Jahr Eins. 16. August, Abend

»Da schau her. Der Wurstonkel.«

Birte konnte es nicht fassen. Mitten im Hexenkessel, an der zukünftigen Frontlinie, stand der olle Wikinger, wie sie ihn immer genannt hatte, leibhaftig vor ihr. Seine grauen Dreadlocks und die Haarzotteln waren ebenso unverwechselbar wie sein typisch nordischer Charme: kalt, aber herzlich. Sie war so froh, etwas Bekanntes hier in dieser Situation zu erkennen, ihr ging das Herz auf.

»Wenn ich das gewusst hätte. Ich bin vor fast einem halben Jahr hier unten am Graben mit dem Fahrrad vorbei gefahren. Oberst Berger war bei mir.«

Sie deutete auf Alex, der freundlich lächelte. Der runde bärtige Mann vor ihr lachte.

»Ich erinnere mich. Unser Posten hat euch gesehen. du und dein Begleiter waren die letzten lebenden Menschen, die wir hier am Kanal gesehen haben. Aber wie unhöflich von mir. Treten Sie alle bitte näher. Es ist Essenszeit! Kommen Sie mit, es gibt belegte Brote, Salat und Kaffee!«

Der Gastgeber machte einladende Gesten, ging voran und führte seine Gäste unter das Dach des großen Carports am Haupthaus. Bereits nach kurzer Zeit hatten die Frauen die große Tafel gedeckt und es war genug für alle da.

Alv wandte sich wieder an Birte, während er sich eine Scheibe vom hausgemachten Brot mit Räucherfisch belegte.

»Wie kommt es, dass du mit einem Militärtrupp unterwegs bist?«

»Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht lassen wir sie Oberst Berger erzählen?«

Sie sah zu Alex hinüber, der neben ihr saß und bislang noch nichts gesagt hatte. Der richtete sich auf seinem Stuhl auf und begann etwas steif:

»Vielleicht können Sie mir, bevor ich unser Hiersein erläutere, kurz umreißen, inwieweit Sie in die aktuellen und vergangenen Geschehnisse eingeweiht sind.«

Alv meinte:

»Na ja, da gibt es nicht viel zu berichten. Strom, Internet, Radio, TV … ist alles seit mehr oder weniger einem Jahr futsch. Die letzten Menschen, die wir sahen, waren, wie gesagt, ihr beide.«

»Okay, dann gebe ich Ihnen ein kurzes Update. Das Zombievirus Z1V31 hat binnen kürzester Zeit die gesamte Welt infiziert, sogar bis nach Sibirien und zu den Osterinseln ist es gekommen, Gott allein weiß, wie. Nach unseren Schätzungen gibt es noch circa zehn Millionen gesunde Menschen und vielleicht noch ein Mal dieselbe Zahl, von denen wir aber nichts wissen. Die Zeds haben fast die ganze Welt erobert. Es gibt ein paar verstreute Safety Zones. Zwei in Europa, eine in Russland, eine in China, und die USA haben eine Flotte von militärischen und zivilen Schiffen auf Status Zed Null.«

»Zed was?«

»Zed Null. Zombiefrei.«

»Ach so. Okay. Und Sie wollen uns nun zu Ihrer Zed Null-Station bringen, verstehe ich das richtig? Wo ist die überhaupt?«

»Wir sind nicht hier, um Sie zwangsweise zu evakuieren, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe auch nicht unbedingt den Eindruck, dass das in Ihrem Interesse wäre, wenn ich mich hier so umsehe. Ich glaube, Sie kommen ganz gut zurecht.«

Niemand widersprach ihm.

»Die Safety Zone Nord ist auf der Insel Helgoland eingerichtet, allerdings schon ziemlich voll. Dort leben etwa dreißigtausend Menschen, wir haben schon Schiffe vorgelagert, um den Ansturm zu bewältigen.

Die amerikanischen Flottenreste werden demnächst auch dazu stoßen. Wie ich sehe, sind Sie hier ganz gut eingerichtet und verstehen sich zu wehren. Ich vermute mal, die Kadaverberge da oben am Ortsrand haben Sie aufgeschichtet?«

»Dort und anderswo, ja.«

»Wie viele Zeds haben Sie getötet?«

»Vielleicht fünf- oder sechstausend. Langsam geht uns schon die Munition aus, aber wir wissen uns zu helfen. Der Ansturm hat in den letzten drei Monaten auch merklich nachgelassen. Viele – Wie sagen Sie? Zeds? – laufen neuerdings einfach vorbei. Und die schnellen, die Jäger, werden merklich weniger.«

»Das könnte daran liegen, dass wir an der Elbe bei Brunsbüttel einen Brückenkopf gebildet haben, unsere Truppen haben die Schleusen des Kiel Canals zurückerobert und gesichert. Dort ist im Moment ein ziemlicher Auflauf, weil die Maschinen und Fahrzeuge ziemlichen Lärm verursachen.«

»Das erklärt manches, wir haben hier vereinzelt Explosionen gehört, aber ich dachte, das waren die Chemiewerke in Brunsbüttel oder so.«

»Faktisch sieht es so aus«, führte der Oberst weiter aus, »dass die militärischen Befehlshaber der verbliebenen internationalen Einheiten sich dazu durchringen konnten, eine gemeinsame Struktur zu errichten und die Kräfte zu bündeln. Oberbefehlshaber ist General Thilo Gärtner, der seinen Kommandostab in der Feste Rungholt auf Helgoland hat. Es ist geplant, in der sogenannten Operation Payback die nördlichen Territorien jenseits des dreißigsten Breitengrades zurückzuerobern und auf Status Zed Null zu bringen.«

Neben Alv prustete Eckhardt unfreiwillig los, aß aber unbeirrt weiter dabei.

»Der deutsche Befehlsstand Rungholt zur Eroberung der Welt. Wenn das der Führer sehen könnte, ich schmeiß mich wech!«

Alex schaute etwas irritiert, fuhr aber fort:

»Die Operation hat heute begonnen und wird in nächster Zeit direkt vor Ihrer Haustür stattfinden.

Die erste Welle wird den Kanal sichern und dann nach Norden durchbrechen. Einer unserer Züge hat die Aufgabe, die Kanalbrücke hier zu sichern, die Mannschaft trifft wahrscheinlich morgen dort ein. Ich würde mich freuen, wenn die Männer und Frauen dort oben mit Ihrer Unterstützung rechnen könnten.«

»Wieviele Leute kommen da?«, fragte Alv, mit Eckhardt Blicke tauschend.

»Der Zug besteht aus vierzig Mann, zuzüglich Material und Fahrzeuge. Die Kameraden werden die Brücke befestigen und halten. Es wäre gut, wenn der Zug hier bei Ihnen das Basislager aufschlagen könnte.«

Alv überlegte. Dann deutete er in Richtung der Grundstücke 32 bis 36. »Hm. Wir haben letzten Monat drei Kämpfer aus den südlichen Häusern verloren, dadurch wurde das große Haus dort nebenan frei. Wir haben unsere Leute weiter hier oben einquartiert und nutzen das Haus als Lager. Zweihundert Quadratmeter und gute eintausend Quadratmeter Land. Platz hätten wir grundsätzlich. Aber ich will hier keine Schwierigkeiten. Standortkommandant ist mein Freund Eckhardt hier, und sonst niemand. Das muss absolut klar sein. Hier gelten vielleicht etwas andere Regeln als in Ihrer schönen One World, Herr Oberst. Hier gelten unsere Regeln.«

»Völlig klar, Herr Bulvey. Unsere Leute werden sich natürlich an Ihre Regeln halten, versteht sich von selbst. Um Munition machen Sie sich mal keine Sorgen, die Kameraden werden davon reichlich mitführen.«

Eckhardt warf ein:

»Ein paar Kisten 7.62er könnten wir gut gebrauchen.«

»Wird vielleicht schwierig, aber wir können Sie komplett neu ausrüsten. Der Zug wird neben Waffen und Munition auch einen gut ausgerüsteten Verpflegungstruck mitführen.«

Alv nickte. »Ich denke, da werden wir uns schon einig. Was nun unsere in Aussicht gestellte medizinische Versorgung angeht, darüber möchte ich gern noch etwas hören.«

»Die Sache ist die«, begann Alex, »… wir, das heißt, unsere Wissenschaftler, haben entdeckt, dass Birte ein besonderes Gen in sich trägt, es wird als T93 bezeichnet. Dieses Gen befähigt den Körper, ein Pheromon zu produzieren, dass die Zeds davon abhält, anzugreifen. Man wird für sie quasi unsichtbar. Es ist kein Heilmittel gegen das Virus, auch kein Gegenmittel in irgendeiner Form, aber es verschafft uns einen gewaltigen Vorteil in der direkten Konfrontation. Wir haben ein Serum dabei, dass bei Verabreichung Ihre DNA verändert und das T93-Gen einbaut. Schon wenige Tage später haben Sie dann den Schutz aufgebaut und die Zeds sind quasi blind.

Unsere Truppen sind alle geimpft, die Zivilisten bekommen den Wirkstoff nun nach und nach verabreicht.«

»Na ja … Genmanipulation … nicht eben das, was auf meinem Wunschzettel ganz oben steht.«

»Will ich Ihnen auch nicht aufschwatzen. Ihre Entscheidung. Für die Wirksamkeit verbürge ich mich, wir haben es ausgiebig getestet. An unserem Brückenkopf treffen täglich neue Zed-Horden ein, und dann stehen sie rum, gucken blöd und warten darauf, dass sie eliminiert werden.«

»Nebenwirkungen?«

»Keine bekannt.«

»Nicht, dass mir nachher schicke Hupen wachsen und Eckhardt beginnt, mir nachzustellen …«

Eckhardt lachte los.

»Alter, ich glaub, an uns kommt das junge Froillein mit ihren Hupen-Genen nicht ran, was? Da mach dir mal keine Sorgen!«

Alv lachte auch laut auf und schlug dem Kumpel auf die Schulter. Die beiden Haudegen lachten rau und herzlich. Dann wurde er aber wieder ernst. Er stützte sich auf den Tisch und schaute zu Alex hinüber, der an der anderen Seite der Tafel saß.

»Okay«, meinte er, »wenn's hilft, bin ich dabei. Die Einladung zur Butterfahrt lehnen wir allerdings dankend ab, denke ich mal.

Wenn jemand hier das anders sieht, kann er sich Ihnen gern aus freien Stücken anschließen. Das müssen wir auch nicht jetzt erörtern.

Wie gesagt, Ihr Zug kann hier sein Basislager aufschlagen, das ist durchaus eine Win-Win-Situation. Was geht da mit dieser Payback-Geschichte?«

Inzwischen hatten die Mädels gebratenen Schinkenspeck und Rührei zubereitet und stellten die großen Schüsseln auf den Tisch. Jeder nahm sich was davon, und auch die Besucher waren froh, etwas in den Bauch zu bekommen, das nicht aus einer Aluminiumverpackung stammte. Bei Eiern mit Speck und deftigen Roggen-Brotscheiben ließ es sich besser schnacken, und so erläuterte Alex in groben Zügen den Plan.

»Im Wesentlichen geht es darum, zunächst nach Norden Freiraum zu schaffen für unsere Expansion. Zur Zeit laufen Fregatten der Marine den Kanal an, um hier klar Schiff zu machen. Die meisten Brücken, zum Beispiel in Brunsbüttel, Hochdonn, Rade und äh … Levensau werden gesprengt, die Trümmer der Autobahnbrücke in Schafstedt und havarierte Schiffe aus dem Weg geräumt. Ein Truppentransporter wird die Flotte begleiten und die Schleusenanlage in Kiel sichern. Dann sollen unsere Truppen sich nach Norden vorarbeiten und bis zum Skagerrak alles klären. Bis das erledigt ist, wird der Kanal die Frontlinie sein. Ungefähr im Frühjahr wird dann die Offensive nach Süden starten. Unser Ziel ist es, binnen zwei bis drei Jahren unser Territorium bis zum dreißigsten Breitengrad auszudehnen und zu sichern, um eine ausreichende Infrastruktur für eine neue Zivilisation zu errichten. So sieht es groben Zügen aus.«

Eckhardt wurde hellhörig.

»Dreißigster. Hm. Und weiter im Süden?«

»Dort wird auf lange Sicht nuklearer Winter herrschen, denke ich.«

»Wie jetzt? Ihr wollt ganze Kontinente nuken? Afrika, Südamerika, Indien, Asien und so weiter? Einfach von der Platte putzen? Wozu? Wenn euer T93 wirkt, kann man doch einfach konventionell vorgehen.«

»Unsere Generäle sehen das anders. Zum einen sind unsere konventionellen militärischen Mittel sehr begrenzt. Wir sind den Zeds quantitativ deutlich unterlegen. Und T93 ist, wie ich schon sagte, kein Gegenmittel. Lärm und Geräusche lösen noch immer den Angriffsreflex zumindest bei den Jäger-Zeds aus. Um langfristig zu überleben, muss zum anderen die Menschheit diese Seuche mit Stumpf und Stiel ausrotten, und ein erster Schritt ist die Eliminierung möglichst vieler Infizierter. Dafür sind Atombomben ein relativ probates Mittel.«

»Aber … das wird den Süden auf Jahrtausende unbewohnbar machen.«

»Wir sind so wenige, dass wir den Süden auf Jahrtausende nicht brauchen werden. Das ist nun einmal bittere Realität. Ich habe das auch nicht zu diskutieren. Ich habe meine Befehle, und die führe ich aus.«

»Ja, schon klar, Oberst. Dann hoffen wir mal, dass der Fallout auch da bleibt, wo Ihre Vorgesetzten die Schneekugeln schütteln, was?«

Er schaufelte sich den Teller voll und begann, ein gefühltes Matterhorn aus Rührei in sich hinein zu stopfen. Alv grinste und nahm sich noch einen Kaffee. Er klang nachdenklich, überlegt, und seine Antwort hatte einen gewissen drohenden Unterton.

»Es ist eine simple militärische Rechnung, was? Würde mich nicht wundern, wenn die US-Kumpels 'ne Schippe Kohlen aufgeworfen haben, um das auf 'nem verstümmelten Cray7 zu modellieren. Aber gut, Sie haben Recht, Oberst, geht uns im Grunde nichts an. Wissen Sie, für mich und die Leute, mit denen ich hier lebe, wird es wohl besser sein, dem New Word Order Club eher nicht anzugehören. Jemanden, der blühende Landschaften versprach, hatten wir hier in Deutschland schon mal, mehrmals, um genau zu sein. Wir ziehen es vor, unserem Willen zu folgen und nicht der Herde. Denn wenn wir Letzteres getan hätten, wären wir alle hier bereits tot oder würden als Hackfressen da draußen herumstreunen. Wir bleiben also lieber unter uns. Und sollten sich die Architekten dieser sicherlich nett gemeinten Veranstaltung einfallen lassen, uns zwangsrekrutieren zu wollen, so kann ich Ihnen versichern, dass alle, und ich meine alle, hier im letzten Jahr gehörig dazu gelernt haben, was die Verteidigung unseres Refugiums angeht. Nur, um diesen Umstand nicht unerwähnt zu lassen.«

Alex sah sich am Tisch um. Jeder, der hier saß, sogar die Kinder, hatte etwas im Blick, das Selbstsicherheit ausstrahlte, Kampfeswillen, Überlebensinstinkt. Wenn der schlimmste Zauber vorbei war und hier eine Polizeitruppe anrücken würde, um diese Leute zu entwaffnen und zu befrieden, dann würde es ein furchtbares Blutbad geben, soviel war sicher. Diese Leute hier hatten fast anderthalb Jahre lang der Zombieinvasion getrotzt, sie hatten tausende von Zeds abgeschlachtet und waren durch den Druck ewigen Kampfes zu einer verschworenen Gemeinschaft eingedampft worden. Sie hatten sich hier eine eigene Welt geschaffen, die einen extrem hohen Grad an Selbstversorgung aufwies.

