»Auf den Gedanken kommen sie gar nicht, daß ein biederes Holzschiff Koks an Bord hat!«

»Wenn es Betty gelingt, diesen Baumgart für uns zu gewinnen.«

Herbert Willke warf die halb gerauchte Zigarette weg.

»Sie wird's schon schaukeln. Noch vier Tage, dann können wir sagen: Zwei neue Bundesmillionäre stellen sich vor.«

»Oder zwei neue Sträflinge.«

Die ›Fidelitas‹ näherte sich Köln.

In Duisburg hatte Jochen Baumgart Post bekommen.

Einen Geschäftsbrief. »Absender: Großhandelsfirma Ex- und Import ›Transocean‹.«

Verwundert las Baumgart das Schreiben und reichte es Betty hinüber.

»Das ist in der jetzigen Not der Binnenschiffer eine einmalige Sache. Man bittet mich, eine Fracht zu übernehmen. Von Köln nach Basel und von Basel nach Rotterdam! Hier, lies bitte: ›Über die Frachtsätze werden wir noch sprechen. Sie erhalten auf jeden Fall das Doppelte der üblichen Frachtpreise, wenn Sie unseren Auftrag als Eilauftrag behandeln und sofort laden.‹«

Betty las den Brief. Sie brauchte die Unterschriften nicht erst zu entziffern. Sie kannte sie.

»Verstehst du das?« fragte Jochen Baumgart.

»Es hat sich herumgesprochen, wie schnell dein Schiff ist.«

Wieder zögerte sie, ihm die Wahrheit zu sagen. Die Angst vor Pierre Domaine und Herbert Willke schnürte ihr die Kehle zu.

»Wirst du das Angebot annehmen?«

»Zumindest werde ich mich mit dieser Exportgesellschaft in Verbindung setzen. Man soll keine Türen zuschlagen, ehe man sie weit geöffnet hat, um zu sehen, was hinter ihnen ist!«

»Wenn es nun eine Schwindelfirma ist?« wagte Betty einen Einwand. »Wolltest du in Köln ankern?«

»Geplant war es nicht. Aber jetzt tue ich es! Und wenn sie die Fracht zu fünfzig Prozent im voraus bezahlen, kann es keine Schwindelfirma sein.«

»Wenn, Jochen …«

»Wir werden es sehen. Der doppelte Frachtpreis lockt mich. Wenn es ein Dauerauftrag ist, wage ich es sogar, ein zweites Schiff auf Darlehen zu kaufen und die Konzerne aufzubrechen.«

»Du bist wahnsinnig!«

»Ich wage nur etwas! Ich werde in die Herde der Schiffer einbrechen wie ein Wolf!«

Das war der Augenblick, den Pierre Domaine gefürchtet hatte. Betty lehnte den Kopf an Jochens Schulter und schloß die Augen.

»Jochen …«, sagte sie leise.

»Ja?«

»Leg nicht in Köln an. Fahr weiter …«

»Aber warum denn?«

»Ich habe so ein dummes Gefühl …«

Er küßte ihre Nasenspitze und lachte. »Du bist doch ein Schäfchen«, sagte er. »Wenn mir die Gesichter der Leute nicht gefallen, mache ich sowieso nicht mit. Und Geld müssen sie auch nachweisen. Es ist fast unmöglich, einen Jochen Baumgart übers Ohr zu hauen.«

Herbert Willke behielt recht: Betty war zu ängstlich, Jochen die Wahrheit zu sagen. Sie fürchtete die Rache, und sie wußte, was es hieß, einen internationalen Ring als Gegner zu haben.

Pünktlich, wie es Domaine berechnet hatte, traf die ›Fidelitas‹ im Kölner Hafen ein.

Pierre Domaine und Herbert Willke erschienen am nächsten Morgen auf der ›Fidelitas‹.

Von den Kajütenaufbauten kam der Steward heran.

»Bitte?« fragte er.

»Zu Herrn Baumgart, s'il vous plaît.«

»Er ist erst in einer halben Stunde zu sprechen.«

»Dann warten wir.« Herbert Willke sah sich auf dem Deck um. »Wir setzen uns in irgendeine Ecke.«

»Wen darf ich melden, wenn Herr Baumgart fragen sollte?«

»Die Herren der Großhandelsfirma ›Transocean‹!«

Sie stellten sich an die Reling und blickten über den Kölner Hafen, über den winterlichen Rhein und die wenigen Schiffe, die langsam und tiefbeladen mit Kohlen gegen den Strom stampften. Der Steward verschwand in der Kombüse.

Nach einer guten halben Stunde kam er wieder.

»Herr Baumgart läßt die Herren bitten!« sagte er steif. Er ging den beiden voraus und öffnete die Tür einer Kajüte.

Domaine, ganz Weltmann, trat mit einem Lächeln und einer kleinen, korrekten Verbeugung Jochen Baumgart gegenüber. Er empfand es als wohltuend, daß Betty nicht im Raum war.

Baumgart musterte die Eintretenden kurz und ohne Mühe, diese Musterung diskret zu verbergen. Er zeigte auf die Sessel, die um einen runden Tisch standen.

»Bitte!«

»Merci, Monsieur!«

»Sie haben mir geschrieben?« fragte Jochen Baumgart. »Leider – um es vorwegzunehmen – muß ich Ihnen sagen, daß ich für zehn Jahre Fracht habe.«

»Wie bitte?« sagte Willke verblüfft. »Zehn Jahre?«

»Ich habe langjährige Verträge mit Firmen, die solvent sind.«

»Das sind wir auch.« Pierre Domaine lächelte. »Wir sind so solvent, daß wir Ihnen die doppelte Frachtrate bezahlen, wenn Sie für uns fahren. Und zwar zahlen wir fünfzig Prozent bei Übernahme der Ware und fünfzig Prozent bei Eintreffen am Zielort.«

»Und um was handelt es sich?«

»Um Holz.«

»Holz?«

»Bauholz und Grubenholz. Ein ehrliches und gutes Geschäft, das auch für Sie von Dauer sein kann. Gebaut wird immer. Wir liefern das Holz nach Holland und die Schweiz.«

»Nach Holland Grubenholz?«

»Bauholz«, lächelte Domaine. »Holland hat ja keine Gruben.«

»Eben.«

»Es sind Eilaufträge. Darum möchten wir, daß Sie, der Sie das schnellste und modernste Schiff besitzen, das Holz zunächst auf der ersten Fahrt nach Basel bringen. Gelingt es Ihnen, diesen Auftrag sogar mit einem Zeitgewinn von drei Tagen über Normalzeit auszuführen, zahle ich Ihnen zwanzig Prozent über den ausgemachten Preis als Prämie.«

Jochen Baumgart setzte sich und schob Domaine und Willke die Kiste Zigarren hin. »Sie müssen eine tolle Kalkulation haben, um dies versprechen zu können«, sagte er verwundert.

»Nur, weil wir eigene Waldungen besitzen.«

»Sie fahren also?« fragte Willke und beugte sich vor.

»Im nächsten Jahr. Vielleicht.«

Pierre Domaine legte sein Scheckbuch auf den runden Tisch. Er schlug es auf. Ein Scheck war unterzeichnet.

Ein Blankoscheck.

»Wenn Sie sofort fahren, zahle ich Ihnen über das Doppelte.«

»Das ist unmöglich!« Baumgart sprang auf. »Ich habe Frachtverträge, die ich einhalten muß.«

»Ich löse sie ab. Geben Sie diese Aufträge an andere Schiffe. Sie können es sich leisten – wenn Sie mit uns arbeiten –, Ihrer Konkurrenz von Ihren Aufträgen etwas abzugeben.«

Hannes, dachte Jochen Baumgart plötzlich. Ich könnte ihm tatsächlich von der Fülle meiner Aufträge einige abgeben, denn es wird ihnen nicht besser gehen als den meisten Binnenschiffern, die in den Häfen, auf dem Rhein und in den Kanälen liegen und keine Fracht haben. Aber dann dachte er daran, daß ja nicht Hannes der Besitzer der ›Guter Weg‹ war, sondern sein Vater, und sein Gesicht wurde hart.

»Ich habe für mich selbst zu sorgen. Ich habe vor, ein Haus zu bauen, zu heiraten …«

Betty, dachte Herbert Willke. Sie hat es tatsächlich geschafft. Sie heiratet einen Reeder und spielt die Dame der Gesellschaft. Das Mädchen, das in Hamburg auf den Hinterhöfen aufwuchs. Das Mädchen, das sich mit vierzehn Jahren dem ersten Manne hingab, der ihr dafür eine große Portion Eis bezahlte und beim zweiten Male drei Stück Torte. Nußtorte. Eine Treibhauspflanze der Gosse, gedüngt mit Schmutz und Jauche. Die künftige Frau Reeder.

Pierre Domaine nickte lebhaft. »Sie haben dieses Haus schon in der Tasche, wenn Sie zusagen.«

»Im nächsten Jahr.«

»Sofort!«

»Sie müssen ja erst das Holz heranholen.«

»Es lagert bereits im Hafen! Drei Schiffsladungen voll! Sie brauchen jetzt nur noch die Laderäume zu öffnen!«

»Ich habe Fracht an Bord, begreifen Sie es doch. Ich kann nicht einfach die Fracht an Land setzen und sagen: Seht zu, wie ihr weiterkommt! Ich bekäme nie wieder Aufträge!«

»Von uns immer!«

»Von Ihnen allein kann ich nicht leben.«

»Vielleicht doch!«

»Dann müßte es ein langjähriger Vertrag sein.«

»Ein Vertrag auf Lebenszeit«, sagte Domaine kühn.

Willke begann zu schwitzen. Er ist verrückt, dachte er. Er verspricht Dinge, die er nie halten kann. Einmal fliegen wir alle auf … Was dann? Es ist das Schicksal aller Rauschgifthändler, einmal hinter feste Gardinen zu kommen.

»Warum zögern Sie, Monsieur?« fragte Domaine freundlich.

»Sie verlangen etwas, was bisher noch nie in der Binnenschiffahrt geschehen ist. Ich soll eine übernommene Fracht einfach ausladen! Das geht gegen alle Schiffermoral.«

»Ihre Moral wiegen wir mit Gold auf! Genügt das nicht?«

Jochen Baumgart zögerte. Domaine spürte dieses Schwinden des Widerstandes. Er füllte den Scheck aus und schob – nachdem er das Blatt herausgerissen hatte – den Scheck zu Jochen Baumgart hin.

»Bitte!«

Willke las die Zahl und hielt den Atem an. Baumgart sprach das aus, was er dachte.

»Sie sind verrückt, Herr …«

»Domaine. Pierre Domaine.«

»Ich bitte um Bedenkzeit.«

»Bis morgen früh. Am Mittag müssen wir verladen.«

Domaine erhob sich. Den Scheck ließ er auf dem Tisch liegen. Baumgart nahm ihn und hielt ihn Domaine hin.

»Ihr Papierchen.«

»Ich lasse es Ihnen da. Als Anschauungsmaterial und als Anreiz. Sie können es auch verbrennen – ganz wie Sie wollen. Sie sollen sehen, daß wir großzügig sind, um mit einem Mann wie Ihnen in ein Geschäft zu kommen.«

Baumgart begleitete die beiden Besucher bis an das Fallreep.

Nachdenklich, nach einem Entschluß ringend, ging Jochen Baumgart zurück in seine Privaträume. Mit Betty, die er fragte, konnte er nicht darüber sprechen. Sie hatte sich ins Bett gelegt und behauptete, sie habe eine tolle Migräne und könne keinen Gedanken fassen.

Als er ihr Zimmer verließ, weinte sie in die Kissen hinein. Aber sie war zu feige, ihm die Wahrheit über die Firma ›Transocean‹ zu sagen.

Am Abend fragte er beim Binnenschiffahrtsamt Duisburg an, wo die ›Guter Weg‹ sei. Man wußte es nicht genau … Sie hatte Fracht nach Ludwigshafen, das wußte man. Was von Ludwigshafen aus geschehen war, wußte niemand.

Jochen Baumgart rief die Ludwigshafener Hafenbehörde an. Von ihr erfuhr er, daß die ›Guter Weg‹ im Hafen lag und wie viele Schiffe auf das Wunder eines neuen Auftrages wartete.

Dieses Wunder schaffte Baumgart. Er gab ein Telegramm auf.

»Sofort nach Köln-Hafen kommen. Übernahme einer Ladung nach Stuttgart. Ladung liegt bereit im Hafen. F.«

Das F. bedeutete ›Fidelitas‹. Und weil er wußte, daß es niemand deuten würde, war er zufrieden.

In Ludwigshafen wurde das Telegramm zwei Stunden später durch einen radfahrenden Postboten an Deck der ›Guter Weg‹ gebracht. Der alte Baumgart riß selbst den Umschlag auf und las das Telegramm laut vor. Dann setzte er sich und starrte auf das Blatt Papier.

»Wer ist F.?« fragte er. »Wer schickt solch ein Telegramm? Keine Firma, keine Angaben, das ist ein übler Scherz!«

Er wollte das Telegramm schon zerreißen und in den Ofen werfen, als Hannes ihm das Papier aus der Hand nahm. Er las es noch einmal durch und schüttelte den Kopf.

»Aufgegeben im Hauptpostamt Köln. Ich glaube nicht, daß es ein übler Streich ist.«

»Wir bleiben in Ludwigshafen, bis ein reelles Angebot kommt! Basta!«

Erna Baumgart hob die Schultern, als ihr Sohn sie ansah. Wenn der Vater basta sagte, gab es keine Diskussion mehr. Sie kannte das aus dreißig Jahren Ehe.

In der Nacht, als der alte Baumgart schlief, legte die ›Guter Weg‹ ab. Mit gedrosselten Maschinen, mit halber Kraft, ganz langsam schob sich das alte Schiff aus dem Hafen hinaus in den breiten und nachtdunklen Rhein. Die Eisschollen krachten leise an die Bordwand. In einen dicken Mantel gehüllt, stand Irene an der Bordwand und stieß mit einer langen Stange die herantreibenden Eisschollen weg.

Langsam erst, dann schneller mit der Strömung, trieb die ›Guter Weg‹ den breiten Fluß hinab in Richtung Köln.

Während die ›Guter Weg‹ die Nacht durch nach Köln fuhr, erlebte der Kölner Hafen ein seltenes, ein fast einmaliges Bild.

Ein Schiff wurde entladen, und zwar nicht, wie es sich gehörte, auf Lkw oder in Güterzüge oder in Silos und Lagerhallen, sondern ein Heer von Arbeitern und einige große Kräne setzten Kisten mit Maschinenteilen einfach auf die Lagerplätze neben einen Haufen Bauholz.

Herbert Willke dirigierte die Arbeiter – da war er in seinem Metier –, während Domaine wieder bei Baumgart in der Kajüte saß und einen höllisch scharfen Pernod trank.

»Ihr Entschluß ist zu loben, Monsieur«, sagte er und hob prostend das Glas. »Auf eine Dauerverbindung!«

Sie legten pünktlich gegen ein Uhr ab.

Mißtrauisch beobachtete Betty von ihrem Kabinenfenster aus, wie Domaine sich nach dem Beladen von Baumgart verabschiedete. Willke sah sie nicht. Vielleicht war er schon von Bord gegangen. Das beruhigte sie sehr, denn der gefährlichere von beiden war Domaine.

Als sie zwei Stunden später in die Kajüte Baumgarts trat und dort dick, jovial und breit lächelnd Willke vorfand, war sie einer Ohnmacht nahe und mußte sich an die Tür anlehnen.

Jochen Baumgart sprang auf, als Betty den Raum betrat. Auch Herbert Willke erhob sich langsam und schüttelte hinter dem Rücken Baumgarts den Kopf.

»Darf ich dir Herrn Willke vorstellen, Liebes?« fragte Jochen und wandte sich um. »Er fährt mit uns und seiner Ladung bis Basel.« Und zu Willke gewandt: »Fräulein Kahrmayr – die zukünftige Frau Baumgart.«

»Gratuliere!« sagte Willke fröhlich. Dann riß er sich zusammen und gab Betty höflich die Hand. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, gnädiges Fräulein. Ich bewundere Sie, daß Sie auf dem Schiff mitreisen. So etwas ist doch eine harte Männersache.«

»Mir macht es Vergnügen«, sagte Betty kurz. »Ihnen hoffentlich auch.«

»Und wie! Es wird mir ein unvergeßliches Erlebnis sein.«

Jetzt, nachdem das Schiff beladen war und Jochen Baumgart vor der Abfahrt von Pierre Domaine den riesigen Frachtbetrag in bar erhalten hatte, fiel das Gefühl der Vorsicht und des Mißtrauens von ihm ab. Es war ein reelles Geschäft – das war mit der Übergabe des Geldes erwiesen. Er fuhr Holz in die Schweiz. Weiter nichts. Ein Geschäft, so glatt, so einfach, so ungeheuer alltäglich, daß es müßig war, sich weitere Gedanken darüber zu machen.

»Ich habe gedacht, wir veranstalten zur Feier dieses Auftrages ein kleines Bordfest«, sagte Jochen Baumgart fröhlich. »Was hältst du davon, Betty?«

»Ein guter Gedanke.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Wenn nur die Kopfschmerzen nicht wären. Aber es soll dich nicht stören, mit Herrn Willke zu feiern.«

»Es wird vielleicht besser, wenn wir weiter nach Süden kommen«, meinte Willke trocken.

»Was wird besser?!« schlug sie zurück.

