*

Die Zeitungs-Aktion verlief sehr erfolgreich.

Sie brachte größere Erfolge, als General Oronitse und Oberst Jassenskij vom GRU erwartet hatten. Um sieben Uhr morgens erschien die Tbilisi Prawda – bereits um acht Uhr telefonierten sieben Miliz-Wachen mit dem Hauptquartier. Drei geschlossene Jeeps waren unterwegs. In einem Haus in der Frunse-Straße erlitt ein Mann einen Tobsuchtsanfall und zerschlug Türen und Fenster und warf das Mobiliar auf die Straße, denn seine eigene Schwiegermutter hatte ihn angezeigt und dann eingesperrt.

»Das ist schrecklich, Fjodor Nikolajewitsch«, stöhnte Oberst Jassenskij und wischte sich den Schweiß mit einem großen Taschentuch ab. »Das ist ja fürchterlich! Die Leute sind außer Rand und Band. Verrückt sind sie. Was sollen wir machen?«

»Abwarten, Safon Kusmajewitsch«, sagte General Oronitse nicht ohne innere Freude. Blamagen anderer sind immer ein Anlaß seelischer Purzelbäume. »Vielleicht ist der richtige darunter.«

Das war geschehen: Bis elf Uhr vormittags hatte man neun Männer mit einem ›Schweinchengesicht‹ eingefangen. Auch den Tobenden aus der Frunse-Straße, der auf dem Hauptquartier weiterschrie, seine Schwiegermutter Olga einen Teufelsdreck nannte und vergeblich versuchte, dem Kommissar vom Dienst zu erklären, daß er das Opfer einer Intrige sei, daß es um sein Geld gehe, daß die Schwiegermutter – der Satan möge sie schänden! – schon immer sein Feind gewesen sei … was half's? Nach dem Mittagessen – zu dieser Zeit saßen auch vierzehn heulende Mädchen und eine Frau mit einem Säugling, den sie vor allen Beamten stillte, im Gewahrsam – begannen Oronitse und Jassenskij die Verhafteten zu verhören.

Es stellte sich schnell heraus, daß die Bildveröffentlichung nur Verwirrung, aber keinerlei Erfolge gebracht hatte. Von den ›Schweinchengesichtigen‹ blieben zwei übrig – der Mann aus der Frunse-Straße war darunter –, die keinen Beweis erbringen konnten, wo sie am Kirmestag gewesen waren. Von den Mädchen wurden alle wieder entlassen, zuallererst die stillende Frau.

»Man soll es nicht für möglich halten!« schrie Oberst Jassenskij, als man sie ihm vorführte. »Habe ich es mit Paralytikern zu tun? Glaubt man, eine stillende Stewardeß fliegt durch die Luft? Weg mit ihr, ihr Schafsköpfe!« Die Milizionäre gingen beleidigt hinaus. Wie soll ein einfacher Polizist wissen, welche Sitten in deutschen Flugzeugen herrschen? Möglich ist doch alles im dekadenten Westen.

»Zu Ihnen, Bürger«, sagte Jassenskij zu dem Mann aus der Frunse-Straße. Das Schwiegermutter-Opfer saß weinend an der Wand, hatte ein blaues linkes Auge, denn der Kommissar hatte es nicht geduldet, daß man auch seine Möbel zerschlug. Man muß ihm recht geben, Genossen. Wo käme man hin, wenn man Unrecht mit Gewalt vergilt?

»Wo waren Sie am Kirmestag?« fragte Jassenskij.

Und General Oronitse, nur um Jassenskij zu ärgern, fügte hinzu: »Schildern Sie uns Ihren Tagesablauf vom Aufstehen bis zum Zubettgehen.«

»Wie soll ich das sagen?« Der Mann verdrehte die Augen. »Führe ich Buch über jeden Schritt? Muß ein ehrlicher Sowjetbürger jetzt immer ein Heft mit sich herumtragen und eintragen: Montag, 9.38, fünf Minuten auf dem Lokus. Zeuge: Tatjana Hallikowa, die Putzfrau. – Ist das die neue Freiheit, Genossen?«

Oberst Jassenskij war wütend. Auf seinen Einfall mit dem Zeitungsbild, auf den Mißerfolg der Suche, auf General Oronitse, der als Militärbefehlshaber blütenweiß aus der Affäre herausging, denn ihm hatte man keine Exekutive gegeben. Und nun dieser Mann mit seiner Impertinenz.

Jassenskij beugte sich vor und gab dem Mann aus der Frunse-Straße eine schallende Ohrfeige.

»Oh! Was tut ihr, Genossen?« schrie der Arme, kippte vom Stuhl und legte sich hin wie ein Toter.

Eine Stunde später wußte man, warum er so störrisch war. Schwiegermütterchen Olga hatte eine gute Nase: Nikita Georgijewitsch betrog seine Frau seit sechs Monaten. Auf der Kirmes war er mit dem süßen Schwälbchen Marja gewesen, hatte Honig geschleckt, war Geisterbahn gefahren, immer wieder, denn die längste Strecke ging durch völlige Dunkelheit, kurzum: Nikita hatte Angst, daß dies ins Protokoll kam und Olga, der Drache in seinem Haus, davon erfuhr. Beruhigt war er, als man ihm versicherte, das bliebe Amtsgeheimnis … und da erst sagte er aus.

»Auch eine Pleite, Safon Kusmajewitsch«, meinte General Oronitse, als der Mann aus der Frunse-Straße entlassen war. »Es scheint, wir haben kein Glück.«

»Man wird andere Mittel anwenden.« Oberst Jassenskij sah etwas verstört aus dem Fenster auf die Wachen, die vor dem Hauptquartier hin und her pendelten. »Unsere große Hoffnung ist der Bruder in Bonn.«

»Was soll er schon nützen?« Oronitse bot Jassenskij eine Papirossa an, und der Oberst rauchte sie gierig. »Bisher war es doch so, daß wir das Mädchen haben wollen, um den Bruder zu fangen. Und nun?«

»Wir machen es jetzt umgekehrt!« Jassenskij blies den Zigarettenrauch aus gespitzten Lippen, als pfiffe er ihn hinaus. »Wir werden in Kürze veröffentlichen, daß Agenten ein guter Fang gelungen ist. Oberleutnant Wolter wurde entführt.«

Oronitse sah den Oberst entgeistert an.

»Was soll das?« sagte er fast böse.

»Das halten ihre Nerven nicht aus, wetten?«

»Gut. Dann haben Sie beide. Was kommt dabei heraus?«

»Genosse General … wir haben nur das Mädchen. Das mit dem Oberleutnant, das war nur eine Falle.« Jassenskij lächelte milde über das ehrliche Gehirn des Generals. »Wenn wir aber das Mädchen haben, geht's wieder richtig herum: wir werden den Oberleutnant mit der Nachricht bekommen, daß wir seine Schwester haben. Ein Karussell … aber wir werden nicht schwindelig dabei.«

»Machen Sie, was Sie wollen!« sagte General Oronitse laut. »Ich bin Soldat, kein Agentenjäger.«

»Es wird sich bald alles klären, Fjodor Nikolajewitsch. In Bonn arbeitet bereits Borokin an dem Fall.«

»Wer ist Borokin?«

»Major der Roten Armee und mit hohen Tapferkeitsauszeichnungen dekoriert. Er gilt als völlig gefühllos.« Jassenskij nickte ein paarmal zufrieden. »Wir schicken nicht unsere schlechtesten Leute nach Westdeutschland, bestimmt nicht.«

»Und Borokin hat schon Kontakt mit dem deutschen Oberleutnant?«

»Indirekt.« Jassenskij lächelte hintergründig. »Sie schlafen auf einer gemeinsamen Matratze.«

*

Vierzehn Tage sind für Verliebte wie ein Hauch aus einem blühenden Jasminbusch. Er streichelt über die heißen Stirnen, und sein Duft betäubt.

Ajax und Anette von der Hardthöhe konnten mittlerweile bei Fuß gehen, über eine Mauer springen, einen großen Holzknochen apportieren und bei »Faß zu!« Anzüge zerreißen. Wolfgang Wolter hatte sich eine Woche Urlaub genommen, offiziell, um eine vom Winter übriggebliebene Angina auszukurieren, in Wahrheit, um jeden Tag mit Irene Brandes zusammen zu sein.

Sie fuhren mit den schlanken weißen Schiffen den Rhein hinauf bis Mainz, vorbei an den romantischen Burgen und Weinhängen, und auf einer dieser Fahrten geschah es, daß sie das Gegenschiff verpaßten und in Mainz festsaßen.

»Was nun?« rief Wolfgang Wolter aus und schien sehr verzweifelt zu sein. »Das letzte Schiff! Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als uns ein Hotel zu suchen.«

»Das werden wir wohl müssen«, sagte Irene Brandes und lächelte vor sich hin.

Daß es auch eine Eisenbahn gab, die sie schneller als ein Schiff nach Bonn zurückgebracht hätte, darüber sprach man nicht. Sie fanden ein kleines Hotel direkt am Rhein, saßen auf einer gläsernen Terrasse im Abendrot und tranken Wein.

In dieser Nacht kam sich Irene Brandes abscheulich vor. Sie lag mit dem Kopf auf Wolters Brust und spielte mit zärtlichen Fingern an seinem Gesicht. Sie streichelte ihn, zog die Konturen seiner Nase und seiner Lippen nach und streichelte über seine Augen.

Und dann fragte sie, und es war ihr, als spucke sie Galle aus: »Wolf … was bist du eigentlich? Ich weiß gar nichts von dir.«

»Oberleutnant.« Wolter lachte. »Aber wenn du gedacht hast, wir lägen auch im Bett mit strammer Haltung, dann hast du dich geirrt.«

»Du bist so schrecklich spöttisch, Wolf.« Sie maulte etwas und zog ihn an den blonden Haaren. »Wie kann man einen Menschen den man liebt, so behandeln?«

»Soll ich dich durchs Zimmer tragen, Elfchen?« fragte er fröhlich.

»Was tust du als Oberleutnant? Stehst du herum und kommandierst? Bildest du junge Soldaten aus?«

»Genau das, mein Prinzeßchen. Ich sorge dafür, daß Uniformen durchgeschwitzt werden und das Lied ›O du schöner Westerwald‹ besonders laut und zackig klingt. Und nun sei still, gib mir einen Kuß … der Morgen ist so schnell da. Sieh dir den Himmel an, er beginnt schon fahl zu werden.«

In dieser Nacht fragte Irene nicht mehr. Er hat mich belogen, dachte sie. Aber das ist sein gutes Recht. Wer bin ich denn? Ein Mädchen, das mit ihm in ein Hotel geht und zärtlich ist. Vielleicht ist es anders, wenn es mir gelingt, daß aus seiner Verliebtheit echte Liebe wird.

Der Gedanke war bitter. Sie schämte sich und drängte sich an den Mann an ihrer Seite, um glücklich zu sein ohne zu denken.

Zwei Tage später kamen alle Vorsätze Irene Brandes' ins Wanken. Wolfgang Wolter holte sie von ihrer kleinen Wohnung ab, fuhr mit ihr ohne weitere Worte nach Bonn, klingelte an der Tür eines neuerbauten Mietshauses, schob sie die zwei Treppen hinauf und durch eine Wohnungstür in eine kleine Diele. Dort stand eine grauhaarige, rundliche Frau mit gütigen Augen und sah Irene forschend an.

Seine Mutter, durchfuhr es sie. Mein Gott, seine Mutter! Er liebt mich wirklich!

»Das ist sie, Mama«, sagte Wolfgang Wolter fröhlich. Er war in Uniform, hängte seine Mütze an den Garderobenhaken und legte den Arm um Irenes Taille. »Das ist Irene Brandes. Wie gefällt sie dir? Sag es ehrlich. Dein erster Eindruck. Sag ruhig: Na ja … oder: Sie paßt zu dir. Aber was du auch sagst, Mama – das ist sie! Ich werde sie heiraten.«

Durch Irene Brandes zog eine lähmende Kälte. Wie eine hereingetragene Puppe stand sie in der Diele, und Agnes Wolter schien zu ahnen, wie es in ihr aussah. Sie glaubte an die mädchenhafte Scheu … wer ahnte etwas von Borokin?!

»Kommt rein, Kinder«, sagte sie. »Es sieht noch wüst aus. Seit drei Tagen wohne ich hier. Wolfgang hat die Wohnung gemietet. An das Geschäft in Göttingen habe ich ›Betriebsferien‹ dranschreiben lassen. Kommt rein!«

»Erst ein Wort über sie, Mama«, rief Wolfgang wie ein trotziger Junge. »Gefällt sie dir?«

»Du machst sie ganz verlegen, Junge.«

»Sie ist wunderbar, Mama! Ihr werdet euch blendend verstehen. Ach Gott … wer sollte sich mit dir nicht verstehen, Mama! Sieh an, wie glücklich ich bin.«

Agnes Wolter nickte stumm und ging voraus ins Wohnzimmer. Dort stand auf einem Radio ein großes, in Gold gerahmtes Bild.

Ein Mädchen in der Uniform der DBOA. Blonde kurze Haare, das Stewardeßkäppi schräg auf dem Kopf. Das Foto, das rund achthunderttausend Menschen in Tiflis gesehen hatten.

Irene Brandes blieb mit einem Ruck vor dem Bild stehen. Nein, schrie es in ihr. Das ist gemein, das ist ein Verbrechen, das ich begehe. Ich sage die Wahrheit. Auf der Stelle sage ich die Wahrheit.

»Meine Tochter Bettina«, sagte Agnes Wolter hinter ihr mit leiser Stimme. »Am 19. Mai ist sie über Rußland abgestürzt. Vermißt.«

»Sie wird wiederkommen«, sagte Irene mit rauher Stimme. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. »Sie wird bestimmt wiederkommen.«

»Ich danke Ihnen.« Über Irenes Arm tastete eine müde, alte Hand. »Ich glaube auch, daß sie lebt. Ich fühle es. Sie lebt. Es ist schön, daß Sie auch so denken, Irene. Sie sind ein nettes, anständiges Mädchen. Ich freue mich für meinen Wolfgang.«

Das war der Augenblick, wo Irene hätte aufheulen können wie ein getretener Hund.

*

Zwei Abende später rief Borokin bei Irene Brandes an. Er hatte fast sechs Tage keine Meldungen von ihr bekommen und war mit Grund unruhig.

»Mein Täubchen«, sagte seine glatte Stimme im Telefon, und Irene hatte einen Augenblick den Drang, den Hörer hinzuwerfen und vor dieser Stimme zu flüchten, »haben Sie den guten Jurij Alexandrowitsch vergessen? Wie geht es Anette von der Hardthöhe?«

»Sie apportiert schon Holzknochen«, antwortete Irene tief atmend.

»Und was haben Sie apportiert, Irene?«

»Ihre Ausdrucksweise ist gemein, Borokin!«

»Lassen Sie uns nicht um Worte streiten, Täubchen. Was haben Sie erreicht?«

»Nichts!«

»Wer soll Ihnen das glauben?«

»Wolfgang Wolter und ich, wir wollen heiraten.«

Einen Augenblick lang war es still in der Leitung. Dann hörte Irene ein patschendes Geräusch. An seinem Tisch in der sowjetischen Botschaft in Rolandseck klatschte Borokin in die Hände. Der Beifall eines Satans.

»Bravo, Schwänchen! Das ist gekonnt!« sagte er danach. »Mit Herz und Hand fürs Vaterland … Sie sind besser, als ich annahm.«

»Sie werden Ihre Informationen bekommen, und dann will ich Sie nie wiedersehen!« Irene umklammerte den Hörer. Aus ihren Augen liefen die Tränen, aber erst als sie über ihre Lippen rannen, merkte sie, daß sie weinte. »Lassen Sie mich doch in Ruhe, Borokin. Bitte, lassen Sie mich in Ruhe. Bitte!«

»Ihre Nerven scheinen nicht mehr die besten zu sein, Irene«, sagte Borokin mit Sorge in der Stimme. »Am besten ist, ich komme nachher einmal vorbei.«

»Nein!« schrie Irene. »Nein! Ich bin nicht da!«

»Wo sind Sie?«

»Wolfgang und ich gehen aus. Vielleicht in die Beethovenhalle. Vielleicht fahren wir auch nach Köln, ich weiß es noch nicht.«

»Dann also morgen, Irene.«

»Ja, morgen, Jurij Alexandrowitsch.«

Das Telefon fiel ihr aus der Hand, als Borokin auflegte.

Gleich kommt Wolfgang, dachte sie. Die Welt würde untergehen, wenn er und Borokin zusammenträfen. Wie gut, daß dieser vorher angerufen hatte.

Als Wolfgang Wolter in das kleine Appartement kam, schob er einen großen Rosenstrauß vor sich her, an dem ein kleines Päckchen hing. Ein kleines, viereckiges Kästchen, und Irene wußte, was darin war.

Die Ringe. Er meinte es ernst.

Irene Wolter würde sie bald heißen. Und die ganze verworfene Welt der Irene Brandes würde ausgelöscht sein.