Keiner von diesen Leuten würde jemals in geordnete Strukturen zurückkehren, und das, obwohl sie tatsächlich alle hier in stark reglementierten Abläufen lebten. Aber das waren eben, wie Bulvey gesagt hatte, ihre eigenen Regeln. Um die Wogen etwas zu glätten, ging Alex darauf ein.

»Sie haben hier eine bemerkenswerte Welt selbst geschaffen. Und Sie dürfen mir glauben, wenn ich sage, dass ich das von Ihnen allen bewundernswert finde. Wie haben Sie sich selbst versorgt?«

Bevor Alv antworten konnte, mischte Birte sich ein.

»Ich kann mich noch gut erinnern. Vor zwei Jahren saßen mein Vater und ich bei Alv am Tresen, wir warteten auf ein Kreuzfahrtschiff, um es zu fotografieren. Ich glaub, es war die World oder so. Da haben die beiden ganz angeregt über die kommende Rezession diskutiert. Mein Vater war immer Optimist, ha, er meinte, der Markt heilt alles und so weiter. Aber Alv erzählte, dass er sich schon seit etlichen Jahren auf eine globale Katastrophe vorbereiten würde. Er hatte schon damals sein Haus in eine Festung umgewandelt und Vorräte gebunkert und so. Mein Vater fand das lächerlich. Jetzt ist er tot.«

Alv sah sie an und lächelte.

»Ja, stimmt. Tut mir leid wegen deines schmerzlichen Verlustes.«

»Wir alle haben Leute verloren, Alv. Ist doch so.«

Alv wandte sich wieder Alex zu.

»Na ja, wie dem auch sei. Sie sehen, …«

»Wollen wir nicht beim du bleiben? Ich heiße Alex.«

»Okay, geht. Also, wie du siehst, haben wir hier in unserem Refugium eine kleine, autarke Gruppe aufgebaut. Wenn wir nicht gerade Zeds killen, dann befischen wir den Kanal zum Beispiel. Wir haben zwölf Reusen liegen und die Jungs gehen gern angeln. Die Zander und Aale sind hervorragend hier. Fisch ist übrigens okay, haben wir getestet. Wir räuchern, kochen und braten den Fisch, damit decken wir unseren Eiweißbedarf, und natürlich mit den Eiern unserer Hühner. Dann haben wir hier einige sehr produktive Gartenbereiche. Wir haben uns ein System ausgedacht, das modular ist. Wir legen Brotkisten aus Kunststoff mit Vlies aus, füllen Humus ein und bauen darin Gemüse und Kräuter an. Die Kisten stehen terrassenartig geschichtet, leicht angeschrägt, so haben wir eine relativ große Anbaufläche. Wenn geerntet ist, wird der Humus auf den Kompost zurückgeschüttet und die Schütte neu befüllt für den nächsten Anbau. Außerdem haben wir viele Beerensträucher hier, Obstbäume und zwei Kartoffeläcker. In jeder freien Ecke hängen Pflanzbeutel und Töpfe, auf den Dächern gedeihen Bohnen und Erbsen. Wir züchten drei Sorten Pilze und haben einen umfangreichen Heilkräutergarten. Im Frühjahr haben wir unsere Anbaugebiete auf den Acker hinter dem Refugium ausgedehnt, das hat ganz gut funktioniert, da kommen nur äußerst selten Zeds hin. Was wir nicht selber herstellen, besorgen wir aus der Umgebung, es gibt immer noch reichlich Quellen, die nicht versiegt sind. Schätze, wir können es hier noch eine ganze Weile aushalten. Wenn das Mittel, von dem du sprichst, funktioniert, dann wird es hier sogar recht angenehm sein.«

Alex schürzte die Lippen und nickte bewundernd.

»Wow. Was ihr hier habt, ist so ziemlich das krasse Gegenteil von allem, was ich bisher gesehen habe. Und ihr habt überlebt. Das allein zählt. Also, das mit dem T93 verhält sich so: Wir wissen, dass es hilft, die Zeds zu verwirren. Es ist jedoch kein Gegenmittel. Jeder Biss, jede Verletzung mit Schmierkontakt führt weiterhin zur Infektion und zum Tod inklusive Wiederauferstehung. Der größte Unsicherheitsfaktor ist Lärm, darauf springen die Jäger-Zeds trotz T93 an. Nicht hinlänglich getestet ist die Wirkung des Pheromons bei Zed-Tieren. Die Wirkung ist wahrscheinlich, aber nicht völlig sicher. Also, es gibt keine Sicherheit, nur einen Vorteil. Das muss jedem klar sein. Ebenso, wie ein Airbag im Auto kein Garant für Überleben ist, wird T93 es auch nicht sein. Ihr müsst weiterhin wachsam bleiben, weiterhin kämpfen. Aber die Zeds werden euch nicht mehr aus dem Hinterhalt überraschen und euch nicht mehr offen angreifen, vorausgesetzt, ihr verhaltet euch ruhig. Wenn ihr T93 habt, dann seid ihr am Zug. Ach, und was die neue Welt angeht … ich bin mir nicht einmal sicher, ob die was für Männer wie mich ist. Ich kann schon verstehen, dass ihr dazu nicht bereit seid.«

»Na ja, wenn eure Kriege gefochten, eure Schlachten geschlagen sind, dann seid ihr herzlich eingeladen, hier bei uns zu siedeln. Ich denke, wir haben hier dann genug Platz für bis zu hundert Leute, nach unten ins Dorf ist Expansionsraum, da stehen so einige Hütten leer.«

Es war Birte, die zur völligen Überraschung aller eine Bombe platzen ließ.

Sie fasste Alex mit beiden Händen an seinen, sah ihm in die Augen und meinte:

»Liebster, was Alv sagt, ist richtig. Ich hab das verstanden. Es ist auch nicht mein Krieg, sondern deiner. Und der deiner Leute. Ich kann dir dorthin nicht folgen, so gern ich das auch tun würde. Ich bin Zivilistin, kein Soldat. Ich werde hier im Refugium bleiben, wenn ihr losfahrt, Alex. Ich warte dann auf meinen Soldaten, der aus dem Krieg heimkehrt. So lange, bis er kommt.«

Alex war völlig baff. Er hatte wohl mit allem gerechnet, aber nicht damit. Er suchte nach Worten, seine Kehle war jedoch wie zugeschnürt.

Alv sah das und mischte sich ein:

»Alex, Birte ist hier bei uns gut aufgehoben. Ich habe keine Ahnung, an welche Front dich dein General schicken wird, aber es wird sicherlich nicht ungefährlich sein. Hier ist die Lage überschaubar, und selbst wenn uns hier die Zeds überrennen sollten, können wir noch rüber ans Nordufer in die rückeroberten Gebiete. Wenn du sie liebst, lass sie gehen und kehre zu ihr zurück, wenn dein Krieg vorbei ist. Wir werden gut auf deine Liebste aufpassen.«

Alex hatte inzwischen seine Fassung wiedergefunden und meinte zu Birte:

»Okay, wenn das dein Wunsch ist, respektiere ich das natürlich. Na ja, und ich glaube, hier bei Alv und seinen Leuten bist du tatsächlich ganz gut aufgehoben. Er hat ja auch Recht, hier bist du einigermaßen sicher. Wir bleiben noch drei Tage hier, um den Infanteriezug einzuarbeiten. Ich möchte schon noch etwas Zeit mit dir verbringen können.«

Alex' Leute, die bisher der ganzen Debatte teilnahmslos gelauscht und dabei ausgiebig gespeist hatten, sahen sich gegenseitig an, verdrehten die Augen und legten völlig übertrieben ihre Köpfe aneinander, wie ein turtelndes Pärchen. Alex meinte, ohne sich umzusehen:

»Wen ich bei einer dummen Grimasse erwische, der wird erschossen. Klar soweit?«

»Klar soweit, Herr Oberst!«, kam es wie aus der Pistole geschossen von den Soldaten, die auf einmal wieder gerade am Tisch sitzen konnten. Allgemeines Hüsteln beendete die Szene. Alv grinste. Da inzwischen Wachwechsel war, löste er die Tafel auf und die Spätschicht machte sich fertig. Unterstützt wurde sie von der Wache der Truckbesatzung. Man vereinbarte, die Verabreichung des Medikaments und das Aufräumen der Straße am nächsten Tag durchzuführen und gestaltete den Abend einigermaßen erholsam ohne Zombieüberfall. Eckhardt zog im Vorbeigehen Alex auf die Seite und drückte ihm grinsend einen Schlüsselbund in die Hand.

»Da nebenan ist ein kleines, schwarzes Holzhaus, dort wohne ich. Unten ist mein Schlafzimmer, und oben ist ein unbenutztes. Frische Bettwäsche ist im Schrank.«

»Ja, aber …«, stammelte Alex.

»Ach, nix für ungut, ich kann auch mal ein paar Tage bei meinem Kumpel Alv auf dem Sofa pennen, oder?«

Er grinste Alv frech an. Der verdrehte gekünstelt die Augen.

»Na toll. Dafür hab ich bei dir was gut, Alex. Der Typ hier schnarcht nämlich dermaßen laut, dass er die Jäger-Zeds aus Hamburg damit anlockt. Den hab ich jetzt in der guten Stube liegen. Was für ein toller Tag.«

Eckhardt und Alv lachten und gingen gemeinsam auf Rundgang, um zu sehen, was die Wache machte.

Jahr Eins. 17. August, Morgen

General Thilo Gärtner setzte den Kaffeebecher auf dem Schreibtisch ab. Vor ihm saßen die Korvettenkapitäne Schulz und Böhlicke, die Befehlshaber der zwei Korvetten F262 (Erfurt – DRBC) und F263 (Oldenburg – DRBD), und Fregattenkapitän Laue, Kommandant des Einsatzgruppenversorgers A1413 (Bonn – DRKC).

»Meine Herren«, begann Gärtner das Briefing, »wie Sie wissen, läuft seit gestern die Operation Payback. Fleet Admiral Hershew hat mich gebeten, an seiner Stelle das Briefing für den regionalen Einsatz am Kiel Canal zu übernehmen. Kommandoschiff für die Aktion wird die Bonn, Sie haben das Einsatzkommando vor Ort, Laue. Ihr Geleitzug bekommt die Erfurt und die Oldenburg, außerdem noch vier von den 343ern, nämlich die Jagdboote 1090, -92, -98 und -99. Die Pegnitz und die Hameln sind der Bonn zugeordnet, die Siegburg der Erfurt und die Herten der Oldenburg. Außerdem werden noch zwei zivile Arbeitsplattformen und ein Saugbagger dabei sein, diese werden zur Zeit in Brunsbüttel von der Eingreiftruppe requiriert und fahrbereit gemacht. Ihr Operationsziel ist die Klärung und Sicherung des Kiel Canals und die Rückeroberung der Schleusenanlage in Kiel. Zwei amerikanische Lenkwaffenzerstörer haben heute Morgen den Skagerrak passiert und werden Ihnen dann in der Kieler Förde entgegenkommen. Teile der Wyk und Holtenaus werden mit Marschflugkörpern eingedeckt, um dort für Klärung zu sorgen. Einzelheiten über Ziele und Angriffszeiten erfahren Sie über Ihr Flottenkommando bei Admiral Hershew. Ihr vordringlichstes Ziel ist die Schiffbarmachung des Kanals, außerdem wird an der Rendsburger Eisenbahnhochbrücke ein Sicherungsteam abgesetzt, um diese Brücke zu sichern. Sie werden dort keinesfalls anlegen, sondern die Kampfschwimmer bemächtigen sich der Schwebefähre unter der Brücke, welche Sie zum Leichtern einsetzen werden. Die Sicherheit der Schiffe hat absoluten Vorrang, wir haben schon zu viele Einheiten verloren in diesem Kampf. Durch das T93-Serum sind Ihre Männer und Frauen zwar in gewisser Weise geschützt, aber vergessen Sie bitte nicht, dass dies kein Rundum-Schutz ist, und dass diese Jäger-Zeds nur bedingt auf das Pheromon reagieren. Die Flottenleitung erwartet, dass Sie binnen 48 Stunden den Kanal soweit geräumt haben, dass er zumindest einspurig schiffbar ist. Fragen dazu?«

Niemand hatte Fragen oder Einwände. Die Kommandanten waren allesamt erfahrene Schiffsführer und würden diese Aktion mit der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit erledigen. Gärtner nickte, alle erhoben sich und er entließ die Offiziere.

»Ich danke Ihnen, meine Herren. Auslaufen nach Bereitschaft, Ihr Kontakt an der Schleuse Brunsbüttel ist Hauptmann Kirchhoff, Sie erreichen ihn per Funk auf Einhundertsiebenundsechzig-siebenhundertfünfzig Megahertz. Auf gutes Gelingen. Wegtreten.«

Die Kapitäne grüßten zackig, machten kehrt und verließen das Büro, um zu ihren Schiffen zu gehen. Gärtner stellte eine Verbindung zum Flottenkommando auf der USS Mount Whitney her und bestätigte den Beginn des Einsatzes.

Im Hafen der Festung herrschte bereits reger Betrieb. Die Minenjagdboote lagen nebeneinander an der Pier, davor die beiden Korvetten und der mit über einhundertsiebzig Metern Länge dickste Fisch, der Versorger, lag an der Außenmole. Die Schiffe wurden noch beladen, betankt und von den Mannschaften besetzt, der Versorger bekam einige Container an Deck und die Infanteriesoldaten der Landstreitkräfte, die am Kanal abgesetzt werden sollten, wurden an Bord gebracht.

Vorgesehen war, an jeder Kanalfähre ein Zehnmannteam abzusetzen und die Autofähren zu betanken und einsatzbereit zu machen. Dafür hatten die jeweiligen Einsatzteams vor Ort insgesamt eine Woche Zeit, dann sollte die Landoffensive beginnen und die frei fahrenden Fähren waren als Fahrzeug- und Truppentransporter auf dem Kanal vorgesehen. Sie sollten jeweils in Brunsbüttel die mobilen Einheiten und Züge abholen und auf der einhundert Kilometer langen Strecke dann an insgesamt zehn Stellen am Nordufer absetzen, damit diese dort Brückenköpfe bilden konnten. Das sollte die bestmögliche Truppenverteilung für den Sturm nach Norden sicherstellen. Die Jagdboote und einige Schnellboote sollten dann auf dem Kanal künftig Patrouille fahren, Landungsboote und andere Marineeinheiten würden später weitere Truppen in das Einsatzgebiet führen. Die amerikanischen Einheiten würden in der Kieler und Eckernförder Bucht einlaufen und dort jeweils Landungsmanöver starten. Außerdem wollten die Marines im Vorfeld bereits die Dänischen Inseln auf Status Zed Null bringen. Von der Feste Rungholt aus sollten die Transall des LTG 63 Einsatzteams nach Kiel, Hohn und Jagel fliegen, dort sollten die Teams die Rollfelder wieder in Besitz nehmen, um größere Luftlandeoperationen zu ermöglichen. General Deng hatte fest zugesagt, von den russischen Kontingenten einige der Tupolew 330-Transportflugzeuge einzusetzen, die der russische General Pjotrew mit Spezialeinheiten und Truppenkontingenten bestücken wollte. Leider waren die Landebahnen in Norddeutschland für die AN 225 zu kurz. Insgesamt wurden in diesen Tagen über 100.000 Mann in Bewegung gesetzt, um die alte Welt zurückzuerobern.