»Der Kopfschmerz. Schon oft hat eine Luftveränderung den ganzen Menschen umgekrempelt. Manchmal kennt man sie gar nicht wieder …«

Betty Kahrmayr schluckte. Du Schuft, dachte sie. Wenn ich mehr Mut hätte, würde ich dich diese Nacht noch töten! Aber ich habe diesen Mut nicht, ich bin feige – ich weiß es. Und du weißt es auch, du Satan!

»Vielleicht haben Sie sogar recht.« Sie nickte Willke zu.

»Ich bitte um Entschuldigung …«

Sie ging in ihren Kabinentrakt zurück und ließ sich aus Angst vor Willke den ganzen Tag über nicht mehr sehen.

Kurz vor Koblenz begegneten sich die ›Fidelitas‹ und die ›Guter Weg‹. Baumgart und Bunzel standen zusammen auf der Kommandobrücke.

»Ihr Herr Papa!« sagte Bunzel und nickte zur ›Guter Weg‹ hinüber.

»Sie sollten solche saudummen Bemerkungen unterlassen!« brummte Jochen Baumgart grob. Er sah durch die große Scheibe hinüber und hinunter auf den alten, brüchigen Kahn, der langsam mit der Strömung rheinabwärts trieb.

Der Vater saß hinten an Deck und hatte eine Angel in der Hand. Mutter hing auf dem Vorschiff Wäsche auf. Ein heißes, würgendes Gefühl stieg in Jochen empor. Es krampfte ihm die Kehle zusammen und schlug bis zum Herzen, daß er heftiger atmen mußte, so, als bekomme er keine Luft mehr.

Mutter. Arme, kleine, alte Mutter!

Jetzt blickte sie hinüber zu dem stolzen, weißen Schiff. Auch der Vater an der Angel wandte sich zur Seite und sah hinüber. Aber keiner winkte. Stumm, unbeweglich, wie geschnitzte Riesenfiguren standen sie an Deck und starrten auf die ›Fidelitas‹.

Winkt doch, dachte Jochen Baumgart. Hebt doch einmal die Hand. Gebt mir doch ein Zeichen – ich will ja alles, alles vergessen. Ihr braucht doch bloß zu winken … Ihr wißt doch, daß es mein Schiff ist. Ich warte doch nur auf dieses Zeichen. Mutter – und auch du, Vater – winkt doch. Nur einmal. Zeigt, daß ihr mich nicht abgeschrieben und vergessen habt.

Aber sie blieben stumm und unbeweglich an Bord stehen. Hinter den Scheiben des Ruderhauses sah er den Kopf von Hannes. Auch er starrte hinüber zu dem weißen Schiff. Seine Hand lag an der Reißleine der Sirene.

Reiß doch durch. Junge, bettelte Jochen im Inneren. Jage das Heulen in die Luft – ich antworte dir – ich will ja antworten. Es ist ja alles so sinnlos, was wir tun.

Aber auch Hannes schwieg und nahm die Hand wieder von der Sirene. Er dachte an die Worte des Vaters, der am Morgen zu ihm gesagt hatte: »Heimlich bist du weggefahren! Aber sollte hinter dem Telegramm Jochen stehen, kehren wir wieder um! Ich nehme kein Almosen vom eigenen Sohn! Ich nicht!«

Jochens Kopf sank gegen die Scheibe der großen Kommandobrücke. Sie hassen mich noch immer, durchjagte es ihn. Sie kennen mich nicht mehr.

In Koblenz blieben sie unprogrammgemäß zwei Tage liegen. Ein Telegramm, das Pierre Domaine an Herbert Willke geschickt hatte, veranlaßte diesen, den Transport zunächst zu stoppen.

Das Telegramm lautete schlicht:

»Tante Emma zu Besuch bei Onkel Walter, Tante will in einen Gesangverein eintreten. Abwarten, was Onkel Theo sagt. Peter«

Auf gut deutsch hieß das: Agent Tschernoslawskij von der Polizei verhaftet. Wenn er gesteht, platzt der westeuropäische Ring. Abwarten, was geschieht. Pierre Domaine.

Herbert Willke las das Telegramm mit eisigem Schrecken und erfand eine ebenso dumme wie plausible Begründung, in Koblenz zunächst zu ankern.

»Mein Kompagnon teilt mir mit, daß für den noch nicht gefüllten Laderaum VI vielleicht eine Beiladung einer hiesigen Firma dazukommt. Wir sollen warten, bittet er uns.«

Jochen Baumgart nickte. »Wenn es sich mit Ihren Dispositionen vereinbaren läßt, bitte! Die Tage, die wir hier länger liegen, werden wir prozentual auf den Frachtpreis umrechnen.«

Willke wischte sich über die Stirn. »Es wird alles bezahlt, Herr Baumgart!«

In diesen zwei Tagen lud die ›Guter Weg‹ in Köln die Maschinenkisten und fuhr, nachdem der alte Baumgart genau die hinterlegten Frachtpapiere geprüft hatte, wieder den Rhein aufwärts nach Stuttgart, der Endstation des Auftrages.

Bei den Frachtpapieren lag ein Bündel Hundertmarkscheine.

›50prozentige Frachtvorauszahlung‹, stand auf einem Zettel, der mit einer Büroklammer an den obersten Schein geheftet war.

Sonst nichts. Kein Gruß, keine Unterschrift, kein persönliches Wort.

Glücklich legte Hannes die Geldscheine vor den Vater hin.

»Es gibt doch noch Wunder, Vater. Nur schaffen sie jetzt die Menschen selbst herbei.«

»Das ist kein Wunder«, brummte der Alte, »sondern es ist …«

»Fang nicht schon wieder an, Vater!«

»Es ist Reue!« sagte der alte Baumgart stur.

»Jochen rettet uns.«

»Nachdem er uns erst kaputt machte. Ein merkwürdiger Weg.«

»Du bist wie ein Kreisel. Vater.« Es war Irene, die das sagte. Ein anderer hätte es nicht gewagt.

Der Alte fuhr herum. »Ein Kreisel?«

»Du gebrauchst immer die gleichen Worte. Du hast immer die gleiche Richtung. Gibt es für dich nur ein Ja oder Nein und nicht einmal ein vielleicht? Hier liegt Geld, Vater, Geld, das uns Jochen zu verdienen gibt! Das ist sichtbar, das kann man greifen, das rettet uns! Alles andere ist doch unwichtig, sollte vergessen sein! Wer nicht vergessen kann, kann auch nicht lieben!«

»Kalendersprüche! Das fehlte mir noch in meiner Familie.«

Der alte Baumgart nahm das Geld, klopfte die Geldscheine gerade und schob das Päckchen Hannes zu. »Nimm es!«

»Ich, Vater?«

»Du hast das Schiff übernommen! Verhandle du mit deinem Bruder – ich will von dieser neuen, merkwürdigen Welt nichts mehr wissen! Ich passe nicht in sie.«

»Das ist doch Dummheit, Vater«, sagte Hannes.

»Das ist Alter, mein Junge.«

»Ich kann also mit Jochen sprechen?«

»Wenn du Sehnsucht danach hast …«

»Ich kann mit ihm Verträge schließen?«

»Er wird dich übers Ohr hauen«, sagte der Alte gehässig.

»Du wirst mir nicht mehr dazwischen reden, was ich auch tue?«

Der alte Baumgart sah empor und kniff kritisch seine Augen zusammen.

»Was hast du vor, Hannes?«

»Ich möchte eine klare Antwort, Vater.«

»Du kannst tun und lassen, was du willst. Wohin du kommst, wirst du sehen. Mich trifft keine Schuld mehr.« Er wandte sich ab und öffnete langsam die Tür zu seiner Kajüte. »Mich haben meine Söhne entmündigt. Meine eigenen Söhne …«

Kurz vor Koblenz, auf der Höhe von Linz, spürte Irene die ersten Wehen. Sie kamen eine Woche zu früh. Mutter Erna packte sie ins Bett und setzte einen großen Kessel Wasser auf den Herd, sie bereitete Schüsseln und Tücher vor, holte den Schiffs-Verbandskasten herbei und verwandelte die kleine Schlafkajüte in einen provisorischen Kreißsaal.

»So haben alle Baumgart-Frauen ihre Kinder bekommen«, sagte sie und legte ihre Hand auf die schweißnasse Stirn Irenes. »Auf dem schaukelnden Schiff – es ist wie eine große Wiege, in die man das Kind legt. Mit dem ersten Schrei hört es das Plätschern der Wellen, das Stampfen der Maschinen und spürt das Zittern der Planken.«

Hannes stand ängstlich am Ruder. Alle zehn Minuten schickte er den Vater hinunter in die Kajüte, um nach Irene zu sehen. Brummend ging der Alte.

»So ein Theater«, sagte er einmal. »Was Millionen Frauen gekonnt haben, wird auch Irene können.«

Sie konnte es nicht!

Zehn Stunden lag sie in den Wehen. Zehn Stunden lang stöhnte und schrie sie, warf die Arme um sich oder verkrallte sie in den Oberarm Mutter Ernas.

»Es kommt nicht! Es kommt nicht!« schrie Irene grell. »Ich sterbe! Ich sterbe vor Schmerzen …!«

Es war Nacht, als sie Koblenz anliefen.

Die ›Fidelitas‹ lag hell erleuchtet am Ufer.

Gegen neun Uhr abends erhielt Herbert Willke einen Anruf aus Köln. Domaine war selbst am Apparat.

»Es scheint alles in Ordnung zu gehen«, sagte er. Seine Stimme hatte wieder den unternehmungslustigen Klang. »Ich würde vorschlagen, daß ihr noch in dieser Nacht weiterfahrt.«

Er wandte sich zu Karl Bunzel, der finster an der Tür stand.

»Wir legen in zwei Stunden ab.«

Um die gleiche Zeit fuhr die ›Guter Weg‹ mitten auf dem Rhein an Koblenz vorbei. Man hatte keine Anlegestelle mehr finden können, der Hafen war besetzt. Von einem kleinen Patrouillenboot aus hatte die Wasserschutzpolizei Hannes zugerufen, daß er weiter rheinaufwärts fahren solle. Bei Boppard wäre noch eine Anlegebrücke frei.

In der kleinen Kajüte lag Irene und schlief vor Erschöpfung. Es war schon mehr eine Ohnmacht, in der sie die Hände zusammenkrampfte und leise aufstöhnte, wenn wieder eine Wehe durch ihren Körper zuckte und den Leib aufbäumte.

»Wenn wir in Boppard nicht anlegen können, weiß ich nicht, was ich tun soll!« Als Hannes sich umsah, bemerkte er auf dem Rhein die leuchtenden Finger zweier Scheinwerfer, die den Strom erhellten, als sei er eine breite Autostraße. Im Widerschein der Lampen sah er schwach schimmernd einen weißen, schlanken Rumpf, einen niedrigen Schornstein und eine große Bugwelle, die der spitze Kiel von sich wegdrückte. Wie die Schneide eines riesigen Messers durchschnitt er das Wasser und die Eisschollen.

Hannes stieß den Alten an und drehte ihn an der Schulter herum. »Sieh, Vater!« rief er glücklich. »Sieh doch …«

Der alte Baumgart zog die buschigen Augenbrauen zusammen.

»Ein Schiff!« sagte er stur. »Es wird uns überholen. Wir müssen schnell zur anderen Seite, ehe es uns rammt.«

»Ja, siehst du denn nicht, wer es ist, Vater?«

Wieder dieselbe sture Antwort:

»Ein Schiff!«

»Jochen!«

»Wir wollen ihm Platz machen! Er ist so stolz auf seine Schnelligkeit – lassen wir ihm das Vergnügen.«

»Nein! Er soll stoppen! Wenn einer helfen kann, ist er es!« rief Hannes. Er rannte zur Reißleine der Sirene.

»Jochen hat eine Motorbarkasse an Bord. Er hat seinen Wagen auf dem Hinterdeck! Es kann bei Irene um Minuten gehen!«

Er riß an der Sirenenleine. Grell gellten die Heultöne über den schwarzen Rhein. Immer und immer wieder, in höchster Not, schreiend, daß es von den Bergwänden widerbrüllte. Hilfe – Hilfe – Hilfe –

Auf der ›Fidelitas‹ stand Jochen Baumgart neben Karl Bunzel auf der Kommandobrücke. Er hatte Herbert Willke allein im Salon an der kleinen Hausbar gelassen und war zu dem Kapitän gestiegen. Wenn Baumgart ihn ein Saufloch nannte, war es in Ordnung; aber wenn es ein Fremder wagte, erzeugte diese Beschimpfung der Bunzelschen Schwäche bei ihm einen Anfall von Zerstörungswut.

»In Basel trete ich diesen Kerl so in den Hintern, daß man eine kosmetische Plastik machen muß«, sagte er gerade zu Baumgart, als durch die Dunkelheit das Heulen der Sirene tönte.

Bunzel drehte verwundert an den elektrisch gesteuerten Scheinwerfern und ließ die Strahlen höher über den Rhein gleiten. Sie erfaßten das alte Schiff, den breiten, niedrigen Kajütenaufbau und den fast farblosen, graubraunen Rumpf. Bunzel, der durch sein Nachtglas sah, ließ es plötzlich wieder sinken.

»Sieh an, sieh an«, sagte er.

Baumgart schüttelte den Kopf. »Was ist denn, Bunzel? Geben Sie Antwort, daß wir gleich kommen!«

»Ich weiß nicht, ob es Ihnen recht ist, Mister.«

»Mir recht?« Baumgart starrte auf das dunkle Schiff. »Die ›Guter Weg‹?«

»Ja.«

»Fahren Sie!«

»Weiter?«

»Heran! Sie Vollidiot!«

»Sofort, Mister, sofort!«

Mit den Scheinwerfern blinkte Bunzel zu der ›Guter Weg‹ hinüber. Auf – ab, auf – ab – wir haben verstanden. Wir kommen!

Hannes umarmte seinen Vater, als die Lichtsignale in ihr Steuerhaus drangen.

»Er kommt!« schrie er, außer sich vor Freude. »Er kommt! Er wird Irene retten!«

Er rannte aus dem Ruderhaus hinunter in die Kabine und stürzte in das kleine Zimmer.

»Jochen kommt!« rief er. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und begann plötzlich zu zittern. »Es wird alles wieder gut werden, Mutter …«

Erna Baumgart beugte sich über Irene und legte sie nach einem heftigen Wehenanfall zurück in die Kissen.

Sie nickte. »Geh hinaus und sieh zu, daß wir an Land kommen! Wir können hier nichts mehr tun.«

»Jochen wird uns helfen!«

Er rannte hinaus.

Jochen Baumgart beobachtete unten von der Reling aus, wie die ›Guter Weg‹ stoppte. Als sie längsseits kamen, stoppte auch die ›Fidelitas‹. Karl Bunzel navigierte mit einer Meisterschaft, die den alten Baumgart verblüffte, der hinter dem großen Rad stand.

Als sie so nahe Bord an Bord gekommen waren, daß man hinüberspringen konnte, streckte Jochen seinem Bruder beide Hände entgegen.

»Spring, Hannes!«

Er ergriff den Arm des Bruders, als dieser in die Fallreep-Lücke der Reling sprang, und zog ihn auf die ›Fidelitas‹. Dann standen sie sich stumm gegenüber, während der alte Baumgart mißtrauisch und wachsam durch die Scheibe seines Steuerhauses hinüberstierte.

»Du bist in Not?« nahm Jochen das erste Wort auf.

»Irene liegt seit vielen Stunden in den Wehen. Das Kind kann so nicht kommen. Sie muß in eine Klinik. Aber ich kann sie doch nicht einfach ans Ufer bringen und dann warten, bis ich einen Wagen erwische! Als ich dich kommen sah, dachte ich …« Er blickte sich um und sah auf das unter eine Plane auf dem Hinterdeck vertäute Auto.

Von den Kabinen kamen Willke und Betty Kahrmayr. Verwundert sahen sie hinüber zu dem alten Schiff und auf das Manöver, das Bunzel noch ausführte. Mit starken Tauen wurde die ›Guter Weg‹ mit der ›Fidelitas‹ verbunden – dann schoben drei Matrosen einen Laufsteg hinüber auf den dunklen Kahn.

»Was soll das?« fragte Willke verblüfft. Er stand neben Betty an der Reling des Hinterschiffes. »Sollen wir den alten Bruchdampfer in Schlepp nehmen? Das ist doch dieses elterliche Schiff von deinem Spezi, was?«

»Ich möchte Sie bitten, mich nicht mehr zu duzen«, sagte Betty und wandte sich ab. »Wir kennen uns nicht mehr und haben uns nie gekannt, verstanden? Wenn Sie Schwierigkeiten machen, sage ich Jochen, was Sie sind und woher Sie kommen und was man in die Holzstämme eingebohrt hat.«

Herbert Willke biß sich auf die Lippen. Gehässig sah er Betty nach, die nach vorn zu Hannes und Jochen ging.

Sie hörte Jochens Frage: »Ist sie denn transportfähig?«

Hannes hob die Schultern. Er sah erstaunt auf Betty, die jetzt in das Licht der Brückenlampen trat.

»Meine Braut Betty Kahrmayr«, sagte Jochen.

Hannes gab ihr die Hand. »Ich gratuliere herzlich!«

»Ihre Frau ist krank?« fragte Betty.

Hannes musterte sie verblüfft. »Sie wissen …«

»Jochen hat mir alles über seine Familie erzählt.« Jochen Baumgart blickte zu Boden, aber glücklich spürte er die Freude, mit der Hannes seinen Arm drückte. »Sie bekommt ein Baby?«

»Es will nicht kommen! Mutter meint, sie müsse sofort in eine Klinik.«

Es war das erstemal, daß Jochen wieder das Wort Mutter hörte. Nach über einem Jahr. Es sprang ihn an und würgte ihn in der Kehle.