Sie warf sich ihm an den Hals und umarmte ihn. »O Wolfgang«, schrie sie fast. »Sei lieb zu mir … sei immer lieb zu mir …« Und dann weinte sie haltlos, und Wolfgang hielt sie fest, streichelte ihren zuckenden Rücken, kam sich hilflos vor und glaubte, es sei unfaßbares Glück, das sie so erschütterte.

Dann saß er auf der Couch, hatte den Rock ausgezogen, denn es war ein schwüler Abend, Gewitter lag in der Luft und fahle Wolken schwebten über den Rhein heran, aus dem Radio erklang Tanzmusik, und Irene stand an einer kleinen klappbaren Hausbar und mixte aus Whisky, Cola und Zitronensaft unter Verwendung von viel Eis und Sodawasser einen Erfrischungstrank.

Niemand hörte, wie die Tür aufgeschlossen und wieder zugedrückt wurde, niemand sah, wie sich die Zimmertür bewegte und öffnete. Erst als der Mann halb im Zimmer stand, drehte sich Irene Brandes um. Das Glas, das sie Wolfgang Wolter bringen wollte, fiel aus ihren starren Fingern, zerschellte auf dem Teppich, und die Flüssigkeit spritzte weit durchs Zimmer, bis an die Hosenbeine des Mannes in der Tür.

»Na, na«, sagte Borokin freundlich. »Wird jeder Besucher beim Eintritt getauft?«

Wolter fuhr auf seiner Couch herum. Der Mann in der Tür lächelte ihm zu und nickte zum Gruß. Elegant sah er aus, braungebrannt und sportlich. Woher kenne ich ihn? dachte Wolter. Dieses Gesicht, ich habe es schon gesehen. Nicht in Natur – auf einem Bild … ja, gewiß … in der Mappe ›Sowjetisches Botschafts-Personal‹. Ein Paßfoto. Ich weiß es ganz genau. Es gibt gar keinen Irrtum, er ist ein Russe. Mein Gedächtnis hat noch nie versagt. Er gehört zur sowjetischen Botschaft.

»Wie kommen Sie herein?« fragte Irene tonlos.

»Gute Freunde haben immer einen Schlüssel.« Borokin hob einen Schlüsselbund hoch und ließ ihn klingeln. Lustig klang das, aber es war das Läuten aus der Hölle.

»Wer sind Sie?« fragte Wolter und musterte Borokin mit hartem Blick. »Warum dringen Sie hier ein? Wer hat Ihnen den Schlüssel gegeben?«

»Es ist eine Unart des Westens, immer so viel auf einmal zu fragen.« Borokin trat näher und schloß hinter sich die Tür. Irene stand wie versteinert neben der kleinen Hausbar.

Ich möchte sterben, dachte sie. Sterben … ich habe nichts mehr auf dieser Welt verloren.

»Es freut mich, Herr Wolter«, sagte Borokin mit seiner einschmeichelnden Stimme, »daß wir uns hier auf neutralem Boden so gemütlich treffen. Mein Name ist Jurij Alexandrowitsch Borokin.«

»Die Abwehr!« sagte Wolter hart.

»Nichts von Geschäften, lieber Oberleutnant.« Borokin winkte mit beiden Händen ab. »Im Boudoir einer schönen Frau ist es vielleicht allein möglich, daß Ost und West sich zusammensetzen und etwas plaudern. Sehen Sie – das wollte ich. Und es freut mich, daß wir alle so hervorragender Laune sind.«

Borokin steckte den Schlüsselbund ein, zog ebenfalls seinen Rock aus und setzte sich ans andere Ende der Couch.

Mit ernsten, lauernden Augen saßen sich Wolter und Borokin gegenüber.

Und jeder wußte, daß es ein erbarmungsloser Abend würde.

»Etwas Kühles wäre sehr schön«, sagte Borokin, als man sich lange genug stumm gemustert hatte. »Du bist eine Meisterin im Mixen von Drinks … mach uns einen Champagner-Cobbler, sei lieb, Irene.«

Wolfgang Wolter nagte an der Unterlippe. Nichts war mehr da von seinem offenen, jungenhaften Gesicht. Mit großen Augen sah Irene Brandes diese Verwandlung: ein hartes, kantiges Gesicht mit dunkelblauen, gar nicht mehr zärtlichen, sondern kalten Augen.

»Mir einen Whisky, bitte«, sagte er, ohne Irene anzusehen. »Sie sollten Wodka trinken, Major Borokin.«

»Ach! Jetzt wissen Sie, wer ich bin?« Borokin winkte ab. »Wodka ist langweilig, lieber Oberleutnant. Man glaubt im Westen immer, der Wodka sei unser Lebenswässerchen, ohne Wodka seien wir nur halbe Menschen. Es ist, wie so vieles, falsch am russischen Bild. Ich trinke zum Beispiel lieber Sekt, weil er anregt und beschwingt macht, und Genosse Kolojew von der Handelsabteilung liebt Magenbitter. Ausgerechnet Magenbitter. Mit Sprudelwasser verlängert er ihn und spritzt ihn mit Zitronensaft ab. Was es alles gibt, Freunde.«

»Kommen wir zur Sache, Major Borokin«, sagte Wolter hart.

»Wir sind dabei, mein Bester.«

»Sie sind doch hier nicht eingedrungen, um sich mit mir über Wodka oder Magenbitter zu unterhalten.«

»Im Augenblick doch. Ich wüßte kein besseres Thema, als in Gegenwart einer so schönen Frau wie Irene von anregenden Getränken zu sprechen.«

Mit zitternden Händen – die Flüssigkeiten schwappten über die Gläserränder – servierte Irene die Getränke. Sekt für Borokin, Whisky für Wolter, für sich einen Kognak. Dann setzte sie sich in den Sessel, den Männern gegenüber, legte die Hände in den Schoß und starrte auf den Boden. Was sollte sie sagen?

In ihr war es leer, sie kam sich auf dieser Welt überflüssig vor.

»Nastarowje!« sagte Borokin gutgelaunt und hob sein Glas. Wolter nippte an seinem Whisky und stellte das Glas schnell wieder zurück auf den kleinen Tisch vor der Couch.

»Ein schöner Tag«, sagte Borokin. »Wir haben Glück mit dem Wetter. Wenn man bedenkt, welch ein Mistwetter es am 19. Mai war. Eine ganze Gewitterfront prallte gegen die armenischen Berge. Wie aus Kübeln schüttete es. Der Deutsche hat einen guten, bildhaften Ausdruck dafür: Wolkenbruch! Aber jenseits der Berge, bei uns in Grusinien, war schönes Wetter. So verrückt ist der Himmel! Und wenn dann ein Flugzeug sich verirrt …«

Wolfgang Wolter wurde blaß. Seine Finger zogen sich zu Fäusten zusammen. »Sie reden von Bettina, Major Borokin«, sagte er heiser. »Bitte, keine langen asiatischen Umschweife und Höflichkeiten. Sie wollen sich mit mir über meine Schwester unterhalten?«

»Sie ist noch vermißt, nicht wahr?«

»Warum fragen Sie? Sie wissen es besser als ich. Bettina ist seit dem Unfall verschwunden.«

»Und warum wohl?« Borokin lächelte mokant.

»Wenn wir das wüßten, wäre es uns allen leichter.«

»Ich kann Sie in diesem Punkt leicht wie eine Feder machen.« Borokin lachte leise über sein Wortspiel. »Ihre Schwester flüchtete in die kaukasischen Berge, weil Sie Offizier der deutschen Abwehr sind. Sie fürchtete Repressalien, Erpressungen, was weiß ich? Wir Russen gelten ja immer als das Schreckgespenst im Westen.«

»Ich glaube nicht, daß meine Schwester derart primitiv denkt.« Wolfgang Wolter sah an Irene Brandes vorbei gegen einen Wandbehang. Ein Gobelin. Eine Jagdszene aus dem 18. Jahrhundert. Woher hat sie das Geld, sich solche Dinge zu kaufen? dachte er. Sie ist eine Sekretärin … so sagte sie. Es waren häßliche Gedanken, und sie taten körperlich weh. Und dann schwenkten seine Gedanken zu Bettina, und er bewunderte den Scharfsinn der Russen, die genau den Grund des Verschwindens Bettinas erraten hatten.

»Es mag eine Enttäuschung für Sie sein, Herr Oberleutnant«, sagte Borokin höflich. Er holte aus seiner Tasche eine Packung echter Papirossy und hielt sie Wolter hin. Wolfgang schüttelte stumm den Kopf. Die Sicherheit des Russen machte ihn vorsichtig und wuchs sich in ihm zu einer inneren Bedrückung aus. Was wußte Borokin? Was war wirklich in Tiflis geschehen? »Bettina – darf ich sie so nennen? – versuchte, illegal über die sowjetisch-türkische Grenze zu kommen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Von ihr.«

Wolter sprang mit einem Satz auf. Es war ihm, als sei in seine Magengrube geschlagen worden. Übelkeit überkam ihn. »Bettina lebt?« fragte er heiser.

»Ja.«

»Wo?«

»Bei uns.«

»Was heißt: bei uns?«

Mein Herz vereist, dachte Wolter. Dieses lächelnde Gesicht Borokins … es ist wie das Haupt der Medusa, bei deren Anblick man erstarrte. Was haben sie mit Bettina gemacht?

»Ihre Schwester befindet sich wohlbehalten an einem Ort, den wir – das werden Sie als Abwehrmann sicherlich verstehen – nicht nennen können.« Borokin genoß den Rauch seiner Papirossa, sah den weißen Wölkchen nach und hatte träumerische Augen. Er dachte an die letzten Meldungen aus Moskau und den zusammenfassenden Bericht aus Tiflis. Dort hatte die blinde Bäuerin, bei der sich Bettina Wolter in eine Russin verwandelte, ausgesagt, daß das schöne Weibchen sich Wanda Fjodorowa nannte. Mit solchen Meldungen kann man etwas anfangen, dachte Borokin. Gold sind sie wert. Ach was, Gold … man sollte sie in Diamanten fassen.

»Sie bluffen dilettantisch«, sagte Wolter mit Fassung. »Warum sollte Bettina sich in Rußland verstecken wollen …«

»Sie nannte sich Wanda Fjodorowa.« Borokin sah in sein Cobblerglas. Es war ihm gleichgültig, welches Gesicht Wolter jetzt machte; er wußte, daß dieser Schlag die richtige Stelle traf. »Und sie versteckte sich aus dem Grund, den Sie primitiv nannten: Ihretwegen! Nachdem wir sie in den Bergen eingefangen haben – verzeihen Sie, Herr Oberleutnant, das klingt, als habe man ein Tier gejagt, aber sie hat sich auch gewehrt wie eine Wildkatze –, gab sie uns sehr vernünftige Erklärungen.«

»Und was soll das alles, Major Borokin?« Wolfgang Wolter nippte wieder an seinem Whisky. »Warum läßt man Bettina nicht ungehindert nach Deutschland zurück?«

»Das ist eine simple Frage.« Borokin schüttelte den Kopf. »Ich habe Sie doch wohl nicht überschätzt?«

»Ich habe damit nichts zu tun.«

»Es ist ein alter deutscher Zug, immer dort ein Held zu sein, wo es sich lohnen würde, ein Feigling zu werden.« Borokin prostete Irene zu, aber sie sah weg, drehte sich herum und begann plötzlich leise zu weinen. »Die Nerven«, sagte Borokin, als er sah, wie Wolter zu Irene gehen wollte, aber sich doch dagegen wehrte. »Lassen wir doch die Nerven, Herr Oberleutnant. Unser Metier ist schmutzig, aber es ersetzt auf die Dauer die Kriege, die noch schmutziger sind.« Er stellte das Glas ab und lehnte sich zurück.

»Wir interessieren uns sehr für die Struktur und das Material jenes geheimnisvollen ›fliegenden Bataillons‹, das an den Grenzen der DDR und der Tschechoslowakei mit Funk und Luftballons antikommunistische Propaganda in den Osten schleust.«

Oberleutnant Wolfgang Wolter wandte sich ab und trat an das verhängte Fenster. Eine Übergardine mit bunten großen Blumen, aber vor seinen Augen wurden sie zu rotierenden, rasenden Kreisen.

»Bitte, gehen Sie. Das heißt … dies ist Irenes Wohnung. Ich werde gehen.«

»Bleib, Wolf …« Es war der erste Satz, den Irene seit dem Eintritt Borokins sprach. Und es war fast ein Aufschrei.

Wolter drehte sich brüsk herum.

»Dann, bitte, weise Major Borokin aus deiner Wohnung!«

Borokin wedelte mit beiden Händen durch die Luft, ehe Irene etwas sagen konnte. Er lächelte breit und strahlte Gemütlichkeit aus.

»Ich bin weit davon entfernt, mich beleidigt zu fühlen«, sagte er. »Ich stamme aus einem Dorf am Don. Luniskoje heißt es. Ein paar Hütten, aber große Schweineherden. Am Donufer und in der Steppe haben wir sie als Kinder gehütet. Stolz waren wir auf die Schweinchen, unser ganzer Besitz waren sie, für uns hätte die Welt nur aus Schweinchen bestehen können. Aber kam man woandershin, hieß es gleich: ›Ah, da kommen die Säue aus Luniskoje!‹ Es hing uns an, bis heute ist es so … und wenn ich einen Menschen aus unserer Nähe treffe, dann sieht er mich an, mustert meine Uniform und fragt: ›Na, Freundchen Major, wie geht es deiner Schweineherde?‹« Borokin hob die Schultern. »So verlernt man es, sich beleidigt zu fühlen.«

»Gehen Sie!« sagte Wolter grob.

»Sofort. Sie wollen Ihre Schwester nicht wiedersehen?«

Wolter fuhr herum. »Ich werde es sofort im Auswärtigen Amt melden!«

»Mein lieber junger Freund, was soll's? Offiziell werden wir sagen, daß wir eine Bettina nie gesehen haben. Wer will's uns beweisen? Nur wir drei wissen, was in Wahrheit geschehen ist. Die Rückkehr Bettinas – oder Wanda Fjodorowas – liegt ganz in Ihrer Hand, Herr Oberleutnant.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Dann wird Ihre Schwester vermißt bleiben wie es auch Ihr Vater ist. Rußland ist groß genug. Wenn Sie eine Perle ins Meer werfen, läuft es davon nicht über.«

»Und wie wollen Sie mir beweisen, daß Bettina wirklich bei Ihnen ist?«

»Ich bekomme mit der nächsten Kurierpost einige Kleidungsstücke Ihrer Schwester als Beweis. Ihren Unterrock zum Beispiel.«

Wolter wandte sich wieder ab und trat ans Fenster. Man sollte von diesen Russen lernen, dachte er. Zeit gewinnen, das ist ihre große Kunst. Ihre Uhren scheinen langsamer zu gehen … aber nach einem Jahrhundert sieht man, daß sie vorausgeeilt sind. Nur ist es dann zu spät, sich darüber zu wundern.

»Welche Garantie bieten Sie?« fragte Wolter knapp.

Borokin hob die Augenbrauen.

»Mein Wort.«

»Ich könnte Sie jetzt wieder beleidigen …«

Borokin sah in seinen perlenden Sekt. »Es träfe mich nicht, denn ich weiß, was Sie sagen wollen. Aber welche Garantie wollen Sie?«

»Einen handschriftlichen Brief von Bettina.«

»Sollen Sie haben«, sagte Borokin sofort.

»Ein Foto neuesten Datums.«

»Keine Schwierigkeit.«

»Die Übergabe meines Materials nur gegen Austausch meiner Schwester. Ich gewähre Ihnen einen Teileinblick, und Sie bekommen das ganze Material, wenn mir Bettina gegenübersteht.«

»Einverstanden.« Borokin erhob sich und zog sein Jackett an. »Sie sind ein guter Geschäftsmann, Herr Oberleutnant.«

Wolfgang Wolter antwortete nicht. Er blieb am Fenster stehen, und er drehte sich um, als Borokin zur Tür ging, vorbei an der noch immer still vor sich hin weinenden Irene, der er beim Vorbeigehen leicht über die blonden Haare strich. Da zuckte sie zusammen wie unter einem Schlag und warf den Kopf zur Seite.

»Wann sehen wir uns?« fragte Borokin, die Hand auf der Klinke.

»Ich rufe Sie an, Major Borokin.«

»Bitte nicht in der Botschaft. Wir können über eine unverdächtige Bonner Nummer miteinander sprechen. Der Fernsprechinhaber ist ein gewisser Hermann Albrechten.« Borokin lächelte wieder, und es war das unergründliche Lächeln Asiens, obwohl er als Dongeborener weit weg von Asien war. »Es hat keinen Sinn, die Überwachung einzuschalten, falls Sie das dachten. Albrechten bin ich … und wenn diese Telefonnummer in Kürze auch abgehört werden sollte, brechen wir die Beziehungen ab. Ganz einfach ist das.«

»Natürlich.« Wolters Stimme hatte jeden Klang verloren. Sie war dumpf und flach. »Sie hören von mir, Major.«

»Ich wünsche noch einen schönen Abend.« Borokin hatte die Tür aufgestoßen und stand halb in der kleinen Diele des Appartements. »Noch eins zur Klärung, Herr Oberleutnant: Irene liebt Sie wirklich.«

»Gehen Sie doch endlich!« rief Wolter gequält.