Gegen zwölf Uhr mittags waren dann alle Einheiten im Hafen seefertig und Kommandant Laue gab den Befehl Leinen los für den Geleitzug. Zunächst liefen die kleineren Minenjagdboote aus, dann folgten die Korvetten, und zum Schluss warf die Bonn los. Die Propeller rührten das Wasser und schoben den grauen Schiffskörper langsam aus der Hafeneinfahrt. Bereits nach wenigen Minuten gingen die Schiffe in Formation und nahmen Kurs nach Brunsbüttel auf.

Die Fahrt dauerte nur gute drei Stunden, und so kamen die Schiffe gegen drei Uhr am Nachmittag in der Elbmündung auf der Position Brunsbüttel-Reede an. Kommandant Laue ließ Funkverkehr zur Einsatzgruppe vor Ort aufnehmen und erhielt die Bestätigung, dass der Schleusenbereich gesichert war. Die große Nordkammer war funktionstüchtig, der Pionierzug hatte die Maschine eines kleineren Feeders zum Generator umfunktioniert und mittlerweile sorgten armdicke Verbindungskabel dafür, dass die Motoren der Schleusentore und Flutventile einwandfrei funktionierten. In zwei Etappen würde der Geleitzug in den Kanal eingeschleust, die in Aussicht gestellten Begleitschiffe lagen bereits im Binnenhafen bereit. Zuerst gingen die Korvetten und zwei Minenjäger in die Kammer, eine knappe Stunde später dann wurden die beiden verbliebenen Minenjäger und der Versorger eingeschleust. Der Kapitän stand auf der Backbord-Nock, als die Bonn in die Schleusenkammer einfuhr. Das Wetter war gut, kaum Seitenwind, wenig Tidenunterschied. Überall im näheren Uferbereich des Schleusenareals wurde gekämpft. Zwar waren alle Soldaten mit T93 behandelt, doch der Gefechtslärm machte die Jäger-Zeds ziemlich aggressiv, sie griffen einfach alles an, was sich bewegte, auch die langsameren Zeds, die hier umherschlichen, wurden attackiert.

Seit dem Ausbruch der Seuche war Fregattenkapitän Laue der Bedrohung durch die Zeds nicht so nahe gewesen.

Er hatte das letzte Jahr weitgehend auf See verbracht, doch nun waren diese Kreaturen auf einmal quasi zum Greifen nah. Sein erster Offizier, Kapitänleutnant Stiller, kam zu ihm heraus, als das Schiff angelegt hatte und von den Gefreiten und Matrosen an den großen Metallpollern festgemacht wurde. »Schiff liegt fest, Herr Kapitän. Maschinen auf Stopp.«

»Gut. Sehen Sie sich das mal an, Stiller. Ist es nicht irre, was aus unserer Welt geworden ist? Die Kameraden da draußen kämpfen wie die Berserker, und ich bin mir sicher, es wird auch noch ein hartes Stück Arbeit, bis wir zumindest den Norden zurückerobert haben. Aber was erwartet uns dann?«

»Na ja, Herr Kapitän, denke mal, wir können alles neu aufbauen. Ist doch so, oder?«

»Ja, sicher, Stiller. Aber der Preis … dieser furchtbare Preis, den wir alle gezahlt haben. Es wird nicht wieder so sein, wie es war. Sie haben ja in den Einsatzbesprechungen gehört, was Operation Payback so alles lostreten wird. Wir werden alle einen verdammt hohen Preis zu zahlen haben, noch höher als der bislang entrichtete.«

»Hm. Halten Sie die Entscheidungen des militärischen Rates für falsch, Herr Kapitän?«

»Nein. Das ist ja das Schlimme, Stiller. Wir haben gar keine andere Wahl.«

Am Nordufer rannte gerade eine Gruppe von Jäger-Zeds, vielleicht vier oder fünf Dutzend Kreaturen, die von zahlreichen Körpertreffern bereits grausam entstellt waren, gegen das Metallgitter, das den ISPS-Bereich der Schleusenanlage abschirmte. Die Verteidiger feuerten mit schwerem MG in die angreifende Horde. Blut, Gedärme, Fleisch und Knochen spritzten durch die Gegend. Immer mehr Jäger-Zeds rannten gegen das stählerne Bollwerk, auf den Kadavern ihrer Vorgänger strebten die geifernden Bestien nach der Zaunkrone. Dem Kapitän wurde es zu bunt. Er bellte in den Brückenraum:

»Obermaat, Backbord-MLG besetzen und die Bodentruppen unterstützen. Auf Befehl freies Feuer. Und geben sie das an die Einsatzleitung unten durch!«

Sekunden später begannen die Matrosen, auf der dem Ufer zugewandten Seite des Schiffes die 27-Millimeter-Geschütze zu besetzen, der Seewasserschutz wurde entfernt und die schweren Munitionsgurte eingehängt. Per Funk wurde der Standortkommandeur unterrichtet, der die Unterstützung sehr begrüßte und seine Leute zurückweichen ließ, damit diese nicht in die Feuerlinie gerieten. Von der Brücke kam:

»Feuerbereit, Herr Kapitän!«

»Feuer frei nach eigenem Ermessen!«

Die beiden Geschütze am Bug und hinter dem Ruderhaus begannen zu rattern. Eine Wand aus Geschossen spien die Maschinenkanonen den Zeds entgegen, die förmlich in einen Fleischwolf gerieten und zu stinkendem Fleischbrei verarbeitet wurden. Doch der Geschützlärm lockte noch mehr Zeds an, nun begannen sogar die lahmen, in Richtung Schleuse zu marschieren. Die unheimliche, groteske Gruselprozession, die da die Koogstraße herunterwankte, erinnerte an einen der vielen Zombiewalks, die es noch vor weniger als zwei Jahren überall gegeben hatte. Doch diesmal war es kein Spaß, sondern blutiger Ernst. Fregattenkapitän Laue wies die Korvettenkapitäne Schulz und Böhlicke an, in das Geschehen einzugreifen. Die Schiffsführer der Siegburg und der Herten wurden jeweils angewiesen, vor dem Südufer in Position zu gehen und gegebenenfalls dort die Infanterie von See aus zu unterstützen.

Die Korvetten gingen hintereinander schräg versetzt in Position und ließen ebenfalls die Marineleichtgeschütze sprechen. Binnen kürzester Zeit war der Pulk von Untoten nur noch ein Haufen zermatschte Biomasse, Fraß für die Insekten. Als die Geschütze schwiegen, brach an Land großer Jubel aus, die Kameraden winkten zu den Schiffen rüber und johlten. Fregattenkapitän Laue salutierte und ging zurück in den Brückenraum.

Eine halbe Stunde später hatte sich das Binnentor geöffnet und der Verband versammelte sich nun vollständig im Hafenbecken. Der erste Auftrag galt der Kanalhochbrücke bei Ostermoor, wo die Bundesstraße 5 den Kanal kreuzte. Diese Brücke sollte beseitigt werden. Laue wies die Erfurt an, eine Rakete vom Typ RBS15MK3 zu starten und sie auf den Mittelpunkt der Brücke abzufeuern.

Die Stahlkonstruktion sollte durch den Treffer mittig geschwächt werden, um zu beiden Seiten wegzubrechen. Auf der Korvette öffnete sich eine Mündungsklappe des Raketenwerfers und kurz darauf verließ einer der Marschflugkörper das Rohr in einer Wolke aus Rauch und Feuer, um nach kurzer Flugzeit gute zweitausend Meter weiter in die Brückenkonstruktion einzuschlagen. Ein riesiger Feuerball hüllte die Brücke für einige Momente ein, dann passierte eine Sekunde lang gar nichts. Als das Feuer erlosch, dröhnte ein infernalisches Knarzen und Kreischen berstenden Stahls durch die Luft und die Brücke riss in zwei Teile, die sich wie Schlangen bogen und dann links und rechts an den Pfeilern ins Wasser krachten. Als die davon ausgelöste Welle anlief, drehten die Schiffe ihre Maschinen hoch, um die fast zwei Meter hohe Welle zu durchbrechen und nicht von ihrer Position weggedrückt zu werden.

Jahr Eins. 17. August, Mittag

»Ah, sie kommen!«

Alex stand auf dem fast fünf Meter hohen Hauptturm der Holzpalisade und schaute durch einen Feldstecher nach Westen zur Kanalbrücke. Dort rollten insgesamt vier große Militärtrucks über die Straße, ein fünfter, der vier kleine gepanzerte Fahrzeuge geladen hatte, hielt mitten auf der Brücke.

»Wir fahren rauf zur Barrikade!«, rief Holger und machte sich mit Gertrud auf den Weg, um oben am Bahnübergang die beiden schweren Traktoren zur Seite zu fahren, die den Zugang zum Dorf versperrten.

Die Prepper hatten an die Seiten der Traktoren schwere Träger von Straßenleitplanken geschweißt, so dass es faktisch nicht möglich war, ins Dorf durchzubrechen. Zehn Minuten später rollten die Trucks die Hauptstraße hinunter und hielten am Refugium auf der Hauptstraße.

Alv, Eckhardt und Alex traten an das Führungsfahrzeug heran und dirigierten es zum geöffneten Tor im unteren Teil der Anlage. Alle Fahrzeuge rollten durch das nördliche Tor in den Innenhof des Grundstücks Nummer 34, wo sie zischend anhielten und sauber eingeparkt wurden.

Die Trucks waren mit großen Containern beladen, wobei es sich um einen Verpflegungs-, einen Sani-, einen Waffen- und einen Pioniercontainer handelte.

Begleitet wurde der Konvoi von zwei Wolf-Geländefahrzeugen, die ebenfalls in der befestigten Anlage parkten. Einem der Fahrzeuge entstieg ein Offizier und salutierte vor Alex.

»Herr Oberst, Hauptmann Fred Ginsberg meldet:

Vierundzwanzigste Einsatzgruppe, gebildet aus fünfter und sechster Kompanie des Jägerbataillons 292, angetreten zum Dienst. Auftrag: Sichern und verteidigen der Brücke Kanalkilometer einunddreißig. Einsatzstärke fünfundvierzig Mann. Der Fahrzeugträger eins wurde vor Ort abgestellt und ist bereit, entladen zu werden, vier Waffenträger Wiesel mit zwanzig Millimeter Bestückung. Vier Mann wurden vor Ort zur Bewachung abgestellt. Erbitte Einweisung des Herrn Oberst.«

Alex grüßte und stellte Alv vor.

»Herr Hauptmann, wir sind froh, Sie und Ihre Männer hier vor Ort zu haben. Darf ich vorstellen, das ist Herr Alv Bulvey, Eigentümer der Festung, und Herr Eckhardt Zinner, der Sicherheitschef und Standortkommandant hier. Ich weise Sie darauf hin, dass wir beschlossen haben, zu kooperieren, das bedeutet, Sie und Ihr Zug sind diesen beiden Herren hier unterstellt, mit Ausnahme der direkten Befehlslage.«

Der Hauptmann reichte den beiden die Hand und meinte freundlich:

»Ich freue mich, dass Sie sich bereit erklärt haben, unser Lager hier aufzunehmen, das vereinfacht unsere Tätigkeit enorm.

Oberst Berger hat mich über die Lage schon vorab informiert, ich bin davon überzeugt, dass wir hier eine gut Symbiose erzeugen können. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, werden meine Männer und Frauen sich am Wachdienst sowie den täglichen Abläufen hier im Rahmen des Möglichen beteiligen. Wir haben Verpflegung, Sanitätsbedarf und vor allem Waffen in ausreichender Menge mitgebracht und möchten Sie als Geste des guten Willens damit unterstützen.«

Alv nickte.

»Willkommen im Refugium, Herr Hauptmann. Ich denke, Sie wollen sicher erst einmal Ihr Lager aufschlagen und sich einrichten. Eckhardt, mein Sicherheitschef, wird Sie herumführen und Ihnen die Einrichtungen hier zeigen. Ich weiß nicht, was Sie mit Ihren Leuten auf der Brücke oben machen wollen, aber entweder sollten Sie die Wache dort vor der Dämmerung verstärken oder aber die Wachleute über Nacht herunterholen.

Die Jäger-Zeds und Zombieviecher, die hier herumrennen, sind bisweilen recht angriffslustig.

Ich muss Sie bitten, mich nun erst einmal zu entschuldigen, ich habe noch zu tun. Heute Abend um acht Uhr essen wir im Haus, ich würde mich freuen, Sie als Gast dort begrüßen zu dürfen.«

»Sehr gern. Vielen Dank für die Einladung.«

Alv ging mit Alex zurück zum Haus, wo jetzt die Impfungen mit dem T93-Serum beginnen sollten.

Gräfeling und Habermann hatten zusammen mit Birte in der Küche eine provisorische Sanitätsstube eingerichtet, und bis zum Abendessen sollten die Impfungen vollzogen sein. Derweil ging Eckhardt mit dem Hauptmann das Areal ab und erläuterte die Location in groben Zügen.

»Sie haben hier gut eintausend Quadratmeter, die Wohnfläche beträgt auf drei Etagen etwa zweihundert, 3 Bäder, Küchen und WC. Strom zur Zeit nicht, der Generator am Haupthaus reicht nicht für dieses Objekt.«

»Generatoren haben wir zur Verfügung. Brennstoff könnte ein Problem sein.«

»Dieselöl steht zur Verfügung, Herr Hauptmann. Damit haben wir hier kein Problem. Wir requirieren stets aus Tanks in den landwirtschaftlichen Betrieben. Benzin ist schwieriger.«

»Mit Diesel kommen wir gut zurecht. Danke. Können wir über das Haus frei verfügen?«

»Ja, im Grunde können Sie alles nördlich des Palisadenzaunes dort frei nutzen, wäre nur halt schön, wenn Ihre Leute die Nutzpflanzen hier schonend behandeln, unsere Damen widmen den Gärten große Aufmerksamkeit.«

»Versteht sich von selbst, vollkommen klar.«

»Wenn Sie die Brücke befestigen wollen, kann ich Ihnen gern zwei meiner Leute mitgeben, die sich in der näheren Umgebung sehr gut auskennen, die werden Ihnen gern zeigen, wo es hier Baumaterial zu holen gibt, das dürfte Ihre Mission vereinfachen, schätze ich mal. Ich lasse Sie dann mal Ihre Arbeit machen, Herr Hauptmann, wir sehen uns zum Essen, denke ich. Wachpläne und so weiter können wir dann in Ruhe durchgehen, wenn Sie soweit sind. Richten Sie sich jetzt erst einmal ein.«

Der Hauptmann nickte und lächelte.

»Ja. Auf gute Zusammenarbeit.«

Eckhardt ging rüber zum Haus und bekam seine Impfung verpasst, ein kleiner Piekser, und es war vorbei.

Den Rest des Nachmittags fühlte er sich etwas unwohl, was wahrscheinlich mit der genetischen Reprogrammierung zu tun hatte, der sich sein gesamter Organismus unterzog. Er beschloss, sich ob des guten Wetters und der entspannten Bedrohungslage mit Kaffee und Zigarette in den Garten des Haupthauses zurückzuziehen, wo er auch prompt auf Alv traf, der ebenfalls Kaffee genoss.