»Mutter ist bei Irene?«

»Ja. Aber sie weiß nicht weiter. Sie kann nicht mehr helfen.«

»Komm!«

»Du willst auf das Schiff?« Hannes' Stimme brach fast. »Du willst wirklich …«

»Red nicht so lange. Komm!« Er wandte sich zu Betty. »Sag Bunzel, er soll den Wagen so weit lostäuen, daß wir ihn gleich über die Landungsbrücke schieben können.«

Er wartete ihre Antwort nicht mehr ab, sondern rannte über den Laufsteg hinüber zur ›Guter Weg‹. Hannes folgte ihm etwas langsamer. Er wollte Jochen allein lassen bei seiner Rückkehr.

Als Jochen hinüber zu den Kajüten lief, sah er den Vater an der Tür des Ruderhauses stehen. Er hielt an und blickte zu ihm hin. Der Alte stand in der Dunkelheit wie ein Klotz.

»Guten Abend, Vater«, sagte Jochen laut.

»'n Abend.«

»Du solltest dir einen Schal um den Hals wickeln. Du weißt doch, daß du dich so leicht erkältest.«

»Hab's vergessen.«

Der alte Baumgart drehte sich um und verschwand wieder in der Dunkelheit des Ruderhauses. Dort lehnte er sich gegen das große Steuerrad und legte den Kopf an einen der dicken, glänzenden, abgegriffenen Holme.

Es ist alles ganz anders, dachte er erschrocken. Er ist einfach wieder da! Was hatte ich ihm alles sagen wollen, wenn er vor mir stehen würde! Und nun kommt er und sagt, ich solle mir einen Schal um den Hals wickeln.

In der Kajüte kam ihm die Mutter die paar Schritte entgegen, als Jochen die Tür öffnete. Sie umarmte ihn stumm und ließ dann den Blick frei auf Irene. Die Kreißende lächelte unter Schmerzen Jochen an; sie gab sich Mühe, zu lächeln, obzwar ihre Mundwinkel zitterten.

»Ich mache Ihnen solche Mühe«, sagte sie stockend.

»Das ist doch selbstverständlich, Irene.«

Daß er Irene sagte, brachte ein neues Lächeln auf ihre gemarterten Züge.

Jochen trat an das Bett und drückte Irene die Hände.

»Ich bringe Irene an Land und zur Klinik. Packt sie gut ein. Ich hole eine Bahre.«

Er rannte aus der Kajüte, über das Deck der ›Guter Weg‹ und prallte auf dem Laufsteg mit Herbert Willke zusammen.

»Was wird denn hier gespielt?« fragte Willke laut. »Großes Familientreffen auf Kosten meiner Firma?!«

Jochen Baumgart schob Willke aus dem Weg. »Ich erkläre es Ihnen später! Es geht um Minuten!«

»Ich will jetzt eine Erklärung!« rief Willke scharf. Er hielt Baumgart am Ärmel fest. »Ich verlange, daß wir augenblicklich die Fahrt fortsetzen.«

Baumgart nickte. »Da haben Sie recht! Wir fahren sofort ab, wenn meine Schwägerin an Bord ist! Zurück nach Koblenz!«

Er schlug Willke mit der geballten Faust auf die Hand. Mit einem Schmerzensschrei ließ dieser Jochens Arm los und taumelte gegen das Geländer des Fallreeps.

»Das werden Sie bereuen!« schrie er Baumgart nach und rieb sich die Hand.

Zehn Minuten später trugen Matrosen Irene auf Jochens Schiff. Hannes folgte ihr. Noch einmal ging Jochen hinüber auf den elterlichen Kahn.

»Vater –«, sagte er zu dem alten Baumgart, der stumm am Fallreep stand.

»Ja?«

»Lauft jeden größeren Hafen an. Ich werde voraustelegrafieren, was mit Irene geschehen ist.«

»Gut.«

»Und grüße mir Mutter. Wir sehen uns in Stuttgart. Warte dort, wenn du ausgeladen hast. Ich komme von der Rückfahrt aus Basel zu euch nach Stuttgart.«

Das Fallreep wurde eingezogen, die Taue wurden gelockert – vorsichtig, damit die Schiffsleiber sich nicht rammten, ließ Karl Bunzel die ›Fidelitas‹ zurücktreiben und begann dann erst auf dem breiten Rhein zu drehen und Kurs rheinabwärts nach Koblenz zu nehmen.

Als Baumgart die Kommandobrücke betrat, prallte er vor einer am Boden liegenden Gestalt entsetzt zurück.

»Bunzel! Sind Sie verrückt! Was haben Sie gemacht?!«

»Notwehr, Mister.« Er stieß den ohnmächtigen Willke an und drehte ihn mit dem Fuß zur Seite. Willke hielt noch immer die Pistole umklammert, so, als könne er jeden Augenblick aufspringen und schießen.

»Ach nein«, sagte Baumgart verwundert. »Er wollte mit der Pistole seine Meinung durchsetzen?« Er nickte Bunzel zu. »Es ist gut! Lassen Sie das Schwein liegen. Wenn er aufwacht und frech wird, geben Sie ihm wieder eins auf den dummen Schädel.«

»Mit Vergnügen, Mister.«

Willke wurde frech, und Karl Bunzel war somit voll beschäftigt. Mit einer Hand führte er das Schiff, mit der anderen schlug er zu und traf beim drittenmal Willke gegen den Bauch, genau in dem Augenblick, in dem Willke die Pistole abdrückte.

Im Fallen ging der Schuß in die Holzdecke der Kommandobrücke und riß einen breiten Span heraus.

»Jetzt wird's gemütlich«, sagte Bunzel feierlich. »Der Kerl schießt tatsächlich.« Er ließ einen Augenblick die Steuerung los und stürzte sich auf den sich windenden Willke.

Mit beiden Händen packte er ihn am Kragen des Mantels, schleifte ihn zur Tür, stieß sie auf und warf den sich Wehrenden nach einem harten Schlag gegen das Kinn die steile Treppe hinab.

Die Pfortenschwester des St.-Antonius-Krankenhauses sah erstaunt auf den jungen Mann, der Sturm schellte und mit verstörtem Gesicht in den Vorraum stürzte.

»Ich muß einen Arzt haben! Rufen Sie Krankenträger, lassen Sie eine Bahre kommen! Meine Frau …«

Nach wenigen Minuten kamen zwei Krankenträger mit einer Bahre. Sie luden Irene auf und brachten sie in das untere Untersuchungszimmer. Der junge Arzt hatte sich die Hände gewaschen und untersuchte die mit geschlossenen Augen liegende und leise wimmernde Frau. Dann ging er an das Telefon und rief die Privatwohnung des Chefarztes an.

»Hier Dr. Behrend. Soeben Einlieferung einer Privatpatientin. Diagnose: aufgehaltene Geburt durch zu enges Becken. Durchtritt des Kindes unmöglich. Fruchtblase seit Stunden geplatzt. Es ist höchste Eile geboten. Hohe Zange unmöglich. Einzige Möglichkeit: Kaiserschnitt.«

Es war eine knappe Meldung. Der Chefarzt, Dr. Herbert Krohnen, nickte. »Ich komme sofort«, rief er ins Telefon und legte auf.

Nach weiteren zehn Minuten war Dr. Krohnen im Krankenhaus. Der Operationssaal wurde bereits vorbereitet. Aus der Tür des Vorraumes sah der Kopf der Operationsschwester mit ihrer weißen Haube.

»Es ist alles soweit, Herr Doktor.«

Dr. Krohnen nickte und ging in den Vorbereitungsraum. Für einen kurzen Augenblick sahen sie im gleißenden Licht starker Deckenlampen weißgekachelte Wände, weiße Schränke und blitzende Instrumente, ein fahrbares Bett mit den blonden Locken Irenes. Ihr nackter Körper war mit warmen Tüchern zugedeckt bis zum Hals. Nur das Operationsfeld, der hohe, aufgequollene weiße Leib ragte bloß aus den Tüchern hervor wie ein runder Hügel.

Dann schloß sich die Tür mit einem dumpfen Laut.

Hannes starrte auf die Tür.

»Wenn sie stirbt«, stammelte er. »Ich überlebe es nicht, Jochen. Ich muß immer sagen: Ich habe sie getötet! Ich habe sie geliebt, und meine Liebe war ihr Tod! Ich kann nicht weiterleben ohne sie …«

»Dr. Krohnen wird sie retten.« Jochen Baumgart setzte sich. Auch ihn ergriff diese Stunde; in seinem Inneren jagte die Angst das Blut genauso durch sein Herz wie bei Hannes.

»Und wenn es zu spät war?«

»Daran darfst du nicht denken.«

Der junge Arzt kam den Gang entlang. Auch er war jetzt in Operationshosen und in weißen Leinenschuhen.

»In vierzig Minuten ist alles vorüber«, sagte er aufmunternd zu Hannes. »Der Chef hat schon viele Kaiserschnitte gemacht. Es ist für ihn eine Routineoperation.«

Im OP standen sich Dr. Krohnen und Dr. Behrend mit erhobenen Händen gegenüber. Sie ließen die Desinfektionslösung abtropfen, bevor sie die Gummihandschuhe anzogen, die mit einer Zange aus dem Sterilkasten geholt wurden.

»Narkose?« fragte Dr. Krohnen die Narkoseschwester.

»Noch nicht.«

»Geben Sie Äther!«

Während Irene die Maske übergestülpt bekam und die Narkoseschwester den Anästhesieäther darauftröpfelte, überflog Dr. Krohnen schnell das auf dem Instrumententisch bereitgelegte Instrumentarium.

»Bereiten Sie eine Kochsalzinfusion vor«, sagte er zu der Medikamentenschwester, die ebenfalls in den OP gekommen war.

»Patientin schläft.«

Die Stimme der Narkoseschwester klang geschäftlich wie immer.

»Puls weich, Atmung schwach.«

»Halten Sie Strophantin bereit.«

»Ja, Herr Doktor.«

Dr. Krohnen beugte sich über den hohen Leib. Die Haut war gespannt wie bei einer Trommel. Gleich einem Gewirr kleiner Flüsse hoben sich die Adern und Äderchen blau und deutlich durch die Bauchhaut ab.

Dr. Krohnen streckte die Hand aus. Ein Skalpell glitt zwischen seine Finger. Dort, wo der Schnitt gezogen werden sollte, war die Haut gelbbraun mit Jod eingepinselt.

Mit einer schnellen Bewegung führte Dr. Krohnen den Schnitt. Vom Nabel abwärts bis zur Blase. Die gespannte Bauchdecke klaffte auseinander, der unheimliche Druck von innen riß den Schnitt weit auseinander. Eine dünne Schicht weißgelben Fettes quoll an den Schnitträndern hervor und wölbte sich um sie herum. Ein paar Blutstropfen waren schnell weggetupft, das Skalpell durchtrennte die Fettschicht und legte die schwach rosa schimmernde Aponeurose frei.

»Schere!«

Dr. Krohnen hätte es nicht zu rufen brauchen. Die OP-Schwester hatte sie bereits hingehalten. Sie kannte jeden Griff des Chirurgen, sie wußte, was gebraucht wurde.

Still, wortlos fast, arbeiteten Dr. Krohnen und Dr. Behrend.

»Kippen!«

Der Operationstisch wurde gekippt. Der Kopf Irenes lag jetzt tiefer. Ihre Beine ragten in die Luft. Die Därme in der großen Operationswunde rutschten in den Leib zurück. Die Blase und die Därme wurden mit warmen Tüchern abgedeckt. In der Tiefe des Bauches lag ein großer, praller Ballon, in dem es leise pulste. Der Uterus, die Gebärmutter.

Mit schnellen Händen tupften Dr. Behrend und die mitassistierende Medikamentenschwester die Bauchhöhle von Blut frei.

»Puls flach«, sagte die Narkoseschwester vom Kopfende her. Sie hielt den Atemsack fest und griff mit einem Haken nach Irenes Zunge, damit diese nicht nach hinten rutschte und die Narkotisierte ersticken ließ. »Atmung flatternd.«

Dr. Krohnen nickte. Er griff wieder nach hinten. Eine lange, gebogene Schere lag zwischen seinen Fingern. Mit ihr öffnete er den Uterus und schnitt die Fruchtblase auf.

Dr. Behrend reichte die Zange mit den flachen Schaufeln an. Vorsichtig, aber fest, schlossen sich die Schaufeln um den Kopf des Kindes.

Vor der Tür, in der Ausbuchtung des Flures, hockten Hannes und Jochen Baumgart ungeduldig auf ihren Korbsesseln.

Eine Schwester, die aus dem Vorbereitungszimmer herauskam, sah die beiden Männer verwundert an, dann blieb sie stutzend stehen.

»Sie warten auf den Kaiserschnitt?«

Hannes schoß aus seinem Sessel hervor. »Ja!« rief er. Seine Haare klebten ihm auf der Stirn. »Wie geht es ihr? Kommt sie durch? Sagen Sie doch was, Schwester. Bitte, bitte, sagen Sie doch was!«

»Es verläuft alles normal. In fünfzehn Minuten können Sie Ihre Frau sehen …«

Sie rannte den Flur entlang und verschwand in einem Seitenzimmer.

»Hast du gehört«, stammelte Hannes. Er lehnte sich gegen die Wand und schluchzte plötzlich. »Ich kann sie sehen … Es verläuft alles normal … Jochen …«

Die Tür des ersten Zimmers öffnete sich. Dr. Behrend trat heraus. Sein Gesicht glänzte. Er kam mit ausgestreckten Händen auf Hannes zu und ergriff dessen schlaffe Arme.

»Gratuliere«, sagte er herzlich. »Ein Mädchen.«

»Ein Mädchen …«, wiederholte Hannes wie im Traum. »Und – meine Frau …«

»Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Der Chef macht gerade eine Infusion. Noch etwas Geduld.«

Durch die Tür kam die Säuglingsschwester, im Arm ein dicht verpacktes Bündel, aus dem es leise und hell weinte. »Da kommt ja die Prinzessin«, sagte Dr. Behrend fröhlich.

Mit schwankenden Schritten und weichen Knien trat Hannes an das Bündel heran.

»Mein Kind«, sagte er tonlos. »Ist es nicht ein Wunder, Jochen? Mein Kind – ein richtiger kleiner Mensch …«

Die Tür zum OP schob sich auf. Auf dem fahrbaren Bett wurde Irene herausgefahren. Sie lag flach und noch in tiefer Narkose unter den dicken weißen Decken.

Hannes starrte auf das wachsbleiche Gesicht Irenes und fuhr zusammen, als sie aufstöhnte.

»Wird sie durchkommen, Herr Doktor?« fragte er Dr. Krohnen. Schluchzen schnürte seine Kehle zu.

Dr. Krohnen lächelte mild. »Das ist nur die Narkose. Ihre Frau spürt weder Schmerzen, noch haben sich bisher Komplikationen eingestellt. Den Blutverlust haben wir mit einer Infusion Kochsalz aufgefangen. Außerdem haben wir zur Stärkung Traubenzucker gegeben. Sie wird noch ein paar Minuten in der Narkose liegen.«

Die Stationsschwester nahm ihre neue Patientin in Empfang. Sie rollte das Bett weiter. Langsam gingen die Baumgarts und Dr. Krohnen hinterher, bis in das für Irene freigemachte Zimmer.

Während zwei Schwestern die Frischoperierte behutsam in das Bett hoben, stand Dr. Krohnen noch unter der Tür.

»Sie bleiben doch sicherlich hier?« wandte sich Dr. Krohnen an Hannes.

Hannes zögerte. Das Schiff, dachte er. Die Ladung. Vater kann es nicht allein schaffen, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte.

»Wie lange muß sie liegen?«

»Bestimmt drei Wochen.«

Jochen Baumgart verstand das Zögern seines Bruders. Er schob Hannes einen Stuhl zu und drückte ihn darauf nieder.

»Hier bleibst du, und hier wirst du sitzen, jeden Tag, bis du Irene mitnehmen kannst. Verstanden?«

»Und das Schiff? Die Ladung? Vater …«

Jochen wischte mit der Hand durch die Luft und schnitt damit Hannes das Wort ab.

»Darüber mach dir keine Sorgen. – Wir sehen uns bald wieder, Hannes.« Jochen reichte ihm die Hand hin. »Und grüß mir Irene!«

Leise zog er hinter sich die Tür zu. Auf dem Gang traf er Dr. Krohnen, der sich wieder umgezogen hatte und nach Hause gehen wollte.

»Kann mein Bruder in den nächsten Nächten bei meiner Schwägerin bleiben?« fragte Jochen ihn. »Ich glaube, es ist für beide Teile beruhigend. Wenn er – gerade in den Krisentagen, des Nachts allein in seinem Hotelzimmer sitzt, wird er verrückt!«

»Ich werde veranlassen, daß man ein Sofa in das Zimmer stellt. Eigentlich sehe ich es bei Wöchnerinnen nicht gern, schon gar nicht, wenn das Kind angelegt wird. Zu schnell ist eine Kontaktinfektion geschehen.«

»Sie können ja meinen Bruder jeden Tag durch die Steriltrommel ziehen!« lachte Jochen und verabschiedete sich.

Auf der ›Fidelitas‹ hatte es unterdessen einen neuen Zusammenstoß gegeben.

Die Aussicht, ein Millionengeschäft davonschwimmen zu sehen, wenn die ›Fidelitas‹ nicht zum verabredeten Zeitpunkt in Basel eintraf, verlieh dem schon angeschlagenen Herbert Willke die Energie eines verwundeten Ebers.

Er kletterte wieder zur Kommandobrücke empor, auf der Karl Bunzel sich bei einer Flasche Doppelwacholder hingesetzt hatte.