»Irene befindet sich in der gleichen Lage wie Sie. Ihre Mutter ist in der DDR, im Zuchthaus. Der Preis der Freilassung war der Kontakt zu Ihnen. Verurteilen Sie sie nicht, mein Freund … Irene hat, als sie Sie kennengelernt hatte, darum gekämpft, aus diesem Auftrag herauszukommen. Leider muß Borokin hart bleiben.«

Dann klappte die Tür, und Wolter wartete noch eine Minute, ehe er sich herumdrehte. Irene starrte ihn aus geröteten, vom Weinen verquollenen Augen an.

»Warum hast du mir das alles nicht vorher gesagt?« fragte er leise.

»Ich hatte Angst, Wolf …« Ihre Stimme war kläglich.

»Du hattest kein Vertrauen, Irene.«

»Ich wollte dich nicht verlieren.« Ihr Kopf sank nach vorn. »Ich habe nie gewußt, was glücklich sein bedeutet. Als Kind habe ich die Heimat verloren, als Erwachsene wurde ich nur ausgenutzt. Und heute abend habe ich gesehen, wie sinnlos mein Leben ist.« Sie faltete die Hände und schloß die Augen. »Laß uns auseinandergehen, Wolf. Es hat wirklich keinen Sinn. Ich bringe nur Unglück.«

Wolfgang Wolter wandte sich zum Fenster zurück und zog die Gardine einen Spalt zur Seite. Unten auf der Straße sah er Borokin gehen. Er stieg in einen hellen Wagen und fuhr ab.

»Wir müssen durch diesen Sumpf hindurch«, sagte Wolter. »Und wir werden es schaffen! Du willst deine Mutter wiedersehen … ich will Bettina aus Rußland zurückholen.«

»Du willst doch nicht auf Borokins Bedingungen eingehen?« rief Irene und sprang auf. »Um Gottes willen, Wolf, du kennst Borokin nicht! Er wird dich nie wieder aus den Händen lassen. Und wenn du unbequem wirst, töten sie dich.«

»Das steht alles in unwahren Romanen.« Wolter lächelte schwach. »Die Praxis ist anders.«

»Ich habe es erlebt.« Irene hob beide Arme Wolter entgegen. »Tue es nicht, Wolf! Wir werden alle, alle – du, meine Mutter, Bettina und ich – daran zugrunde gehen. Borokin kennt kein Mitleid. Er hat nur das Äußere eines Menschen; im Inneren ist er wie eine Maschine, die seelenlos abläuft.« Und dann eilte sie auf ihn zu, umarmte ihn, klammerte sich an ihm fest und weinte laut an seiner Brust. »Versprich mir, daß du es nicht tust«, stammelte sie. »Zeige ihn an, laß ihn ausweisen.«

»Und deine Mutter? Sie wird im Zuchthaus bleiben.« Wolter drückte Irene an sich. Es war ein schönes Gefühl, zu wissen, wie groß die Liebe eines Mädchens sein kann. »Und Bettina? Rußland hat mir schon meinen Vater genommen, es war nicht zu ändern. Aber hier kann etwas geschehen – und, bei Gott, ich werde es geschehen lassen!«

»Du willst ein Agent Borokins werden?« In Irenes Augen lag blankes Entsetzen. Wolfgang Wolter sah über ihre blonden Haare hinweg gegen die Tür, durch die eben Borokin gegangen war.

»Ich werde deine Mutter und Bettina zurückholen«, sagte er hart. »Und ich werde so sein wie Borokin.«

Irene legte den Kopf an seine Schulter. Ein Zittern durchlief ihren Körper. Und es war nackte Angst, die über ihre Haut glitt und sie bis in die Poren zittern ließ.

*

Wenn die Familie plötzlich größer wird, ist es im allgemeinen eine Freude, wenn der Zuwachs nicht gerade das Schwiegermütterchen ist oder ein tauber Onkel, den man so anbrüllen muß, daß es den Konsum an Halspastillen hebt. Und jeder kann begreifen, daß Kolka Iwanowitsch Kabanow in den Tagen nach jenem denkwürdigen Morgen, an dem er seine Tochter wiederfand und er selbst dem Grabe entstieg und wieder Karl Wolter aus Göttingen sein konnte, vor Freude fast tanzen mochte, Wodka und Wein kaufte, ein Huhn briet, Salat mit saurer Sahne anmachte und gezuckerte Walderdbeeren auftrug. Eine rechte Feier war's, eine doppelte sogar, denn der glückliche Kolka konnte sagen:

»Wie schön ist das Leben, Kinder. Ich habe einen russischen Sohn und gleichzeitig einen Schwiegersohn. Ich habe wieder eine Frau und zwei lebendige Kinder. Und wenn man es genau betrachtet, sind wir nur älter geworden, weiter nichts. Es wird alles wie früher sein, nur Dimitri ist hinzugekommen, und ihn lasse ich nicht los. Ans Herz ist er mir gewachsen wie mein echter Sohn Wolfgang. Ich habe drei Kinder, und damit basta!«

»Ich danke dir, Väterchen«, sagte Dimitri Sergejewitsch. Nun war er es, der nüchterner dachte als der Alte, den die Freude verrückt machte und der um Bettina herumrannte wie ein dressierter Hund im Zirkus. »Aber zwischen Göttingen und Tiflis liegen einige tausend Werst.«

»Was sind jetzt noch Entfernungen, Söhnchen?« rief Kolka. »Über die Grenze geht's, so wie es Wanduscha schon wollte. Und dann fliegen wir nach Deutschland. Die Welt ist doch klein geworden, Dimitri.«

»Man muß erst über die Grenze kommen, Väterchen.«

»Das werden wir! Ha!« Kolka griff zum Weinglas, und seine grauen Äuglein blickten nach innen. Erinnerungen kamen hoch, die Jahre in der Gefangenschaft, der Übergang vom Lazarett, wo man seine drei Lungenschüsse ausheilte, zum Arbeitslager am Terek. Dreimal war er geflohen. Wie ein Wolf streifte er damals durch die Steppe, verkroch sich am Tage in Weidehütten oder in Höhlungen am Flußufer, aber wenn die Nacht kam, zog er weiter, lebte von Wurzeln und von Hasen, die er in der Schlinge fing. Sogar eine Schlange aß er, am offenen Feuer gebraten, so hungrig war er. Nicht einmal schlecht schmeckte sie. Wie ein Aal, nur nicht so fett. Aber er erreichte nie die Grenze. Einmal entdeckte ihn ein Kind, das am Fluß spielte, zweimal lief er einer Milizstreife in die Hände.

Ein paar Jahre später wurde er ruhiger. Die Wandlung zu Kolka Iwanowitsch Kabanow begann. Wie lange würde es dauern, bis er wieder Karl Wolter war? Noch zeigte sich nichts davon. Er sprach russisch, er dachte russisch. Nur wenn er Bettina ansah, dachte er deutsch: mein Kind! Und Wolfgang lebt. Und Agnes auch! Wie mag sie aussehen? Als ich sie das letztemal sah, 1943, war es ein schlankes, liebes, hübsches Frauchen mit lustigen Augen.

»Über die Grenze!« sagte Kolka starrsinnig. »Söhnchen, wir fahren hinüber in die Türkei.«

»Und das Visum?«

»Er redet wie ein Beamter!« schrie Kolka. »Visum! Als ob ich an die Grenze trete und sage: ›Genossen, hier ist Kabanow. Macht den Schlagbaum hoch, ich will hinüber. Und dann beseht euch meine blankgewetzte Hose aus der Ferne.‹«

»Es muß alles genau vorbereitet werden.« Dimitri sah auf die Karte, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte. So nah war die Grenze, so winzig der Raum zwischen Ost und West – eine Daumenbreite nur auf der Karte. Und doch lag dazwischen eine Hölle für den, der heimlich diese kleine Spanne überwinden wollte.

»Wir sollten als Bauern bis zur Grenze ziehen. Dort werden wir sehen, wo man am besten hinüber kann«, sagte Bettina.

»Ein kluges Schwänchen, was?« rief Kolka und küßte seine Tochter auf die Stirn. »Als Bauern, das ist's, Dimitri. Einen Wagen werden wir uns besorgen, zwei Pferdchen, ein paar Säcke Rosinen – man muß ja zeigen, womit man handelt – und dann werden wir am Schlagbaum stehen und hinübersehen in die Türkei. Verlaßt euch auf den alten Kolka! Ich werde einen Pfad finden.«

Der Gedanke war in der Tat vorzüglich. Auch Dimitri erkannte es an. Und so ging man daran, den Auszug aus Tiflis bis ins kleinste vorzubereiten. An alles mußte man denken, vom Heftpflaster bis zum Fußpuder, denn Kolka Iwanowitsch hatte wunde Füße, wenn er lange wanderte. Auch dies war ein Andenken an den Krieg, an den Winter 1941, in dem ihm beide Füße erfroren, aber noch gerettet werden konnten. Nur wenn er lange marschierte, pellte sich die Haut ab und das rohe Fleisch rieb an den Socken. Am wichtigsten aber war das Geld.

»Wieviel Rubelchen haben wir?« fragte Kolka.

»Nicht viel, Väterchen.« Dimitri holte sein Sparbuch und blätterte es auf. »Außer dem, was wir in den Taschen haben, sind es dumme siebenhundert Rubel.«

»Haha!« schrie Kolka und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Da hat man einen Sohn, und der denkt, der Alte ist blöd! Seht einmal her, Kinderchen!« Er sprang auf, ging zu einem alten Schrank, nahm aus ihm einen runden Topf, und Dimitri erkannte mit Verblüffung, daß es ein Fettopf war, randvoll von ausgeschmolzenem Nierenfett.

»Was soll's?« fragte er vorsichtig. »Willst du mit Fett bezahlen?«

»Ist er nicht ein lieber Idiot, dein Dimitri?« fragte Kolka mit glänzenden Augen. Ein langes Messer holte er, stach es am Rand in das Nierenfett und drehte es rund um den Topf. Dann stülpte er ihn um, der Fettklumpen fiel heraus, und auf dem Boden des Topfes – Dimitri bekam große Kinderaugen – lag ein flaches Paket aus Wachstuch, über das Kolka das ganze Fett gegossen hatte. Er schlitzte das Wachstuch auf, öffnete es und ein kleiner Berg Rubelscheine quoll hervor.

»3.859 Rubelchen!« schrie Kolka. »Wer zweifelt jetzt noch daran, daß wir nach Deutschland kommen?«

»Woher hast du das Geld?« fragte Dimitri leise. Unheimlich wurde ihm der Alte. Seit Jahren verdiente er kein Geld mehr.

»Es liegt seit dem Tode von Mamuschka im Fett.« Kolka ließ die Rubelscheine durch seine Finger gleiten. »Dein Erbe ist's, Dimitri. Dein mütterliches Erbe. Das letzte Geld der Sotowskijs. Ich hab's so versteckt, damit es für dich erhalten bleibt. Im Testament hätte das Versteck gestanden.«

»Mamuschkas Geld.« Dimitri legte seine Hand auf die Scheine. Seine dunklen Augen brannten. »Ich habe nichts davon gewußt.«

»Es waren im ganzen knapp 6.000 Rubelchen. Was fehlt, steckt in dir, Dimitri Sergejewitsch. Deine Kleidung als Junge, deine Ausbildung zum Ingenieur. Ich habe dich sogar nach Saratow auf die Hochschule geschickt.«

»Und ich habe mir darüber Gedanken gemacht, woher das Geld kam.« Dimitri sprang auf. Zu dem Alten rannte er, umarmte ihn und küßte ihn wie ein kleiner Junge seinen Vater küßt. »Du bist wahrhaftig ein gutes Väterchen«, sagte er mit schwankender Stimme. »Das beste Väterchen bist du!«

»Du kannst jetzt zeigen, daß du ein gutes Söhnchen bist«, sagte Kolka und zog Dimitri an den schwarzen Locken.

»Nimm das Geld!« Dimitri schob das aufgeschlitzte Wachstuchpäckchen zu Kolka Iwanowitsch. »Nimm es!«

»Das wußte ich.« Kolka sah hinüber zu Bettina. Sie sah aus dem Fenster, über die Dächer von Tiflis hinweg, und ihr Blick war weit über der Grenze. »Wir werden nicht so schnell wie dein Flugzeug sein, Wanduscha«, sagte er.

»Ich denke an Mutter.« Sie wandte sich ab und wischte sich über die Augen. »Sie ist herzkrank. Seit ein paar Jahren. Und nun dieses Wiedersehen.«

»Ganz vorsichtig werden wir sein.« Kolka Iwanowitsch steckte die Rubelscheine in seine Rocktasche. »Aber daran denken wir noch nicht. Erst über die Grenze.«

»Und wann, Väterchen?« fragte Dimitri leise. Für ihn war es besonders schwer. Er verließ seine Heimat und ging ins Ungewisse. Und dort war niemand, der ihn liebte, außer Kolka und Wanda Fjodorowa. Zwei Menschen nur auf der riesigen Welt. Ist das genug für ein ganzes Leben?

»So schnell wie möglich«, sagte Kolka Iwanowitsch. »Systematisch müssen wir vorgehen. Nur einmal können wir flüchten. Fängt man uns, ist unser Leben keine Kopeke mehr wert. Für uns gibt es in den Bergwerken von Karaganda kein Überleben mehr.«

Und so geschah es … man bereitete sich schrittweise und unauffällig vor.

Kolka kaufte Konserven und Fruchtsäfte in Plastikflaschen.

Dimitri hob in Abständen von jeweils zwei Tagen über eine Woche hinweg sein Sparkonto ab.

»Heiraten will ich, Genossen!« verkündete er in der Sparkasse. »Aber teuer ist's. Weiß man vorher, was das alles kostet? Da fehlt ein Gläschen, dort ein Tellerchen, und Vasen müssen her für die geschenkten Blumen. Und die Möbel. Genossen, ein Kreuz ist's! Man wird arm, wenn man heiratet.«

Die Leute von der Sparkasse lachten und wünschten viel Glück und gesunde Kinderchen. Und keiner schöpfte Verdacht.

Bettina ließ sich als erstes die Haare färben. Kolka machte es. Er hatte das Haarfärbemittel geholt und die Friseusen damit entsetzt, daß er mit lauter Stimme verkündete: »Seht mich an, ihr Vögelchen! So sieht ein Mann in den besten Jahren aus, dem die Frauen nachlaufen! Her mit einer Haarfarbe! Tiefschwarz! Wie die Sünde, hehe! Ich wette, wenn ich meine Haare färbe, kann mich niemand von einem Dreißigjährigen unterscheiden. Das macht der grusinische Wein, ihr Täubchen. Der geht ins Blut, der konserviert die Organe.«

Man war froh, als der protzende Alte endlich wieder aus dem Laden war und sein Haarfärbemittel mitgenommen hatte. Tief schwarz.

Als sie sich die Haare gefärbt hatte, erkannte man Bettina kaum wieder. »So ist das, das ist der Mensch; ein bißchen Farbe aufs Haupt und schon ist es ein Fremder«, sagte Kolka philosophisch. »Wie sehen wir eigentlich wirklich aus? Man sollte die Pferde fragen können, wie sie uns sehen.«

An einem Nachmittag – Dimitri fuhr wieder seinen Ölleitungsabschnitt ab – ließen sich Kolka und Bettina bis an den Stadtrand bringen, mit einem Omnibus, und mieteten bei einem Verleiher zwei Maulesel, mit denen sie hinein ins Gebirge und zu den Weinhängen ritten.

In den kleinen Dörfern gingen sie dann von Hütte zu Hütte, belästigten die Bauern mit Ausrufen wie »Freundschaft und Frieden!« oder »Es lebe der Bauern- und Arbeiter-Staat« und fragten immer wieder:

»Genossen, wir brauchen einen Karren und zwei Pferde. Stellt euch vor – vergiftet hat man sie uns! Der Satan hole die Mörder. Vier Pferdchen hatten wir, liebe, kleine Gäulchen, und eines Morgens lagen sie auf der Wiese und machten keinen Pieps. Was soll man ohne Pferde machen, sagt es selbst, Freunde?«

Man sah das alles ein, aber verkaufen wollte man nicht. Die Sache hatte nämlich einen Haken: Die Pferde waren gezählt und registriert, und jeder Verkauf mußte dem Dorfsowjet gemeldet werden, schon wegen der Steuer. Zahlte man aber die Abgaben, Genossen, wir kennen das: Es lohnt sich nicht, solch ein Geschäft. Nur Schwierigkeiten kann man bekommen, vor allem, wenn man die Pferdchen verkauft, die man heimlich in der Scheune hat.