Eckhardt setzte sich zu ihm und die beiden erfreuten sich etwas an der sommerlichen Luft, die bei Eckhardt jedoch mit Tabakrauch durchsetzt war. Alv für seinen Teil war heilfroh, sich dieses Laster vor knapp einem Jahrzehnt abgewöhnt zu haben. Das einzige, was diesen Sommernachmittag unwirklich erscheinen ließ, war das Fehlen jeglicher Vogelstimmen in der Luft.

Alles, was man vernehmen konnte, waren die geschäftigen Geräusche im Haus und das Abladen der Bundeswehrlaster auf dem Nachbargrundstück. Der Kaffee war ausgezeichnet, stark und schwarz, belebend, wie Alv ihn mochte.

Solange es noch frisch gebrühten Kaffee gab, war die Welt noch zu retten, fand er.

Schlürfend sog er einen Schluck des heißen Gebräus ein. Eckhardt zog an seiner Zigarette.

»Und?«, fragte Alv, »was hast du für einen Eindruck?«

Eckhardt atmete tief aus, holte Luft und meinte gedehnt:

»Na jaaaa … ich weiß nichts über seine Truppe, aber dieser Hauptmann Ginseng oder wie der Knabe heißt, scheint mir ganz okay zu sein. Er ist nicht überheblich, ist freundlich, also bisher kein Grund zur Klage. Müssen mal abwarten, wie er sich macht, wenn er sich akklimatisiert hat. Aber wird schon klappen.«

»Alex meinte vorhin, er sei zwar jung, Mitte dreißig, aber sehr zuverlässig.

Er kennt ihn von dem KSK-Auswahlverfahren, da ist der Hauptmann durchgerutscht, hat es aber wohl mit Fassung getragen. Hat 'ne einwandfreie Laufbahn bei den Jägern und ist beliebt in der Truppe. Sein Vorgesetzter hat wohl mit Absicht ihn geschickt, damit es nicht zu Revierstreitigkeiten kommt. Vielleicht ganz gut so.«

»Seine Truppe können wir jedenfalls ganz gut gebrauchen. Seit wir die drei von der Südecke verloren haben, ist die Belastung doch recht hoch bei uns.«

Alv nahm einen weiteren Schluck Kaffee.

»Und? Merkst du was von dem T93-Zeug?«

»Weiß nicht. Ein bissi flau, aber sonst nichts. Vielleicht bin ich auch nur unterzuckert.«

»Dann riechen wir beide bald nach Veilchen und die Zombies laufen an uns vorbei.«

»Wenn das wirklich so einfach ist … ich hab da meine Zweifel.«

»Na ja, schätze, wir werden es bald erfahren. Wir können ja in ein paar Tagen mal auf Patrouille gehen, dann wissen wir mehr.«

Die beiden saßen noch eine Weile nebeneinander, als Eckhardt fragte:

»Du, saaachemol … wenn diese Offensive ein Erfolg wird, was ich allerdings noch nicht so sehe, was willst du dann machen? Bleibst du hier, oder gehst du weg? Mal ganz abgesehen von den Kindern und so, aber was meinst du persönlich?«

Alv dachte nach. Genau genommen hatte er sich bislang noch nie Gedanken gemacht, wie es weitergehen würde, wenn die Zombies tatsächlich besiegt und ein für alle Mal weg waren.

»Tja. Gute Frage. Pfffff … Ich meine, wenn dieser Albtraum vorbei ist, dann gibt das natürlich reichlich Raum für etwas komplett Neues. Muss man sich das aber wohl gut überlegen, immerhin haben die Rote-Knöpfe-Krieger vor, ihr halbes Atomarsenal rauszuballern. Das bedeutet Milliarden Tonnen von Ruß und Staub in der Atmosphäre, globale Abkühlung, bestimmt zwei, drei Grad, Fallout und verschleppte Strahlung.

Schwierig, da eine Entscheidung zu treffen. Luft und Meer werden die Strahlung hübsch verteilen. Vielleicht ist es nützlich, irgendwo in die Berge zu gehen, aber da wird es arschkalt werden.

Am Meer ist es auch so eine Sache wegen der Meeresströmungen, aber ich glaub, da fährt man besser. Schottland fänd ich cool. Ich mag Schottland, Hart, rau, kalt – aber trotzdem, irgendwie ist das was für mich. Schweden wäre auch eine Alternative. Wenig Verbindung zum Ozean und kaum südliche Winde. Reiche Wälder und Seen. Vielleicht würde ich dahin gehen. Keine Ahnung. Was denkst du?«

»Na ja, ich hab halt nachgedacht. Eigentlich hat diese Welt dann nichts mehr für mich. Hier mit euch leben und kämpfen, das ist okay für mich. Aber wenn das vorbei sein sollte … ich weiß nicht, ob ich dann überhaupt in dieser Welt weiterleben will. Wozu?

Was gibt es dann noch zu tun? Diese Oberkommando-BlaBla-Typen wollen nur das Alte wieder herrichten. Sicher, ein wenig anders, New World Order, aber im Kern wird es gleich bleiben, nur kleiner mit mehr Platz zum Spazierengehen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich für sowas wirklich leben will. Wahrscheinlich eher nicht.«

»Was willst du tun? Dir heldenhaft den Schädel wegblasen und in malerischer Pose diskarnieren? Martialische Heldenentleibung zu den Klängen der Internationale?«

»Ja, vielleicht? Warum nicht?«

»Ach, hör doch auf, Mann. Die göttliche Schöpfung ist nicht dafür da, dass wir dieses wunderbare Geschenk einfach wegwerfen. Außerdem verbiete ich Dir das als Freund.«

Eckhardt lachte und tat etwas echauffiert.

»Mein lieber Herr Bischof Alv. Euer Merkwürden wollen mich hier doch nicht allen Ernstes angesichts der stattfindenden Zombiekriege über die Herrlichkeit Gottes belehren?«

Er kicherte wie ein Schuljunge. Das tat er gern, wenn er sich amüsierte. Alv sah ihn schräg von unten mit hochgezogenen Brauen an.

»Mein lieber Bruder Eckardt Incorruptus. Es stünde dir gut zu Gesicht, etwas mehr Respekt vor dem Allerersten zu zeigen, in der Tat. Aber mal im Ernst. Diese Katastrophe, dieses furchtbare Hauen und Stechen. Zu irgendwas muss das doch gut sein. Ich weigere mich zu glauben, dass dies alles ohne Grund passiert. Natürlich werden viele Überlebende sich der New World anschließen. Eben, weil es einfacher ist.

Aber für Leute wie uns, die wir ausschließlich nach unserem Willen handeln, freie Entscheidungen treffen und uns unserer Selbst gewahr sind, ist das doch auch eine riesige Chance.

Wählen wir uns eine Insel. Befestigen wir sie. Und errichten wir dort eine freie Gesellschaft. Von mir aus können die Menschen in Zukunft ruhig in einer Militärdiktatur leben, das tun wir ja jetzt im Grunde auch.

Aber dadurch, dass wir so wenige sind, gibt uns das viel Freiraum für Entfaltung.

Mit dem, was wir hier im Refugium aufgebaut haben, könnten wir nach dem Ende des Krieges im Grunde einen Treck ausrüsten und uns auf den Weg machen, wie dereinst Mose am Sinai. Nur, dass wir die Gebote nicht in Steintafeln meißeln, sondern auf Android-Tablets schreiben und vor uns hertragen.«

Die beiden Männer lachten herzlich. Eckhardt steckte sich noch eine Zigarette an.

»Ach, weißt du, Alv, vielleicht ist die Sache mit dem Treck gar nicht so übel. Genug Fahrzeuge haben wir, Waffen, Hilfsmittel, und so weiter. Darüber sollten wir vielleicht nochmal sprechen, wenn der Budenzauber hier vorbei ist. Nicht die schlechteste Idee ist das.«

Alv nickte stumm. Ein Treck nach Norden. Darüber musste er nachdenken. Nun jedoch gab es andere Dinge zu regeln. Zunächst musste mal der Krieg gewonnen werden, der hier gerade begann. Die Sachen, von denen Alex berichtet hatte, ließen wirklich düstere Ahnungen in Alv aufsteigen.

Völlig entfesselte, jedweder Kontrolle entzogene Militärs mit einem Arsch voller Atombomben schickten sich an, die ganze Welt als ihre persönliche Sandkiste zu betrachten. Das konnte überhaupt nicht gut gehen, wobei gut gehen hier wohl als Ergebnisbeschreibung eh völlig fehl am Platze war.

Holger kam um die Ecke und setzte sich zu den beiden unter die riesige Blauzeder im Vorgarten. Durch die Palisade war der Ausblick ziemlich begrenzt, aber immerhin hatte dieser Fleck etwas, was man in Anbetracht der Situation durchaus als Gartenromantik bezeichnen konnte.

»Der Hauptmann hat mich gefragt, ob wir heute schon zur Brücke hoch können und ob ich seinen Leuten zeige, wo sie Baumaterial herbekommen.«

Eckhardt antwortete.

»Jo mei, wenn er es halt eilig hat. Nimm Getrud mit und zeig ihm diesen ehemaligen Schweinebauernhof da unten im Dorf, der hatte doch so viele Leitplanken verbaut. Da können seine Leute abschrauben, was geht. Dann nehmt ihr den Weg aus dem Unterdorf, der direkt zur Brücke führt, seine Leute können das Baumaterial dann hochwinschen.«

»Okay, dann rauschen wir mal mit den Soldaten ab. Wir sind zum Essen wieder da.«

Holger erhob sich, trabte in Richtung des Durchganges im Palisadenzaun und verschwand in der Tür. Kurz darauf wurden zwei der Trucks nebenan angeworfen und fuhren in Richtung Unterdorf davon.

Eckhardt meinte zu Alv:

»Zu dumm, dass wir hier auf der falschen Seite des Grabens sind. Nördlich vom Kanal hätten wir wohl eher unsere Ruhe.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Zum einen haben wir jetzt dieses T93, das uns zumindest etwas Schutz gibt, zum anderen werden die auf der Brücke da oben und am Nordufer so ein Geschiss machen, dass jeder Zombie im Umkreis von zehn Kilometern dahin rennen wird, und nicht zu uns. Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit unserer strategischen Lage.«

»Hm. Auch wieder wahr.«

Eckhardt nahm einen tiefen Zug von seiner Filterlosen und grinste. In der Ferne hörte man Jäger-Zeds schreien.

Jahr Eins. 17. August, Abend

Hauptmann Ginsberg war mit der Entwicklung bisher relativ zufrieden. Befehlsgemäß hatte er sein Lager eingerichtet und war nun mit dem Pionierzug unterwegs zu dieser Brücke, um die Sicherungsarbeiten durchführen zu lassen. Die Mitglieder der Prepper-Gemeinschaft, bei der sein Zug zu Gast war, hatten sich als höchst effizient erwiesen. Die beiden Tieflader waren voll beladen mit schweren Materialien, die zur Befestigung der Brücke dienen sollten. Allein zwanzig Tonnen an Metall und nochmal gute zwanzig Tonnen an Steinen und Betonelementen standen seinem Zug nun zur Verfügung. Nach Auskunft des Kommunenleiters handelte es sich bei den Sandsteinelementen um Reste einer alten Brücke, die an dieser Stelle in der Kaiserzeit errichtet worden war. Auf einem Bauernhof im Dorf hatten Sie einen ganzen Sattelzug mit diesen Elementen beladen können. Dutzende abgeschrägter Blöcke, die einst zum Sockel der Brücke gehört hatten, sollten nun die erste Verteidigungslinie auf der Brückenrampe werden. Wenn das der Kaiser wüsste, dachte Ginsberg und schmunzelte innerlich.

Aus den Stahlelementen und den auf der Brücke vorhandenen Leitplanken wollte der Hauptmann schwere Tore schweißen lassen, um einem etwaigen Massenansturm von Zeds begegnen zu können. Einerseits sollte die Brücke als Bollwerk fungieren, andererseits musste sie aber auch für Militärfahrzeuge passierbar bleiben. Da die moderne Brückenkonstruktion aus den achtziger Jahren vorwiegend aus Stahlträgern errichtet und mit einem fachwerkähnlichen Überbau versehen worden war, konnten die Pioniere die schweren Tore direkt mit dem Stahlskelett verbinden, was dem Bollwerk eine extreme Festigkeit verleihen würde.

Auf der Nordseite der Brücke würde die Befestigung etwas dürftiger ausfallen, hier lief seit gestern die Säuberung, und mit jedem Tag würden die Zeds auf dieser Seite des Kanals weniger werden.

Ginsberg hatte sich entschlossen, die Hauptverteidigungslinie mit dem Stahltor am Träger Nummer fünfzig von vierundfünfzig zu montieren, dort endete die seitliche Aufschüttung der Rampe, hier konnte man die Brücke nicht mehr von der Seite aus betreten, sondern nur noch über die Fahrbahn und die Gleise.

Sämtliche Gleise auf der Brücke selbst würden seine Leute demontieren und das Material in die Abwehranlagen integrieren.

Für die Pioniere war das hier ein relativ simpler Job, denn es gab Material in Hülle und Fülle. Die Verteidigungsanlage musste nur schnell genug errichtet werden.

Mit der Fertigstellung rechnete der Hauptmann in etwa drei bis vier Tagen, aber bis zum Morgengrauen wollte er zumindest die Brücke nach Süden schon mal dicht haben.

Er ließ die Wiesel-Waffenträger nach Nord und Süd ausgerichtet auf der Fahrbahn etwa zwanzig Meter hinter den Dehnungsfugen auf der Brücke in Position gehen, die 8 MG wurden direkt an den Baustellen eingerichtet. Auf Sandsackbewehrung konnte verzichtet werden, da Beschuss nicht zu erwarten war.

Der inzwischen aufgebaute Kran begann beim Träger Nummer achtundvierzig damit, das mitgeführte Material von den Trucks, die etwa zwanzig Meter unterhalb der Brücke auf der dort verlaufenden Straße standen, nach oben zu holen. Diese Straße führte auf halber Höhe der Uferböschung direkt zum Dorf und war damit der kürzeste Versorgungsweg. Über eine Treppe konnte man von dort aus die Uferböschung erklimmen.

Ginsberg hatte den gesamten Zug mitgenommen, denn in dieser Phase war die Baustelle verwundbar und musste besonders geschützt werden, außerdem mussten alle mit anpacken, um die erste Bauphase möglichst schnell zu beenden. Auch Holger und Gertrud halfen mit, packten an, wo es ging.

Gegen achtzehn Uhr kam auch Alex mit seinen Leuten dazu, und so schritt die Arbeit gut voran, bis eine Stunde später das erste Provisorium stand, zusammengeschweißt aus Leitplanken und Eisenbahnschienen.

Der Kopf der Brücke sah jetzt aus wie die Kulisse zu einem der legendären Mad-Max-Filme, überall waren Gleisstücke und breite Streifen der Leitplanken zu einer Art Käfig verschweißt, nach außen ragten angespitzte Eisenstangen aus der Konstruktion hervor und zwischen den Streben lugten die Läufe der MG heraus. Für die schweren Kanonen der Waffenträgerpanzer waren etwas breitere Schießscharten ausgespart worden. Leider blieben die Befestigungsmaßnahmen des Militärs nicht unbemerkt beim Gegner, denn die Trennjäger und das Poltern von Stahlbauteilen verursachten einigen Lärm.

Gertrud bat den Hauptmann, seine Leute darauf hinzuweisen, dass Geräusche auf die Zombies außerordentlich heftige Wirkungen haben konnten. Doch der winkte ab.

