderhaus herumkamen, blickte Gawril auf und stieß Bettina an.

»Nun sind wir wirklich gerettet«, sagte er. »Gott hat uns beschützt.«

Und in der Art russischer Bauern bekreuzigte er sich, ehe er sich wieder zu Kolka wandte und ihm ein Fläschchen mit Riechwasser unter die Nase hielt.

Bettina aber lächelte, und gleichzeitig weinte sie dabei, und sie gab dem iranischen Offizier die Hand, die rot und klebrig von Blut war.

*

Gawril Andrejewitsch Kokurin sahen sie nicht wieder.

Es gab keinen Abschied von ihm, nicht einmal einen Dank konnten sie ihm sagen. An der Küste wurden sie getrennt. Kolka kam in ein Militärlazarett, Bettina folgte ihm, und Gawril, so sagte man ihnen, hatte man nach einem kurzen Verhör freigelassen und auf eine Bestrafung wegen Verletzung der Grenze verzichtet. Er wollte eine mondlose Nacht abwarten, um sich dann im Schatten der Küste wieder nach Nordosten zu schleichen, zurück in sein Dorf, zu seiner Frau, den Kindern und den anderen deutschen Kameraden, die Russen geworden waren und glücklich dabei lebten.

Im Marinelazarett von Rescht wurden Kolka und Bettina über eine Woche lang verhört, ehe man sie weitertransportierte nach Täbris, der alten, herrlichen Teppichstadt. Dort waren sie Gast eines Generals, der sich dreimal hintereinander die Lebensgeschichte Kolkas erzählen ließ, als sei es eine Fortsetzung von 1001 Nacht. »Ein modernes Märchen«, sagte er denn auch. »Kaum zu glauben. Was ein Krieg so alles möglich werden läßt. Und was haben Sie jetzt vor?«

Der General sprach ein gutes Französisch, und Bettina dolmetschte. Kolka hatte den Blutverlust überstanden. Man hatte ihm eine Kochsalzinfusion gemacht und drei Tage lang einen Traubenzucker-Dauertropf an die Armvene angeschlossen, bis er wieder so kräftig war, daß er fluchen und schimpfen konnte, vor allem mit einem jungen iranischen Sanitäter, der ihm die ›Ente‹ so ungeschickt unterschob und anlegte, daß er das Bett näßte.

Die Wunde war harmlos, das sah man jetzt. Ein großes Fleischstück war weggerissen worden, denn die Kugel aus dem überschweren MG war schräg durch die Schulter gegangen, ohne einen Knochen anzukratzen. Ein wenig eitern würde es vielleicht, und schmerzhaft war es auch, aber Kolka nahm es mit Humor.

»Bin ich eine Nackttänzerin, die ein Loch an der Schulter geniert?« lachte er. »Oha, Töchterchen, kräftig genug bin ich schon, daß ich weiterkann nach Deutschland.«

Aber so einfach war das nicht. Denn mit dem Betreten des Bodens einer sogenannten ›freien Welt‹ – war sie frei?, man wird es noch erleben, Freunde! – kam die neue, große, bisher unterdrückte Sorge zu ihnen: Was war mit Dimitri geschehen? Wo lebte er? War ihm der Sprung in den Westen gelungen?

»Ich werde in Beirut anrufen lassen«, sagte der iranische General, nachdem er von Bettina auch die wunderliche Geschichte ihrer Liebe zu Dimitri Sergejewitsch Sotowskij erfahren hatte. »Hafis müßte noch leben! Unser großer Dichter Hafis. Ein Gedicht würde er auf Sie machen, Mademoiselle, und es würde ein unsterbliches Gedicht werden.« O ja, galant war der General. Welcher Orientale ist es nicht in Gegenwart einer so schönen Frau wie Bettina.

Aber die Telefonate mit Beirut waren ergebnislos.

In der deutschen Handelsmission sagte man ganz deutlich, daß von einem Russen Sotowskij nichts bekannt sei. Es hätte sich keiner gemeldet, und ein Aktenvermerk sei auch nicht zu finden.

Bitte schimpft nicht, Freunde, auf diese Deutschen. Was jetzt hier geschah, war bloß ein großer Irrtum. Der Mann in der Telefonzentrale, mit dem Sotowskij wochenlang sein Frage-und-Antwortspiel getrieben hatte – »Hier Sotowskij!« – »Nichts!« – war in Urlaub gefahren. Für zwei Monate nach Deutschland. Seine Mutter wurde 75 Jahre, seine Schwester brauchte ihn als Paten für das vierte Kind, sein jüngerer Bruder rief nach ihm als Trauzeugen. Man sieht, ein volles Programm. Sein Ersatzmann aber kannte keinen Sotowskij, denn Dimitri hatte in der letzten Woche nicht mehr angerufen. Das ewige ›Nichts‹ drückte ihn nieder. Es klang in seinen Ohren wie ›tot‹. Und das war das letzte, womit er sich abfinden wollte. So vergrub er sich in die Hoffnung, daß es doch noch einmal heißen würde: »Ja, sie sind hier!« Aber er rief acht Tage lang nicht an, aus Angst, wieder das schreckliche ›Nichts‹ zu hören.