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Bunzel!«

»Herr Kapitän, bitte.«

»Ich …«

Bunzel winkte ab. »Herr Kapitän!«

»Ich biete Ihnen zehntausend Mark, Herr Kapitän, wenn Sie sofort ablegen!«

Bunzel fuhr hoch. »Wieviel?«

»Zehntausend Mark!« In Willkes Stimme schwang etwas wie Zuversicht und Siegesgewißheit.

»Ich kann nicht fahren ohne den Reeder.«

»Dem schicken wir eine schöne Ansichtskarte aus Basel«, sagte Willke gehässig. »Er kann ja mit seinem Wagen nachfahren!«

»Das wäre gemein gehandelt! Ein solcher Vorschlag kann auch nur von einem Lumpen kommen, wie Sie einer sind!«

Willke schnaufte. »Glauben Sie, Ihr sauberer Jochen Baumgart wäre anders?! Er ist genau so ein schwerer Junge wie Sie und ich!«

Das war etwas, was Willke nicht hätte sagen dürfen. Er sah es ein, als es schon zu spät war.

Mit einem Satz war Karl Bunzel bei ihm und schlug ihm zunächst die halbvolle Flasche Doppelwacholder über den Kopf. Da dieser Körperteil schon ziemlich lädiert war, ging Willke in die Knie, aber im Fallen umfaßte er Bunzels Beine und riß ihn mit zu Boden.

Die Flasche Doppelwacholder lief aus.

Das war schlimmer als alle Beleidigungen und Frechheiten. Das war in Bunzels Augen Körperverletzung! Er wälzte sich auf den um sich schlagenden und sogar beißenden Willke und hieb mit beiden Fäusten auf ihn ein. Dann stieß er die Tür wieder auf und warf ihn die Treppe hinunter.

Als nach vier Stunden Jochen Baumgart zur ›Fidelitas‹ zurückkam, saß Herbert Willke mit dick verbundenem Kopf im Salon und trank ein Eisgetränk. Er sah grün aus wie eine vierzehntägige Wasserleiche.

»Was ist denn mit Ihnen?« fragte Jochen verblüfft. »Spielen Sie indischer Maharadscha?!«

Willke starrte ihn giftig an.

»Es wird Ihnen teuer zu stehen kommen«, sagte er dünn.

»Ihr Maskenball?«

»Ihr versoffenes Schwein von Kapitän hätte mich bald umgebracht!«

»Ich wußte gar nicht, daß Bunzel juristisch so begabt ist.«

»Wie?«

»Er hätte ein gutes Werk getan, wenn es ihm gelungen wäre.«

Über Willkes geschwollenes Gesicht und die aufgeplatzten Lippen fuhr ein wildes Zucken.

»Wir unterhalten uns nach der Fahrt miteinander!«

»Ich glaube, daß wir uns dann kaum noch etwas zu sagen haben!«

»Vertraglich nicht, aber privat.«

»Privat interessieren Sie mich so wenig wie ein Misthaufen.«

Willke wollte aufspringen, aber stöhnend sank er zurück und hielt mit beiden Händen seinen Kopf umklammert!

»Wundern Sie sich nicht über einen Mord!« In Willkes Augen kam ein grausames, hämisches Licht. »Auch Ihre Hure wird ihn nicht verhindern!«

In Baumgarts Händen zuckte es. »Noch ein weiteres Wort über meine Braut …«

»Ach, interessant. Sie wissen also, wen ich meine?«

»Gehen Sie in Ihre Kabine, ehe ich zuschlage!«

»Bitte!« Mühsam erhob sich Willke. Als er schwankend auf gleicher Höhe mit Jochen war, verhielt er den Schritt. »Mein Freund Domaine kann Ihnen genau schildern, wo Betty einen Leberfleck hat! Unter der linken Brust. So groß wie ein Kirschkern! Nach ein Uhr nachts war er in der Bar zum Besichtigen …«

Er ging an dem sich auf die Lippen beißenden Baumgart vorbei.

Domaine, dachte Baumgart wie betäubt. Und Willke auch … Betty kennt sie alle … Wie hängt das zusammen? Wußte Betty von dem Holzgeschäft? Hing der Auftrag mit Betty zusammen? War sie ein Lockvogel der beiden und weiter nichts? War alle Liebe nur geheuchelt, nur geschäftsmäßig, so, wie man in Hamburg sich auch eine Dirne kaufen kann – nur billiger, als es Betty gewesen war?

Ich werde sie fragen, dachte er weiter. Ich werde ihr einfach sagen, was mir Willke entgegengeschrien hat. Und an ihrer Reaktion werde ich sehen, ob es wahr ist oder nicht.

Er stieß sich von der Reling ab und ging schnellen Schrittes in den Kabinentrakt Bettys. Vor ihrer Türe zögerte er etwas. Hatte er nicht gesagt: ›Was war, ist vergessen! Wir leben nur dem Heute und dem Morgen.‹

Es waren zu große Worte gewesen. Er sah es jetzt ein. Man kann eine Vergangenheit nicht einfach abstreifen, so wie sich eine Schlange häutet.

Er klopfte kurz an die Tür und trat ein.

Betty lag auf der Couch. Sie trug enge, brokatbestickte Hosen, einen enganliegenden, schwarzen Pulli mit einem tiefen Ausschnitt. Ihre herrlichen Haare hatte sie hochgebunden.

»Wie schön, daß du kommst«, sagte sie wirklich glücklich. Das ist nicht gespielt, durchfuhr es Jochen. Das ist echt. Betty sprang von der Couch und kam Jochen entgegen. »Ist alles gutgegangen?«

»Was?« fragte er verwirrt.

»Mit Irene …«

»Ach so. Ja. Es ist ein Mädchen.«

»Wie schön. Hatte sie noch viel Schmerzen zu ertragen?«

»Sie mußte operiert werden.«

»Die Ärmste! Sie war so tapfer.«

Jochen Baumgart sah zu Boden und auf seine unruhigen Hände. Er beobachtete Betty aus den Augenlidern heraus, als er sprach.

»Ich habe mich mit Willke unterhalten.«

»Ein widerlicher Bursche.« Ihr Gesicht veränderte sich nicht. Auch ihre Augen wurden nicht ängstlich, sondern sprühten Haß und Verachtung.

»Im Augenblick vielleicht. Aber war er früher nicht so widerlich?«

»Früher?«

»In Hamburg!«

Betty blieb hochaufgerichtet stehen. Er hat es ihm gesagt, dieses Schwein. Und ich werde ihn dafür vergiften – heute nacht!

»Er war immer ein Ekel.«

»Und kennt trotzdem deinen Leberfleck unter der linken Brust …«

»Den kannten viele«, sagte Betty ehrlich. »Ich habe in der Bar und nach meinem Dienst mit den Männern nicht Gespräche über Plato und Sartre geführt. Ebensowenig wie mit dir …«

»Ich lehne es ab, mit den anderen Männern verglichen zu werden!« sagte Jochen hart. Betty nickte. Ihre Stimme war ein wenig traurig, als sie sich abwandte und den Schrank öffnete. Sie holte ihren kleinen Koffer, mit dem sie auf das Schiff gekommen war, hervor und klappte ihn auf.

»Was soll das?« fragte Baumgart.

»Ich verlasse das Schiff und fahre zurück nach Hamburg.«

»Ohne eine Erklärung?«

»Erklärung? Warum willst du eine Erklärung? Du hast mich in einem Sumpf kennengelernt. Glaubst du, in einem Sumpf wachsen unberührte Rosen? Du wußtest, wer ich bin und woher ich komme. Du wolltest es vergessen. Aber es ist wie immer im Leben: Die Vergangenheit ist stärker! Es gibt keine Ausnahmen von dieser Regel.«

»Und was willst du in Hamburg?«

»Zurück in meine Bar.«

Jochen Baumgart antwortete nicht. Er ging an Betty vorbei und ergriff den kleinen Koffer. Dann öffnete er mit einem Ruck das Fenster und warf den Koffer hinaus in den Rhein.

»Ich werde Willke von Bord schaffen lassen und nicht mehr daran denken.«

»Das kannst du nicht. Gedanken kommen und sind stärker als aller Wille.«

»Ich werde nicht daran denken, weil ich dich liebe.«

Als Jochen Baumgart – ohne anzuklopfen – bei Herbert Willke eintrat, stand dieser vor einem Spiegel und bestrich seine aufgeschlagenen Lippen mit Jod.

Willke wirbelte herum. Seine Hand fuhr in die Rocktasche. Seit dem Telegramm Domaines und den vergeblichen Angriffen auf Bunzel war er äußerst schreckhaft geworden. Als er sah, daß es Baumgart war, ließ er die Hand wieder aus der Tasche gleiten und legte mit einem ironischen Lächeln den Jodpinsel auf die Glasplatte unter dem Spiegel.

»Wollen Sie sich bedanken für die nette Information?«

»Ich habe mit Betty gesprochen.«

»Na und? War es verlegen, das Häschen? Sie hat zwar keine Bücher geführt wie die Nitribitt, und auch die Kundschaft war nicht so exquisit …«

»Sie nannte Sie ein Ekel.«

»Jetzt! Das glaube ich gern. Frau Reeder liebt nicht die Schatten der Vergangenheit.«

»Ich auch nicht! Und deshalb bin ich hier.«

In Willke glomm etwas wie Angst auf. Die ruhige, völlig leidenschaftslose Stimme, der ernste Blick Baumgarts irritierten ihn. Er wich etwas zurück und lehnte sich gegen die Wand. Rückendeckung, dachte er. Und wenn er kommt, schieße ich, so wahr ich Willke heiße!

»Was haben Sie vor?« fragte er rauh.

»Nicht viel. Sie verlassen sofort das Schiff!«

»Das ist gegen den Vertrag!«

»Auch der Vertrag interessiert mich nicht mehr! Sie sind in zehn Minuten von Bord, oder Sie fliegen über die Reling in den Rhein!«

»Das ist Mord!« schrie Willke. In seine Augen trat wirklich nackte Angst. Er griff in die Tasche und zog die Pistole heraus. Baumgart lachte leise.

»Stecken Sie Ihr Spielzeug weg, Willke! Zum vollkommenen Gangster fehlt Ihnen die nötige Intelligenz. Ein Rätsel ist mir nur, weshalb Sie Saukerl in ein schlichtes Holzgeschäft einsteigen und als biederer Kaufmann Stämme exportieren.«

Durch Willkes sonst träges Gehirn jagten die Gedanken. Da hat also Betty dichtgehalten! Er weiß nichts von den Rauschgift- und Medikamentenkapseln in den Stämmen. Er glaubt noch immer an das dusselige Grubenholz. Von hier kommt also keine Gefahr. Es handelt sich nur um eine private Auseinandersetzung. Er atmete sichtlich auf. Ein Millionengeschäft ist immerhin mehr wert als ein persönlicher Streit.

»Ich gehe in Basel nach Ablieferung der Ladung sofort von Bord. Ich bin froh, Sie bald nicht mehr sehen zu müssen.«

Baumgart schüttelte den Kopf. »Sie gehen in zehn Minuten! Ich werde vor Ihrer Tür eine Wache aufstellen, die Sie nach den zehn Minuten einfach beim Kragen nimmt.«

»Ich werde mich verteidigen!« brüllte Willke.

»Mit Ihrem Schießeisen da? Sie kämen zu einem Schuß. Was dann aber von Ihnen übrigbleibt, würde in eine kleine Holzkiste passen.«

Er wartete die Antwort Willkes nicht ab, sondern verließ die Kajüte.

Wie ein gefangenes Tier rannte Willke in dem engen Raum hin und her. Er packte seinen Koffer in aller Eile, zog seinen Mantel an, setzte den Hut auf seinen verbundenen Kopf und wartete dann, was kommen würde.

Um 7 Uhr 22 öffnete sich die Tür.

Der 1. Matrose, ein Riese, und der 2. Maschinist, nicht weniger kräftig und groß, standen im Türrahmen.

»Fertig?« brüllte der 1. Matrose.

»Lumpenpack! Verbrecher! Gangster!« brüllte Willke. Aber er ließ sich ohne Widerstand abführen.

Da es schon hell war und die Uferstraße sich mit Passanten belebte, verzichtete man darauf, Willke wie eine Kanonenkugel einfach an Land zu schleudern.

Man führte ihn bis zu dem Laufsteg und gab ihm einen festen Tritt.

Von der Brücke schallte ihm die laute Stimme Bunzels nach.

»Holt Fallreep ein! – Taue los!«

Willke blickte nicht zurück. Er hörte das Rauschen des Wassers, das Stampfen der Maschinen. Er ging schnell weg und winkte einer Taxe zu.

»Zum Hauptbahnhof!« sagte er. Der Fahrer musterte den merkwürdigen Herrn mit dem dicken Kopfverband und den jodbepinselten Lippen.

Vom Hauptbahnhof aus, vom Bahnpostamt, rief Willke sofort bei Pierre Domaine in Köln an.

Es dauerte eine Weile, bis er Verbindung bekam. Dann meldete sich eine Stimme.

»Pierre Domaine.«

Herbert Willke hielt den Atem an. Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn.

»Wer ist dort?« fragte er, um ganz sicher zu sein.

»Pierre Domaine. Wer ist denn dort?«

Langsam legte Willke den Hörer wieder auf.

Vorbei, dachte er. Alles aus! Sie haben Domaine erwischt. Der Mann am Apparat in Domaines Wohnung konnte nur ein Beamter der Kriminalpolizei sein. Nie meldete sich Domaine mit seinem richtigen Namen … Innerhalb des Ringes hieß er Françoise. Nur Eingeweihte kannten diesen Namen.

Willke verließ schnell die Telefonzelle, bezahlte am Schalter seine Gebühr und ging fort. Als wenige Minuten später die Polizei zum Hauptbahnhof kam, war Willke schon längst außer Greifweite. Der Schalterbeamte konnte nur noch sagen, daß der Anrufer einen verbundenen Kopf gehabt habe und jodbepinselte Lippen.

Dieses verfängliche Signalement ging an alle Polizeidienststellen hinaus. Von der Grenze Dänemarks bis zur Schweizer Grenze wurde per Funk die Beschreibung Willkes durchgegeben.

Willke ahnte es. Er kannte die Gepflogenheiten der Polizei genau. Auf den Bahnhofstoiletten veränderte er sein Aussehen. Der Verband verschwand im Trichter des Abortes. Die offenen Wunden wollte er mit Hansaplast verschließen, das er in der nächsten Drogerie kaufen würde. Auch das Jod wusch er sich von den Lippen ab. Dann rief er von einem Restaurant aus alle Koblenzer Krankenhäuser an, bis er im St.-Antonius-Krankenhaus erfuhr, daß hier die Wöchnerin Irene Baumgart liege. Er lächelte zufrieden und ließ sich mit dem Zimmer verbinden.

»Ich bin ein Onkel von Frau Baumgart«, sagte er zu der Stationsschwester, die an den Apparat kam. »Ich möchte ihr gratulieren. Können Sie ins Zimmer umschalten?«

»Aber ja. Bitte, einen Augenblick.«

Es knackte in der Leitung, und Herbert Willke bekam Zimmer Nr. 4.

Die ›Fidelitas‹ rauschte durch den Rhein mit voller Kraft.

»Wir müssen die ›Guter Weg‹ einholen«, hatte Baumgart zu Karl Bunzel gesagt. »Sie werden sich Sorgen machen!«

Erna Baumgart, die auf dem Hinterschiff in der Sonne saß und Kartoffeln schälte, sah zuerst den weißen Leib der ›Fidelitas‹ in der Sonne blinken. Sie warf das Messer und die Kartoffel, an der sie gerade schälte, in den Eimer und rannte zu dem alten Baumgart in das Ruderhaus.

»Jochen kommt hinter uns!« rief sie. »Jochen holt uns wieder ein! Jetzt werden wir erfahren, was mit Irene los ist.«

Von vier Stellen aus wurden Taue an Bord der ›Guter Weg‹ geworfen. Mit großen Sprüngen setzten Matrosen über und vertäuten die Schiffe miteinander. Dann sprang Jochen an Bord und umarmte seine Mutter.

Ein Maschinist, ein Hilfsmaschinist, zwei Matrosen und ein Rudergänger kamen mit ihren Seesäcken auf die ›Guter Weg‹. Der alte Baumgart sah plötzlich die Tür seines Ruderhauses aufgehen, und ein Matrose ergriff das große Rad.

»Geh zum Öfchen. Opa«, sagte der Matrose und lächelte den alten Baumgart breit an. »Wir werden jetzt den Kahn schaukeln.«

Wutschnaubend, mit der Eile eines Stieres und mit ebenso gesenktem Kopf, rannte der Alte über Deck zu der Kajüte, wo Erna Baumgart immer und immer wieder ihren Sohn Jochen in ihre zitternden Arme nahm. Er trat ein.

»Was soll das?« brüllte der alte Baumgart. »Was ist das für eine neue Schweinerei?!«

»Ich gratuliere dem Opa zu einem Mädchen!« sagte Jochen fröhlich.

»Was sollen die Flegel an Bord? Kommt da einer rein, nennt mich Opa und nimmt mir das Ruder aus der Hand!«

»Sie sollen dir helfen, Vater. Es ist doch unmöglich, daß du allein …«

Der alte Baumgart fuhr mit beiden Armen durch die Luft.

»Helfen?« schrie er. »Das sind ja Piraten!«

»Nachkommen von Piraten, Vater.«

»Und die gehören zu deiner Besatzung?«

»Alle meine Leute sind so. Einschließlich Kapitän. Aber sie gehen durchs Feuer für dich, sie lassen sich vierteilen. Es ist eine Mannschaft, mit der ich die neuen Kessel des Teufels in die Hölle fahren könnte.«

»Das kann ja lustig werden«, sagte der Alte ahnungsvoll.