»Glauben Sie mir, der T93-Schutz wirkt hervorragend. Diese Zeds werden uns überhaupt nicht wahrnehmen, das ist ja das Gute an dem Mittel.«

»Das mag für Sie gelten, Herr Hauptmann. Wie lange dauert es eigentlich von der Impfung bis zur vollen Wirksamkeit des Mittels?«

»Es dauert ungefähr zwei bis drei Tage, bis … Scheiße.«

Hauptmann Ginsberg wurde blass im Gesicht. Sicher, seine Leute waren alle bereits vor Tagen geimpft und positiv auf die Wirksamkeit des T93 getestet worden, aber die beiden Zivilisten hier hatten ihre Dosis erst vor zwei Stunden erhalten. Ginsberg ordnete an, sofort den Geräuschpegel der Arbeiten zu senken.

Doch es war bereits zu spät. Auf der Zufahrtstraße bewegte sich aus südöstlicher Richtung eine nicht eben kleine Horde Jäger-Zeds auf die Brücke zu, gefolgt von etlichen Dutzend lahmerer Zeds, die mit den Jägern natürlich nicht mithalten konnten. Wie eine Horde Hyänen galoppierten die Jäger über die Landstraße, sie drängten einander ab, überrannten sich gegenseitig, bissen aggressiv nach links und rechts. Sie waren völlig außer Rand und Band und, wie es schien, völlig ausgehungert.

Als sie den Beginn der Brückenrampe erreichten und bergauf stürmten, konnte man oben bereits ihre abartigen Schreie, das Kollern und Grunzen und das hysterische Kreischen aus dutzenden von Kehlen vernehmen. Eine vielstimmige Kakophonie unnatürlicher Art schob diese Meute vor sich her, wer das noch nie gehört hatte, dem gefror wohl das Blut in den Adern.

Offensichtlich ging es einigen von Ginsbergs Männern so, denn kaum jemand rührte sich vom Fleck. Die meisten standen einfach nur da und schauten dumm.

Holger begriff: Diese Truppe hatte noch nie einen Jäger-Zed Angriff erlebt! Er wartete nicht, bis der Kommandant etwas sagte, sondern brüllte die Männer vorn am Tor an:

»Verdammt, steht hier doch nicht rum! An die Waffen! Wir werden angegriffen!«

Erst jetzt löste sich die Anspannung bei den Soldaten vorne. Kommandos wurden gebellt. Die meisten Soldaten griffen zu ihren Maschinenpistolen, die Geschütze wurden besetzt, gerichtet und geladen, und es bildete sich hinter dem Stahlvorhang eine Verteidigungslinie. Die Zwanzig-Millimeter-Kanonen der Wiesel-Tanks spuckten einen Geschosshagel aus, der die erste Reihe der Jäger-Zeds fällte, bevor sie die Brücke überhaupt erreicht hatte. Auch die vier Maschinengewehre der Südseite rotzten kiloweise Stahlmantelgeschosse raus, die auf der Straße vier Linien von Asphaltspritzern erzeugten, bevor sie in weiches Fleisch schlugen und es zerfetzten.

Das Geschrei der Jäger-Zeds wurde immer grotesker, durch den Geschützlärm wurden sie noch mehr aufgestachelt und sie dachten nicht daran, ihren Angriff abzubrechen. Auf der Fahrbahn der Brücke klingelten die Geschosshülsen, wenn die Maschinenkanonen abwechselnd ihre Garben abfeuerten.

Mittlerweile gerieten auch die lahmeren Zeds in Ekstase und der Schutz des T93 verlor an Bedeutung. Die Aussicht darauf, die ungeschützten Menschen zu erwischen und sich an ihrem Gekröse laben zu können, verstärkte die durch den Lärm verursachte Raserei zusehends. Die Truppe um Hauptmann Ginsberg konzentrierte sich voll auf das Geschehen und jeder Soldat bemühte sich, Kopftreffer zu erzielen, was bei den ruckartigen Schädelbewegungen der Jäger-Zeds nicht eben einfach war.

Inzwischen tobte der Kampf auf dem Brückenkopf unmittelbar vor dem Tor, wo die Maschinenkanonen wegen des ungünstigen Winkels nichts ausrichten konnten.

Die Geschützführer feuerten daher nun in die Reihen der langsameren Zeds und hielten dort reiche Ernte. Oben am Tor purzelten die getroffenen Zeds links und rechts den Abhang hinunter, die meisten blieben nach etwa fünf Metern auf den Wirtschaftsweg, der zur Böschung führte, liegen.

Konzentriert verteidigten die Soldaten das neue Tor auf der Brücke gegen den Ansturm, Reihe um Reihe fielen die Zeds, über die Hälfte von ihnen waren sofort ausgelöscht. Der Rest, grausam verstümmelt, kroch auf zerschmetterten Gliedern auf der Straße und an der Böschung herum, immer wieder sich in unsinnigen Versuchen ergehend, der vermeintlichen Beute dort oben habhaft werden zu können.

Mit einem Mal gab es Unruhe in der Phalanx am Tor. Einer der Soldaten brüllte gegen den Geschützlärm:

»Durchbruch! Sie kommen von hinten!«

Und tatsächlich, obwohl die improvisierte Barrikade am Nordende der Brücke gut bewacht wurde, kam eine Gruppe von vielleicht zwei Dutzend Jäger-Zeds mitten auf der Fahrbahn angerannt, ihr Ziel war einwandfrei die Verteidigergruppe.

Es war nicht ersichtlich, woher diese Gruppe kam, der Überfall geschah völlig überraschend. Alex und drei seiner Leute rannten zusammen mit einer Handvoll Soldaten des Pionierzuges den Jäger-Zeds feuernd entgegen, und bereits nach wenigen Sekunden befanden sie sich mit den Fressern im Nahkampf.

Alex warf das leer geschossene Sturmgewehr weg und zog seine Pistole. Ein Zombie warf sich auf ihn und schnappte nach seinem Gesicht. Aus kürzester Entfernung schoss Alex der Kreatur in den Schädel, der nach hinten weggerissen wurde und geräuschvoll platzte. Auch seine Kameraden hatten mit den auf sie einstürmenden Zeds zu schaffen, diese waren äußerst aggressiv, völlig ausgehungert und ausgesprochen stark. Dann passierte es. Hauptmann Meyer wurde von einem der Untoten in den Hals gebissen, seine Halsschlagader wurde zerfetzt und das Blut ergoss sich in Strömen über den Asphalt. Trotz der tödlichen Wunde feuerte Meyer weiter, bis seine Waffe nur noch ein hartes Klicken von sich gab.

Die MG von der Nordseite begannen jetzt, nachdem man sie gedreht hatte, auf die Brücke zu feuern. Überall um die kämpfenden Menschen und Zombies herum splitterte Asphalt, einige der Zeds wurden tödlich getroffen. Rechts von sich bemerkte Alex, dass der Gefreite Turels in die Knie sackte. Ein Querschläger hatte ihn in die Brust getroffen und sein Herz ausgeschaltet.

Sofort waren drei Zeds über ihm und fingen an, sein Fleisch von den Knochen zu lösen. Turels hatte durch den Herzschuss zum Glück einen Schock erlitten und bekam nicht mehr mit, wie ihm geschah.

Ein Gefreiter aus dem Pionierzug schoss ihm in den Kopf, um dem Kameraden die Existenz als Zombie zu ersparen.

Kurz darauf waren die Zeds auf der Brücke erledigt, auch der Ansturm am Tor ließ nach. Alex erhob sich, gab seinem bereits toten Kameraden Meyer den erlösenden letzten Schuss und begann, die Brücke abzusuchen. Irgendwoher mussten die Kreaturen doch gekommen sein, der Norden war gesichert, im Süden war kein Zed durchgekommen, diese hier waren förmlich aus dem Boden gewachsen. Moment mal, dachte er, aus dem Boden. Er richtete seine Blicke an den Rand der Fahrbahn, dorthin, wo die Träger der Fachwerkkonstruktion aufsetzten.

Die Träger waren hohl und hatten Zugangsöffnungen, die verschraubt waren. Und dieselben Zugangsöffnungen fanden sich auf der Brücke am Boden, zwischen Fahrbahn und Fußgängerweg. Diese Klappen waren nicht verschlossen, sondern mit Dreiecksschlüssel zu öffnen. Zwei dieser Luken standen offen, die Riegel waren herausgebrochen.

Alex schaute vorsichtig hindurch und konnte darunter einen Gittersteg erkennen, in dem verschiedene Kabel liefen. Verdammt, daran hatte niemand gedacht. Service- und Kabelgänge unter der Brücke! Er zeigte das einem der Pioniere, dieser funkte sofort zum Tor.

»Zwei Mann und Schweißgerät hierher! Sofort! Und die Brücke von unten kontrollieren und sichern!«

Alex setzte sich auf die Leitplanke und zog sich eine Zigarette aus der Schachtel in seiner Brusttasche. Als er sie angesteckt hatte, hustete er schwer.

Das eben war eine richtig harte Auseinandersetzung gewesen. Die Zeds schienen schlauer gewesen zu sein, als das bisher der Fall gewesen war. Zum ersten Mal hatten sie eine Art von Strategie angewendet. Er nahm sein Funkgerät und meldete sich bei Leutnant Falkner im Refugium.

»Sepp, hier ist Alex.«

»Sepp hier. Was ist da oben bei euch los? Feuerwerk mit den Matschbirnen?«

»Rüdiger und Gerard hat es erwischt.«

»Scheiße.«

»Schnapp dir eine von den Wolf-Kutschen und komm rauf. Bring Birte mit.«

»Alles in Ordnung, Alex?«

»Bring sie mit.«

»Okay.«

Kurze Zeit später donnerte ein Geländefahrzeug durch das mittlerweile geöffnete Tor. Die Pioniere waren dabei, die Zombiekadaver mit dem Bugschild eines der Wiesel-Kettenfahrzeuge beiseite zu räumen, und der Wagen rauschte durch die entstandene Gasse. Die Pioniere winkten Leutnant Falkner durch zu Alex' Standort, wo er mit quietschenden Reifen hielt. Die Beifahrertür sprang auf, Birte hechtete aus dem Wagen um den Kühler herum und lief zu Alex. Sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn.

»Gott, bin ich froh, dass du lebst!«

Falkner hatte den Motor abgestellt und kam dazu.

»Was war hier los? Angriff von beiden Seiten?«

Alex sah ihn an und gab ihm einen kurzen Bericht vom zurückliegenden Gefecht. Falkner pfiff leise.

»Von unten? Die Scheiß Zeds sind unter der Brücke lang gekrochen und hier in den Schächten aufgetaucht? Bemerkenswert.« Er sah hinüber zu einem der Deckel im Boden, der gerade zugeschweißt wurde.

Die Luft roch nach Ozon und verbranntem Kunststoff. Dann ging er hinüber zu den toten Kameraden. Hier gab es nichts mehr zu tun.

Als er zurück kam, meinte er:

»Wir werden sie mitnehmen und begraben. Das ist das Mindeste, was wir tun können. Was ist mit dir, Alex? Bist du okay?«

Alex antwortete nicht, er zog an seiner Zigarette, die fast abgebrannt war. Als er ausatmete, schob er sein rechtes Bein nach vorn, in der Hose klaffte ein langer Riss, der an den Rändern rot gefärbt war.

Er zog das Hosenbein hoch und eine etwa fünfzehn Zentimeter lange Wunde kam zum Vorschein, sie verlief direkt neben dem Schienbeinknochen.

Birte schlug entsetzt die Hände vor den Mund. Keinen Laut konnte sie von sich geben, ihr versagte es den Atem. Falkner schaute sich die Wunde an.

»Kratzer?«

Alex schüttelte den Kopf.

»Mir ist schwindelig, heiß. Habe Schwierigkeiten, klar zu denken. Es hat mich auch erwischt.«

Birte sagte nichts. Sie saß stumm neben ihm, zu keiner Regung fähig. Jede Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, ihr Mundwinkel zuckte leicht. Ihr Verstand brauchte einen Moment, um sich der Tragweite des eben Gesagten bewusst zu werden. Dann begannen Sturzbäche von Tränen aus ihren Augen zu sprudeln und liefen über ihre Wangen. Sie schluchzte nicht, das Wasser rann einfach so ungehindert aus ihren Augen, als wären die Tränendrüsen größer als der Kopf. Das Zittern begann. Erst ihre Lippen, das Kinn, dann ergriff das Beben ihren gesamten Körper, und mit einem Schrei brach der Damm der Verdrängung, und ein emotionaler Tsunami rollte durch ihre gesamte organische Struktur.

»Neeeeeeiiiiiiiiiiiiiiin!!!«

Schluchzend und nach Luft japsend fiel sie Alex um den Hals. Nicht er. Nicht auch noch er! Alle hatten sie verlassen. Jeden Menschen, den sie je liebte, hatte sie an die Zombies verloren. Schlagartig brach ihre Welt in sich zusammen wie ein Kartenhaus im Sturm. Sie wollte es nicht fassen, ihre Fäuste trommelten kraftlos auf Alex' Brust, bis er ihre Handgelenke fasste, sie herunterdrückte und sie dann fest in die Arme schloss.

»Es tut mir leid, Birte. Es tut mir so leid.«

Falkner machte ein Gesicht, als hätte er eins mit der Bratpfanne übergezogen bekommen.

»Scheiße«, murmelte er.

Alex packte Birte bei den Oberarmen und brachte sie auf etwas Distanz.

»Hör zu. Hör mir zu. Wir wussten beide, dass dieser Job nicht ungefährlich ist und dass es früher oder später so kommen könnte. Ich möchte, dass du eines weißt, Birte: Die Zeit, die ich mit dir hatte, war die schönste Zeit in meinem Leben. Dieses halbe Jahr, unser halbes Jahr. Es war mehr wert als alles, was vorher war. Ich möchte, dass du das nie vergisst. Ich …«

Ein heftiger Hustenanfall schüttelte ihn, blutige Brocken flogen aus seinen Bronchien. Falkner sah ihn ernst an.

»Herr Oberst?!?«

Alex sah zu ihm auf. Seine Stimme war gebrochen.

»Leutnant Falkner, Sie wissen, was Sie zu tun haben.«

»Jawohl, Herr Oberst.«

Falkner zog seine Pistole, entsicherte, lud durch. Seine Miene war versteinert.

»Es war mir eine Ehre, mit Ihnen gedient zu haben. Letzte Anweisungen, Herr Oberst?«

Alex schüttelte den Kopf, hustete. Der Prozess des Sterbens hatte begonnen. Das Virus in seinem Körper vermehrte sich mit rasender Geschwindigkeit, wie ein Orkan fegte der Tod durch sein Zellgewebe und trieb das Leben fort. Er fühlte Hitze, unbändige Hitze. Und Zorn, undefinierte Wut. Die Gedanken, Erinnerungen, alles verschwamm zusehends. Sein Ich, die Persönlichkeit, die ihn stets ausgemacht hatte, wurde von einem furchterregenden Schatten verschluckt. Eine Finsternis, die jede Form des Bösen, wie es je beschrieben worden war, um ein Vielfaches an Schrecken übertraf, bemächtigte sich seines Denkens, unhörbar schrie es in ihm. Eine Stimme, kalt und bestialisch, erhob sich in ihm und presste das Menschliche aus ihm heraus.

»Geh, geh fort!«

Er versuchte, Birte von sich fort zu stoßen. In sich konnte er das Bild erkennen, wie er über ihr knien würde, ihr Fleisch herausreißend, um es gierig warm und blutig zu verschlingen. Doch die junge Frau blieb standhaft. Sie griff nach seiner Hand und ließ nicht los. Sie schniefte und sah ihm in die Augen.