Gegen Abend erst fanden Kolka und Bettina einen Bauern, der bereit war, einen Karren zu verkaufen. Einen kleinen, wackeligen, hochrädrigen Wagen, um den Kolka herumging und sagte: »Ist mit dem der gute alte Noah von den Bergen gekommen, als die Arche landete?«

»Ihr braucht ihn nicht zu kaufen!« schrie der Bauer. »Ein vorzüglicher Wagen ist's! Bestes Holz! Und sieh dir die Räder an! Eisenbänder haben sie sogar! Nur weil ich einen größeren brauche, gebe ich ihn her. Ans Herz ist er mir gewachsen!«

Für hundert Rubel – einen Sündenpreis, wie Kolka jammerte – kaufte er den Karren und versprach, ihn morgen abzuholen. Von dem glücklichen Bauern erfuhr er auch, daß der Nachbar vier Pferde habe, von denen keiner etwas wußte, und so war es klar, daß Kolka an diesem Abend auch zu seinen Pferdchen kam.

Er sagte nur: »Guten Abend, Brüderchen! Ich komme von Fedja, nebenan. Er sagte mir, du könntest sechshundert Rubelchen gebrauchen. Sechshundert, von denen die Steuer nichts weiß, und dein Weib auch nicht. Und die zwei Pferdchen, die fehlen … Gott ja, man hat sie dir gestohlen. Mach ein Geschrei, raufe dir den Bart, ruf den Teufel zu Hilfe … aber sechshundert hast du im Sack, Brüderchen.«

Wer sieht so etwas nicht sofort ein? Kolka gab die sechshundert Rubel, streichelte den Pferdchen den Nacken und schrak zusammen, als hinter ihm eine laute Stimme ertönte.

»Wem gehören die Pferde?«

Kolka und Bettina fuhren herum. Der Bauer versteckte sich hinter den Pferdeleibern und stopfte die Rubelscheine vorne in die Hose. Am Zaun lehnte ein Milizionär und sah argwöhnisch zum Haus.

»Mir!« rief Kolka laut zurück. »Ist's verboten, Pferdchen zu haben?«

»Jeden Genossen kenne ich hier! Jedes Pferd! Woher kommen Sie, Genosse?«

»Aus Dschambapologorsk«, sagte Kolka und lüftete die Mütze. »Weit nach Kasakstan hin. Eine Tante habe ich in Tiflis, sie habe ich besucht. Und nun war ich hier, um Heu zu kaufen. Eine Schande ist's ja mit den Großstädten. Alles haben sie auf dem Markt und in den Kaufhäusern. Seidene Weiberhosen und Unterröcke, Kämme mit vergoldeten Griffen, und Lack, um sich die Nägel zu bemalen, lauter unnützes Zeug. Aber geh einmal hin und sag: Ich möchte einen Karren Heu für meine Pferdchen! – Den Arzt rufen sie sofort, und in eine Anstalt sperren sie dich. Es ist kein schönes Leben in den Städten, Genosse Milizionär.«

Der Milizsoldat sah Kolka nachdenklich an. Es gibt viele dumme Menschen, dachte er. Aber hier ist ein Rindvieh! Und als Kolka sogar näher kam, Bettina hinter sich herzog und rief: »Seht euch meine Wanduscha an! Ein schönes Mädchen ist sie! Doch was trägt sie, so wie ihre Mutter und Großmutter und Urgroßmutter: Hosen aus Baumwolle! Komm, sei lieb, mein Täubchen, und zeig dem Herrn Beamten deine Hosen«, winkte der Milizsoldat erregt ab, schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr davon. Mit einem Lächeln sah ihm Kolka nach. Der Bauer kam um die Pferde herum und bekreuzigte sich.

»Gefährlich war das, Brüderchen«, keuchte er und ließ den Angstschweiß über sein Gesicht laufen. »Ihr kennt Wassilij Petrowitsch Atotorian nicht. Ein ganz Scharfer ist er! Zum erstenmal ist er in die Flucht geschlagen.«

Kolka lachte und klopfte dem Bäuerlein auf die Schulter. »Behalt's als Andenken, Brüderchen!« rief er dabei. »Auch ein Atotorian kann einen Kolka nicht in den Hintern treten.«

Als sie in der Nacht endlich wieder nach Hause kamen, müde und erschöpft, aber doch glücklich, Pferde und einen Wagen zu haben, trafen sie Dimitri mit ernster Miene an. Er saß am Tisch und hatte eine Karte vom Mittelmeer ausgebreitet.

»Soweit sind wir noch nicht, Söhnchen«, sagte Kolka und ließ sich in den Sessel fallen. »Noch sind wir im Kaukasus.«

»Ich nicht mehr, Väterchen.«

»Was soll das?« Kolka sah seinen Ziehsohn verblüfft an. Ernst war Dimitri wie noch nie, und er hatte Wanda Fjodorowa um die Hüfte gepackt und starrte weiter auf die Karte. »Wir haben Pferdchen und Wagen!« rief der Alte.

»Und ich habe eine Flugkarte nach Beirut«, sagte Dimitri dumpf.

»Nach Beirut?« Bettina atmete tief auf. »Was willst du in Beirut?«

»Ich komme von der Inspektion«, erzählte Dimitri und ballte dabei die Fäuste, »da läßt mich der Generaldirektor kommen. Dimitri Sergejewitsch, sagt er, Sie sind ein guter Mann, ich weiß es. Man lobt Sie allenthalben. Ein kluger Kopf sind Sie und genau der Bürger, der unser Vaterland im Ausland vertreten kann.«

»Bravo!« rief Kolka.

»Sie fliegen übermorgen nach Beirut, sagt der Generaldirektor weiter. Eine Tagung ist dort. Internationales Treffen der Ölingenieure zum Erfahrungsaustausch. Wen schicke ich lieber als Sie, Dimitri Sergejewitsch? Sie werden den anderen Ingenieuren in der Welt erzählen, wie fortschrittlich wir hier in Tiflis sind. Ich wüßte dazu keinen Besseren als Sie!«

Dimitri griff in die Tasche und warf einen Packen Papiere auf den Tisch. Bettina erkannte sofort das Luftticket. Die anderen Papiere waren Fragebogen für den Zoll.

»Nun habe ich den Flugschein!« schrie Dimitri. »Ich muß übermorgen nach Beirut!«

»Und warum schreist du, Söhnchen?« fragte Kolka ruhig.

»Unser Plan, Väterchen!«

»Kann er besser sein?« Kolka legte seinen Zeigefinger auf den Namen Beirut.

»Du fliegst hierhin. Auf Staatskosten sogar, mein kluger Junge. Und in Beirut verläßt du die Kommission und stellst dich als politischer Flüchtling unter den Schutz der Deutschen Botschaft. Wir werden, wenn wir Teheran erreicht haben, mit dem Flugzeug ebenfalls nachkommen nach Beirut, und die Familie ist wieder zusammen. Geht es einfacher, Dimitri?«

»Ich lasse euch nicht allein durch die Berge zur Grenze ziehen!« rief Dimitri. »Du bist alt, Wanduscha ist ein Mädchen und kennt nicht unser rauhes Land. Ihr würdet elend zugrunde gehen.«

»Hat man das schon mal gehört?« sagte Kolka rauh. »Er nennt mich einen alten Mann. Bin ich ein zittriger Greis, he? Sieh es dir an, du Dummkopf.«

Zum Ofen ging er. Dort stand neben dem Gasherd ein alter Kohleofen, den Kolka nicht mehr benutzte, weil sie schon seit Jahren mit Öl heizten.

»Um Himmels willen, laß ihn stehen!« schrie Dimitri. »Einen Bruch hebst du dir.«

»Bin ich ein Zwerg?« schrie Kolka. Er umfaßte den schweren Kohleofen mit beiden Armen, stemmte ihn hoch bis zur Decke, es krachte gegen die Balken, Putz und Mörtel rieselten herab, und oben fiel der grusinische Maler Arkadij L. Bederian aus dem Bett, aber er merkte es nicht, denn er war wieder besoffen. Dann warf Kolka den Ofen von sich wie einen großen Stein, er knallte auf die Dielen, zwei Bretter brachen, und unten hörte man einen grellen Aufschrei, denn die unter ihnen wohnende Witwe Djura Halikowa dachte, ein Erdbeben zerstöre nun das Haus und ihr Leben.

»So!« sagte Kolka und rieb sich die Hände. »Bin ich ein alter Mann?«

Bettina lachte laut, und dann wurde sie plötzlich ganz still.

»So hat dich Mutter nie geschildert«, sagte sie leise.

Kolka Iwanowitsch nickte und nagte an der Unterlippe.

»So wird man, mein Töchterchen, wenn man grausamer als ein Wolf sein muß.«

*

Das Zimmer, in dem Oberleutnant Wolter stand, war kärglich eingerichtet und klein. Vom Fenster aus sah man auf einen Parkplatz. An der Wand hing ein Bild des Bundespräsidenten. Der Schreibtisch war hell gebeizt und schmucklos. Ein paar einfache Stühle, ein runder Tisch mit einem Aschenbecher – das war alles, was in dem Zimmer stand. Keine Blume, keine Vase, nur ein Telefon mit vielen Knöpfen für eine Direktwahl innerhalb des Hauses.

»Es ist gut, Wolter, daß Sie gleich zu mir gekommen sind«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. Er trug eine dunkle Sonnenbrille und hatte eisgraue Haare, und Wolter versuchte sich vergeblich vorzustellen, wie der Mann ohne Brille aussehen mochte und vielleicht mit braunen oder blonden Haaren. »Kollegen von Ihnen, die in ähnlicher Lage waren, drehten durch und machten unverzeihliche Dummheiten. Ihre offene Meldung gibt uns eine gute Möglichkeit des Gegenzugs.«

»Daran dachte ich auch, Herr General.«

»Was sagt Oberst Hermrichs?«

»Er schickte mich ja zu Ihnen. In der Abteilung V/017 ist alles klar. Es geht um die Möglichkeit einer Koordinierung.«

Der General mit der Sonnenbrille nickte. Er trug einen hellen, unauffälligen Sommeranzug und einen buntgemusterten Schlips.

»Wir werden Ihnen Informationen geben, auf die jeder Russe mit Hurra stürzt. Daß sie falsch sind, merken sie erst, wenn alles anders kommt. Bis dahin haben wir einen genauen Überblick über das Agentennetz des Majors Borokin. Ich muß gestehen, daß mir Borokin nie aufgefallen ist. Aber keine Sorge, wir werden das schon machen, Wolter. Im übrigen glaube ich nicht daran, daß die Russen Ihre Schwester haben.«

»Borokin will mir einen Unterrock Bettinas schicken. Einen Brief und ein Bild von ihr.«

»Interessant.« Der General mit der Sonnenbrille lächelte. »Verlieren Sie mir bloß nicht die Nerven, Oberleutnant. Denken Sie daran, daß ich Ihnen helfen werde.«

»Jawohl, Herr General.«

Verwirrt verließ Wolfgang das kleine Zimmer. Auf dem Flur empfing ihn eine Ordonnanz, die ihn bis zum Parkplatz brachte. Durch drei Sperren fuhr er hinaus aus der kleinen, mit einer hohen Mauer umgebenen Stadt am Rande eines Wäldchens. Seine Laufkarte wurde kontrolliert, an der dritten Sperre wurde sie abgenommen. Aufatmend hielt Wolter seinen Wagen an und sah zurück. Die Dächer der langgestreckten Häuser glänzten in der Sonne. Es war ein heißer Tag, und doch war es Wolfgang Wolter, als käme er gerade aus einem Eiskeller.

Er hatte ein seltenes Glück gehabt. Der geheimnisvolle Mann der deutschen Spionage hatte ihn empfangen und gesprochen. Er hatte ihn für dieses kurze Gespräch extra nach München-Pullach kommen lassen.

General Gehlen. Der Mann mit der Sonnenbrille, der schon Mythos und Sage geworden war.

Drei Tage später übergab Wolfgang Wolter seine ersten Materialien an Borokin. Man traf sich in einem Café am Rheinufer in Köln.

»Was ist es?« fragte Borokin.

»Die Pläne vom Bau eines UKW-Senders nördlich von Fulda an der Zonengrenze. In einem Waldstück. Plan liegt bei. Auch die Frequenzen und die Sendezeiten. Sendebeginn im Herbst. Genau: Am 11. Oktober, nachts 23 Uhr.«

Borokin musterte Wolter mit einem langen Blick. Alles Mißtrauen lag darin, aber Wolter hielt diesem Blick stand und trank ohne das leiseste Beben seiner Hand seine Tasse Kaffee.

»Woher haben Sie die Pläne?« fragte Borokin kalt.

»Ich habe einen Freund in der Bauabteilung, der weiß, daß ich mich für so etwas interessiere. In drei Tagen kann ich Ihnen vielleicht auch das Sendeprogramm der ersten Woche bringen.«

»Danke, Wolter.« Borokin erhob sich und steckte die Pläne in eine schmale Kollegmappe. »Brief, Bild und Kleidung Ihrer Schwester sind übrigens unterwegs von Moskau. Der Kurier trifft morgen früh ein. Ich bringe sie das nächste Mal mit.«

Mit verkniffenen Lippen sah Wolter dem eleganten Russen nach. Er dachte an die Worte General Gehlens, aber er wurde wieder unsicher.

War Bettina doch in den Händen der Sowjets? Woher nahm Borokin seine verfluchte Sicherheit?

Wolter zahlte und ging auch. Im Wagen wartete Irene Brandes.

»Borokin ist eben weggefahren«, sagte sie. »Hat er dir geglaubt?«

»Ich weiß nicht.« Wolter umklammerte das Steuerrad und starrte vor sich auf die Straße. »Um Bettinas willen möchte ich Gott darum bitten.«

*

Der Abflug Dimitri Sergejewitschs war herzerweichend.

Immer wieder umarmte er Kolka und Bettina, küßte sie und mußte gedrängt werden, zur wartenden Maschine zu gehen. Schon zweimal war er durch die Lautsprecher aufgerufen worden: »Genosse Sotowskij bitte zur Maschine! Genosse Sotowskij …«

»Ich kann nicht, Väterchen!« stöhnte Dimitri und umarmte Kolka zum ungezählten Male. Dann zog er Bettina an sich und drückte sie so fest wie ein Bär, der seiner Beute die Rippen zerquetscht.

»Du kannst nicht allein durch die Berge«, stotterte er. »Wanduscha, versprich es mir … warte, bis ich zurückkomme. Laß uns alle zusammen flüchten.«

»Blödsinn!« Kolka stieß seinem Ziehsohn in den Rücken. »Einfacher geht es nicht. Vergiß nicht: Du mußt dich in Beirut verborgen halten. Dort wimmelt es von Agenten.«

»Wann kommt ihr nach?« stöhnte Dimitri und wischte sich die Augen.

»Wer weiß das? Es kann schell gehen, es kann Wochen dauern.«

Über den Lautsprecher tönte die dritte Durchsage über das Flugfeld und die Wartehallen.

»Der Genosse Sotowskij sofort zur Maschine! Wir müssen starten!«

»Geh!« sagte Kolka hart und gab Dimitri noch einen Stoß in den Rücken. »Wer in seinem Leben bekommt solch eine Chance wie du! Gott segne dich, Söhnchen!« Und nach alter russischer Manier schlug Kolka das Kreuz über Dimitris Kopf und wandte sich dann ab.

Mit staksigen Beinen ging Dimitri allein über die betonierte Piste zur wartenden Iljuschin-Maschine. Oben in der Tür stand ein Steward und winkte mit beiden Armen.

»Schnell, Genosse, schnell!«

Dimitri beschleunigte den Schritt. Er rannte die Gangway hinauf, warf seine Tasche dem Steward zu und drehte sich noch einmal um.

»Wanduscha!« schrie er.

»Auf Wiedersehen, Dimitri!« rief Bettina zurück.

»Geh weg!« knurrte Kolka. »Dreh dich um und geh. Er kriegt es fertig und kommt zurück. Ich kenne ihn, er hat ein Herz wie ein Stück Butter in der Sonne.«

Bettina nickte. Sie wandte sich ab und rannte zurück zum Eingang der Wartehalle. Dimitri stand in der Tür und starrte ihr nach.

Sehe ich dich wieder, Wanduscha? dachte er. O Himmel, sehe ich sie wieder?

Eine Faust packte ihn, riß ihn ins Flugzeug. Die schwere Tür schlug zu. Dimitri hieb um sich, aber was half's, er stand in dem halbrunden Leib des Flugzeugs, und die Düsentriebwerke heulten auf, ein Zittern ging durch den riesigen Metallkörper. Die Maschine rollte zur Startbahn.

Dimitri stürzte an das nächste Fenster und sah hinaus. Der Flugplatz rollte unter ihm weg. Er sah nur Feld, Piste, Maulbeerschonungen, in der Ferne die Berge des Kaukasus. Dann schwenkte die Maschine zur Startbahn ein, und ganz fern, klein wie ein Spielzeughaus, glitzerte die weiße Fassade der Halle zu ihm herüber.