»Sie werden dich bis Stuttgart bringen und dort mit der ›Guter Weg‹ warten, bis ich aus Basel zurückkomme.«

»Ich bin also ein Gefangener auf meinem eigenen Schiff!« knurrte der Alte grimmig.

»Vater!« Jochen Baumgart schüttelte lächelnd den Kopf. »Wann hörst du endlich auf, den wilden Mann zu spielen. Du weißt ja so gut wie ich, daß es für dich unmöglich ist, allein, nur mit Mutter, das ganze Schiff zu führen!«

Der alte Baumgart nickte.

»Irene geht es gut?« fragte er dann.

»Leidlich. Es war eine schwierige Sache. Hannes wird bei ihr bleiben, bis sie wieder entlassen werden kann.«

»Wie lange dauert das?«

»Mindestens drei Wochen. Deshalb habe ich die Seeräuber an Bord gebracht, damit dein Schiff nicht wieder stilliegt, sondern der Betrieb weitergeht.«

Jochen streckte ihm die Hand hin. Zögernd nahm der Vater sie.

Dann verließ er die Kajüte, und Jochen blieb allein zurück.

Draußen hatte sich einiges verändert. Der alte Baumgart sah es mit äußerem Mißfallen, aber innerlich mit stiller Freude.

Die neue Besatzung hatte einige Kisten und Körbe mitgebracht. Frischgemüse, Kartoffeln, Konservenbüchsen, Wein, zwei Kasten Bier, gefrorenes Geflügel. Säckchen mit Mehl, Zucker, Nudeln und Reis. Mutter Erna war dabei, alles zu sichten und gab zwei Matrosen Anweisungen, wo alles hingetragen werden sollte. Es war, als würde die ›Guter Weg‹ mit unheimlichen Schätzen beladen.

Im Krankenzimmer seiner Frau nahm Hannes Baumgart den Hörer ab.

»Baumgart«, sagte er leise. Irene schlief.

»Hannes Baumgart«, wiederholte er und preßte den Hörer fest an Ohr und Lippen, um Irenes Schlaf nicht zu stören.

»Ich gratuliere zu dem Kind«, sagte die fremde Stimme. Herbert Willke sprach etwas tiefer als sonst. Jetzt, da alles verloren war, da man Pierre Domaine hatte und ihn, Herbert Willke, jagen würde, jetzt wollte er eine kleine Rache nehmen an dem, was ihm auf der ›Fidelitas‹ widerfahren war. Er hatte nichts mehr zu verlieren als nur noch seine Freiheit.

»Wer ist denn am Apparat?« fragte Hannes zurück. »Ich danke Ihnen für die Gratulation. Aber wer ist denn da?«

»Einer, der klüger ist als Ihr Bruder.«

»Als mein Bruder? Jochen? Was soll das?«

»Ihr Bruder ist dabei, die größte Dummheit seines Lebens zu machen! Eine Dummheit, die ich ihm gönne!«

Durch Hannes' Körper zog ein Strom des Schreckens. »Wer sind Sie?« fragte er lauter, als er wollte. Irene wälzte den Kopf unruhig in den Kissen. Er legte wieder die Hand über die Sprechmuschel. »Was soll dieser Quatsch?!«

»Nennen Sie es ruhig Quatsch! Für Ihren sauberen Bruder bedeutet es Wegnahme seines Schiffes und mindestens drei Jahre Zuchthaus.«

»Ich glaube, Sie sind betrunken!«

»Das werde ich sein, wenn mich die internationale Polizei irgendwo auf der Welt schnappt.«

»Die internationale Polizei«, sagte Hannes leise und gedehnt.

»Dämmert Ihnen etwas, mein Freund? Was Ihr Bruder da an Bord hat, ist eine ganz dicke Sache, die ihm den Hals bricht. Denn er wird schwer nachweisen können, daß er nicht wußte, was er auf seinem weißen Schiffchen durch den Rhein schaukelt und in Basel abliefern soll.«

»Holz!«

»Natürlich Holz!« Willke lachte grell. »Holz für die Holzköpfe! Aber in dem Holz, mein Freundchen, da ist was verborgen, da liegen kleine Metallkapseln, und in diesen Kapseln wieder sind Ampullen mit Evipan, mit Morphium, mit Cliradon und Scopolamin. Gesamtwert auf dem Markt der Kokser rund eine Million! Ist das nicht ein nettes Holzschiffchen, was?«

Hannes saß starr, hochaufgerichtet auf seinem Stuhl. Er hielt den Atem an, weil er glaubte, sein Herz müßte jeden Augenblick zerspringen. Rauschgifte! Jochen fuhr ein Schiff voller Rauschgift in die Schweiz! Unmöglich! Das was so ungeheuerlich, daß Hannes es noch nicht glaubte.

»Sie lügen!« sagte er schwach.

»Sehen Sie doch nach!«

»Und warum verraten Sie mir das?«

»Unser Ring ist geplatzt. Die Polizei hat unseren Chef verhaftet, hinter mir sind sie her! Der ganze Rhein, überhaupt alle Wasserstraßen Europas werden in wenigen Stunden gesperrt sein! Jedes Schiff wird kontrolliert werden. Auch die schöne ›Fidelitas‹. Und dann wird man die angebohrten Stämmchen finden und Ihren Bruder ins Loch werfen. Das ist die größte Freude, die ich mitnehme in meine Zelle!«

»Mein Bruder hat nichts mit diesen Lumpereien zu tun!« rief Hannes. Er vergaß, daß Irene schlief, er vergaß alles um sich herum. Jochen war in Gefahr …

»Natürlich nicht. Aber wie will er es beweisen, daß er unschuldig ist? Allein die von uns bezahlte und vertraglich festgelegte doppelte Frachtgebühr wird ihm den Hals brechen! Gewinnsucht, wird man sagen! Und noch etwas bricht ihm das Hälschen! An Bord der ›Fidelitas‹ befindet sich die ehemalige Geliebte unseres Chefs. In Fachkreisen nennt man sie die ›Feurige Gräfin‹.«

»Betty!« stöhnte Hannes auf.

»Genau! Die Braut Ihres Bruders ist ein prominentes Mitglied der internationalen Kokser! Ihr Bild findet sich in allen europäischen Polizeiakten, sobald man das Dezernat Rauschgift befragt!« Willke lachte hämisch. »Glauben Sie immer noch, daß Ihr lieber Jochen beweisen kann, er wüßte nicht, was er da transportiert? Ein Schiff mit Drogen und eine Braut, die damit handelt!«

Hannes ließ den Hörer sinken. Langsam legte er ihn auf die Gabel zurück. Er hörte noch, wie Willke »Hallo! Hallo« rief. Aber er wollte nichts mehr hören.

Hannes erhob sich. Er blickte auf die schlafende Irene und zögerte. Dann verließ er leise das Zimmer und ging über den Gang zu dem Zimmer der Stations-Nachtschwester.

»Ich muß eine wichtige Fahrt machen«, sagte er stockend. »Wenn meine Frau aufwachen sollte, sagen Sie ihr bitte, ich wäre in spätestens zwei Tagen wieder hier! Es war unmöglich, diese Fahrt aufzuschieben. Bestellen Sie es ihr, bitte.«

Die Schwester nickte. »Ich werde es Ihrer Gattin sagen.«

»Danke, Schwester.«

Dann stand er auf der Straße und wußte einen Augenblick nicht, was er tun sollte. Die kalte Nachtluft sprang ihn an und zerzauste seine Haare. Als ein Taxi vorbeikam, winkte er:

»Zum Hauptbahnhof.«

Wenn Jochen sofort gefahren ist, muß er mit seinem schnellen Schiff schon mindestens bei Mainz sein, dachte er auf der Fahrt.

Er löste eine Fahrkarte zum Schnellzug nach Ludwigshafen.

Mit einem Ruck hielt der Zug. Eine müde Stimme rief auf dem Bahnsteig die Station aus.

»Östrich! Ööööstrich!«

Hannes Baumgart stieg aus.

Der Stationsvorsteher, die Kelle unter den Arm geklemmt, kam langsam auf den unschlüssigen Hannes zu.

»Fremd hier?«

»Ja und nein.« Hannes lächelte verzeihend, als er den verständnislosen Blick des Bahnbeamten sah. »Ich bin an Östrich 25 Jahre lang vorbeigefahren. Dort unten …« Er zeigte mit der Hand in die Gegend, durch die der Rhein fließen mußte.

»Aha! Schiffer?« Der Stationsvorsteher nickte mehrmals.

»Mein Schiff wird gleich auf die Höhe von Östrich kommen. Ich hatte Urlaub, und ich muß sofort wieder hinüber. Wo kann man ein Boot haben?«

»Ein Boot?«

»Das mich zum Schiff hinüberbringt!«

»Das wird schwer sein!« Der Stationsvorsteher kratzte sich den Kopf und schob die Mütze in den Nacken. »Versuchen Sie es mal am Fährhaus. Ich glaube aber, da ist auch keiner mehr. Die letzte Fähre geht um 23 Uhr.«

»Danke.«

Am Rhein war alles still und dunkel.

Hannes ging hinunter zur Brücke der Fähre. Das Fährschiff lag drüben auf der anderen Rheinseite. Hier, an dem schwimmenden Eisenponton mit dem Eisengeländer, lag nur ein kleines Boot, mit einem dicken Seil vertäut. Die Ruder waren dabei.

Hannes sah den Rhein hinab. Die dunklen Wellen klatschten träge gegen den Ponton. Fern, wie einen Schatten, der langsam näher kam, meinte er die ›Guter Weg‹ den Rhein heraufkommen zu sehen.

Vorsichtig beugte er sich zu dem kleinen Eisenboot hinab und untersuchte den Knoten des Taues. Er war naß, aber einfach geknüpft. Doch war es besser, das Tau auf dem Ponton zu lösen und mit ins Boot zu nehmen, als zu versuchen, den Knoten aufzumachen.

Hannes wickelte das Tau von dem stählernen Poller und warf es ins Boot. Dann sprang er mit einem Satz hinterher.

Als das Boot ruhig geworden war, nahm er die Ruder und senkte sie ins Wasser. Mit ein paar Schlägen war er im Rhein und ruderte bis in die Mitte.

Dann ließ er das Boot mit der Strömung abwärtsgleiten, dem Schatten entgegen, von dem er glaubte, es sei seine ›Guter Weg‹.

Im Ruderhaus stand der Vollmatrose Kümpchens und trank aus einer flachen Flasche, die er aus seiner Hosentasche holte, Schnaps. Der alte Baumgart hockte auf einem Schemel an der Rückwand und sah zu. Wenn man ihn auch nicht mehr ans Ruder ließ und andere das Kommando übernommen hatten, so blieb er doch stur in seinem Ruderhaus. Er war der Herr! Das sollte man nicht vergessen.

Plötzlich faßte er Kümpchens an den Ärmel der dicken Winterjacke.

»Da!« rief er. »Sehen Sie nicht! Ein Boot! Mitten auf dem Rhein! In unserem Kurs!«

Der Mann im Boot winkte mit beiden Armen.

»Aus dem Weg, du Idiot!« schrie der alte Baumgart.

Was keiner sah, das sahen die Augen der Mutter. Als sie neben dem alten Baumgart stand und hinüber zu dem treibenden Boot starrte, fuhren ihre Hände plötzlich vor und krallten sich in den Ärmel ihres Mannes.

»Hannes!« schrie sie. »Hannes! Mein Gott! Mein Gott!«

Der alte Baumgart umklammerte die lange Holzstange. Das ist nicht wahr, durchfuhr es ihn. Das kann ja nicht sein. Sie träumt. Hannes ist doch in Koblenz bei Irene. Was soll denn Hannes hier mitten auf dem Rhein in einem Ruderboot, in der Nacht?

Aber dann sah auch er es.

Das Gesicht. Die blonden Haare. Die dicke Schifferjacke.

»Hannes!« brüllte er wie ein Stier. »Hannes!«

Er stieß mit der Stange gegen das Boot. Es war noch einige Meter entfernt.

Verzweifelt versuchte Hannes, mit den Rudern den eisernen Kahn zu dirigieren. Durch die lecken Schweiß- oder Nietstellen sickerte das Wasser unaufhaltsam nach und machte das Boot schwer. Zu schwer für die leichten Ruder, die es aus der reißenden Strömung und den Strudeln herausdrücken sollten, weg von dem Bug der ›Guter Weg‹, die immer näher kam, eine dunkle Wand, die auf ihn losrannte, gewaltiger und größer, als er sich die Bugwand seines Schiffes jemals vorgestellt hatte.

Über dem Rhein lag jetzt Stille.

Die Sirene schwieg. Die alten Dieselmotoren waren ausgeschaltet, von der Strömung abgedrückt stand das Schiff fast unbeweglich mitten im Strom. Um so schneller aber raste das eiserne Boot auf den Bug zu, nicht mehr zu bändigen durch Menschenkraft, die versagt, wenn die Urgewalten des Wassers das Schicksal an sich reißen.

Aus dem Maschinenraum kam Omar Lullai hervor. Kümpchens hatte ihm zugeschrien, was sich vorne abspielte – jetzt rannte der Algerier über das Deck und warf seine Jacke und das Hemd ab, ehe er mit einem weiten Satz in den eiskalten Rhein sprang und sich durch die Strudel hin zu dem Kahn zu kämpfen suchte.

Mit letzter Kraft stieß Hannes immer und immer die Ruder gegen die Strömung. Dann sah er den Bug vor sich aufwachsen wie einen Felsen. Da warf er die Hölzer weg und sprang mit einem verzweifelten Satz seitlich aus dem Kahn.

Mit ungeheurer Wucht schleuderte ihn der Rhein an die Wand des Schiffes. Brüllend stieß der alte Baumgart mit seiner Stange in das Wasser, während Omar Lullai tauchte, um den unter den Kiel gedrückten Körper zu fassen.

Sekunden, die sich wie Stunden dehnten, hielt der Strudel Hannes unter Wasser. Dann wirbelte der Körper wieder an die Wasseroberfläche, ohnmächtig, blutend, zerschellt an der harten Bordwand der ›Guter Weg‹. Omar Lullai packte ihn an den Haaren, bis er seine Arme unter den Achseln von Hannes durchziehen konnte. Im harten Kampf gegen die starke Strömung brachte er sich mit dem schlaffen Körper des Verletzten aus dem Bereich des Strudels und ließ sich mittschiffs an die Bordwand treiben. Dort standen der Ungar und der alte Baumgart und hielten ihn fest, bis man den besinnungslosen Hannes an Bord gehoben hatte und sofort hinunter in die warme Kajüte trug.

Der Ungar war bereits dabei, Hannes abzureiben und einige Kopf- und Fleischwunden an der Schulter zu verbinden, als der alte Baumgart in die Kajüte stürmte.

»Es ist halb so schlimm«, sagte der Ungar zu dem Alten. »Ein paar Prellungen! Davon erholt er sich wieder! Ich habe gedacht, er kommt nicht wieder hoch und bleibt unter dem Kiel des Schiffes.« Er lachte. Dabei leuchteten seine Zähne in dem braunen Gesicht wie bei einem Neger. »Aber jetzt haben wir ihn.«

»Jaja, wir haben ihn hier.« Der alte Baumgart nickte mehrmals. Es war ein merkwürdiges, pendelndes Nicken, so als hätte der Hals keine Muskeln und Sehnen mehr, den Kopf festzuhalten. »Warum hat er das bloß getan …«

»Das wird er uns sagen, wenn er aufwacht.« Der Ungar sah sich um. »Haben Sie Schnaps?«

»Eine kleine Flasche Kognak.«

»Her damit!« Der Ungar drückte mit den Fingern den fest zusammengekniffenen Mund des Ohnmächtigen auf und steckte den Flaschenhals zwischen die Zähne. Dann kippte er die Flasche vorsichtig und träufelte den Kognak in die Mundhöhle.

Langsam, ruckartig schluckte Hannes. Sein Brustkorb hob sich – er atmete tief und hustete dann. Dieser krampfartige Husten weckte ihn vollends auf … Stöhnend preßte er die Hände gegen die Brust und wandte den Kopf zur Seite.

Der alte Baumgart faßte fest beide Hände seines Sohnes.

»Hannes –«, sagte er leise. Er mußte leise sprechen, denn er wollte nicht zeigen, wie hoch ihm das Schluchzen in der Kehle saß. »Was hast du da für einen Unsinn gemacht! Warum bist du nicht in Koblenz bei Irene geblieben …«

Hannes schloß die Augen. Er atmete schwer, rasselnd, so, als hätten sich seine Lungen mit Blut gefüllt.

»Jochen …«

Der alte Baumgart zog die Stirn kraus.

»Was ist mit Jochen?«

»Ich muß zu Jochen! Vater …« Hannes wollte sich aufrichten, aber er sank stöhnend zurück und preßte wieder die Hände gegen die Brust.

»Hast du Schmerzen?«

»Nur wenig, Vater! – Wir müssen schnell Jochen einholen!«

»Das ist doch völlig unmöglich! Und warum auch?«

»Frag nicht, Vater. Wir müssen!«

Der Ungar verließ die Kabine. Hannes stemmte sich mit zusammengebissenen Zähnen etwas auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Hinterwand. Blutgeschmack trat auf seine Zunge und die nasse Wärme von Blut. Er schluckte es tapfer hinunter. Nichts merken lassen, durchjagte es ihn. Jede Minute ist wichtig. Sie dürfen nicht wissen, wie verletzt ich bin!