»Ich liebe dich, Alex! Vergiss das niemals! Ich liebe dich! Auf ewig!«

Ein Schuss beendete alles. Alex' Kopf ruckte nach hinten und sein Körper folgte. Seine Hand verließ Birtes Griff. Er rutschte kraft- und leblos von der Leitplanke und fiel auf den Rücken. Unter seinem Kopf breitete sich schnell ein dunkelroter Fleck aus. Birte brach heulend und schluchzend zusammen. Falkner ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Sie war ein bibberndes Häufchen Elend, unfähig, sich zu rühren. Dann hob er sie auf und führte sie zum Jeep. Als er Birte in den Wagen verfrachtet hatte, ging er zu einem der Pioniere hinüber.

»Sorgen Sie dafür, dass die gefallenen Kameraden nach unten gebracht werden. Wir wollen sie ordentlich bestatten.«

»Jawohl, Herr Leutnant. Wird erledigt.«

Falkner ging zum Wagen, startete die Maschine und wendete. Dann fuhr er runter zum Refugium, wo man die Nachrichten mit größter Bestürzung aufnahm. Birte wirkte völlig teilnahmslos und wurde vom Sanitäter des Pionierzuges behandelt. Sie bekam ein Beruhigungsmittel und schlief kurz darauf. Im Refugium herrschte eine sehr gedrückte Stimmung an diesem Abend.

Jahr Eins. 18. August, Morgen

Hauptmann Ginsberg und seine Leute hatten ihre Arbeiten unterbrochen, und die Bewohner des Refugiums waren zu einem kleinen Wäldchen im Osten des Dorfes aufgebrochen, um dort die Gefallenen zu bestatten. Birte hatte sich inzwischen etwas erholt und wurde von Benny, Alvs Ältestem, gestützt. Drei Mann aus Alex' Team und zwei Pioniere hatte es erwischt, das war der höchste Verlust, den das Refugium an einem Tag zu beklagen hatte. Offiziere und auch Alv sagten ein paar angemessene Worte, dann wurden die Gräber zugeschüttet und mit Feldsteinen markiert. Birte hatte noch einmal den Wunsch geäußert, im Refugium bleiben zu können; dem hatte Alv sehr gern entsprochen.

Nach dem Begräbnis gab es einen Leichenschmaus im Carport, das Fell versuppen, wie Alv es nannte. Als alle sich wieder ihren Aufgaben zugewandt hatten, saß Alv noch mit Birte an der Tafel. Sie hatten jeder eine Kaffeetasse vor sich stehen, Birte starrte stumpf in ihre hinein. Über ihnen begann ein leises Trommeln auf den Blechplatten des Daches, es begann zu regnen. Der Geruch eines Sommerregens drückte sich in den Carport.

»Wie fühlst du dich jetzt?« Alvs Stimme war weich und sanft, nicht so rau und kräftig wie sonst. Birte schaute auf, sah ihn an, doch ihr Blick wirkte leer und ziellos.

»Scheiße. Ich fühle mich so leer.«

»Der Schmerz wird nie ganz vergehen, Birte. Er wird nur weniger. Aber er verschwindet nie vollständig.«

»Er fehlt mir so.«

»Ja, das kann ich verstehen. Wenn uns geliebte Menschen genommen werden, fühlen wir uns beraubt, vom Schicksal bestohlen. Wir empfinden es als ungerecht, den Verlust erleben zu müssen. Und, so bitter es klingen mag, Alex konnte froh sein, einen Freund wie Leutnant Falkner zu haben, der ihm das Schlimmste erspart hat.«

»Alv, du bist doch in so einer Kirche, oder?«

»Ich bin Mitglied der anglikanischen Gemeinschaft.«

»Glaubst du an Leben nach dem Tod?«

»Das ist schwer zu beantworten. Ich glaube, dass, wenn der Körper stirbt, er nicht wieder auferstehen wird. Na ja, außer vielleicht als Zombie, aber das meine ich nicht. Wenn der Mensch stirbt, löst sich von seinem Körper etwas, das man vielleicht als Geist oder Seele bezeichnen kann. Dieses Etwas beinhaltet unsere individuellen Eigenschaften, unseren Charakter, unsere Wünsche, Hoffnungen und Träume. Wenn ein Mensch Zeit seines Lebens nun diese Werte gepflegt hat, nach seinem tatsächlichen Willen gelebt hat und in sich selbst gefestigt war, so ist es möglich, dass diese geistigen Muster erhalten bleiben und vielleicht sogar eines Tages Teil einer neuen Persönlichkeit werden könnten. Ich habe deinen Alex als einen seelisch sehr gefestigten Menschen erlebt, und ich würde annehmen wollen, dass sein Geist noch immer in der Existenz weilt, also nicht ausgelöscht wurde.«

»Du meinst, er ist noch da?«

»Die Chancen stehen gut dafür, würde ich mal sagen.«

»Er hat es verdient. Er war so ein guter Mensch. Ich habe ihn wirklich geliebt.«

»Ich glaube, er hat dich auch sehr geliebt.«

Birte erzählte noch einmal detailliert, wie sie die letzten Minuten in Alex' Leben erlebt hatte und wieder wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt. Alv nahm sie in den Arm und drückte sie, bis das Schluchzen weniger wurde.

»Hör mal, Leutnant Falkner und seine Leute werden bald abreisen, der Truck steht schon oben auf der Brücke. Ich fahre gleich hoch, um sie zu verabschieden. Willst du nicht mitkommen?«

»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Da oben, wo Alex starb …«

»… könnten wir auch gut ein paar Blumen hinlegen, findest du nicht auch?«

»Aber die sieht doch kein Mensch.«

»Darum geht es auch nicht, Birte. Es geht darum, einem Gefühl Ausdruck zu verleihen und etwas loszulassen, das man auf keinen Fall halten kann. Verstehst du, was ich meine?«

»Ich glaube ja. Ich komme mit.«

»Gut. In zehn Minuten fahren wir hoch. Wir nehmen eines der BW-Fahrzeuge hier. Nun trink man erst einmal deinen Kaffee aus. Er wird kalt.«

Sie schniefte noch einmal tief und machte sich daran, die Tasse zu leeren. Einige Minuten später stieg sie in den Wolf-Geländewagen, mit dem sie gestern auch gefahren war. Alv hatte von seinen Töchtern ein schönes Sommerblumenbouquet zusammenstellen lassen, das auf der Rücksitzbank lag. Als sie die Rampe zur Brücke hochfuhren, begann Birte zu zittern. Die Ereignisse des gestrigen Abends kamen wieder in ihr hoch, und genau das hatte Alv auch beabsichtigt.

Der Hulk-Truck stand am Tor des nördlichen Brückenkopfes, wo bereits das zweite Tor errichtet wurde. Die Pioniere des vierundzwanzigsten Zuges waren schnell bei der Arbeit, fand Alv, das waren fleißige und tapfere Männer und Frauen. Die Brücke war nun gesichert, ein Durchbruch wie gestern Abend war nicht mehr möglich. Etwa die Hälfte von Ginsbergs Leuten war nun ständig auf der Brücke, sie hatten ihre Feuerprobe bestanden und würden ihren Auftrag jetzt gewissenhaft durchführen. Hauptmann Ginsberg war ein verträglicher Typ, mit dem Eckhardt gut zurecht kam, so dass die Truppe auch für das Refugium eine echte Bereicherung darstellte.

Alv stoppte den Wagen an der Stelle mitten auf der Brücke, die Birte ihm zeigte. Sie stiegen aus, Alv holte das Blumengebinde von der Rückbank und drückte es Birte in die Hand. Zum Glück hatten Ginsbergs Leute die Blutflecken schon entfernt, so dass es hier wieder einigermaßen manierlich aussah. Birte ging zu der Stelle an der Fahrbahnbegrenzung, an der Falkner seinen Vorgesetzten erschossen hatte, und legte die Blumen auf den Boden. Tränen rannen über ihre Wangen, als sie flüsterte:

»Mein Geliebter. Ich danke Dir für unsere Zeit. Ich wünsche Dir auf deinem Weg alles Gute. Ich gebe dich frei, damit du deinem Weg folgen kannst. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Ich liebe dich.«

Sie stand auf und ließ ihren Blick nach Westen über das Fahrwasser des Kanals schweifen. Ruhig und spiegelglatt lag das Fahrwasser da, nur ein paar vereinzelte Regentropfen zeichneten kleine Kreise auf das Wasser. Mit einem Mal stutzte sie.

»Alv! Ich glaube, da kommt ein Schiff!«, rief sie aufgeregt.

Alv sprang über die Leitplanke und lief zur Brüstung. Er griff in eine Seitentasche seiner MilTec-Weste und zog ein kleines Fernglas heraus. Ungefähr vier Kilometer in westlicher Richtung machte der Kanal einen Bogen nach Nordwest, dahinter lag die zerstörte Autobahnhochbrücke der A 23. Und tatsächlich! Zunächst kaum sichtbar, schob sich nach und nach ein flacher, schmaler Bug aus der Kurve in das mittlere Fahrwasser hinein. Da kam tatsächlich ein Schiff um die Kurve, ein Militärschiff, wie es aussah. Fregatte oder Korvette, das war noch nicht genau zu erkennen. Alv betätigte sein Funkgerät und gab es der Wache durch, die sofort alle Mann zusammenrief. Das war seit anderthalb Jahren die erste Schiffspassage im Nord-Ostsee-Kanal, was bedeutete, dass die Marine die Schleusen in Brunsbüttel zurückerobert und funktionstüchtig gemacht hatte.

Einige Minuten später konnte man erkennen, dass es sich um einen Geleitzug aus zwei Korvetten, einem Einsatzgruppenversorger, vier Hohlstablenkbooten und verschiedenen Arbeitsplattformen sowie einem Baggerschiff handelte. Die Soldaten des Pionierzuges schwenkten eine New-World-Fahne in der Mitte der Brücke, und auf den Schiffen kamen die Mannschaften an Deck um zu winken. Beifall, Hurra-Rufe und viel beiderseitiges Winken begleiteten die Durchfahrt der Schiffe an der Brücke. Das Deck des Versorgers Bonn war gefüllt mit über 500 Soldaten, die ihrer überschwänglichen Freude Ausdruck verliehen.

Neben Alv stand Birte an der Brüstung mitten über dem Kanal am Pfeiler Nummer siebenundzwanzig und meinte: »Fast ein bisschen wie früher, nicht wahr?«

»Na ja, früher waren es Kreuzfahrtschiffe und hier standen Touristen. Ein bisschen anders ist das schon.«

»Ich habe es geliebt. Mit Dad hier zu stehen, schöne Fotos zu machen, deine exquisite Currywurst zu vernaschen. Ich würde vieles drum geben, damit es wieder so sein könnte.«

»Ja, die Schönheit manch selbstverständlicher Sache erkennt man oft erst, wenn man sie verloren hat.«

Birte blickte in Richtung des südlichen Tores, wo die Ruine von Alvs ehemaligem Imbissgeschäft stand.

»Und? Trauerst du dem Laden nicht auch manchmal hinterher? Wir hatten so viel Spaß hier, oder nicht?«

»Ja, da hast du Recht. Doch, manchmal trauere ich dem Geschäft und meinen skurrilen Stammgästen schon hinterher.«

»Weißt du noch? Horst, oder dieser … wie hieß er noch … dieser irre Wunderheiler, der immer mit dem Kaftan rumrannte?«

»Günter.«

»Ja der!« Birte lachte. »Der wollte mir immer an den Beinen ziehen um mein Skelett zu heilen. Und meine dämonische Verfluchung wollte der auch mal heilen. Daddy hat ihm dann angeboten, seinen Irrsinn mit einem Knüppel zu heilen.

Schon komisch, heute würde ich mich freuen, selbst solch einen Idioten wiederzusehen, wenn ich nur hier sitzen könnte, um Kaffee zu trinken und den Sommer zu genießen. Oder Locke, der immer etwas zu meckern hatte …«

Alv nickte sinnierend.

»Trotzdem war der einer meiner treuesten Stammgäste. Tja, das wird wohl nie wieder kommen. Schätze, die sind jetzt alle tot.«

»Aber ich bin froh, dass es dich noch gibt, Alv. Du bist ein Teil der heilen Welt für mich. Ich freue mich auch darüber, dass ich bei euch bleiben kann. Ein anderer Ort wäre jetzt nicht gut für mich.«

»Du kannst bleiben, solange du willst.«

Inzwischen war der Geleitzug unter der Brücke hindurch gefahren und die Soldaten wechselten zur anderen Brückenseite, um den Schiffen hinterher zuschauen. Dieses Kontingent war ein Zeichen. Ein Symbol für: Wir sind wieder da.

Von nun an würden die Menschen sich nicht nur wehren, sondern zurückschlagen. Sie hatten begonnen, den Zeds ihr Territorium streitig zu machen, ihr Kampf hatte nur ein Ziel: Die Eroberung der Neuen Welt.

Alv nahm Birte beim Arm und zog sie ein Stück weiter, er deutete auf das Nordtor, wo der riesige Truck der Sondereinheit bereits mit laufendem Motor stand.

Leutnant Alois Falkner und seine Männer waren ausgestiegen, um sich ebenfalls die Schiffe anzusehen. Als Falkner Birte und Alv auf sich zukommen sah, ging er ihnen ein paar Schritte entgegen. Mitten auf der Fahrbahn trafen sie sich und Falkner streckte Alv die Hand entgegen.

»Schätze, es wird nun Zeit für uns, weiterzuziehen, Bulvey. Hat mich aufrichtig gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Er streckte auch Birte seine Hand hin, in der ihre zarten Finger verschwanden.

»Und natürlich Ihre ganz besonders, Frau Radler. Sie haben der Menschheit etwas gegeben, das die Karten neu gemischt hat. Dank Ihnen haben wir nun eine reelle Chance, den Kampf zu gewinnen.

Die Säuberungsaktionen werden schwierig werden, es wird überall auf Häuserkämpfe hinauslaufen, und da ist T93 genau das, was unsere Sturmtruppen brauchen, um siegen zu können. Ich weiß, dass die Zeit nun hart für Sie wird. Alex war nicht nur mein Vorgesetzter, sondern auch sowas wie ein Familienmitglied und ein Freund. Ihn vom Leid erlösen zu müssen, gehörte zu den schwersten Aufgaben, vor denen ich je stand. Ich hoffe, Sie verstehen das und hassen mich nicht dafür.«

Sie sah den Soldaten mild lächelnd an.

»Herr Leutnant, ich hasse Sie keinesfalls. Sie haben Ihrem Freund einen letzten Dienst erwiesen, und das fand ich sehr mutig von Ihnen. Ich danke Ihnen für das, was Sie für Alex getan haben. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie gesund bleiben und Ihre Ziele erreichen. Gute Fahrt.«

Sie küsste ihn zart auf die Wange und er drückte sie kurz. Dann nickte er Alv noch einmal zum Abschied zu, drehte sich um und verschwand im Führerhaus des Trucks. Die Soldaten öffneten das Tor, und die gewaltige Maschine rollte von der Brücke. Als das Tor wieder geschlossen war und das tiefe Brummen der Dieselmotoren sich langsam entfernte, gingen Alv und Birte zurück zu ihrem Fahrzeug, um zurück zum Refugium zu fahren. Birte fühlte sich aus einem Grund, den sie nicht einmal benennen konnte, nun etwas leichter. Sie hatte Alex ziehen lassen, sich aus freien Stücken von ihm verabschiedet, um nun mit der Gemeinschaft im Refugium ein neues Leben zu beginnen.