»Wanduscha …«, sagte er leise. »Ich weiß nicht, was ich tue, wenn ich sie nicht wiedersehe.«

»Nehmen Sie Platz, Genosse«, sagte der Chefsteward, der Dimitri auch ins Flugzeug gerissen hatte. »Platz 19, dort am Fenster. Und schnallen Sie sich an. Sie fliegen wohl zum erstenmal?«

Dimitri ging stumm zu seinem Platz, setzte sich und schnallte sich an. Das Land neben ihm raste vorbei … jetzt glitt es weg … der Himmel kam näher, die Wolken senkten sich, die Sonne wurde zu einem großen Ball … Und dann lag nach einer Schwenkung Tiflis unter ihm, die weiße Stadt zwischen den Weinbergen, die Stadt der Minarette und modernen Staatsbauten, die Stadt, von der einmal ein Dichter sagte, hier sei die Schönheit zu Stein geworden.

Die Boulevards, die Altstadt, die Hügel Mtatsminda und Sololaki, Metechi mit der uralten Kirche, der Leninplatz, das Haus der georgischen Regierung, das blaue Kloster, das Pantheon, der Botanische Garten, die Oper und die wilde, ungebändigte Kura, der Fluß, in dem er als kleiner Junge schwimmen lernte.

Heimat. Herrliches Grusinien.

Ich nehme Abschied. Für immer.

Aber mein Herz bleibt zurück. Es gibt keinen Russen, der seine Heimat verläßt und sein Herz mitnimmt. Das Herz bleibt bei Mütterchen Rußland. Man kann es nicht verpflanzen.

Dimitri wandte sich ab. Er riß sich los von dem Bild der weißen Stadt und lehnte sich zurück.

»Fruchtsaft, Genosse?« fragte der Steward und balancierte ein Tablett vor Dimitris Augen.

Er nickte und starrte an die gewölbte Kabinendecke.

Und seit seinem neunzehnten Lebensjahr empfand er wieder den merkwürdigen Drang in der Brust, laut weinen zu müssen. Zuletzt war's beim Tode der Mutter gewesen, und jetzt kam es wieder. Er schluckte es hinunter, er trank drei Gläser Fruchtsaft, und er nahm eine Zeitung, um sein Gesicht dahinter zu verbergen.

Lebewohl, Tiflis. Von jetzt ab wirst du nur noch in meinen Träumen sein …

Langsam kam auch Kolka Iwanowitsch zurück zum Flughafengebäude und hakte sich bei Bettina unter. Lange hatte er dem Flugzeug nachgeblickt, so lange, bis es in den Wolken verschwand. Und wie Dimitri hatte er bei sich gedacht: Sehen wir uns wieder, Söhnchen? Gelingt uns der Weg zu einem neuen Leben?

»Er ist weg, Vater«, sagte Bettina leise, und plötzlich sprach sie deutsch.

Kolka nickte. »Ja, mein Kleines.«

»Und wann fahren wir?«

»Übermorgen … vielleicht …« Kolka wischte sich über die Augen. Wirklich, Tränen standen ihm in den Augenwinkeln. »Wir dürfen nichts überstürzen, Kleines. Ich habe es Dimitri nicht gesagt, er wäre sonst nie geflogen: Die türkische Grenze ist abgeriegelt. Mit Suchhunden streifen sie umher. Es hat keinen Sinn, dort den Übergang zu versuchen. Einen weiten Umweg müssen wir machen … hinunter zum Kaspischen Meer.«

Bettina senkte den Kopf.

Vor ihnen, das wußte sie nun, lag die Qual ungezählter höllischer Stunden.

*

Das Material, das Wolfgang Wolter in dem kleinen Café am Rheinufer Jurij Alexandrowitsch Borokin übergeben hatte, wurde von Spezialisten des sowjetischen Nachrichtendienstes genau überprüft. Für die Auswertung westdeutscher Meldungen gab es zwei Zentralstellen: Die eine saß in Ost-Berlin, in Karlshorst, im Hauptquartier der Roten Armee; die zweite residierte in Prag, in einem unauffälligen, alten, hochgiebeligen Haus im Schatten des Hradschins, der alten, wundervollen Prager Königsburg.

Wolters Pläne von einem starken UKW-Sender wurden nach Prag geschickt.

Dort rechnete man alles durch, Radiotechniker prüften die Zeichnungen, und man kam zu dem Ergebnis, daß gleich die erste Lieferung des deutschen Oberleutnants eine kleine Sensation sei.

Borokin übernahm es, Wolfgang Wolter von diesem Erfolg persönlich zu unterrichten. Sie trafen sich wieder am Rheinufer wie zwei alte Freunde, die sich zufällig sehen. Keinem fiel auf, daß zwei Arbeiter das Eisengitter am Rheinquai mit einer Antirostfarbe strichen und ein Straßenkehrer dabei war, Blätter und weggeworfenes Papier von der Promenade zu kehren. Und während Borokin und Wolter langsam am Ufer hin und her gingen, klickten unter den Arbeitskitteln die Mikrokameras und fotografierten jede Phase des Agententreffs.

»Gratuliere«, sagte Borokin freundlich und bot Wolter eine seiner türkischen Zigaretten an. »Ihr Material hat gefallen. Man ist zufrieden. Durch Ihre Pläne sind wir in der Lage, Störsender in unmittelbarer Nähe zu installieren.«

Wolfgang Wolter nickte stumm. Er blieb an dem Eisengitter zum Rhein stehen, nicht weit weg von den emsig streichenden Arbeitern.

»Sie haben mir versprochen, Nachricht von Bettina zu bringen«, sagte Wolfgang Wolter endlich nach längerem Schweigen. Er wußte, daß der eine der Arbeiter jetzt ein kleines Tonband anstellte, das er auf der Brust festgeschnallt trug. Unter der Mütze lag das empfindliche Mikrofon, das selbst ein schwaches Hüsteln deutlich aufnahm.

»Borokin hält, was er einmal versprochen hat!« Der Russe lächelte. Wolter fuhr herum. Sein Mund zuckte. Nun war es kein Spiel mehr; unerträgliche Spannung und eine unbestimmte Angst überwältigten ihn.

»Sie haben einen Brief von Bettina?« rief er.

»Nicht einen Brief. Er kommt mit der nächsten Kurierpost. Aber ich habe ein Beweismaterial, das zwingend ist.« Borokin griff zur Aktentasche, löste die beiden Schnappschlösser und klappte den Deckel auf. Er ließ Wolter hineinsehen, und die Männer vom MAD und Verfassungsschutz – die beiden Anstreicher und der fleißige Straßenkehrer – ärgerten sich, nicht Hälse wie Giraffen zu haben.

In der Tasche lagen drei Dinge: die Stewardeßmütze Bettinas (gefunden in der Erdhöhle oberhalb Tiflis, wir wissen es ja), ihr Paß (gefunden in der Flugkanzel) und ihr Unterhemd mit den eingestickten Initialen BW (ebenfalls gefunden in der Höhle). Wolfgang Wolter starrte diese drei Beweisstücke an, aber als er zugreifen wollte, klappte Borokin den Taschendeckel wieder zu.

»Genügt es, Herr Oberleutnant?«

»Wo ist Bettina jetzt?« fragte Wolter heiser vor Erregung. Borokin hob die Schultern. »Genau weiß ich es nicht. Ich vermute, in Moskau.«

»Und was hat man mit ihr vor?«

»Gar nichts. Sie lebt wie ein Pensionär. Ihre Lage wird nur kritisch, wenn Sie, mein Lieber, versagen.«

»Was nennen Sie kritisch?«

Borokin drückte die Aktentasche an sich, und sie nahmen den Spaziergang entlang des Rheinufers wieder auf. »Ich erinnere an den Fall Powers, lieber Oberleutnant. Powers, der U-2-Pilot, den wir vom Himmel holten. Er wurde zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Zugegeben, er wurde später ausgetauscht – aber das ist der zweite Akt. Zunächst wird man Ihre Schwester als Spionin verurteilen. Sie sind doch mit mir einer Meinung, daß Ihre Schwester in einem Schauprozeß alles aussagt, was nötig ist, um unsere Haltung zu rechtfertigen?« Borokin lächelte hart.

Wolfgang Wolter nickte. »Ja«, antwortete er. Und er dachte gleichzeitig: Arme Betti. Mit Drogen werden sie dich willenlos machen, und du wirst herunterplappern wie ein Papagei, was man dir vorgesagt hat.

»Sie wird nach Workuta kommen, nehme ich an, und es wird den Westen einen großen sowjetischen Agenten zum Austausch kosten. Vorausgesetzt, daß man Ihrer Schwester diese Bedeutung zumißt und sie nicht im Interesse der Politik einfach vergißt.« Borokin hob wie bedauernd die Schulter. »Politik ist ein bitteres Geschäft, ein eiskaltes Gewerbe, vergleichbar einem Gangstersyndikat; nur daß die Politiker freundlich lächeln, wortreich reden, vom Volk gewählt werden, und daß ihnen Applaus gezollt wird wie einem Zirkusclown, der einen Salto mit einem wassergefüllten Eimer gedreht hat.« Borokin blieb stehen, sein Sarkasmus war wie ein lähmendes Gift. »Ich nehme fast als sicher an, daß Ihre Schwester nicht den weltpolitischen Wert hat, daß sich Politiker ihretwegen die Köpfe zermartern. Es handelt sich um ein familiäres Problem, das nur Sie und ich lösen können. Wir verstehen uns, Herr Oberleutnant?«

»Sehr genau, Herr Borokin.« Wolter sah über den schmutziggelben Rhein, dem auch die strahlende Sonne kein freundliches Gesicht verleihen konnte. »Wir werden weiter zusammenarbeiten. Nur kann das nicht immer so weitergehen. Wann habe ich meine Schwester ausgelöst?«

»Wir haben Zeit, mein Lieber.« Borokin lächelte Wolter an. Wie Spott war es, wie ein Triumph über die Dummheit. »Moskau bestimmt, wann die Uhren anzuhalten sind. Daran müssen wir uns gewöhnen. Guten Tag!«

Er drehte sich um und ging mit schnellen Schritten davon. Auf einem Parkplatz hinter dem Dombunker, das wußte Wolter, parkte sein Wagen. Ein unauffälliger VW mit einer normalen Bonner Nummer.

Du Schwein, dachte Wolter und blieb steif am Rheinufer stehen. O du Schwein! Wie wäre meine Lage, wenn ich nicht die Rückendeckung meiner Vorgesetzten hätte? Wie verzweifelt würde ich sein, wenn ich allein stände, so allein wie Hunderte anderer Agenten, die sich einem Teufel wie Borokin ausgeliefert hatten. Wenn ich ein einsamer Mensch wäre, so wie Irene Brandes es war.

Irene. Wolfgang Wolter atmetete tief auf und strich sich durch das blonde Haar. Einer der Arbeiter hüstelte und bückte sich neben Wolter an das Eisengitter.

»Alles klar«, flüsterte er. »Wir haben's auf Band. Sie können gehen.«

Gehorsam entfernte sich Wolter zu seinem am Straßenrand abgestellten Wagen. Er ging wie eine aufgezogene Puppe, mit steifen Beinen und durchgedrücktem Kreuz.

Bettina in Moskau! Es waren ihre Mütze, ihr Paß, ihr Unterhemd. Es gab gar keine Zweifel mehr: Sie war zu einem Druckmittel geworden. Im Kampf der Geheimdienste wurde sie zerrieben.

Wie soll das weitergehen, dachte Wolter, als er in seinem Wagen saß. Die Sonne brannte auf das Dach, es war erstickend heiß, aber er kurbelte nicht die Fenster herunter, um frische Luft in den Wagen zu lassen.

Was wird aus Bettina werden?

Wird man sie in Workuta elend zugrunde gehen lassen, wie Tausende vor ihr?

O mein Gott, in welcher Zeit leben wir!

Warum müssen die Völker sich hassen? Warum benehmen sich die Menschen wie reißende Tiere? Wir haben doch alle Platz auf dieser Welt.

Langsam fuhr er zurück nach Bonn und zur Wohnung seiner Mutter.

Irene Brandes war bei ihr, und als Wolfgang eintrat, sah er an dem fragenden Blick seiner Mutter, daß Irene ihr alles erzählt hatte.

»Warum hast du das getan?« fragte er Irene, ohne nachzuforschen.

»Es ist besser so, Wolf«, sagte Irene.

Agnes Wolter sah ihren Sohn aus müden Augen an. Sie war in diesen wenigen Wochen sehr gealtert. Wer sie jetzt in Göttingen gesehen hätte, die alten Kunden in dem kleinen Wäschegeschäft, wäre entsetzt gewesen. Tiefe Falten lagen um ihre Mundwinkel, das immer sorgsam gepflegte und frisierte Haar war weiß und strohig, ohne Leben, und nur in losen Wellen um den Kopf gelegt. Eine Mutter, die im Leid zusammengeschrumpft war.

»Warum hast du mich belogen, Wolf?« fragte sie leise, als sich Wolfgang auf die Couch setzte und nervös eine Zigarette anzündete, die ihm Irene herüberreichte.

»Ich wollte dir das alles ersparen, Mutter.«

»Ungewißheit ist viel schlimmer, Junge. Nun weiß ich, wo Bettina ist. Nun weiß ich, daß sie lebt! Das ist schön, das macht mich glücklich, auch wenn alles, was damit zusammenhängt, so schrecklich ist. Aber die Ungewißheit … ich habe sie einmal erlebt, als dein Vater in Rußland vermißt wurde, und ich habe sie jetzt noch nicht überwunden. Sicher, er ist tot. Der Kamerad von Vater hat es mir ja damals, als er heimkehrte aus dem Gefangenenlager, erzählt. Aber ich habe es nicht geglaubt, fünfzehn Jahre lang nicht. Ich bin Irene so dankbar, daß sie mich nicht wieder solche Jahre durchleiden läßt.«

»Ich habe Sachen von Bettina gesehen«, sagte Wolfgang Wolter tonlos. »Sie ist in Moskau.«

»Gott sei Dank!« Es war wie ein Aufschrei. Wie ein Glanz durchzog es die müden Augen Agnes Wolters'. »Und nun wird man uns helfen, nicht wahr?«

Wolter sah mit einem qualvollen Blick zu Irene. Was soll man darauf antworten, hieß diese stumme Frage. Soll ich ihr wirklich die Wahrheit sagen: Niemand wird uns helfen können! Was nützt ein Protest? Er würde unbeantwortet zerrissen. Was nützt die Mobilisierung der Öffentlichkeit? Der nächste Boxkampf, das nächste Fußball-Länderspiel wischt den Namen Bettina Wolter aus dem Gedächtnis der Millionen. Und wenn dann noch ein schöner Massenmord kommt, der die Menschen am Morgenkaffeetisch wohlig erschauern läßt – wer denkt da noch an das Mädchen, das in Moskau sitzt?

Was ist schon der einzelne in einer Welt, in der ein Mensch zu einer Zahl, zu einem Objekt geworden ist und sein eigenes Gesicht verloren hat?

»Borokin hat mir versprochen, für die schnelle Rückkehr Bettinas zu sorgen«, log Wolter und sah in den Rauch seiner Zigarette, um dem Blick seiner Mutter auszuweichen.

»Es scheint ein guter Mensch zu sein, dieser Borokin«, sagte Agnes Wolter in völliger Verkennung der Situation. Sie war eine alte, gütige Frau ohne Falsch und Lüge. Sie kannte keine Intrigen, verstand nichts von der Politik, sah in den Menschen nur das Gute, glaubte an die menschliche Seele. Auch in Jurij Alexandrowitsch Borokin sah sie den guten Menschen, der versprach, Bettina aus Moskau zurückzuholen. Daß er lügen konnte, daß Wolfgang, Irene und auch sie, Agnes Wolter, Akteure eines Spiels geworden waren, das keine Gnade kannte und noch weniger Menschlichkeit, das alles kam ihr nicht in den Sinn. Sie war Bettinas Mutter, und sie glaubte an die Rückkehr ihrer Tochter.

Der Preis? Kein Preis war hoch genug, um das eigene Kind zurückzuerhalten. Eine Mutter denkt anders als ein Politiker. Vielleicht sähe die Welt anders aus, wenn die Politiker Mütter wären …

An diesem Tage war Agnes Wolter glücklich. Die scharfen Falten in ihren Mundwinkeln schienen wie weggebügelt. Ihre Augen hatten wieder Glanz bekommen. Sie machte zum Abendessen das Leibgericht Wolfgangs: Farsumagru, die italienische Art einer gefüllten Kalbsroulade, mit Salami, Rahmquark, Speck, Tomaten, Hackfleisch und hartgekochten Eiern.

Wolfgang und Irene aßen nur wenig. Jeder Bissen blieb ihnen in der Kehle stecken, als säße ein Pfropfen zwischen Mund und Magen.