»Was ist mit Jochen?«

»Man hat ihn betrogen, Vater. Man hat ihn in eine Falle gelockt, von der er keine Ahnung hat! Die ganze Ladung seines Schiffes ist ein Verbrechen …«

»Ein Verbrechen?«

»Man hat die Holzstämme angebohrt und transportiert darin Rauschgifte und Medikamente!«

»O Gott«, sagte der alte Baumgart. Es war seit Jahren das erstemal, daß er wieder Gott in den Mund nahm. Und es war nicht nur so dahingesagt, sondern es drang ihm aus dem Herzen.

»Der ganze Rauschgiftring ist aufgeflogen. Und nun wird man alle Schiffe untersuchen! Jochen aber hat nicht die geringste Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen. Man wird ihn verhaften und die herrliche ›Fidelitas‹ beschlagnahmen.«

»Beschlagnahmen?«

»Und an Bord befindet sich eine Frau, die Jochen heiraten will und die eine ehemalige Geliebte des Chefs der Rauschgiftschmuggelbande ist!«

Der Kopf des alten Baumgart sank auf die Brust. »Er hat es nicht anders gewollt«, sagte er schwer.

»Jochen hat keine Ahnung, was er da transportiert!«

»Das glaubst du.«

»Ich weiß es. Einer der Lumpen hat mich im Krankenhaus angerufen und es gesagt!«

»Und woher wußte er, daß du im Krankenhaus warst?!«

Hannes drückte wieder die Hände auf die Brust. Er mußte husten. Dabei brannte es in seinem Innern so fürchterlich, daß er das Gesicht verzog.

Der Alte sah es nicht – er starrte vor sich auf den Holzfußboden.

»Frag nicht so viel, Vater«, bat Hannes. Er schluckte bei diesen Worten wieder das Blut hinunter, das sich in seiner Mundhöhle angesammelt hatte. »Laß das Schiff fahren, was es hergibt! Wir müssen Jochen einholen und ihn warnen. Er muß sich selbst mit seiner ›Fidelitas‹ der Polizei stellen. Nur so glaubt man ihm! Wir müssen ihn einholen!«

»Wir werden erst zu einem Arzt fahren!«

»Meinetwegen? Aber nein, Vater. Die kleinen Prellungen! Das hat Zeit! Es ist doch noch alles gut gegangen.« Er lächelte krampfhaft. »Jochen ist jetzt wichtiger!«

Brummend verließ der Alte die Kabine.

Als er die Tür hinter sich schloß, ließ Hannes sich zurückfallen. Er preßte die Handflächen zwischen die Zähne und biß hinein. Nicht schreien! Bloß nicht schreien!

Er riß den Kopf zur Seite und biß vor Schmerzen in die Kissen.

Es war ihm, als ginge sein ganzer Körper in Flammen auf …

Kurz vor Mainz lag die ›Fidelitas‹ am linken Ufer in Ruhe.

Nach den Aufregungen der vergangenen Stunden hatte Karl Bunzel es durchgesetzt, diese Nacht zu ruhen und dafür am Tage um so schneller die Fahrt fortzusetzen.

In ihrem Salon saß Betty – blaß und verschüchtert – hinter dem runden Marmortisch und legte eine Patience. Als Jochen eintrat, ließ sie die Karten fallen.

»Etwas Neues, Liebster?«

»Wir ankern diese Nacht auf dem Rhein. Die Leute wollen sich mal ausschlafen.« Er setzte sich auf die Couch und lehnte den Kopf gegen den Wandteppich, der die Rückwand verzierte.

»Jetzt haben Irene und Hannes ein Kind. Welch herrliches Gefühl muß das für die beiden sein.«

»Wir werden auch Kinder haben, Liebster.« Sie legte den Arm um seinen Hals und küßte ihn.

»Wir werden uns ein Haus bauen«, sagte Jochen.

»Am Rhein?«

»Ja, am Rhein. Mit dem Blick auf den herrlichen Strom. Dann kannst du mich von der Terrasse aus sehen, wenn ich mit der ›Fidelitas‹ vorüberfahre, und Bunzel wird die Nebelhörner zum Gruße aufheulen lassen.«

»Und zu den Kindern werde ich sagen: Seht, da unten fährt euer Vater. Wißt ihr, daß ich euren Papi so lieb habe wie nichts auf der Welt – ausgenommen euch …«

»Ich werden alle meine Verbindungen lösen …«

»Verbindungen?«

»Ich habe da einige geschäftliche Bindungen an die Hochfinanz und zu einigen Industriemagnaten. Von ihnen habe ich das Schiff bekommen. Ich werde es ihnen auf Heller und Pfennig abzahlen. Ich will einen Strich unter das Vergangene machen.«

Es klopfte laut an der Tür. Dann drückte jemand, ohne die Antwort abzuwarten, die Klinke herunter. Die Tür war abgeschlossen. Jochen Baumgart ließ Betty los und ging, um zu öffnen.

»Was ist, Bunzel?«

»Über den Rhein kommt ein Amokläufer!«

»Lassen Sie die faulen Witze, Sie Saufloch, und legen Sie sich aufs Ohr!«

»Es ist kein Witz, Mister. Soviel ich sehen konnte, ist es Ihre ›Guter Weg‹, die da wie ein Affe durch den Rhein rennt, direkt auf uns zu.«

»Mein Vater?!« Jochen schloß die Tür auf. Er ignorierte das fette Grinsen Bunzels und stieß ihn mit der Faust in den Rücken. »Los! Auf die Brücke! Aber wenn es blinder Alarm war, suchen Sie sich ein Loch, wo Sie sich verstecken können. Am besten springen Sie gleich über Bord! Los!«

Sie rannten die Treppe hinauf an Deck. Betty warf sich ihren Pelzmantel über und folgte ihnen. Eine unbestimmbare Ahnung trieb sie hinaus auf Deck. Sie spürte, das etwas Entscheidendes geschehen würde.

Von der Brücke aus sah auch Jochen Baumgart, wie eine alte Selbstfahrzille laut tuckernd den Rhein heraufkeuchte. Sie hatte alle Lichter gesetzt, und an den Hecklichtern in den flachen Kajütenaufbauten erkannte Jochen die ›Guter Weg‹.

»Sie ist es wirklich!« sagte er verblüfft zu Karl Bunzel. »Was soll denn dieser Irrsinn?! Haben Sie etwa Rennfahrer an Bord geschickt? Ihr Kümpchens, oder wie der Bursche heißt, fährt ja das ganze Schiff zum Teufel!«

»Oder es ist wieder was los auf dem Seelenverkäufer!«

Vater, dachte Jochen. Oder gar Mutter? Ein heißer Stich lief vom Herzen durch den ganzen Körper. Mutter – bloß nicht Mutter …

»Scheinwerfer aufblenden!« rief er. »Lassen Sie die Nebelhörner Signal geben!«

»Wozu der Feuerzauber?« Bunzel drehte an einigen Schaltern. »Das genügt! Kümpchens sieht uns schon!«

Auf der ›Guter Weg‹ gellte kurz die Nebelhupe auf.

»Erkannt!« stellte Bunzel fest. »Sie kommen auf uns zu.«

Es dauerte keine 15 Minuten, da lag die ›Guter Weg‹ längsseits der ›Fidelitas‹. Noch während Kümpchens manövrierte, der Ungar mit dem Laufbrett bereitstand, wurde der alte Baumgart von vier harten Matrosenhänden gefaßt und hinüber gehoben.

Zum erstenmal betrat der alte Baumgart die ›Fidelitas‹, das gehaßte Schiff seines gehaßten Sohnes.

»Vater!« Jochen Baumgart stürzte auf ihn zu und wollte ihn umarmen, aber eine heftige Handbewegung des Alten hinderte ihn daran. Das Gesicht Peter Baumgarts war hart wie Stein, und es wurde noch zerfurchter, als sein Blick auf Betty fiel, die in ihrem Pelzmantel unter der Brücke stand und von einem Scheinwerfer wie auf einer Bühne angestrahlt wurde.

»Wo kann ich dich sprechen?« fragte er Jochen mit harter Stimme.

»In meiner Kabine!«

In der Kapitänskajüte – es roch nach Bunzels Fusel – bot Jochen dem Alten einen Stuhl an. Er selbst blieb stehen.

»Bitte«, sagte er knapp. »Was ist?«

»Die Polizei ist hinter dir her!«

Für Jochen Baumgart war es wie ein Schlag gegen den Schädel.

»Die Polizei?« wiederholte er, als begreife er nicht.

»Ja! Sie suchen alle Binnengewässer ab! Sie sperren alle Grenzen! Noch kennt man den Namen des Schiffes nicht … Aber ich weiß, daß du es bist!«

»Daß ich es bin?« Jochen lächelte verzerrt. »Wie meinst du das, Vater? Wenn man mich sucht, muß man doch auch den Namen des Schiffes kennen!«

»Man sucht das Schiff, auf dem für über eine Million Rauschgifte und Medikamente ins Ausland schwimmen! Und mit dieser Million die Braut des Gangsterchefs. Sie nennt sich Betty Kahrmayr!«

Vor Jochen Baumgart drehte sich die Kajüte. Er umklammerte einen Schrank, der neben ihm stand, wie einen Rettungsring.

»Das ist doch nicht wahr …«, stammelte er.

Jochen Baumgart setzte sich schwer. Er sah über seinen Vater hinweg zu dem großen Bullauge hinaus.

Der Alte räusperte sich. »Du fährst also sofort nach Mainz!«

»Ich kontrolliere erst die Ladung. Ich will es selbst sehen! Und dann spreche ich mit Betty.«

Jochen verließ stumm die Kajüte.

Auf der Treppe traf Jochen Karl Bunzel, der mit dem Ungarn sprach. Als sie Baumgart kommen sahen, schwiegen sie und gingen auseinander.

»Mister –«, sagte Bunzel stockend. Jochen winkte ab.

»Ich weiß! Mein Vater hat mir alles erzählt! Wir sind zu Schmugglern geworden.«

»Gehen wir in die Laderäume.«

»Da war ich schon. Fast jeder Stamm ist angebohrt und hat diese Metallkapseln in sich.« Er griff in die Tasche seiner weiten Schifferhose und zog eine kleine, blinkende Metallhülse hervor. Sie war leicht, und der Deckel war mit Wachs verschlossen. »Ich habe nicht gewagt, sie aufzumachen. Vielleicht ist Gift darin.«

Jochen nahm die kleine Kapsel. Er schabte mit dem Daumennagel das Wachs ab und drehte den Deckel auf. Zwei kleine Ampullen, in Watte gelagert, fielen auf seine Handfläche. Sie trugen keine Aufschrift oder Bezeichnung. Die Flüssigkeit in ihnen war farblos.

»Wir fahren sofort nach Mainz zur Polizei.«

»Zu Befehl. Mister.« Über Bunzels Gesicht zuckte es. »Aber erst sollten Sie einmal nach Ihrem Bruder sehen.«

»Nach meinem …«

»Er ist drüben an Bord! Er hat die Nachricht gebracht und wurde von der ›Guter Weg‹ beim Versuch, das Schiff mit einem Boot zu erreichen, gerammt. Der Ungar sagte mir …«

Durch Jochen rann es eiskalt. Die stockende Sprache Bunzels, das schnelle Weggehen des Ungarn, als man ihn kommen sah, das Verschweigen der Kollision von Seiten des Vaters … »Was ist mit Hannes?« fragte Jochen laut.

»Er liegt drüben. Es geht ihm nicht gut. Innere Verletzungen!«

Mit ein paar Sätzen rannte Jochen über Deck und prallte auf dem Laufsteg auf Kümpchens, der hinüber zur ›Fidelitas‹ wollte.

»Was ist mit meinem Bruder?!« brüllte Jochen ihn an. Kümpchens hob die Schultern.

»Ich weiß nicht. Ich war noch nicht wieder hinten.«

Mit langen Sprüngen rannte Jochen über Deck und riß die Tür zu den Kabinenbauten auf. Im Schlafzimmer fand er die Mutter. Sie schlief und schluchzte im Schlaf. Mit Gewalt riß sich Jochen von diesem Bild los und stürmte weiter. In der Wohnkajüte war niemand, aber in der Schlafkabine von Hannes und Irene, die früher sein Zimmer gewesen war, fand er Hannes.

Er lag auf dem Rücken, die Hände seitlich herunterhängend, und schlief.

Aus seinem Mund war ein wenig Blut gelaufen und über das Kinn, den Hals hinab in den Hemdausschnitt geflossen.

Als er sich über den Körper beugte, sah er, daß das Blut schon geronnen war. Die Augen lagen tief in den Höhlen.

Jochens Gesicht wurde starr. Er sah Hannes genauer an, er beugte sich über ihn und legte seine Hand auf das blasse Gesicht des Bruders.

Es war kalt, eiskalt.

Jochens Hand zuckte zurück.

»Hannes!« rief er leise. Dann lauter, immer lauter. »Hannes! Hannes!«

Der Bruder war gestorben, um den Bruder zu retten.

Schwankend verließ Jochen Baumgart die kleine Kajüte.

Vor dem Eingang zu den Kajüten traf er auf den Ungarn. Er hatte aus seiner Koje auf der ›Fidelitas‹ ein kleines, silbernes Kreuz geholt, wie es viele auf der nackten Brust um den Hals tragen.

»Ich will es ihm in die Hand geben, Mister«, sagte er leise.

Jochen schluckte. »Tu das.«

Mit eisigem Schrecken dachte Jochen nun an Irene. Wer sollte ihr die Nachricht überbringen? Wie sollte man es ihr sagen? Ein neues Leben im Arm, war ihr ein anderes, geliebtes Leben entglitten. Sie würde es nicht verstehen können …

Ich werde es ihr sagen müssen, überlegte Jochen. Die Last dieser schweren Mission machte ihn unsicher und irgendwie tief im Inneren feige. Ich werde zu ihr gehen müssen und sagen: »Irene –, es hat einmal zwei Brüder gegeben, die sich haßten. Und als sie begannen, sich zu lieben, mußte der eine gehen, um den anderen zu retten! Solange sie sich haßten, war die Erde anscheinend groß genug für beide. Mit der Liebe aber wurde sie plötzlich zu klein …«

Jochen Baumgart stand am Laufbrett und sah hinüber zu seiner hell erleuchteten ›Fidelitas‹.

Was würde ihm bleiben, wenn in wenigen Stunden die Polizei das Schiff betrat?

Ein Haftbefehl – weiter nichts. Vielleicht eine Gerichtsverhandlung, in der ihm weder der Staatsanwalt noch die Richter glaubten und die ihn verurteilten, das Schiff zugunsten des Staates einzogen, so wie man auch Autos an den Grenzen einzieht und versteigert, wenn sie beim Kaffeeschmuggel angetroffen werden. Vielleicht konnte ihn die Aussage Bettys etwas entlasten … Betty! Baumgart preßte die Lippen aufeinander. Was wußte Betty von dem allem? Wenn sie geschwiegen hatte, war sie mitschuldig am Tode des Bruders.

Mit großen, weitausgreifenden Schritten rannte Jochen auf sein Schiff.

In der Salonkabine traf er Betty an, wie sie wieder die Koffer packte. Diesesmal fragte er nicht, was sie da tue – er schloß hinter sich die Tür ab und setzte sich in einen der zierlichen Sessel.

»Du hast gewußt, daß Rauschgift an Bord war?«

»Ja.«

Dieses klare Ja warf Jochen in einen Abgrund. Er verkrampfte die Finger um die Sessellehnen.

»Das kann nicht wahr sein, Betty.«

»Es ist wahr. Ich wußte es schon, als wir von Hamburg abfuhren. Ich wußte alles! Daß Domaine und Willke dich in Köln erwarten wollten, daß ich ihr Lockvogel sein sollte, daß sie sich hinter Bunzel steckten, aber dort nicht ankamen, daß für eine Million ›Schnee und Koks‹ an Bord kommen sollte – alles, alles wußte ich! Und ich schwieg!« – »Warum?«

»Weißt du, was Angst ist?«

Über Baumgarts Gesicht glitt etwas wie Ekel. »Das ist eine billige Ausrede …«

»Seit drei Jahren arbeite ich mit Domaine und Willke zusammen. Sie lieferten die Mittel, ich war der Schlepper, der ihnen die Kundschaft zutrieb. In unserer Bar in St. Pauli und in einer Bar auf der Reeperbahn war der Umschlagplatz. Wir hatten ein Kennwort. ›Großmutter‹ hieß es. Wenn einer an meine Theke kam und sagte: ›Ich soll Sie von Großmütterchen grüßen‹, dann bekam er seine Ampullen oder sein Pulver. Glaubst du, ich hätte eine Möglichkeit gehabt, dich zu warnen? Bei dem geringsten Zweifel, der in dir aufgetaucht wäre, hätten sie mich umgebracht.«

»Du willst das Schiff verlassen?«

»In Mainz. Ja.«

»Es wird nicht gehen. Die Polizei wird an Bord kommen.«

»Ich weiß.«

»Du bist der einzige Zeuge, der aussagen kann, daß ich nichts von dem abscheulichen Spiel, das man mit mir trieb, wußte.« Seine Stimme wurde hart, befehlend. »Du bleibst an Bord, bis das alles geklärt ist und deine Aussagen zu Protokoll genommen worden sind.«

»Ich habe alles aufgeschrieben.« Sie zeigte auf ein längliches Kuvert, das auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa lag. Baumgart sah es erst jetzt. »Ich habe nichts vergessen.«

»Es wird besser sein, wenn du dich persönlich zur Verfügung stellst.«

»Man wird mich verhaften!«

»Das nehme ich an.«

»Auf Mithilfe am Rauschgiftschmuggel steht Zuchthaus.«

Baumgart schwieg. Er starrte auf den teppichbelegten Kajütenboden. Sein Gesicht war fahl und alt geworden.