Der Krieg, der gerade begonnen hatte, und zu dem sie selbst einen Teil beigetragen hatte, ließ die Aussicht auf Erfolg durchscheinen. Vielleicht würde zumindest ein Teil der Welt in absehbarer Zeit wieder bewohnbar sein. Die Menschen hatten es verdient, einen neuen Anfang wagen zu können, ohne von diesen widerlichen Kreaturen bedroht zu werden. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ein normales Zuhause, wo sie sicher und geschützt war, in dem sie nicht mit einer geladenen Kalaschnikow im Arm einschlafen musste. Das wünschte sie nicht nur für sich selbst, auch für die beiden kleinen Söhne von Alv wünschte sie das, seit sie die beiden kürzlich im Garten beobachtet hatte, wie sie Zombies töten geübt hatten, statt mit einem Fußball herumzubolzen, wie es für Jungs ihres Alters normal gewesen wäre.

Andererseits war sie aber auch fasziniert von der Art, wie die Katastrophe die Bewohner des Refugiums zusammengeschweißt hatte und zur Bildung dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft geführt hatte. Wie hatte Alv sie noch genannt? Die Gesellschaft des Willens. Das einte sie alle dort tatsächlich. Der Wille zu Leben, der Wille, füreinander da zu sein und füreinander einzustehen, bedingungslos. Birte wünschte sich, die ganze Welt könnte so sein, aber das war wohl ein frommer Wunsch, der sich nie erfüllen würde. Faktisch gesehen war die Welt der Menschen zur Zeit eine zerrissene Militärdiktatur, die auf Eroberungsfeldzug war, nicht anders als die Gegenseite, deren Befehlshaber eben nur die Gier nach Fleisch war. Und wenn diese Menschheit den Krieg gewann, würde sie eine Welt errichten, die sich im Grunde nicht wesentlich von der alten unterscheiden würde. Die New World würde sich nicht sonderlich von der Zed World unterscheiden, solange Fressen und Gefressen werden das Hauptmotto blieb.

Kurz darauf rollte der Geländewagen durch das Südosttor des Refugiums. Alv und Birte stiegen aus, und die Frauen nahmen Birte mit, um sie in die Tätigkeiten in den Gärten einzuweisen. Sie hatte darum gebeten, hier eingesetzt zu werden, denn sie hatte keine Lust mehr, schwer bewaffnet auf Raubzüge zu gehen, wie sie es so lange mit Alex und den Anderen getan hatte. Sie wollte nun etwas Produktives tun, wollte lernen, Erfahrungen sammeln, einfach neue Dinge in sich aufnehmen können. Vor dieser Zombie-Apokalypse hatte sie sich nicht im Entferntesten vorstellen können, so zu leben. Den Tag mit Nahrungsbeschaffung, Gartenarbeit und Hauswirtschaft zu verbringen, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen. Doch nun war es gerade dies, was ihrem Leben einen neuen Sinn geben würde, einen, der sie voll und ganz erfüllte. Sie war einfach müde, sie wollte nicht mehr kämpfen, töten, nicht mehr das furchtbare Leid da draußen sehen. Nun, da der Krieg da draußen tobte und die Zeds ihre Marschrouten auf andere Korridore verlegten, hatte sie das erste Mal die Chance, etwas zur Ruhe zu kommen, sich selbst zu finden und ein Leben zu führen, das sie tatsächlich erfüllen würde. Alv hatte ihr versprochen, sie mit Eckhardt zum Fischen mitzunehmen, er wollte ihr zeigen, wie die Reusen funktionierten, wie man eine Angelrute benutzte und wie man Fische räucherte. Diese Aussicht auf ein den Umständen entsprechend normales Leben ließ sie den Verlust, den sie gerade erlitten hatte, als weniger schwer empfinden. Mit der neuen Welt würde sich für sie auch der Weg in ein neues Leben eröffnen, eines, das aus Selbstbestimmung und eigener Kreativität erwachsen würde. Voller Zuversicht blickte sie in den Horizont ihrer eigenen Existenz und begann damit, sich als ein nützlicher und wichtiger Teil dieser Gemeinschaft, in der sie Unterschlupf gefunden hatte, zu fühlen. Eine neue Birte Radler war soeben geboren worden, stärker als je zuvor. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, und, als wolle der Himmel ihr beipflichten, riss die Wolkendecke auf und die Sonne strahlte ihr ins Gesicht.

Jahr Eins. 11. September, Morgen

General Thilo Gärtner betrat den Konferenzraum der Operationszentrale der Festung Rungholt durch die große gläserne Tür, die diesen Raum von der Einsatzzentrale trennte. An dem oktagonförmigen Tisch saßen seine internationalen Stabschefs und deren Berater bzw. Stabsoffiziere, insgesamt waren sie ungefähr zwei Dutzend Leute hier im Raum. Als die gasdruckgedämpfte schwere Glastür sich hinter ihm schloss, verebbten die vielen Geräusche aus der mit Computern vollgestopften Zentrale, in der fast einhundert Soldaten an den Rechnern ihren Dienst versahen. Dies war das militärische Herz der New World, von hier aus wurden sämtliche Einsätze koordiniert. Gärtners Platz war, seiner Funktion als Oberbefehlshaber entsprechend, am Kopf des Tisches, hinter ihm gab es eine große Bildwand für Lage-Projektionen.

Links von ihm saß General Deng, der Befehlshaber der Luftwaffe, ihm gegenüber, rechts von Gärtner, saß Fleet Admiral Hershew, der Marinekommandeur, und Gärtner gegenüber saß General Pjotrew, der die Landstreitkräfte befehligte. Man hatte sich unlängst darauf geeinigt, die kommandierenden Offiziere der Waffengattungen hier in der Feste Rungholt zu versammeln, um auch vor den Soldaten deutlich zu demonstrieren, dass die Vereinigung aller Streitkräfte auch von allen unterstützt wurde.

Zwar sprach man immer noch von den Deutschen, Amerikanern, Franzosen, Briten, Chinesen und so weiter, doch organisatorisch wurden sämtliche Einheiten nun von hier aus gelenkt. Immerhin hatten die verbliebenen Reste der internationalen Streitkräfte es geschafft, angesichts des übermächtigen Feindes eine gemeinsame militärische Infrastruktur zu errichten, eine Aktion, die noch vor gut einem Jahr undenkbar gewesen wäre. Doch hier ging es ums Überleben der gesamten menschlichen Spezies, wer in dieser Situation nicht kooperierte, der starb. So einfach war das mittlerweile.

Gärtner grüßte die Kameraden, die sich bei seinem Eintreten erhoben hatten, und setzte sich. Er blickte zufrieden in die Runde, die sich heute zum ersten Mal persönlich traf, nicht in einer Videoschaltung, sondern leibhaftig.

Gestern Abend waren die führenden Offiziere eingetroffen und man hatte ihnen komfortable Offiziersquartiere zugewiesen. Besonders General Pjotrew nahm das höchst erfreut zur Kenntnis, denn er hatte über ein Jahr in einem russischen Atombunker festgesessen, der technisch auf den Stand der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gewesen war.

Man hatte ihn mit dem russischen Jagd-U-Boot Petrosadowsk von Novaja Semlja hierher gebracht. Admiral Hershew war mit der USS Mount Whitney eingetroffen, fast seine gesamte Flotte ankerte jetzt im Norden der Insel, zwei Geleitzüge mit Lenkwaffenzerstörern und Landungsschiffen waren auf dem Weg in den Skagerrak, um die Dänischen Inseln einzunehmen. Der Luftwaffengeneral Deng Chiao hatte eine etwas unbequemere Anreise gehabt, er war zum Teil auf dem Landweg mit einer gepanzerten Fahrzeugkolonne unterwegs gewesen und man hatte ihn dann in Kasachstan in der Nähe von Baikonur mit einer modifizierten russischen Transportmaschine abgeholt.

Nun war die Führungsriege also komplett. Man hatte sich darauf geeinigt, in englischer Sprache zu kommunizieren. In einem etwas gestelzten Englisch begrüßte Gärtner die Anwesenden:

»Meine Herren, ich freue mich, Sie hier begrüßen zu dürfen. Gut, dass wir uns hier zusammengefunden haben. Admiral Hershew, General Pjotrew, General Deng, Willkommen in der Feste Rungholt.«

Die Männer nickten einander zu. Gärtner ordnete einige Papiere und begann die Sitzung.

»Wie geplant sind unsere Truppen nun im T93-Testgebiet im Einsatz und ich sehe, die Erfolge sprechen für sich. Während die Marines die Dänischen Inseln zu einem großen Teil befreien konnten, arbeiten sich Generals Pjotrews Leute vom Kiel Canal aus nordwärts vor.«

Hinter ihm auf der Bildwand wurde die momentane strategische Lage eingeblendet, eine Karte von Norddeutschland und Dänemark mit vielen verschieden farbigen Pfeilen darauf. Gärtner fuhr fort.

»Die Wirksamkeit des T93 wird von den Bodentruppen als durchweg gut beschrieben. Die langsameren und älteren Zeds lassen sich damit fast perfekt täuschen, der Angriffsreflex wird regulär nur durch laute Geräusche ausgelöst. Etwas problematischer gestaltet sich die Handhabung der Jäger-Zeds.

T93 blendet auch deren Geruchssinn und unterdrückt den daran gekoppelten Angriffsreflex, allerdings sind die Jäger ziemlich geräuschempfindlich und reagieren auf Geräusche extrem aggressiv. Wir haben begonnen, unsere Sturmspitzen mit Geräuschdämpfern auszurüsten, so können die Kameraden an der Frontlinie relativ viele Jäger ausschalten, ohne Großangriffe auszulösen. Allerdings sehen wir hier neuerdings ein anderes Problem, das uns noch zu schaffen machen könnte. Einer unserer Forschungsassistenten, Doktor Wiesheu, hat dazu ein paar Worte zu sagen. Bitte, Doktor.«

Rechts neben Gärtner erhob sich ein schmächtiger Mittfünfziger mit schütterem Haar und auffälliger Hornbrille, die er beim Aufstehen zurechtrückte. Er räusperte sich und erläuterte die Ergebnisse seiner Beobachtungen.

»Die Auswertungen verschiedener Frontberichte durch unser Analyseteam haben in den letzten sechs Wochen ergeben, dass es eine seltsame Zunahme gewisser strategischer Muster und bis zu einem gewissen Grad sogar taktische Vorgehensweisen bei den Jäger-Zeds gibt.

Sie agieren zwar nicht im herkömmlichen Sinne intelligent, aber ihre Bewegungsmuster kann man nicht mehr ausschließlich als triebgesteuert bezeichnen. Der erste bekannte Bericht stammt vom Kiel Canal, als am 17. August dort die Zeds einen gerade errichteten Brückenkopf attackierten.«

Er rief mit einer Fernbedienung einige bearbeitete Satellitenbilder auf, die den Nord-Ostsee-Kanal am Kilometer einunddreißig zeigten. Mit seiner Fernbedienung steuerte der Doktor eine Art Mauszeiger auf dem Bildschirm.

»Zunächst galt der unkoordinierte Angriff frontal dem Tor und wurde hart zurückgeschlagen. Dann sehen Sie hier am Rand, wie einige Individuen sich seitlich abfallen lassen, man sieht es hier nicht so gut, sie lassen sich die Böschung hinunter abfallen, um so unbemerkt unter die Brücke zu kommen.«

Er rief ein weiteres Bild auf, eine seitliche Fotografie der Brücke, die irgendwann früher entstanden war, im Winter, sie war sehr kontrastreich.

»Hier sehen Sie unter der Brücke links und rechts Kabelgänge, in denen ein Erwachsener durchaus kriechen kann. Sie führen unter der Brücke über den Kanal. Die Jäger-Zeds sind auf diesen Gittern bis zur Mitte der Brücke gekrabbelt, haben sich dort gesammelt und sind durch zwei Serviceöffnungen auf die Brücke gelangt. Diese Öffnungen waren verschlossen und wurden von den Zeds aufgebrochen.

Dadurch konnten sie unserer Brückenbesatzung in den Rücken fallen.«

General Pjotrew wirkte etwas konsterniert.

»Wollen Sie mir damit sagen, dass diese Kreaturen denken können?«

Der Doktor drehte sich wieder zum Tisch um und sah den General an. Seine Antwort war etwas zögerlich.

»Ich würde nicht soweit gehen wollen, dies als aktiven Denkprozess oder Indiz für intelligente Fähigkeiten zu werten. Vielmehr scheint es sich bei der Entscheidungsfindung der Individuen eher um eine Art unbekannter Kollektiv- oder Schwarmintelligenz zu handeln, ähnlich, wie sie zum Beispiel Kakerlaken entwickeln. Dabei handelt es sich um ein durchweg emergentes Phänomen.

Kommunikation und spezifische Handlungen der Individuen rufen in bestimmten Situationen intelligente Verhaltensweisen des betreffenden Superorganismus hervor.«

»Und das bedeutet was?« Pjotrew war genervt.

»Nun, Herr General, das könnte bedeuten, dass die Jäger-Zeds sich zwar in kleinen, aber dennoch messbaren Schritten in Richtung eines solchen Superorganismus entwickeln. Zwar verschafft uns das T93 einen gewissen Vorteil, also ein Überraschungsmoment, aber der Erfolg könnte künftig dadurch geschmälert werden, dass die Jäger-Zeds als Gruppe sich einem Angriff anpassen und Gegenmaßnahmen entwickeln könnten.

Sie werden zwar keine Panzer fahren oder Schusswaffen benutzen, aber im Rahmen ihrer kognitiven und körperlichen Möglichkeiten werden sie Ausweich- und Angriffstaktiken in Anwendung bringen, über die sie bis vor Kurzem nicht verfügten. Leider ist es uns aufgrund der relativ dünnen Informationslage noch nicht möglich gewesen, eine Prognose über künftige Entwicklungen aufzustellen.«

Gärtner sah den Doktor an und fragte:

»Was würden Sie uns empfehlen, um dieser Entwicklung entgegenzutreten?«

»Die schnellstmögliche, umfangreiche Auslöschung der Jäger-Zeds, und zwar weltweit.«

Im Raum trat für einen Moment eine bedrückende Sprachlosigkeit ein. General Deng unterbrach die Stille.

»Also ein absoluter Overkill?«

»Die einzige Möglichkeit, eine auftretende Schwarmintelligenz handlungsunfähig zu machen, ist die Vernichtung des Schwarms.«

Gärtner sah zu Wiesheu hinüber.

»Ich danke Ihnen für diese Ausführungen, Doktor. Bitte behalten Sie diese Angelegenheit im Auge. Wir werden darüber beraten, wie wir verfahren. Das wäre dann erst einmal alles.«

Der Doktor nickte ihm zu, nahm seine Unterlagen und verließ den Raum. Gärtner räusperte sich leise und schaute in die Runde.

»Vorschläge?«

Admiral Hershew ergriff zuerst das Wort.

»Okay, über die Bereiche südlich des Dreißigsten waren wir uns einig, dort werden wir verstärkt Kernwaffen einsetzen.

Wir haben dafür die Atom-U-Boote Juri Dolgoruki, Alexander Newski, Werchoturje, Ekaterinburg, Karelija, USS Ohio und USS Virgina als SSBN-Einheiten mit multiplen Sprengköpfen zur Verfügung. Außerdem tragen die Raketenkreuzer Pjotr Weliki und Marschal Ustinow ebenfalls ballistische Lenkwaffen, damit können wir etwa 200 Metropolen einäschern. Wie sieht es bei Ihnen aus, Deng?«

Der Chinese blätterte in einigen Unterlagen, überlegte, spitzte den Mund und meinte:

»Zur Zeit stehen uns 36 Bomber zur Verfügung und 242 taktische Atomwaffen sind einsatzbereit. Ich empfehle allerdings den Einsatz der Atomwaffen nur weit südlich der Demarkationslinie. Für die Grenzregion haben wir ein recht umfangreiches Arsenal an MOAB- und FOAB-Varianten zur Verfügung, die großen Aerosolbomben sollten unsere künftige Grenzregion nachhaltig zu säubern in der Lage sein. Die Vakuumbomben könnten aus den Transall-Maschinen in Reihe abgeworfen werden, und sie sind relativ einfach zu replizieren.«

Pjotrew sah sich auf seinem Bildschirm die Zahlen an und grübelte.