Agnes Wolter aber war sichtbar glücklich. Bettina lebte. Es ging ihr gut. Daß sie, wie man sagte, in Moskau war, hatte für Agnes Wolter keinerlei Bedeutung. Ob Moskau oder London oder Rom – Bettina würde bald zurückkommen.

Nach dem Essen fuhren Wolfgang und Irene wieder nach Köln. Außerhalb der Stadt, in einer Villa in Lindenthal, trafen sie mit einem Mann zusammen, den Wolfgang Wolter ›Herr Oberst‹ nannte.

»Wir haben die Bänder abgespielt«, sagte der Oberst, »die man am Rhein bei Ihrem Treff aufgenommen hat. Ist ja ein tolles Ding, was? Wir müssen diesen Kontakt unter allen Umständen beibehalten.«

»Und meine Schwester, Herr Oberst?« fragte Wolter.

»Tja, das ist ein Problem.« Der ungenannte Oberst schüttelte die Eisstückchen in seinem Whiskybecher. »Rechtlich ist da gar nichts zu machen. Wenn die Sowjets sie nicht freiwillig herausgeben …«

»Ich weiß, Herr Oberst«, antwortete Wolter gepreßt.

»Sie wissen doch hoffentlich auch, daß diese Absprache: Bettina gegen Meldungen – daß dies ein Windei ist? Wenn die Sowjets nicht wollen …«

»Das heißt also, daß meine Schwester abgeschrieben ist?« sagte Wolter laut. »Ich kann tun, was ich will … ich bin angewiesen auf die Gnade der anderen.«

»Leider, leider!« Der Oberst trank vorsichtig seinen eiskalten Whisky. Er war magenkrank und empfindlich gegen große Unterkühlung. »Es ist ein Scheißdreck – verzeihen Sie –, so zwischen die Mahlsteine der Geheimdienste zu kommen.«

Wolfgang Wolter trat ans Fenster und starrte hinaus in den nächtlichen Garten. Rosensträucher blühten, Jasmin und Holunder.

»Wir haben keine Möglichkeit, zu intervenieren?« fragte er.

»Keine. Im Osten, ich bitte Sie!«

Wolter schloß die Augen. Sein Kopf sank gegen die kühle Scheibe.

Er wußte nun, daß er nach dem Vater jetzt auch die Schwester in Rußland verloren hatte.

*

In Beirut empfing eine Abordnung der sowjetischen Handelsmission die Genossen aus Tiflis mit Händeschütteln, Bruderkuß und Umarmungen. Sechs Wissenschaftler und Ingenieure waren es, die zum Kongreß der Ölfachleute aus der Sowjetunion angeflogen kamen und nun den Boden Libanons betraten. Sie waren alle ein wenig unmodern gekleidet, mit zu weiten Hosenbeinen und sackähnlichen Jacketts, aber sie fühlten sich wohl, das sah man, freuten sich wie beschenkte Kinder auf die acht Tage Beirut, von denen die wissenschaftlichen Sitzungen die unwichtigsten waren. Im Beirut des Jahres 1966 gab es Nachtlokale, so hatte man ihnen in Tiflis zugeflüstert. Bauchtänzerinnen, mit Diamanten im Nabel. Nackttänzerinnen, die nach dem Auftritt an die Tische kamen und sich den Männern auf den Schoß setzten. Verschwiegene Hinterzimmer, wo orientalische Nächte zelebriert wurden, wie sie in keinem Märchenbuch standen. Oha, Genossen, das muß man kennenlernen! So etwas gehört zur Kenntnis von der Dekadenz des Westens! Wie soll man über Dinge reden, wenn man an ihnen nur vorbeigegangen ist?

Und so freuten sich die sechs aus Tiflis ehrlich auf Beirut und erwiderten die Bruderküsse ihrer sowjetischen Landsleute mit Enthusiasmus. Nur Dimitri Sergejewitsch Sotowskij war etwas verschlossener. Er küßte auch, ließ sich umarmen, sagte nette Höflichkeiten, lachte über die Vorfreude der anderen, die von Betten mit Spiegeln an der Decke träumten, aber das war nur Theater.

Schon während des ganzen Fluges hatte er still auf seinem Platz gesessen, hatte in die Wolken gestarrt, in das Blau der Atmosphäre, über das unter ihm vorbeifliegende, meist öde und felsige Land, das überging in Steppe und in eine Wüste, in der wie grüne Kleckse die Oasen lagen, als seien sie aus Schweißperlen geboren, und er dachte nur an Wanda Fjodorowa, die nun plötzlich Bettina heißen sollte.

Ab und zu sah er auf seine Uhr.

Noch drei Stunden … noch zwei Stunden … nur noch eine halbe Stunde bis zur Freiheit.

Beirut. Eine weiße Märchenstadt, umbrandet von einem tintenblauen Meer mit weißen Schaumkronen. Ein Wald von Minaretten. Die Kasbah; enge, überdachte Gassen, flache Dächer, auf denen die Frauen unter Sonnenschirmen lagen, ohne Schleier, den Blicken fremder Männer entzogen. Die Neustadt. Hochhäuser. Paläste aus Beton und Glas.

Das Leben einer Millionenstadt. Ansammlung ungeheuren Kapitals, Konzentration von Millionen Dollar auf einem kleinen Platz. Wirtschaftswunder des Orients 1966, geboren aus dem Wettlauf der Nationen um den Markt des Nahen Ostens. Vom kommenden Bürgerkrieg ahnte noch niemand etwas.

Dimitri starrte hinunter auf die weiße Stadt, die für ihn den Abschied von Mütterchen Rußland bedeutete.

Mit dem Aufsetzen des Flugzeuges auf die Betonpiste von Beirut endete sein russisches Dasein. Sein erster Schritt auf libanesischen Boden bedeutete den Verlust der Heimat.

Dann war er vogelfrei. Ein Heimatloser. Ein Geächteter. Ein Gejagter. Ein Nichts.

Man möchte jetzt halt rufen, dachte Dimitri und umklammerte die Polsterlehnen des Sitzes. Halt, Genossen! Zurück nach Tiflis! Hier sitzt jemand, der seine Heimat verraten will! Hier sitzt ein russisches Schwein! Haltet an, dreht um oder bindet mich fest, Brüder, laßt mich nicht aus dem Flugzeug heraus! Rettet mich vor dem Nichtssein! Landet nicht, Freunde, o landet nicht! Mein Herz wird zerrissen werden, sobald ich dieses neue Land betrete.

Und dann dachte er wieder an Bettina, die für ihn immer Wanda Fjodorowa blieb; er sah ihre großen blauen Augen, er spürte ihre Lippen auf seinem Mund, er hörte ihre Stimme: »Wie können sich Menschen bloß so lieben wie wir, Dimitri? Diese Liebe ist unfaßbar …«, und er sah sein Väterchen Kolka, wie er ihn segnete, auf dem Flugplatz von Tbilisi, heimlich, wie ein alter Bauer, der zur Osterzeit die Hausikone aus der Truhe holt, sie heimlich aufstellt und dreimal »Christus ist auferstanden!« vor sich hin murmelt.

»Auf Wiedersehen!« haben sie gerufen, Wanduscha und Kolka. Wiedersehen aber bedeutete den Schritt ins Nichts. Die Flucht vor der Heimat. Die endgültige Flucht aus Tiflis.

Die Maschine setzte auf, und Dimitri betrat den Boden Libanons, und jetzt wurde er geherzt und geküßt, umarmt, wurde ihm auf die Schulter geklopft, und dann sagte der freudig erregte Bruder der Handelsmission in Beirut: »Und nun, Genosse, gib mir mal deinen Paß.«

»Was soll ich?« fragte Dimitri zurück.

»Deinen Paß geben, Genosse.«

»Wozu?«

»Ein Befehl aus Moskau. Wir nehmen alle Pässe unserer Freunde in Verwahrung, denn Beirut ist ein böses Pflaster. Ein paar Genossen haben ihre Pässe schon verloren oder wurden bestohlen. Sie bekommen statt dessen einen Ausweis, daß Sie Mitglied der Tagung sind. Das genügt vollkommen und ist für alle Teile ungefährlich.« Der liebe Genosse aus Beirut hielt die Hand hin: »Bitte den Paß, Bürger!«

Dimitri Sergejewitsch griff in die Brusttasche und gab seinen sowjetischen Paß ab.

Nun bin ich nackt, dachte er voll Schrecken. Ich bin nicht nur heimatlos, ich bin auch nackt. Was ist ein Mensch ohne Paß? Er ist wie gar nicht geboren. Er existiert nicht. Er ist ein Geist. Ein Gespenst.

»Willkommen in Beirut!« rief in diesem Augenblick der Chef der Handelsmission, ein gewisser Andreij Safonowitsch Schejin, ein häßlicher Mensch mit einer dicken Brille, die so scharf geschliffen war, daß dem neutralen Betrachter schon die Augen tränten. »Wir begrüßen die Genossen aus Tbilisi und rufen aller Welt zu: Freundschaft! Freundschaft! Freundschaft!«

Die sechs Wissenschaftler riefen laut mit und dachten an die Bauchtänzerinnen am Abend.

Welch ein schönes Land, Genossen, dieses Libanon! Na ja, die Pässe ist man los. Aber, seien wir ehrlich, was soll man auch mit Pässen in einem orientalischen Hinterzimmer? Fragt ein nacktes Weibchen: Komm, Genosse, weis dich aus? – Na also! Wie unnütz sind Pässe!

Mit drei großen Moskwitsch-Wagen fuhren sie nach Beirut hinein zum Hotel ›Arab‹. Dort waren die Zimmer reserviert, jedes mit einem kleinen Balkon, der zum Meer führte, und Jakob Andrejewitsch Swinzow seufzte laut, als er sah, wie klein, zierlich, schwarzäugig und wohlgebaut die Zimmermädchen waren. Swinzow war ein Wissenschaftler aus Baku und Sechsundsechzig Jahre alt!

Sage ich nicht immer: Die Luft im Kaukasus hält jung.

»Wir treffen uns alle um zwanzig Uhr unten im großen Saal zum Essen«, sagte Genosse Schejin und blinzelte hinter seiner häßlichen Brille. »Zieht euch um, Genossen. Habt ihr einen Smoking bei euch? Hier hält man viel auf Aussehen.«

Es zeigte sich, daß niemand einen Smoking hatte. Zu Ölgesprächen war man nach Beirut gekommen, nicht um Smokings zu tragen.

Schejin seufzte. Immer das alte Lied! Die Genossen in Moskau und erst in der Provinz – wozu er Tiflis zählte – haben noch nicht den Blick für das Notwendige. Himmel ja, Smokingtragen ist Dekadenz, aber ein wenig Konzessionen muß man machen, um mit der anderen Welt an einem Tisch zu sitzen.

Man kann nicht mit den Fingern essen und die Knochen übers Tischtuch spucken, während die anderen mit vergoldetem Besteck dinieren. So etwas fällt auf, Genossen. Unangenehm.

»Ihr werdet in einer Stunde alle Smokings bekommen!« sagte Schejin und rückte an seiner dicken Brille. »Pawlow, er wird gleich geholt, wird Maß nehmen, und dann kommen die Smokings von einem Verleiher. Für Beschädigungen und Flecke muß jeder von Ihnen aufkommen, Genossen.«

Dann war Dimitri allein, stellte den Koffer unausgepackt in die Ecke neben dem breiten französischen Bett – ein Beweis mehr von der Lebenskunst in Beirut! – und trat hinaus auf den Balkon.

Vor ihm lag die Uferpromenade, das Meer, der Hafen mit den weißen Luxusjachten. Ein Gewimmel von Menschen schob sich unten auf der Straße vorüber. Der Lärm von Stimmen und Geräuschen umwehte ihn wie eine Wolke aus Riesenheuschrecken.

Heute noch? dachte Dimitri und umklammerte das zierliche Balkongitter. Soll ich heute noch heimatlos werden? Oder warte ich bis morgen? Mache ich erst eine Sitzung des Kongresses mit, verbreite Harmlosigkeit um mich, Vertrauen … und morgen, ja morgen dann gehe ich zur deutschen Botschaft und bitte um Asyl.

Er sah weit übers Meer, das in der Abendsonne wie geschmolzenes Gold leuchtete.

Wo liegt Deutschland, dachte er. Dort ganz weit hinten … ein Land wie im Nebel. Dort liegt auch das Grab meines Vaters. Es wird kalt sein in Deutschland. Die Menschen werden einen ansehen und sagen: Aha, ein Russe! Ein Iwan! Und die Alten werden an die Schlachten denken, an die Rollbahn, an die Sümpfe, an die Wälder, und die Jungen werden fragen: Sag mal, Iwan, ist bei euch wirklich alles so geknechtet? Habt ihr wirklich nichts zu fressen? Dürft ihr wirklich nicht sagen, was ihr wollt? – Und er würde ihnen antworten: Stimmt es, daß ihr alle nur wegen des Profits arbeitet? Erzählt mal, warum ihr alle revanchistisch seid und daran denkt, Rußland noch einmal zu überfallen.

Und sie würden sich ansehen, der Russe und die alten und die jungen Deutschen, sprachlos und hilflos, und jeder würde denken: Hier gibt es keine Brücke mehr.

O Freunde, dabei wollen wir doch alle Brüder sein, nicht wahr?

Um sieben Uhr abends wurde der Smoking abgegeben. Bei Dimitri ging es schnell. Das kleine, süße Zimmermädchen machte einen Knicks und legte den Anzug auf das breite Bett. Anders war's bei Swinzow, dem alternden Bock aus Baku. Er kniff dem Zimmermädchen in die Brust, umarmte es und verlangte, daß sie ihm die Hosen des Smokings anprobierte. Nur nach Verabreichung einer Ohrfeige konnte sich das Zimmermädchen aus kaukasischer Wildheit befreien und flüchtete aus dem Zimmer des liebestollen Swinzow.

Gehorsam zog Dimitri seinen Smoking an. Er wußte, daß am Ausgang des Hotels zwei unauffällige Genossen saßen und aufmerksam wurden, wenn er ohne Smoking durch die Hotelhalle gehen würde.

Wie lächerlich ist das alles, dachte Dimitri bitter. In einem Smoking, wie zu einem Fest gehend, werde ich in einer Stunde in der deutschen Botschaft um Asyl bitten. Sie werden mich anstarren wie einen Blöden, und vielleicht haben sie auch recht damit.

Um 20 Uhr trafen sich die sechs Wissenschaftler aus Tiflis in der großen Halle des Hotels ›Arab‹. Genosse Schejin war auch schon da, er trug einen weißen, wundervoll sitzenden Smoking und sah aus wie ein Kapitalist. Er benahm sich auch so. Er verzichtete auf alle ordinären Worte, die ihm auf der Zunge lagen, als er den Aufmarsch der schlecht sitzenden, geliehenen Smokings sah, und befleißigte sich eines weißrussischen Russisch; eine Sprache, die so vornehm ist wie die Haut einer Großfürstin.

»Meine Lieben!« sagte er. Tatsächlich, er sagte: Meine Lieben! »Sie werden die Gelegenheit haben, dem Nobelpreisträger Bunche vorgestellt zu werden. Mit uns tagt auch ein Ausschuß der UNO im Hotel. Sie kennen Ralf Bunche?«

Dimitri kannte ihn, die anderen fünf nicht. Genosse Schejin hob den Blick zur vergoldeten Decke und seufzte.

»Macht nichts«, sagte er dann. »Ich zeige ihn euch, und ihr erzählt ihm, wie fortschrittlich unser Land ist.«

Um 20.17 Uhr, nachdem Dimitri ein paar Worte mit anderen Kongreßteilnehmern gewechselt hatte, verließ er den Saal und durchquerte die große Hotelhalle.

Niemand beachtete ihn, keiner hielt ihn auf, es war niemand da, der hinter einer Säule hervorsprang und »Stoij!« schrie. Ungehindert konnte er das Hotel ›Arab‹ verlassen, ging zu den wartenden Autotaxen, setzte sich in einen der schwarzen Wagen und sagte auf französisch: »Zur deutschen Botschaft, bitte.«

Verwundert blickte der Chauffeur auf. »Deutsche Botschaft? Haben wir seit Abbruch der diplomatischen Beziehungen nicht mehr. Es gibt hier nur eine deutsche Handelsmission.«

»Dann fahren Sie mich dorthin«, stieß Dimitri hervor.

Die Taxe fuhr an. Dimitri sah schnell zurück.

Niemand stand in der Tür. Keiner lief ihm nach. Nur der Portier stand an der Drehtür und grüßte ankommende Gäste. Aus dem großen Saal klang Musik auf die Straße. Die Fenster des Tagungssaales waren mit Portieren verhängt. In der Bar tanzte man bereits. Die Nacht von Beirut hatte begonnen …

»Schneller!« sagte Dimitri zu dem Chauffeur. Es war, als schwinge Angst in seiner Stimme. »Vite … plus vite …«

Der Wagen schoß durch die Straßen und Gassen von Beirut.

Dimitris Kopf sank auf die Brust.