Wer konnte wissen, daß gerade in diesen acht Tagen ein General aus Täbris anrief?

Und der Beamte, mit dem Dimitri gesprochen hatte, war ebenfalls verreist. An die Küste. Zum Schwimmen. Auch Beamte haben ein Recht auf Luft und Sonne, Sand und hübsche Mädchen. Der richtige Ausgleich ist's.

So fand man also keinen Aktenvermerk über einen Dimitri Sergejewitsch Sotowskij und sagte die volle Wahrheit: »Hier ist uns nichts bekannt.«

Also, bitte, schimpft nicht immer auf die Deutschen!

»Wie kann man das verstehen?« sagte Kolka ratlos zu dem iranischen General, als das Telefonat mit Beirut sogar schriftlich, wie ein Protokoll, vor ihm lag. »Dimitri hat damals die sowjetische Öldelegation verlassen und wollte sich unter den Schutz der Deutschen stellen.«

»Vielleicht ist er gar nicht geflüchtet?« wagte der General zu sagen. Kolka bekam rote Ohren, und Bettina legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm.

»Kennen Sie meinen Sohn Dimitri?« fragte Kolka dumpf.

»Natürlich nicht.«

»Das rettet Sie vor einer Ohrfeige, General!« O nein, Kolka hatte keine Hemmungen. Nie hatte er sie gehabt, und er war immer gut damit gefahren. Und ungeheuer schwer war es nun für ihn, sich umzustellen auf westliche Formen, wo man höflich und verbindlich ist, eine gute Erziehung demonstriert und unter dem Mäntelchen der Ehrlichkeit genauso lügt und betrügt wie ein usbekischer Kamelhändler. Leider ist's so, aber wer ändert den Menschen?

»Dimitri ist ein Mensch, der sein Wort hält! So habe ich ihn erzogen! Er hat in Beirut die Delegation verlassen. Es wäre ein Verbrechen, nach Deutschland zurückzukehren, ohne nachzuforschen, wo er geblieben ist.« Kolka sah fragend Bettina an, und – verdammt wollte er sein – nun dachte er wieder russisch und schämte sich nicht einmal dafür: Dimitri ist mein Sohn, nicht mein leiblicher wie Wolfgang, aber er nennt mich Väterchen, ich habe ihn großgezogen, ich habe mit ihm gelebt und ich war glücklich mit ihm, dem schönen, stolzen, klugen Jungen. Ein Hundesohn wäre ich, wenn ich ihn irgendwo allein ließe und ohne ihn wegführe in die Heimat.

Wie mag sie überhaupt aussehen, die Heimat, dachte er plötzlich. Ein alter, bohrender Gedanke war's, und immer, wenn er über ihn kam, wurde Kolka fast krank.

War es noch die Heimat?

Über zwanzig Jahre lagen zwischen Erinnerung und neuer Zukunft. Zwanzig Jahre, die nicht nur die Welt, sondern auch die Menschen verändert hatten. Und auch die Heimat.

Gab es das noch, das deutsche Vaterland?

Oder war es nur ein Stück Erde, wo man sein Geld verdiente?

War es gleichgültig, ob man in Göttingen lebte oder in Tbilisi? In Köln oder Moskau? In Hamburg oder Leningrad?

Bettina nickte zurück, als sie Kolkas fragenden Blick sah.

»Erst müssen wir Dimitri finden«, sagte sie. »Vater, versprich mir, daß wir nicht ohne Dimitri nach Deutschland fahren.«

»Das ist ein Wort, Töchterchen!« Kolka lachte und sah den iranischen General stolz an. »So spricht mein Kind!« sagte er selbstbewußt. »General, wenn Sie uns noch einen großen Gefallen erweisen können: Besorgen Sie uns Flugkarten nach Beirut. Daß wir keine Spione sind, sondern armselige Wanderer zwischen den Fronten, das dürfte man doch schon erkannt haben.«

Und so geschah es. Zwar warteten Kolka und Bettina noch vier Tage, bis alle Formalitäten erfüllt waren, aber dann durften sie in Teheran das Flugzeug nach Beirut besteigen, und es machte ihnen gar nichts aus, daß zwei iranische Geheimpolizisten sie bis in die Maschine begleiteten und erst den Flugplatz verließen, als der glänzende Riesenvogel sanft in die Luft schwebte.

»Das nennt man abschieben«, sagte Kolka, als sie in den Wolken waren. »Man will ganz sicher sein, daß wir nicht zurückkommen und neue Schwierigkeiten machen.«

Dann lehnte er sich zurück, das Flugzeug schwankte etwas, Kolka überfiel eine krankhafte, grünliche Blässe und dann tastete er nach der gewachsten Tüte.

»Armer Paps!« sagte Bettina, als Kolka zu würgen begann. Und dann lachte sie, weil Kolka sie wütend anstarrte und nicht schimpfen konnte, weil er mit der Entleerung seines Magens beschäftigt war.