»Ihr habt einen Menschen auf dem Gewissen«, sagte er langsam.

In Bettys Augen trat der Ausdruck maßlosen Entsetzens.

»Das ist nicht wahr!« stammelte sie.

»Hannes –«, Jochen wandte sich ab.

»Was ist mit Hannes!« fragte Betty leise.

»Er ist tot.«

»Nein!«

»Er liegt drüben auf seinem Bett. Er ist gestorben, weil er mich warnen wollte – vor der Ladung, vor Willke, vor dir. Das ist nicht wiedergutzumachen … So viel wiegt keine Liebe, um das vergessen zu können.« Sein Kopf zuckte herum. Die Wildheit in seinen Augen ließ sie zurückweichen. Jetzt erkannte sie plötzlich den anderen Baumgart, den, von dem sie glaubte, es könne ihn nicht geben. Seine Mitleidlosigkeit machte sie vor Erschrecken willenlos, die Härte seines Blickes nagelte sie an ihrem Platz fest. »Ich verlange, daß du dich der Polizei stellst!«

»Ich dachte, du gibst mir die Möglichkeit, unterzutauchen«, sagte sie schwach.

»Ich verlange, daß du einmal im Leben anständig bist.«

Das Wort sprang sie an wie ein Schlag. Sie duckte sich. Über ihr Gesicht zuckten helle, rote Flecken.

»Hast du ein Recht dazu, von Anständigkeit zu sprechen?« schlug sie zurück. »Hast du nicht gesagt, daß du durch Skrupellosigkeit und Gemeinheit das geworden bist, was du heute darstellst?!« Ihre Stimme wuchs und überschlug sich dann grell. »Sollten wir uns nicht beide der Polizei stellen, mein Freund? Was glaubst du, wessen Aussage ekelhafter wäre? Sollte man nicht einmal nachprüfen, woher du dieses Schiff hast …«

Wortlos verließ Jochen Baumgart die Salonkajüte.

Das Ende, dachte er. Das ist das Ende. Eigentlich merkwürdig, daß ich es nie erwartet habe. Wer sein Haus auf Fließsand baut, muß damit rechnen, daß es eines Tages einsackt.

Er lehnte sich gegen die Reling und blickte über den nachtdunklen Rhein. Dort, wo die Scheinwerfer der ›Fidelitas‹ das Wasser beschienen, war es wie Silber.

Alles Betrug, dachte Jochen Baumgart. Das Wasser des Rheines ist schmutzig-gelb, manchmal blaugrün, aber nie silbern. Ist unser Leben anders? Wir wiegen uns im Schein der Lichter und glitzern – aber in Wahrheit sind wir schmutzig und grau.

Ein Gedanke kam ihm, der ihn festhielt und der Rettung bedeuten würde. Man konnte Generaldirektor Meerbach anrufen oder Direktor Schleggel. Wenn diese bezeugten, daß die ›Fidelitas‹ nicht Eigentum Jochen Baumgarts war, sondern nur ein ›Leihschiff‹, war die drohende Beschlagnahme aufgehoben.

Er sah auf seine Uhr. Vier Uhr morgens. Um zehn Uhr war Direktor Schleggel zu erreichen. Bis zehn Uhr mußte alles so bleiben, wie es war. Eine Frist von sechs Stunden, das war alles, was Baumgart sich wünschte. Wie doch die Wünsche zusammenschrumpfen, dachte er sarkastisch. Vor drei Stunden träumten wir noch von einer Villa am Rhein, von einer eigenen Rheinflotte, von einer Ehefrau und Kindern … Und jetzt hängt alles von lumpigen sechs Stunden ab, von einem Wort der Männer, die er ausgesaugt hatte wie ein Vampir.

Er stieß sich von der Reling ab und ging langsam zu seiner Kapitänskajüte zurück. Karl Bunzel stand oben am Geländer der Kommandobrücke. Er verhielt sich still und sorgte dafür, daß er nicht in das Blickfeld Baumgarts trat. Er wußte von dem Tod des Bruders und war dabei, seine Erschütterung mit Alkohol zu dämpfen.

Bei Jochens Eintritt in die Kapitänskajüte sah er den Vater noch immer im Sessel sitzen. Er rauchte eine von Jochens Zigarren und wandte den Kopf nun um, als er seinen Sohn eintreten hörte.

»Alles klar?«

»Ja, Vater.«

»Es ist schwer für dich – ich kann es begreifen.« Es war das erstemal, daß der alte Baumgart eine seelische Regung zeigte.

»Ich war bei Hannes«, sagte Jochen langsam.

Der Alte nickte. »Hat er dir erzählt, was er am Telefon erfahren hatte?«

»Nein.« Jochen sah zu Boden. Sein Gesicht verkrampfte sich. »Er schlief.«

»Es war eine aufregende Nacht für ihn. Erst das mit Irene und dann die Fahrt auf dem Rhein. Wir haben ihn gerammt – die Strömung war zu stark, wir konnten nicht ausweichen. Aber Gott sei Dank ist ihm nicht viel geschehen. Hat er noch Schmerzen in der Brust?«

»Nein, Vater. Hannes hat keine Schmerzen mehr.«

»Das ist gut. Sicherlich nur ein paar Prellungen …«

»Er hat sie überstanden, Vater.« In Jochens Hals würgte es. Die Stimme versagte.

Der alte Baumgart sah erstaunt zu ihm hinauf. »Hast du dich erkältet?«

»Nein.«

»Du sprichst so komisch.«

Jochen wandte sich ab und drehte sein Gesicht zur Wand. Plötzlich schüttelte Schluchzen seinen Körper.

Ein wenig verständnislos sah der alte Baumgart den Rücken seines Sohnes an. Er legte die Zigarre weg und erhob sich. Von hinten legte er die Hand auf Jochens Schulter. Dieser zuckte bei der Berührung zusammen.

»Es wird alles gut werden«, sagte der Alte. »Wenn man dir in Mainz glaubt, kannst du vielleicht das Schiff behalten.«

»Es ist nicht wegen des Schiffes, Vater.«

Jochen drehte sich langsam herum. Seine Mundwinkel zuckten. »Es ist wegen Hannes …«

»Hannes?« fragte der Alte verständnislos.

»Er – er – Vater …«

Die Augen des alten Baumgart wurden starr. »Was ist mit Hannes?« Seine Stimme bebte dabei.

»Er – wird – nie wieder Schmerzen haben …«

Durch den Körper Peter Baumgarts zuckte es, als habe er eine elektrische Leitung berührt. »Nein«, stammelte er. Sein Blick wurde irr, die Augen verloren ihre Kontrolle, sie verdrehten sich. »Das ist nicht wahr …«

»Ich komme eben von ihm …«

»Dann habe ich ihn – ich ihn – ich ihn … Oh!«

Es war ein Schrei. Der alte Körper wirbelte herum.

»Vater!« rief Jochen noch, aber der Alte rannte aus der Kajüte, über Deck, dem Laufsteg zu.

»Nein!« brüllte er dabei. »Nein! Nein!«

Er kam nicht bis zu dem Laufbrett. Kurz vorher brach er in die Knie, warf die Arme in die Luft und röchelte. Karl Bunzel, der an der Treppe der Brücke stand, sprang hinzu, fing ihn auf.

Kaum, daß das Schiff im Hafen von Mainz festgemacht hatte, rief Jochen Baumgart vom Hafenamt aus die Polizei und einen Arzt an.

»Ich möchte den zuständigen Inspektor für Rauschgift und Schmuggel sprechen«, sagte Jochen. Das Fräulein auf der Telefonvermittlung der Kriminalpolizei glaubte an einen schlechten Scherz.

»Wen wollen Sie? Reden Sie doch nicht solche Dummheiten!«

»Es ist keine Dummheit! Ich bin der Besitzer eines Schmugglerschiffes und habe für eine Million Rauschgift an Bord! Ich liege hier im Hafen von Mainz. ›Fidelitas‹ heißt mein Schiff. Wenn Sie einen Kommissar ausfindig machen können, der zuständig ist, so sagen Sie ihm bitte, er möchte sich hinausbegeben zum Hafen. Ich erwarte ihn.«

Das Mädchen von der Telefonzentrale gab diesen Bericht an Inspektor Barthels weiter.

»Es ist gut«, sagte er. »Seit gestern abend suchen wir dieses Schiff auf allen Binnengewässern Europas wie eine Stecknadel!«

Das Gespräch mit dem Arzt war noch kürzer.

»Hier ist Jochen Baumgart. Ich liege mit meinem Schiff ›Fidelitas‹ im Hafen. Kommen Sie bitte sofort vorbei, Herr Doktor. Ich habe einen Toten, eine Frau mit Nervenzusammenbruch und einen Mann mit einem Schlaganfall an Bord.«

»Das ist ja 'ne nette Fracht! Haben Sie Wildwest auf dem Kahn gespielt?!«

»Der Tote ist mein Bruder, die anderen sind meine Eltern.«

Der Arzt ahnte Komplikationen. »Soll ich die Polizei benachrichtigen?«

»Das habe ich bereits getan. Kommen Sie bitte sofort. Es handelt sich um Unglücksfälle.«

»Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen.«

»Danke.«

Das dritte Gespräch mit Direktor Schleggel dauerte etwas länger. Schon die Verbindung zu Schleggel, der noch zu Bett lag, bereitete einige Schwierigkeiten. Eine Frauenstimme – Jochen wußte nicht, ob es Frau Schleggel oder ein Hausmädchen war – sagte schroff: »Herr Schleggel ist noch nicht zu sprechen.«

»Für mich immer. Und zu jeder Zeit!« sagte Jochen bestimmt.

»Wie ist Ihr Name?«

»Baumgart.«

»Habe ich nie gehört. Mein Mann …«

Aha, die Frau Direktor, dachte Jochen. »Das glaube ich gern, gnädige Frau. Aber wenn Sie Ihrem Gatten bestellen, daß Jochen Baumgart am Apparat ist, wird er ihn sofort aus Ihrer Hand reißen.«

Es war so. Direktor Schleggel wurde etwas unruhig, als seine Frau sagte, Baumgart möchte ihn sprechen. Er ließ zu sich umschalten und setzte sich im Bett auf.

»Sie sind wohl verrückt, was?« schnaubte er. »Was rufen Sie bei mir zu Hause an? Ich habe Ihnen gesagt …«

»Immer ruhig, Direktorchen!« In Jochens Stimme mischte sich wieder der Ton, den er vergessen wollte. »War es anstrengend bei der kleinen Frau Konsul? Noch müde und abgekämpft, was? Ist 'n temperamentvolles Weibchen, nicht wahr? Und Sie sind ja nicht mehr der Jüngste, um da durchzuhalten.«

Direktor Schleggel fuhr sich durch seine Haare. Wenn Emmi das mithört, dachte er mit stockendem Atem, mein Gott, das gibt eine Katastrophe.

»Sie sind völlig übergeschnappt!« schrie Schleggel in den Apparat. »Rufen Sie mich im Büro an, wenn Sie mir etwas zu sagen haben!«

»Das geht leider nicht. Die Sache duldet keinen Aufschub. Ich brauche Ihre Hilfe, Schleggel«, sagte Jochen Baumgart.

»Meine Hilfe?«

»Ja. Sie müssen mir oder der Polizei, wenn sie anfragt, bescheinigen, daß ich das Schiff von Ihnen nur gemietet habe! Besitzer sind Sie!«

»Haben Sie getrunken?« Schleggel stützte sich gegen die Rückwand des Bettes. »Was soll dieser Unsinn? Haben Sie Mist gemacht? Pfändung?«

»Vielleicht Beschlagnahme. Aber das erkläre ich Ihnen später. Ich brauche nur Ihre Bestätigung, daß das Schiff noch dem Konzern gehört und ich nur ein Mieter bin.«

Schleggel lächelte böse. »Ich denke nicht daran«, sagte er hämisch.

»Ach!«

»Ja, ach! Sehen Sie Lump zu, wie Sie aus dieser neuen Schufterei herauskommen. Auf mich und Meerbach können Sie nicht mehr rechnen.«

»Gut.« Jochen Baumgart hustete. »Dann schalten Sie bitte zurück zu Ihrer Frau. Ich möchte ihr gern etwas erzählen von der kleinen Konsulin. Außerdem wird der Herr Konsul sich nicht bezwingen können. Sie, lieber Schleggel, heute noch irgendwo auf der Straße oder in Ihrem Büro oder auf Ihrem Klosett, wo immer Sie sich verkriechen, abzuschießen wie einen tollen Hund.«

»Sie Saukerl!« schrie Schleggel.

»Sehen Sie, wir verstehen uns! Sagen Sie das auch dem dicken Meerbach. Ich kann also mit Ihrer Hilfe rechnen?«

»Nein!«

»Dann geben Sie mir Ihre Frau!«

Schleggel hängte auf. Er wunderte sich selbst über seinen Mut und wartete auf das neue Klingeln des Telefons. Er würde alles leugnen, er würde Baumgart als einen Irren hinstellen, er würde Zeugen bringen, die aussagten, daß er auf Sitzungen war, er würde …

Schweiß stand auf seiner Stirn. Er wartete eine halbe Stunde. Aber das Telefon klingelte nicht.

Schleggel begriff das nicht. Er hat eine neue Teufelei vor, dachte er. Er arbeitet in der Stille, und dann gehen wir eines Tages hoch wie eine Mondrakete.

Über eine Privatnummer rief er dann Generaldirektor Meerbach an.

»Nur Ruhe«, sagte dieser, »nur Ruhe, Schleggel!« Meerbach saß im Bett und frühstückte. Neben ihm, in einem Spitzentraum, saß die süße kleine Baronin und knabberte an einem Toast. »Wenn Baumgart wirklich Ernst macht, haben wir immer noch Zeit, diese Bescheinigung auszustellen. Sie haben sich tapfer geschlagen! Vielleicht haben Sie Baumgart so erschreckt, daß er nicht wieder zu uns kommt!«

Er hängte auf und fuhr der kleinen Baronin über das schwarze Haar. »Wer ist Baumgart?« fragte sie.

»Ein Geschäftsfreund, mein Schatz. Ein Säugling, den wir ernähren und der uns aus Dank dafür in die Brust beißt.«

Die kleine Baronin quietschte vor Vergnügen. Sie betrachtete es als einen frivolen Witz und bog sich zurück. Sie sah so entzückend aus, daß Meerbach vergaß, sein Frühstücksei weiter aufzuklopfen.

Für Baumgart bedeutete dieses Gespräch mit Direktor Schleggel wirklich eine Niederlage. Was niemand von den aufgeregten Herren erwartete, trat ein, fast wie ein Wunder anmutend: Jochen Baumgart kam nicht wieder mit Erpressungsmethoden, sondern schwieg.

Er schwieg, weil es sinnlos war, lange Tage hin über dieses Thema zu streiten. Die Methode war ihm zu bekannt, als daß er sich ihr unterordnete oder auslieferte. Schleggel und Meerbach würden sich in spätestens zwei Stunden als verreist verleugnen lassen. Um ganz sicher zu sein, würde es heißen: Sie sind ins Ausland geflogen. Rückkehr ungewiß. Dann mußte Baumgart in Duisburg Recherchen anstellen, die Baronin oder die kleine Frau Konsul bemühen, bis es Schleggel und Meerbach zu heiß wurde und sie wieder auftauchten.

Diese Zeit hatte Baumgart nicht mehr.

In wenigen Minuten kam die Polizei an Bord der ›Fidelitas‹. Dann mußte er sich auf die in Aussicht gestellte Bescheinigung Schleggels berufen können. Sie war verweigert worden – zunächst jedenfalls – und fiel somit aus. Für Schleggel und Meerbach aber war es ein Wunder, daß die erwarteten neuen Angriffe Baumgarts ausblieben. Sie hatten sogar die Bescheinigung schon ausgestellt und unterschrieben, falls die Drohungen oder Aktionen des Gegners zu massiv werden sollten und eine schnelle Handlung herausforderten.

Kriminalinspektor Jürgen Barthels betrat allein das stolze, weiße Schiff. Er wirkte wie ein früher Spaziergänger, den Kragen des Mantels hochgeschlagen, den Hut ins Gesicht gedrückt, die Hände in den Manteltaschen vergraben. So kam er an Bord und stieß gleich auf Karl Bunzel.

»Guten Morgen«, sagte Barthels sanft. »Komme ich zu früh?«

»Sie immer!«

Kriminalinspektor Barthels schnüffelte. »Nanu – wird hier auch Alkohol geschmuggelt?«

»Wieso?« fragte Bunzel giftig.

»Weil das ganze Schiff nach Fusel stinkt. So viel kann ja ein Mensch allein nicht saufen …«

»Ich bin der Kapitän!« sagte Bunzel laut.

»Verzeihung. Das ändert vieles! Dann fällt der Maßstab Mensch ja für Sie weg.«

Das Erscheinen Jochen Baumgarts enthob Bunzel einer Entgegnung, die ihm einen Prozeß wegen Beamtenbeleidigung und Körperverletzung eingebracht hätte.