Leb wohl, Rußland, dachte er.

Ich flüchte in den Nebel einer neuen, unbekannten Welt.

*

Kolka Iwanowitsch Kabanow – wir wollen Karl Wolter noch so nennen, solange er in Rußland ist und nicht deutschen Boden wieder betreten hat – ging systematisch vor.

Zunächst erzählte er allen Leuten und Nachbarn, welch große Ehre ihm zuteil geworden sei. »Nach Beirut ist mein Söhnchen«, rief er überall, selbst im Bazar und auf dem Markt. »Als Wissenschaftler! Als Fachmann! Ihr sollt sehen, Brüder, er kommt zurück und wird Chefingenieur!«

Die Nachbarn beglückwünschten ihn, denn in Tiflis ist man ohne Neid. Bekannte tranken mit Kolka ein Gläschen Wodka, und so kam es, daß Kabanow, das glückliche, stolze Väterchen, überall verkünden konnte: »Ich nehme die Gelegenheit wahr, Brüder, auch eine Reise zu machen. Jawohl. Wozu hat man gespart? Noch hat man Augen, die sehen können, und die Knochen machen auch noch mit. Nach Batum fahre ich, zum Schwarzen Meer. Noch nie war ich da. Will doch sehen, ob es wirklich schwarz ist.«

Da lachte man, freute sich über den fröhlichen Alten und wünschte ihm gute Fahrt. Und so fiel es gar nicht auf, daß Kabanow eingekauft hatte, als wolle er hamstern. Wer verreist, in fremde Gegenden, weiß nie, was er dort antrifft. Tiflis war ein gesegnetes Land. Aber es kann ja sein, daß am Schwarzen Meer die Menschen nur Tintenfische essen! Das war nichts für Kabanow, und wem er das erklärte, der sah es ein.

Kolka hatte alles beisammen, was sie brauchten. Einen Wagen, die Pferdchen, die Lebensmittel, und sogar eine Militärpistole. Die hatte in seinem Schlafzimmer unter den Dielen gelegen, und keiner wußte das, auch Dimitri nicht.

Bettina hatte schon seit Tagen gekocht und gesotten. Sie briet Fleisch und rollte es dann in Stanniolbogen, so blieb es frisch und schimmelte nicht. Sie kaufte sich derbe Leinenhosen, feste Stiefel, ein paar Kopftücher, Blusen und einen dicken Wollpullover. »Wer weiß, wie lange wir brauchen«, sagte Kolka. »Wir müssen uns auf alles vorbereiten.«

Dann kam der Morgen, an dem sie weggingen. Zu Fuß bis zu dem Omnibus, der hinaus bis zu den Machatskaja-Bergen fährt. Dort warteten bei einem Bauern Pferdchen und Wagen, in Pflege gegeben für fünf Rubel pro Tag.

Noch einmal blieb Kolka Iwanowitsch stehen und sah zurück auf sein Haus.

Hier hatte er mit seiner russischen Frau gelebt und war glücklich gewesen. Hier hatte er Dimitri Sergejewitsch großgezogen und dafür gesorgt, daß er etwas Ordentliches im Leben wurde. Hier hatte er Jahre um Jahre am Fenster gesessen, seine Zeitung gelesen und seinen Wodka getrunken, und die Zeit war an ihm vorbeigeflossen, und er war zufrieden gewesen. Die Wunden des Krieges waren verheilt, die Wunden der Seele vernarbt, die Erinnerung an Göttingen, an seine Frau Agnes und seine Kinder Wolfgang und Bettina, starb dahin wie ein welker Baum, denn man konnte Geschehenes nicht durch Trauer ändern.

Und nun war alles wie früher. Die Zeit war zurückgedreht. Das besinnliche Alter wurde wieder zum Kampf. Es gab keine Ruhe mehr. Das Leben hatte nur geschlafen; nun wachte es auf und war stärker als zuvor.

»Tut es dir leid, Vater?« fragte Bettina, als sie den Alten sinnend an der Straßenecke stehen sah. Die letzte Ecke. Hinter ihr begann das neue Leben. Von dort war das Haus des Kolka Kabanow nicht mehr zu sehen.

»Nein, mein Kleines.« Kolka legte den Arm um Bettinas Schulter. »Ich will mich an alles erinnern und es dort zurücklassen. Wir können nicht die schwere Last eines kranken Herzens mitschleppen. Es muß alles leicht in uns sein.«

Und so stand er da, sah auf sein Haus, und die Jahre zogen an ihm vorüber und verschwanden durch die Haustür.

»Komm!« sagte Kolka dann und wandte sich mit einem Ruck ab. »Nun ist's vorbei! Nun bin ich leicht. Wie ein Adler fühle ich mich.«

Und er blickte nicht mehr zurück, als sie im Bus saßen und nun auch Tiflis verließen.

Bei dem Bauern holten sie den Wagen ab, schirrten die Pferdchen an und fuhren auf der breiten Straße nach Baku davon.

Ein Väterchen mit seinem schönen Töchterchen. Ein Bauer, der weiß der Himmel wohin wollte … zu einer Hochzeit, zu einer Taufe, zu einer kranken Tante. Es war eine harmlose Fahrt.

Von Tiflis bis Baku sind es fast 600 Werst.

Mit einem Schnellzug ist es ein Vergnügen, Freunde. Mit dem Flugzeug ist's eine knappe Stunde. Wer aber mit einem alten, klapprigen und schwankenden Bauernwagen über die staubige Straße ziehen muß, davor zwei Pferdchen, die sich ausruhen wollen, die fressen müssen und trinken, der muß Geduld haben, einen großen Glauben an die Natur und ein festes Sitzfleisch. Natürlich hätte Kolka mit dem Flugzeug fliegen können, oder mit dem Zug hätte er reisen können – aber im Flugzeug verlangte man den Paß, und auch im Zug gab es manchmal Paßkontrollen. So blieb also, da Bettina ja keine Personalpapiere besaß, nur der Weg über die Landstraße und die Tortur der langen Reise.

Am Tage legten sie 30 Werst zurück; wenn's ein guter Tag war und die Pferdchen munter waren, auch 40 Werst. Nachts schliefen sie bei Bauern am Wege im Heu, erzählten, von der Urgroßmutter, die am Baikalsee vor ihrem Tode noch einmal alle sehen wolle – ein blödsinniger Gedanke, aber mache einer was gegen alte Mütterchen. Beim Morgengrauen zogen sie weiter, immer den Kleinen Kaukasus zur Rechten, durch Sonne und Staub, vorbei an der Ölleitung und an stinkenden Raffinerien.

Sechzehn Tage waren sie auf der Landstraße. Obwohl sie sich an den Brunnen und Trögen wuschen, sahen sie bald wie aus Mehl geknetet aus. Vor allem die Pferdchen wurden zu Albinos, so staubig waren sie.

Am siebzehnten Tag sahen sie das Meer. Das Kaspische Meer. Bei Alyatsskaja war es, und Kolka kam sich vor wie ein Fisch, der auf Land gelegen hatte und endlich wieder das Wasser riecht, bevor er völlig eingeht.

»Das Meer!« sagte er, sprang vom Bock, umarmte Bettina und küßte die Pferdchen auf die trockenen Nüstern. »Das Meer! Wir haben es bald geschafft!«

Auf der Höhe rasteten sie, dann verließen sie die Straße nach Baku und wandten sich auf kleinen Pfaden südwärts, der Halbinsel von Kysyl-Agatsch entgegen. Hier, so hoffte Kolka, würde es möglich sein, Wagen und Pferdchen gegen ein Boot einzutauschen.

Immer wieder hielt er an und zeigte Bettina auf der Karte ihren geplanten Weg. »Von der Halbinsel fahren wir mit einem Boot entlang der Küste bis Asstara. Das liegt schon in Persien. Dort gehen wir an Land und sind frei! So einfach ist das, wenn man ein bißchen denken kann.«

Aber vom Denken allein bekommt man noch kein Boot, Freunde. Das erkannte auch Kolka Iwanowitsch, als er am achtzehnten Tag bei Saljany die Küste entlangfuhr und nach einem seetüchtigen Fischerboot Ausschau hielt.

Boote lagen genug am Strand oder schaukelten an eisernen Bojen, aber entweder waren sie zu groß, oder sie waren so miserabel, daß Kolka ein ums andere Mal sagte: »Sind wir Selbstmörder, Bettina? Nein, es muß ein kleines, starkes, hochwandiges Boot sein, mit einem guten Segel und langen Rudern. So lange suchen wir.«

Es war fast schon Abend, als sie das Boot sahen, das sie suchten. An Land gezogen lag es in der Sonne, braun und gut geteert, mit einem ungeflickten Segel und lackiertem Inneren. Ein wunderbares Boot, und Kolka küßte seine Tochter vor Freude auf den Mund. »Das ist es!« sagte er.

»Aber wenn der Besitzer es nicht verkaufen will?« wandte Bettina ein.

»Will! Wer soll hier wollen?! Ich will das Boot, genügt das nicht?«

Kolka nahm das linke Pferdchen am Halfter, und sie stiegen mit Pferd und Wagen hinunter zum Ufer, was beschwerlich war, denn der Sand war tief, lose und heiß, und die Uferböschung war ausgewaschen von jahrhundertelangen Stürmen. Aber wenn Kolka etwas wollte, gelang es, und so standen sie neben dem Boot und betrachteten es. Kolka beklopfte es und grunzte zufrieden. Müde lehnte sich Bettina an die Bordwand und sah hinauf in den Himmel. Über ihr verstaubtes Gesicht lief der Schweiß und hinterließ kleine Rillen in der Schmutzschicht.

Geschafft, dachte sie. Mit dem Boot an der Küste entlang, vielleicht drei Tage oder vier, und dann sind wir frei und werden Mutter und Wolfgang wiedersehen.

Mutter.

Wie wird sie das Wiedersehen aufnehmen?

Und Dimitri?

Mein Gott, wo war jetzt Dimitri? Wartete er noch immer in Beirut?

Über den Strand kam ein krummbeiniger, schwarzhaariger und leicht schlitzäugiger Mensch gelaufen. Ein offenes Hemd trug er, eine geflickte Hose, und an den Füßen hatte er Sandalen.

»He!« rief der Mensch. »Was soll's? Was ist mit meinem Boot? Wer seid ihr?«

»Der Himmel segne dich!« sagte Kolka feierlich, als der Krummbeinige bei ihm war. »Ich bin Kolka Iwanowitsch Kabanow.«

»Was geht's mich an? Ich bin Daniel Alexandrowitsch Agafonow. Was ist mit meinem Boot?«

»Ich will's kaufen, Brüderchen Daniel. Für 500 Rubelchen, und dazu gibt's die Pferdchen und den Wagen und ein Tönnchen Salzfleisch. Was hältst du davon?«

»Gar nichts!« schrie Agafonow, der Fischer. »Kann ich mit einem Pferd Fische fangen, he? Und Salzfleisch? Ich habe die Bude voll Trockenfisch hängen, was soll ich mit Fleisch?«

»Die Abwechslung, Brüderchen«, sagte Kabanow und blinzelte Agafonow zu. »Stell dir vor, deine Marussja könnte sich jede Woche in ein anderes Weibchen verwandeln … na, Freundchen … wie wär das?«

»Ein schweinischer Gedanke!« sagte Agafonow laut. Er war wütend und nicht bereit, an Marussjas Verwandlungen zu denken. Ihm genügte sie vollauf so, wie sie war. »Geht, zieht weiter und sucht einen anderen Dummen! Mein schönes Boot für Pferd und Wagen. Hat man so etwas Dummes je gehört?«

»Und 600 Rubelchen.«

»Ich denke 500?«

»Wenn du ein guter Freund bist, auch 700!«

Agafonow sah Kolka nachdenklich an. »Du mußt das Boot haben, Genosse?«

»Ja!« sagte Kolka ehrlich.

»Du willst hinüber nach Persien, was?«

»Brüderchen, frag nicht soviel. Wer bietet dir noch auf der Welt einen Wagen, zwei starke Pferdchen und 800 Rubelchen?«

»Aha!« schrie Agafonow, der Fischer. »Betrügen willst du mich? Jetzt sind es 800! Und wenn ich dich gewähren lasse, zahlst du am Ende noch 1.000 Rubel? So einer bist du! Die eigenen Genossen bescheißen! Oha, ich werde es dem Dorfsowjet melden! Laß sofort das Boot los, sonst staubt es, Genosse!«

Kolka sah hinüber zu Bettina. Sie lehnte noch an dem Boot und war zum Umfallen erschöpft.

»Es ist so eine dumme Sache mit der Überzeugungskraft«, sagte Kolka und schüttelte wehmütig den Kopf. »Der Mensch ist ein ungläubiger Kloß.«

Damit hieb er dem krummbeinigen Agafonow seine Faust exakt unters Kinn, der kleine Fischer gab einen piepsenden Laut von sich, rollte mit den schiefen Augen und drehte sich dann noch oben. Er fiel gegen die Wand seines schönen Boots, wo ihn Kolka auffing, über die Bordwand ins Innere des Bootes warf und dann die Hände abstaubte.

»Los, mein Kleines, pack an!« schrie er und weckte Bettina aus einer lähmenden Schwäche. »Schirr die Pferdchen an das Boot. Ich bleibe im Boot und du reitest mit ihnen ins Meer und ziehst das Boot hinterher. Los, mein Kleines, nicht müde sein! Schlafen kannst du auf dem Meer! Erst zu Wasser mit dem Boot!«

Gemeinsam schirrten sie die Pferde ab, führten sie zum Bug des Bootes, banden sie dort mit Stricken an Haken fest, und Bettina setzte sich auf das stärkste Pferdchen und nahm die Peitsche in die Hand.

Kolka kletterte ins Boot. Dort verabreichte er dem armen Agafonow noch eine Ohrfeige, die ihn wieder in eine tiefe Ohnmacht warf, kontrollierte, ob alles vorhanden sei, kletterte wieder hinaus und lud aus dem Wagen die notwendigsten Lebensmittel um. Vor allem zwei Kanister mit Frischwasser nahm er mit und eine große Dose Fruchtsaft. Dann hockte er sich neben die eingezogenen Ruder, bereit, sie sofort ins Wasser zu stoßen, wenn das Boot schwamm, um die Pferdchen zu entlasten, und nickte der auf dem Pferderücken wartenden Bettina zu.

»Los, mein Kleines!« schrie er. »Los! Hinein ins Meer! Gib dem Pferdchen den Absatz, peitsche es … hoj … hoj … dawai – dawai … zieht, ihr Lieben … zieht … und noch einmal … hoj … es bewegt sich … es bewegt sich … es gleitet ins Meer … die Peitsche, Wanduscha … die Peitsche … dawai … dawai … ins Meer … in die Freiheit … zieht … zieht …«

Und langsam, Zentimeter um Zentimeter, glitt das Boot ins Wasser. Auf dem Pferd saß Bettina wie ein Tatarin und schrie dem anderen Pferdchen zu. Um sie herum spritzten die Wellen auf und das Meer stieg an ihren Hüften empor. In die Freiheit! Dawai! Dawai!

Es ist gar nicht so einfach, ein großes Boot zu Wasser zu lassen, wenn man davon keine Ahnung hat. Kolka Iwanowitsch hatte zwar schon viel in seinem Leben durchgemacht, er kannte Sibirien und die kasakstanischen Steppen, er kannte den Kaukasus und die gelben Fluten des Terek, er hatte Fische mit dem Speer erlegt und Kamelstuten gemolken – aber in einem richtigen Fischerboot hatte er noch nicht gesessen, wenn er auch behauptete, er könne das.

Dawai … die Pferdchen zogen den Kahn vom Strand weg ins Wasser, bis zu den Hälsen stampften sie im seichten Sandgrund des Meeres und blieben dann stehen, denn auch ein Pferd ersäuft nicht freiwillig. Das Boot schwamm wohl, schaukelte hin und her, Kolka knüpfte die Leinen los und schrie Bettina zu, sie solle ans Ufer zurückreiten … aber damit ist es ja nicht getan, Genossen. Ein Boot muß sich auch bewegen, nicht auf und ab, das tut ein schwimmendes Papier auch, sondern vorwärts, dem Ziel entgegen, weg vom Ufer Rußlands und hinüber in die Freiheit Persiens.

Hier saß nun Kolka Iwanowitsch hilflos vor einem umgeklappten Mastbaum, vor einem Berg zusammengeraffter Segel, vor Rollen voller Taue und verknoteter Takelage, sah mit gerunzelter Stirn auf das ihn verwirrende Chaos und überlegte, was zuerst zu machen sei.

Am Ufer band Bettina die Pferdchen an den Karren, suchte aus dem zurückbleibenden Gepäck noch zwei kleine Leinenbeutel heraus – es waren Kartons mit Seife, wie sich später herausstellte; sogar französische Seife –, warf dann ihre Kleider ab, band sie zu einem Bündel zusammen, legte es auf den Nacken und schwamm, nur in Höschen und Büstenhalter, zum Boot. Es war ein schöner Anblick, Freunde, und Kolka seufzte und war unendlich stolz, eine so schöne Tochter zu haben.