»Ich erwarte Sie schon«, sagte Baumgart. »Darf ich bitten?«

»Kriminalinspektor Barthels.«

»Sehr erfreut. Wir müssen in die Kapitänskajüte gehen, da in meinen Räumen ein Lazarett eingerichtet ist.«

»Ein Lazarett?«

»Mein Vater und meine Mutter sind krank. Und mein Bruder …« Er biß sich auf die Lippen. »Das erzähle ich Ihnen alles der Reihe nach. Es wird für Sie schwer sein, alles zu glauben. Gelingt es Ihnen, dies doch zu tun, haben Sie eine Meisterleistung vollbracht. Ich an Ihrer Stelle würde es nicht glauben!«

»Das sind ja wenig rosige Aussichten.« Inspektor Barthels sah über das weiße Schiff hin. Ein wundervoller Kahn, dachte er. Wirklich das Schönste, was ich je gesehen habe. Und man sieht viel am Ufer des Rheines. »Sie haben eine Anzeige wegen Schmuggels aufgegeben. Eine Selbstanzeige?«

»Das wäre übertrieben, wollte man es so nennen.« Sie betraten die Kapitänskajüte. Baumgart holte eine Flasche Kognak aus dem Wandschrank. »Ein Glas, Herr Inspektor?«

»Ich bin zwar im Dienst …« Barthels lächelte. »Aber draußen ist es lausig kalt. Betrachten wir es als Aufwärmung.«

Sie tranken schweigend den Kognak und saßen dann, sich kritisch betrachtend, einander gegenüber. Inspektor Barthels nahm die Unterhaltung wieder auf.

»Wir suchen Sie. Wissen Sie das?«

»Nein. Aber ich habe es erwartet.«

»Wir kannten weder den Namen des Schiffes, noch wußten wir, wo es herumschwimmt! Im Fahndungsblatt steht nur, daß nach Aussagen von Pierre Domaine der Schmuggel per Schiff erfolgte. Das andere sollten wir selber auskundschaften, sagte dieser Domaine. Aber ich kann Ihnen verraten, daß seit gestern alle Binnengewässer scharf kontrolliert werden.«

»Darum meldete ich mich ja auch. Ich habe Holz an Bord.«

Inspektor Barthels hob die Augenbrauen. »Holz? Sie machen einen Witz!«

»Durchaus nicht. Ich habe alle Laderäume voller Holzstämme. Sie sollen in die Schweiz. Bitte, überzeugen Sie sich.«

Ein wenig verärgert erhob sich Barthels. »Ich dachte, Sie haben –« Er räusperte sich. »Das Holz sollte unverzollt hinübergebracht werden? Aber das ist doch Chutsch!«

»Das Holz wurde verzollt! Aber was sich in dem Holz befindet, das ist eine Million wert!«

»In dem Holz?«

»Die Stämme sind angebohrt. In den Bohrlöchern liegen Metallkapseln mit Morphium, Dolantin, Pervitin, Scopolamin und andere Drogen, auf die im Ausland Tausende von Kunden warten. Fast jeder Stamm ist ›geimpft‹, wie Bunzel es nennt. Es ist die raffinierteste Schmuggelart, die es je gab.«

»Das ist ja toll!« Inspektor Barthels sagte es aus tiefster Überzeugung. »Ich gebe zu, daß wir danach nicht gesucht hätten.«

Jochen Baumgart hob beide Hände.

»Sie mögen daraus ersehen, daß ich genauso wie Sie getäuscht worden bin, als ich die Ware an Bord nahm.«

»Ach! Sie wußten das nicht?«

»Nein. Ich erfuhr erst durch meinen Bruder, was ich an Bord habe.«

»Und woher weiß es Ihr Bruder?«

»Von einem der Schmuggler, von einem Herbert Willke.«

»Dieser Willke ist flüchtig und wird in ganz Europa gesucht.« Inspektor Barthels sah sich in der Kapitänskajüte um. »Ich werde zunächst Ihren Bruder vernehmen.«

»Das ist unmöglich«, sagte Jochen stockend.

»Unmöglich?«

»Er ist tot. Er liegt nebenan. Ich werde Ihnen die näheren Umstände seines Todes erklären. Es war ein Unglücksfall.«

»Ein merkwürdiger Unglücksfall, der einen wichtigen Zeugen ausschaltet, finden Sie nicht auch?«

In Baumgart kroch es heiß empor. »Was wollen Sie damit sagen, Herr Inspektor?«

Jürgen Barthels antwortete nichts darauf. Er sah sich in der Kajüte um, nahm diesen oder jenen Gegenstand in die Hand und drehte sich nur verwundert um, als die Tür aufgerissen wurde. Betty kam herein. Sie trug den alten, schäbigen Pelzmantel, mit dem sie in Hamburg an Bord gekommen war. Allen Schmuck, alle Kleider hatte sie in ihrem Salon zurückgelassen. Sie sah wieder aus wie ein Mädchen aus St. Pauli.

»Wer sind denn Sie?« fragte Barthels.

»Betty Kahrmayr. Ich nehme an, daß Sie mich suchen.«

»Sie? Nee! Warum denn?«

»Ich gehöre zu den Leuten, die Sie suchen oder schon haben. Und ich wußte, was an Bord war!«

»Das ist ja toll!« Barthels drehte sich lachend zu Baumgart um. »Welch eine Welle von Selbstanzeigen!« Da Baumgart verbissen zu Boden sah und nicht antwortete, wandte sich Barthels wieder an Betty. »Sie sind gekommen, um Herrn Baumgart zu entlasten?«

»Ja.«

»Sie wollen sagen, daß er von nichts gewußt hat.«

»Ja.«

»Dachte ich's mir doch! Alles sind Unschuldslämmer!« Er drehte sich wieder zu Baumgart herum. »Und nun behaupten Sie, daß Betty Kahrmayr durch widrige Umstände in diesen Club gekommen und im Wesen rein wie ein Engelchen ist!«

»Nein! Bitte behandeln Sie uns nicht wie Gangster«, sagte Baumgart energisch, »ehe Sie nicht wissen, wie alles in Wahrheit ist …«

»Darüber wird der Haftrichter entscheiden und später das Gericht.«

»Der Haftrichter?«

»Haben Sie geglaubt, ich lasse Sie frei herumlaufen?« Kriminalinspektor Barthels lächelte. »Zuerst werden Sie mitgenommen, Herr Baumgart. Ob unschuldig oder nicht, bei der Polizei ist zunächst jeder erst einmal verdächtig! Alles andere stellt sich nach den Verhören und der Beweisaufnahme heraus.«

»Es wäre mir ein leichtes gewesen, meine Fahrt fortzusetzen und nach Basel zu kommen. Sie sagten selbst, daß Sie eine Holzladung durchgelassen hätten.«

»Das ist kein Beweis. Man kann den Kopf verlieren. Weiß ich, ob Sie jetzt nicht innerlich bereuen, sich angezeigt zu haben, und sich einen Riesenidioten nennen?«

»Fast bin ich versucht, das zu tun.« Baumgart nahm seinen Mantel von einem Haken und warf ihn sich über. »Wir können gehen, wenn Sie es so eilig haben.«

»Vergessen Sie nicht Zahnbürste und Seife«, sagte Barthels sarkastisch. »Handtücher und Bettwäsche werden gestellt.«

»Danke.«

»O bitte, bitte! Dafür zahlten Sie ja Steuern.« Er nahm eine der kleinen Kapseln in die Hand, die Bunzel aus einem Stamm geholt und zu Baumgart gebracht hatte. »Ist das solch ein Röhrchen?«

»Ja.«

»Meine Beamten werden das Schiff untersuchen. In 20 Minuten werden die Wagen hier sein. Sie haben eine unorthodoxe Art, Anzeigen aufzugeben. Unser Betrieb geht erst um 8 Uhr los. Wer ist noch an Bord?«

»Meine Mannschaft. Der Kapitän wird sie Ihnen vorstellen. Und meine Eltern. Beide sind durch die Aufregungen und die tragischen Ereignisse der letzten Tage und Stunden krank. Der Arzt kommt auch gleich. Ich habe ihn zur gleichen Zeit mit Ihnen angerufen. Ferner mein toter Bruder …«

»Wir werden die Leiche beschlagnahmen und dem gerichtsmedizinischen Institut überstellen.«

»Tun Sie, was Sie müssen«, sagte Baumgart grob. »Können wir endlich gehen? Ich möchte so kurz wie möglich in Ihrer Gesellschaft sein.«

An Bunzel und an der wie zur Parade auf Deck angetretenen Mannschaft vorbei verließen Barthels, Betty und Jochen Baumgart die ›Fidelitas‹.

Der Kriminalinspektor sah sich ein paarmal verwundert um. »Das ist Ihre Mannschaft?« – »Ja.«

»Haben Sie die aus einem Filmatelier nach Aufnahmen zu einem Seeräuberfilm weg engagiert? Das sind ja alles Halsabschneider!«

»Es ist die beste Mannschaft der Welt!«

»Hm.« Barthels schlug den Mantelkragen hoch. Durch den Hafen und über den Rhein pfiff ein kalter Morgenwind. »Auch diese Kerls werden wir unter die Lupe nehmen …«

Am Kai drehte Baumgart sich noch einmal nach seinem Schiff um.

Lang, weiß, herrlich, lag es unter der kalten Morgensonne. An Deck stand die Mannschaft, unbeweglich, ausgerichtet, parademäßig. Karl Bunzel grüßte jetzt – er legte die Hand an die Mütze.

Baumgart würgte es im Hals. Wann sehe ich sie wieder, dachte er. Sehe ich sie überhaupt wieder?

Kriminalinspektor Barthels blickte über die Schulter zurück auf die ›Fidelitas‹.

»Ob Sie die je wiedersehen?« sprach er die Gedanken Baumgarts laut aus.

»Ich werde es!« sagte Jochen rauh. »Wenn es eine Gerechtigkeit gibt.«

»Dazu sind wir ja da.« Barthels faßte Baumgart leicht an den Mantelärmel. »Kommen Sie, Baumgart! Je länger Sie Abschied nehmen, um so weher tut es.«

Die Mannschaft stand still und regungslos, bis das schwarze Auto den Kai verließ und zwischen den Baracken und Hallen verschwand. Da erst sagte Karl Bunzel laut: »Rühren!« Er sah sich um. »Wißt ihr, was das alles ist?«

»Mist!« schrie der Ungar.

»Genau das, mein Junge! Und jetzt machen wir ›rein Schiff‹, damit der Mister sich freut, wenn er zurückkommt. Lange wird's ja nicht dauern …«

Es dauerte sechs Monate.

Der Prozeß, der gegen den Rauschgiftring begann, war keine große Sensation. Die Zeitungen berichteten zwar darüber, aber es herrschte im Gerichtssaal nicht das Klima der ›großen Fälle‹.

Die Aussagen Pierre Domaines retteten Jochen Baumgart, der neben den beiden ›Handelsherren‹ auf der Anklagebank saß. Obwohl Willke giftig von einer Mitschuld sprach, sagten Domaine und Betty Kahrmayr aus, daß Baumgart von nichts eine Ahnung gehabt hatte und überrumpelt worden sei. Auch die Aussagen Bunzels wogen etwas, obwohl er stark angetrunken im Gerichtssaal erschien.

»50 Mark Ordnungsstrafe wegen ungebührlichen Verhaltens vor Gericht!« diktierte Dr. Wolters. Bunzel sank in sich zusammen. Er schwieg von da ab und antwortete nur auf die Fragen, indem er die Hacken zusammenschlug, um stramme Haltung zuckte und mit fast schreiender Stimme seine Aussagen machte. Das war nicht zu verbieten, und die Zuschauer auf den Bänken qietschten vor Vergnügen.

Nach sechsmonatiger Untersuchungshaft und einem dreitägigen Prozeß wurde Jochen Baumgart aus dem Gefängnis entlassen.

Als sich das schwere Tor hinter ihm schloß und er auf der Straße stand – er sah auf die Uhr, es war sechs Uhr morgens –, war niemand da, der ihn erwartete. Der Vater nicht, Bunzel nicht, keiner von der Mannschaft.

Er steckte sich eine Zigarette an und ging langsam die stille Straße hinab. Plötzlich löste sich aus einem Hauseingang eine dunkle Gestalt und kam Baumgart entgegen.

Jochen blieb stehen. Sein Herz schmerzte und zuckte. Er fuhr sich mit beiden Händen an die Brust und wartete wie erstarrt, bis die Gestalt bei ihm war und die Hände zur Begrüßung hob.

»Irene …«

»Ich soll dich nach Hause bringen«, sagte sie schlicht.

»Nach Hause? Wo ist dieses ›Zuhause‹?«

»Die ›Fidelitas‹! Sie wartet im Hafen auf dich. Die ganze Mannschaft ist noch da.«

»Und Mutter – und Vater -«

»Sie warten. Und ich auch …«

»Du, kannst du mir verzeihen?«

»Das Leben geht doch weiter, Jochen. Damit es weitergeht, ist Hannes ja gestorben.«

Er nahm ihre Hände und drückte sie an seine Lippen. So stand er eine ganze Zeit, mit geschlossenen Augen, weinend und vom Schluchzen geschüttelt.

»Komm, laß uns gehen«, sagte er nach einer ganzen Weile.

Im Hafen lag die ›Fidelitas‹. Weiß und schlank grüßte sie durch die Sommersonne zu ihm hinüber. Von allen Masten wehten Wimpel und Fahnen, sogar der Schornstein war mit Girlanden bekränzt. Als Baumgart zwischen den Schuppen hervortrat, gellte auf dem Deck die Trillerpfeife des Bootsmaats auf. Wie bei einem Kriegsschiff ging am Topp die Flagge hoch – die Mannschaft stand ausgerichtet an der Reling. Karl Bunzel marschierte das Fallreep hinab und baute sich grüßend vor Baumgart auf. Er schwankte, aber er war nicht betrunken, sondern er schwankte, weil er heulte wie ein geprügelter Hund, laut, langgezogen.

»Mister!« heulte er, »Mister – ich melde: ein Kapitän …« Seine Stimme erstickte, er fiel Baumgart um den Hals.

»Bunzel, du altes Saufloch!« sagte Baumgart mit zitternder Stimme. »Nun ist ja alles gut. Nun bin ich ja wieder bei euch –«

Die Mannschaft strahlte, als Baumgart sie abging wie bei einer Parade. Er drückte jedem die Hand, und es waren Hände, die für ihn eine Welt zerreißen würden.

In der Kajüte erwarteten ihn Erna und Peter Baumgart. Die Mutter hatte einen Obstkuchen gebacken – es roch nach starkem Kaffee und frischen Blumen.

»Willkommen«, sagte der alte Baumgart knapp. »In zwei Stunden legen wir ab. Ich habe Ladung nach Rotterdam!«

»Gratuliere, Vater!«

»Warum? Es geht nichts über das alte, ehrliche Binnenschiffertum!«

Jochen lächelte schwach. »Du hast recht, Vater.«

»Väter haben immer recht!«

»Ich sehe es ein –« Er umarmte die Mutter, die stumm in seinen Armen lag. Sie streichelte seinen Kopf, seinen Hals, seine Augen, seine Wangen, seinen Mund.

»Ich wußte, daß du wiederkommst«, sagte sie. »Du bist nicht schlecht. Du bist nie schlecht gewesen …«

Die ganze Gemeinheit seines Lebens kam ihm wieder zum Bewußtsein, das Haus in Duisburg, die Abende mit der Baronin und der kleinen Frau Konsul, die Erpressungen an Meerbach und Schleggel, der Amoklauf um die Aufträge, mit denen er dem Vater Arbeit und Brot genommen hatte, eine fast unübersehbare Kette von Gemeinheiten. Und die Mutter sagte, er sei nie schlecht gewesen. Nur Mütter können so etwas sagen. Nur Mütter in ihrer unendlichen Liebe.

Und das Leben ging weiter.

Die ›Fidelitas‹ fuhr auf allen nassen Straßen Europas. Es gab keinen Hafen, den sie nicht anlief, es gab keine Schleuse, die sie nicht durchfuhr, es gab keinen an den Kanälen und Strömen, der dieses herrliche, weiße Schiff nicht kannte.

Jochen Baumgart zahlte jeden Überschuß an Meerbach und Schleggel aus. Einmal rief Meerbach an. »Baumgart. Sie entwickeln ungeahnte moralische Talente. Wie weit soll das gehen?«

»Ich will Ihnen das Schiff abzahlen! Und wenn meine Erben an Ihre Erben weiterzahlen, einmal gehört das Schiff wirklich und ehrlich den Baumgarts.«

So fährt auch heute noch die ›Fidelitas‹ über die Ströme und Kanäle Europas. Hinten, am Heck, sitzt oft ein alter Mann in der Sonne und raucht seine Pfeife, hält ein kleines Mädchen im Arm und blickt zufrieden empor zu den Bergen und Burgen des Rheins oder über die Tulpenfelder Hollands.

Auf der Brücke, hinter dem runden Glas des Kommandoraumes, leuchtet eine weiße Mütze auf. Das ist der ›Kapitän‹ Karl Bunzel.

Am Heck, wo der alte Mann so gern sitzt, flattert an schönen Tagen viel Wäsche.

Windeln, Strampelchen, Deckchen, Wickeltücher, Jäckchen und Hemdchen.

Eine junge, blonde Frau steckt sie auf die Leine.

»Hallo, Jochen!« ruft sie.

Und »Hallo, Irenchen!« schallt es zurück.

Sie sind ein Ehepaar, dieser Jochen Baumgart und diese Irene. Und sie haben noch ein Kind, einen Jungen, vierzehn Wochen alt.

Und die Welt um sie herum ist nicht nur so blau und sonnig, weil die Sonne scheint, sondern weil in ihren Herzen so viel Licht und Liebe ist, daß sie manchmal glauben, sie müßten von innen heraus leuchten. ›Fidelitas‹ heißt das Schiff.

Wenn ihr es auf den nassen Straßen, irgendwo zwischen Nord und Süd, Ost oder West, seht, dann winkt ihm zu. Es wird euch zurückgewunken, sogar der alte Mann tut es, denn auf diesem Schiff fährt das Glück.

Endlich – endlich …