»Nun schwimmen wir!« sagte Kolka, als er Bettina ins Boot gezogen, abfrottiert und umarmt hatte. Sie zog wieder ihre verstaubte Reisekleidung an und band das nasse Haar mit einem Kopftuch zusammen. »Aber das ist eine verteufelte Takelage. Bei den Fischern auf dem Don war das anders. Unkomplizierter. Die hatten einen Pfahl in der Mitte des Bootes, ein Segel daran, der Wind blies hinein – und hui, ging's los! Das hier ist ja eine nautische Wissenschaft.«

»Wir haben den Besitzer des Bootes ja noch an Bord, Vater«, sagte Bettina. »Er wird uns helfen.«

»Den können wir doch nicht mitnehmen?«

»Warum nicht?«

»Nach Persien?«

»Nur so lange, bis er uns beigebracht hat, wie man dieses Boot lenkt. Dann segeln wir nahe an die Küste zurück und setzen ihn wieder ab.«

Bewundernd sah Kolka Iwanowitsch seine Tochter an. »Ein vorzüglicher Gedanke, Töchterchen«, sagte er. »So wird's gemacht.« Er warf Bettina einen Eimer zu und klatschte in die Hände. »Füll ihn mit Meerwasser, und dann her zu mir. Wir wollen das schlafende Väterchen wecken.«

Man wird Verständnis dafür haben, daß Daniel Alexandrowitsch Agafonow nicht sehr begeistert, ja sogar sehr ungehalten war, als er nach einigen Wassergüssen aus der Ohnmacht erwachte, sich auf dem Kaspischen Meer schwimmend fand und in der Gewalt eines Menschen, den er vom ersten Blick an nicht hatte leiden können. Er räkelte sich, hieb mit den Fäusten gegen die Bordwand, brüllte unflätige Worte, benahm sich ausgesprochen unfein und tobte seine ohnmächtige Wut an einer Kabelrolle aus, die ihm am nächsten lag. Er bearbeitete sie mit Tritten und bespuckte sie.

»Und nun, Brüderchen«, sagte Kolka gemütlich, als Agafonow keuchend auf der Ruderbank saß und trübsinnig hinüber zum Ufer blickte, »sei ein guter Mensch und bring Brüderchen Kolka bei, wie man segelt.«

»Eine Scheiße werde ich!« schrie der unhöfliche Agafonow. »Ersauft wie die Ratten!«

»Welch ein böser Mensch!« Kolka hob den Blick zum Himmel. »Daß Gott solche Charaktere duldet.« Er ging hinüber zur Ruderbank, tippte Agafonow auf die Schulter, und als dieser mißmutig aufsah, gab er ihm eine schallende Ohrfeige. Agafonow klammerte sich am hölzernen Sitz fest und brüllte auf.

»Die Hölle über dich!« schrie er und zitterte vor Wut. »In Schweinejauche sollte man dich ertränken!«

Was half's? Ein Mensch kann nur bis zu einer gewissen Grenze schimpfen, dann wird er müde und gleichgültig und resigniert. Bei jedem ist das individuell verschieden; der eine gibt nach Minuten auf, der andere nach Stunden, Frauen – sie sind darin unglaublich zäher – brauchen Tage. Agafonow brauchte genau vier Stunden, bis er sich durch gütige Reden und wohlgezielte Ohrfeigen davon überzeugen ließ, daß es ein Akt der Klugheit sei, Kolka das Führen eines Fischerbootes beizubringen.

»Na also, Brüderchen«, sagte Kolka zufrieden, als Agafonow seufzend und mit geschwollenen Backen den Mastbaum aufrichtete und die Segelleinen spannte. »Ich wußte, daß wir gute Freunde werden. Man muß die Menschen nur von ihrem Glück überzeugen.«

»Anfassen!« knurrte Agafonow. »Die Segel da! Und zieh an der Leine, du Hund. Dann gleiten sie empor.«

Kolka zog, und das Segel knarrte den Mastbaum hinauf, beulte sich im Wind, blähte sich, und das Boot machte einen Ruck, der Kiel durchschnitt das Wasser, es rauschte um sie, die Küste glitt davon.

Sie fuhren. Sie segelten vor dem Wind her, der so richtig wehte, als blase Gott selbst die Backen auf.

»Hurra!« schrie Kolka, machte einen Luftsprung, umarmte Bettina und küßte sogar den sich wehrenden Agafonow auf die Wangen. »Wir fahren! Es geht in die Freiheit! In die Freiheit, Brüderchen!«

Agafonow, der Fischer, hockte sich an den Ruderbalken und lenkte das Boot hinaus aufs Meer. Bald war die Küste nur ein schmaler, kaum wahrnehmbarer Streifen am Horizont. Kolka Iwanowitsch Kabanow setzte sich neben Agafonow. Bettina lehnte am Mast und ließ den Wind durch ihre Haare wehen.

»Ich möchte dich nur warnen, Dummheiten zu machen, mein Herzchen«, sagte Kolka und sah Agafonow mahnend an. »Ich weiß, daß in der Nähe der persischen Grenze und auch bei Len-Koran sowjetische Kanonenboote kreuzen und die Küste bewachen. Es wäre dumm, Brüderchen, wenn du sie anfährst. Erstens werfe ich dich rechtzeitig über Bord, zweitens macht es mir gar nichts aus, mich und mein Töchterchen selbst zu versenken, denn das Leben ist doch nur ein Hauch, sagt der Philosoph. Sei also brav, Herzchen, und fahre hinaus aufs Meer, ziehe einen großen Bogen und segle zur persischen Küste.«

Und so geschah es. Was blieb dem armen Daniel Alexandrowitsch anderes übrig? Wer den Teufel an Bord hat, muß auch Schwefel riechen können.

Aber er rächte sich. Auf ganz legale Art geschah das: bei der Ausbildung des alten Kolka zum Seemann.

Da war es nicht damit getan, daß Kolka nur an den Leinen zog, die Agafonow ihm angab – o nein, er mußte den Mastbaum hinauf, wie ein Seekadett. Er mußte Segel raffen und Taue spannen. Er mußte gegen den Wind segeln und blitzschnell die Rahen umwerfen, wenn der Wind drohte, das Boot in die Wellen zu drücken. Und die ganze Zeit über stand Agafonow unten am Mast und schrie mit satanischer Wonne:

»Schneller, Freundchen, schneller! Ein Windstoß ist wie ein Furz, man kann ihn nicht aufhalten! Und wenn einem die Zähne klappern … es weht daher! Schneller, zum Teufel! Wie lahm er ist, wie lahm! Aber eine große Fresse hat er, und ohrfeigen kann er! Nie wird das ein Seemann! Nie!«

Erschöpft, durchweicht, mit bebenden Knien kam dann Kolka an Deck zurück, spuckte Agafonow an und legte sich auf den Rücken wie ein kranker Hund. Bettina massierte ihn, gab ihm Tee mit Wodka zu trinken und lachte doch dabei. Denn trotz aller Qual: Sie kamen weiter, segelten flott über das Meer. Und wenn es so weiterging, waren sie in fünf Tagen in Sicherheit.

Die Nächte waren ruhig und schön. Agafonow warf einen Treibanker – daß es so etwas gab, erfuhr Kolka auch erst jetzt. Bettina kochte auf einem Spirituskocher das Abendessen; meistens Suppe aus fertigen Gemüsedosen, die Agafonow mit saurer Miene aß, denn ein echter Fischer hat keinen Geschmack an Dingen, die nicht aus dem Meer stammen. Dann trank man Tee, Wodka oder den berühmten grusinischen Kognak ›Jubileiny XX‹, von dem Kolka in weiser Voraussicht fünf Flaschen mitgenommen hatte.

Nach drei Tagen hatte sich Agafonow daran gewöhnt, Mitglied der Familie Kabanow zu sein. Er holte aus einem Holzkasten eine alte, verbeulte Handharmonika hervor, und dann spielte und sang er alte Fischerlieder vom Kaspischen Meer, während der Mond aufzog und das Wasser zu einem silbernen Spiegel verwandelte.

Schöne Abende wären das gewesen, hätte nicht immer die Furcht im Nacken gesessen, ein Patrouillenboot könnte auftauchen und die Flucht aus Tiflis in die Tragödie vom Untergang einer Familie verwandeln.

Am dritten Tage kamen Kolka einige Bedenken. Er hatte sie schon lange, aber er sprach sie jetzt erst aus.

»Wie ist das eigentlich, Herzchen?« sagte er und gab Agafonow eine grusinische Zigarre. »Wird man dich zu Hause vermissen?«

»Ich glaube schon«, antwortete Daniel Alexandrowitsch und biß die Spitze der Zigarre ab. »Ich habe eine Frau und neun Kinder.«

»Was werden sie jetzt tun?«

»Jammern und schreien. Und dem Wildwellengeist ein Opfer bringen.« Agafonow sah dem ersten Rauchring nach, der im Mondlicht zum Mast emportrieb. Eine Zigarre, dachte er. Wie ein Kapitalist! Wer hat in unserem Dorf schon jemals eine Zigarre geraucht? Der Natschalnik von der staatlichen Fischsammelstelle, gewiß … aber so ein einfacher Fischer mit neun Kindern … nicht daran zu denken. »Sie werden denken, ich sei mit dem Boot abgetrieben.«

»Aber die See war doch ganz ruhig.«

»Das stimmt«, sagte Agafonow nachdenklich.

»Und am Ufer standen zwei Pferdchen und ein Wagen, von denen niemand weiß, wem sie gehören.«

»Das wird einen Auflauf gegeben haben.«

Kolka Iwanowitsch nahm einen tiefen Schluck Wodka. Er war sehr in Sorge. »Sie werden das sofort dem Sowjet gemeldet haben. Der Miliz. Der Partei.«

»Das könnte sein.«

»Und dann sucht man uns.«

»Mit einem Hubschrauber.« Agafonow sah auf seine Zigarre. »Wieviel Zigarren hast du bei dir, Brüderchen?«

»Zwanzig. Und drei Flaschen Kognak.«

»Das ist ein schönes Wort.« Agafonow griff zu seiner Handharmonika. »Sie werden uns nicht finden, Kolka Iwanowitsch. Wo bekomme ich jemals wieder zwanzig Zigarren und drei Flaschen Jubileiny?«

Sie schlugen einen Bogen, weit aufs Meer hinaus, wo kein Hubschrauber sie suchen würde, denn dorthin verirrt sich kein Boot und wird auch keines entführt. Und so trieben sie sieben Tage über das Kaspische Meer, bräunten in der Sonne, fingen Fische, sangen zu Agafonows Musik und fanden das Leben herrlich.

Nur nachts, wenn Agafonow schlief und grauenhaft schnarchte, starrten Kolka und Bettina auf das leise gekräuselte Meer und dachten den gleichen Gedanken.

Was mochte mit Dimitri sein?

War er noch in Beirut? Wartete er noch auf sie? Hatte er irgendwo Unterschlupf gefunden?

Oder war er wieder zurückgeflogen nach Tiflis, in die Heimat, zu der er gehörte wie der Samen der Maulbeerbäume?

Dimitri.

Bettina legte ihr Gesicht auf beide Hände. Sie sah ihn vor sich … seine schwarzen Locken, seine strahlenden Augen, seine fröhlichen, immer lachenden Lippen.

»Er wartet auf uns«, sagte Kolka und legte den Arm um ihre Schulter. »Er liebt dich, Kleines. Und ich kenne doch Dimitri, mein Söhnchen.«

*

In der deutschen Handelsmission in Beirut waren an dem Abend, an dem sich Dimitri Sergejewitsch entschloß, aus Liebe zu einer Frau seine sowjetische Heimat zu verlassen, nur ein Nachtportier und ein Stenograf vorhanden, die sich nicht zuständig erklärten für einen um politisches Asyl bittenden geflüchteten Russen. Sie ließen Dimitri zwar ins Gebäude, aber nur bis in die Eingangshalle; dort saß er auf einer kalten marmornen Bank und erklärte dem nicht zuständigen Stenografen, daß er nach Deutschland wolle.

»Aus Liebe«, sagte er ehrlich. »Verstehen Sie das, Gospodin?«

Der Stenograf verstand das nicht; vielmehr glaubte er, das sei ein Besoffener, und Betrunkene soll man nach Erfahrung aussprechen lassen und nicht reizen. Hinzu kam der Smoking. Hat man schon gesehen, daß jemand in einem Smoking um Asyl bittet? Ohne Köfferchen in der Hand, aber mit einem weißen Ziertuch in der Brusttasche?

Ein klarer Fall von Belästigung durch Trunkenheit.

»Wo ist der Leiter der Handelsmission?« fragte Dimitri, nachdem er eine halbe Stunde auf der kalten Steinbank gesessen hatte. Er sprach das harte Deutsch, wie es alle Russen sprechen, die diese Sprache auf der Schule gelernt haben.

»Beim Empfang des Nobelpreisträgers Bunche im Hotel ›Arab‹«, sagte der Stenograf mißmutig. Er war müde. Sein Dienst ging in einer halben Stunde zu Ende. Erfahrungsgemäß trafen nachts keine Telegramme mehr ein, denn in der Welt war es verhältnismäßig ruhig. Vietnam, na ja, aber das war weit entfernt von Beirut. Und auch Nasser in Ägypten war ruhiger geworden. Ab 22 Uhr übernahm eine Telefonistin die Wache in der Nachrichtenzentrale der Handelsmission, und der Stenograf hatte eine Verabredung mit einer libanesischen Schönen.

»Vom Hotel ›Arab‹ komme ich ja«, sagte Dimitri und lächelte schwach.

»Bitte! Warum haben Sie den Chef nicht dort angesprochen?«

»Ich habe den Saal nicht betreten. Wir stehen unter Kontrolle. Ich kann doch nicht in einem Hotelsaal um Asyl bitten. Ich bin Dimitri Sergejewitsch Sotowskij. Ingenieur des Ölkombinats in Tiflis.«

»Angenehm. Heinrich Friedrich Schmitz.« Der Stenograf sah an die Stuckdecke der Halle. Was soll ich mit ihm, dachte er. Warum kommt er auch um eine solch dumme Zeit und will flüchten?

»Können Sie Ihren Vorgesetzten nicht anrufen?« fragte Dimitri.

»Unmöglich! Warum denn?«

»Ein Mensch sucht Schutz.«

»Deswegen können wir doch nicht einen Empfang des Friedensnobelpreisträgers stören!«

»Das stimmt.« Dimitri starrte auf den Boden. Er kam sich armselig vor, wie ein Bettler, der um einen Teller Suppe bettelt und dem man eine Tasse voll heißen Wassers gibt. »Wann sind denn die Herren da?«

»Die einzelnen Abteilungsleiter kommen gegen neun Uhr morgens. Das Sekretariat ist zwar früher da … aber die können ja nicht entscheiden.«

»Danke.« Dimitri erhob sich. Trotz der lauen Nacht fröstelte ihn. »Können Sie mir eine Taxe besorgen?«

»Aber ja.«

Zehn Minuten später verließ Dimitri die deutsche Handelsmission in Beirut. Er warf sich in den Wagen, sah zurück, hob die Schultern und beugte sich zu dem Fahrer vor.

»Ambassadeur américain«, sagte er in holprigem Französisch. Der Fahrer nickte und raste los. In Beirut hatten die Autos anscheinend keinen ersten und zweiten Gang.

Die amerikanische Botschaft war auch nur schwach besetzt, auch ihr Botschafter war im Hotel ›Arab‹ und machte die Honneurs für Ralph Bunche. Aber der Militärattaché war noch anwesend, in Galauniform, und arbeitete einige Meldungen aus Washington auf, die gerade per Fernschreiber gekommen waren. Man sah, daß er es eilig hatte, denn im Hotel ›Arab‹ wartete Maud auf ihn, die Tochter eines englischen Bankiers.

Verwundert starrte Major Hawkins auf den großen, eleganten Mann im Smoking, der in sein Zimmer geführt wurde und sich als Dimitri Sotowskij vorstellte.

»Was kann ich für Sie tun, Mister Sotowskij?« fragte er.

»Ich spreche kein Englisch«, antwortete Dimitri. »Können Sie Deutsch?«

»Ein wenig.«

»Sehr schön.« Dimitri richtete sich auf, straffte den Oberkörper, als wolle er eine Meldung machen. »Ich bitte um politisches Asyl. Ich gehöre zu einer Gruppe sowjetischer Ölfachleute aus Tiflis und möchte im Westen bleiben.«

»Das ist wieder einmal ein dicker Hund, der ausgerechnet zur falschen Zeit an die Laterne pißt!« sagte Major Hawkins in bestem Texanisch. Dimitri verstand gar nichts; er lächelte, weil er glaubte, es sei etwas Gutes.

»Ich bin vor dem Empfang geflüchtet«, sagte Dimitri. »Ich habe alles zurückgelassen. Sogar der Smoking ist geliehen.«