»Wenn wir davon ausgehen, dass die Zeds auch weiterhin nicht lernen zu schwimmen, würde das unser Einsatzgebiet verkleinern. Australien, Indonesien, sämtliche Inseln und der gesamtamerikanische Kontinent wären für uns kein Einsatzgebiet, diese Bereiche könnten wir im Grunde komplett ignorieren und uns auf das eurasische Festland konzentrieren. Afrika ist im Grunde auch außen vor. Wir sollten den Suezkanal öffnen und westlich des Kanals mit Atomwaffen vorgehen. Ebenso sollten wir östlich des Bosporus vorgehen und das Schwarze Meer, weiter dann die Wolga als natürliche Grenze nutzen. Ausgehend von Nischni Nowgorod sollten wir die Grenzlinie dann nach Norden bis Archangelsk ziehen. Alles, was östlich dieser Grenze liegt, sollte aufgegeben werden. Für die Förderung von Rohstoffen kommen in Sibirien stark befestigte Camps in Betracht. Ferner ist es möglich, unsere Basis auf Nowaja Semlja zu halten. Diese würde ich als Ausgangsbasis für unsere Atomwaffeneinsätze vorschlagen.«

General Pjotrew wischte mit einem Griffel über den Bildschirm vor sich in der Tischplatte, und die Markierungen wurden auf den großen Bildschirm an der Wand übertragen.

Admiral Hershew kommentierte den Vorschlag gelassen.

»Na ja … das macht unser Siedlungsgebiet ziemlich klein, würde ich sagen. Gute zweitausend Kilometer unbefestigte Grenzlinie, der Rest Flüsse, Seen und Meer. Das ist ziemlich effektiv, Sie könnten den größten Teil des Heeres an der Landgrenze konzentrieren. Wenn wir die Flotte aufstocken, könnten wir die nassen Außengrenzen relativ problemlos überwachen. Den Suezkanal sollten wir durch Atomsprengungen noch auf einen knappen Kilometer verbreitern, ebenso den Bosporus, denke ich. Mir persönlich wäre im Nordosten der Ural als natürliche Grenze grundsätzlich lieber, aber das würde wohl unsere Ressourcen übersteigen. Die Landgrenze würde sich verdreifachen.«

Pjotrew nickte.

»Wir haben Weißrussland und die Ukraine als Kornkammern, den Atlantik als Fischrevier und große Teile Russlands als Farmland zur Verfügung. Um die Menschheit in ihrer derzeitigen Stärke zu ernähren, reicht das bequem aus. Ich schätze, auf dem Novost Mir-Gebiet können wir über einhundert Millionen Menschen ernähren. Wir sollten die Landgrenze in Russland mit Aerosol-Bomben auf einem breiten Streifen, vielleicht fünfhundert Meter, komplett einebnen. Erst hinter der Ural-Linie sollten wir mit Atomwaffen arbeiten. Auf der Linie der türkisch-syrischen Grenze in Verlängerung zum Kaspischen Meer könnten wir einen massiven Strahlengürtel legen, da kommt kein Zed durch. Ebenso auf der Linie von der Nordspitze des Kaspischen Meeres zum Ural. Damit würden wir in dieser Region unüberwindliche Hindernisse schaffen.

Ich würde in dieser Gegend auch dazu übergehen, die Brennstäbe aus sämtlichen Reaktoren dort in geringer Tiefe unter dem Erdboden zu lagern. So schaffen wir eine wirksame Vernichtungszone.«

Je weiter der General seine Ausführungen erläuterte, desto stiller wurde es im Raum. Die Berater und Offiziere der subalternen Ebenen hatten das Sprechen völlig eingestellt, man hörte kein Tastaturgeklapper mehr, selbst in der Einsatzzentrale, von der aus man den großen Monitor hinter Gärtner sehen konnte, wurde es ruhiger, weil alle gebannt auf den Bildschirm starrten. General Gärtner fand als Erster Worte.

»Pjotrew, Sie reden hier davon, große Teile der Welt auf ewig zu verstrahlen und unbewohnbar zu machen. Der größte Teil Ihrer Heimat ist darunter. Und kein Mensch weiß, was das für langfristige Folgen hat.«

Der Russe zeigt sich völlig unbeeindruckt. Ohne eine Miene zu verziehen, antwortete er kalt und emotionslos.

»Meine Heimat ist die Neue Welt, die wir gerade kreieren. In Asien warten Milliarden von Zombies darauf, das letzte Frischfleisch zu ergattern. Wenn wir nichts tun, werden wir alle sterben. Und wenn wir alle tot sind, wird über kurz oder lang sowieso sämtliche Radioaktivität freigesetzt, die wir jetzt noch kontrollieren.

Spätestens in ein paar tausend Jahren zerfallen unsere Anlagen und Bunker und viel Radioaktivität wird freigesetzt.

Das ist also keine Frage des Ob, sondern lediglich des Wann. Ich bin dafür, es jetzt zu tun, um überleben zu können.

Wenn wir unsere taktischen Atomwaffen gezielt und planmäßig unter Berücksichtigung der Umwelteinflüsse einsetzen, sollte es möglich sein, im gesicherten Gebiet einigermaßen komfortabel leben zu können.«

General Deng, der bislang sehr zurückhaltend gewesen war, applaudierte leise und etwas gekünstelt. Alle starrten ihn an. Er lächelte milde und meinte, Pjotrew zugewandt:

»Verehrter Kamerad, General Pjotrew. Ich habe das russische Militär schon immer wegen seiner Effektivität bewundert. Die Tatsache, dass Ihre Führung stets in der Lage war, unter völliger Ausblendung menschlichen Schicksals militärische Ziele umzusetzen, war für uns in China stets Anlass, dieses Verhalten nachzuahmen. Sie richten den Blick auf das Wesentliche, und ich stimme Ihnen unumwunden zu.«

Gärtner fühlte sich erschlagen. Da saßen sie nun zu viert um einen Tisch herum und planten einen nuklearen Holocaust, so, als handele es sich um das Herbstmanöver der NATO. Natürlich war ihm bewusst, dass sie zu drastischen Schritten gezwungen waren, und Gärtner war weiß Gott kein Weichei und nicht eben zimperlich, aber was hier beschlossen wurde, das konnte und würde die Welt auf tausende von Jahren hinaus verändern. Er sah den Amerikaner an.

»Admiral Hershew, Ihre Meinung?«

»Tja, es klingt bitter, aber Pjotrew hat recht. Jetzt oder nie.«

»Nun gut«, erwiderte Gärtner, »dann notiere ich General Pjotrews Vorschlag als angenommen. Lassen Sie Ihren Stab entsprechende Pläne ausarbeiten, die wir dann noch einmal diskutieren. Ich sehe da allerdings noch ein Problem, mit dem wir uns in naher Zukunft beschäftigen müssten. Um die Ostgrenzen zu sichern, müsste General Pjotrew einen großen Teil seiner Landstreitkräfte in der Grenzregion binden. Gleichzeitig stehen wir aber vor der riesigen Aufgabe, unser Siedlungsgebiet räumen zu müssen. Das bereitet mir einige Sorgen. Da sind Städte wie London, Moskau, Berlin, Madrid, Paris und so weiter. Wenn wir hier einen Häuserkampf riskieren, sind unsere Kräfte auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gebunden. Wir können hier im Herzen unseres Gebietes auch keine Atomwaffen einsetzen. Gibt es da Lösungsvorschläge?«

Wieder war es General Deng, der sich freundlich lächelnd nach vorn beugte. Er stützte sich auf seine Ellenbogen und sprach mit leiser Stimme.

»Vielleicht kann ich hier etwas beisteuern, meine Herren: Die Volksrepublik China hatte in den letzten zehn Jahren viel damit zu tun, auf dem Gebiet der Kernwaffenforschung neue Erkenntnisse zu gewinnen.

In einigen, speziell dafür errichteten geheimen Anlagen haben unsere Wissenschaftler eine Waffe entwickelt, die wir als Lěng hu bezeichnen, was so viel wie Kaltes Feuer bedeutet. Es handelt sich hierbei um modifizierte Neutronenbomben von etwa einer Kilotonne Sprengkraft, die über einem bestimmten Gebiet in etwa einem Kilometer Höhe gezündet werden und deren Explosion so gut wie keine Sachschäden verursacht. Es werden kaum Alpha- bis Gammastrahlen freigesetzt, dafür jedoch eine extrem hohe Menge an Neutronen. Wir haben beim Bau auf bestimmte Theorien des Wissenschaftlers Wilhelm Reich zurückgegriffen, ich bin sicher, mit seinen Ergebnissen der ORANUR-Testserie sind Sie vertraut, unsere Forscherteams haben bei der Konstruktion der Waffe auf diese Daten zugegriffen.«

Dem Admiral fiel der Kugelschreiber aus der Hand. Sofort bückte sich ein Adjutant danach.

»Sie haben eine verdammte DOR-Bombe gebaut? Das ist nicht Ihr Ernst, oder? Wie sind Sie an die Daten gekommen, das war Top Secret!«

»Ich bitte Sie, Admiral.«

Höflich erwiderte Deng den Einwurf des Admirals mit dem ewig gleichen milden Lächeln einer Flugzeugstewardess, und seine Stimme war ein von wenigen Modulationen durchbrochener Singsang.

»Was ist schon geheim in einer rundum vernetzten Welt? Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es im Pentagon Abteilungen gab, die mit unserer diesbezüglichen Arbeit bestens vertraut waren. Aber ich denke, wir sollten unsere Bestürzung etwas zurückstellen, denn das, was sich noch vor knapp zwei Jahren als extreme Bedrohung erwiesen hätte, könnte schon jetzt Teil einer Lösung für uns alle im Kampf gegen den gemeinsamen Feind sein. Würden Sie mir da nicht zustimmen wollen, Admiral?«

Der Amerikaner entspannte sich einigermaßen, sah in die Runde und meinte:

»Na ja, Sie haben Recht, General. Sie haben Ihre alte Heimat verloren, meine ist auch Vergangenheit. Nutzen wir also alle Ressourcen, um uns eine neue Heimat zu bauen.«

General Gärtner hatte die Ausführungen Dengs mit Interesse verfolgt. Er hakte nach.

»Wie können wir Ihre Waffe zu unserem Vorteil nutzen, und in welchem Umfang steht sie uns zur Verfügung?«

»Nun, da diese Technologie noch in der Erprobung steckte, als diese schreckliche Seuche uns heimsuchte, ist der Vorrat an einsatzfähigen Bomben begrenzt. In unserem Versuchslabor im Norden der Provinz Qinghai existieren vierundzwanzig Serienmodelle und ein Prototyp. Auf diese könnten wir eventuell Zugriff nehmen, wenn wir ein speziell ausgerüstetes Team dorthin schicken. Die Wirkungsweise der Bomben ist mit einfachen Worten folgende: Durch die Detonation wird eine auf bestimmte Weise modellierte Druckwelle erzeugt, die eine Art Halbschale bildet und die radioaktiven Elemente ablenkt.

Die freigesetzte Neutronenstrahlung ist bedingt durch die spezielle Bauweise der Bombe mit Deadly Orgon-Informationen programmiert, das bedeutet, sie löscht nicht nur jedes organische Leben im Wirkungskreis aus, sondern verhindert auch die Reorganisation morphogenetischer Felder.

Das heißt im Klartext, die bestrahlten Zonen sind absolut lebensfeindlich und können von uns auch nicht wieder besiedelt werden. Wir wären nach dem Einsatz der Waffe gezwungen, die Einsatzgebiete auf unbestimmte Zeit zu sperren beziehungsweise diese mit speziell konstruierten Orgon-Akkumulatoren wieder zu rekonfigurieren, was sie wieder vollauf nutzbar machen würde. Die DOR-Wirkung bleibt grundsätzlich auf den Explosionsradius beschränkt, das dürfte bei den vorhandenen Prototypen ein Radius von etwa fünf Kilometern sein.

Wenn wir also mit unseren Bomben die großen Städte bestrahlen, können sich unsere Truppen im Wesentlichen auf die kleineren Siedlungen beschränken.«

Gärtner fragte noch einmal nach:

»Sie sagen, diese kalte Neutronenstrahlung löscht alles Leben aus. Wie ist es dann mit den Zeds, die sind doch tot? Wirkt das da überhaupt?«

»Verehrter Kamerad General Gärtner. Ich möchte Sie hier nicht belehren, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aber vielleicht sollten wir alle unser Verständnis vom Begriff Leben überdenken. Sicher, die fleischlichen Hüllen, gegen die wir kämpfen, zeigen keine uns bekannten Anzeichen für Leben. Sie haben keinen Herzschlag, keinen Puls, sie bluten nicht, empfinden nicht. Und obwohl ihr Fleisch tot ist, verarbeiten sie offenbar Sinneseindrücke wie Sehen, Hören, Riechen. Sie äußern Laute, obwohl sie keine Sprache haben und uns nichts mitteilen. Sie sind nicht am Leben, wie wir es kennen. Dennoch bewegen sie sich, fressen sogar, obwohl wir nicht erkennen würden, dass sie ihre Nahrung auch verdauen. Sogar Zeds, deren Eingeweide auf dem Boden schleifen, fressen. Ist das nicht seltsam?

Es gibt also etwas, das sie dazu veranlasst, sich zumindest teilweise zu verhalten, als wären sie am Leben. Wahrscheinlich simuliert das Virus Z1V31 in ihren Körpern das Leben an sich.

Das Virus ist also gewissermaßen ein Autofahrer, der eine Fleischkarosse steuert. Das Leben ist also in dem Virus, auch wenn dieses unter dem Elektronenmikroskop nicht als lebend im herkömmlichen Sinne identifiziert werden würde.

Aber genau an diesem Punkt könnte die DOR-Information in der Neutronenstrahlung ansetzen. Sie eliminiert jegliches Leben, selbst das Prinzip Leben als potenzielle Möglichkeit wird ausgelöscht.

Wenn die Zeds also in den Bereich der Strahlung kommen, wird die Strahlung die Informationskette des Lebens, das morphogenetische Feld, auflösen. Die Toten sind dann wieder Leichen. Sonst nichts. Wenn das DOR-Feld übrigens nicht rekonfiguriert wird, bleibt dann der gesamte bestrahlte Sektor gewissermaßen eine destruktive Zone für jeden Zed, der diesen Bereich betritt.

Er kommt nicht besonders weit, da seine Lebensenergie ihm durch das Feld entzogen wird.«

»Soweit die Theorie …«, mutmaßte Gärtner.

»Richtig. Das ist natürlich bislang nur Theorie. Die Wirkungsweise der Waffe auf lebendes Gewebe wurde nachgewiesen, doch inwieweit die Wirkung auf Z1V31-verseuchtes Gewebe gleich oder ähnlich ist, müsste in einem Versuch nachgewiesen werden. Ich würde daher vorschlagen, diesbezüglich einen Test anzuberaumen.«

»Wann sind die Waffen verfügbar?«

»Wir müssten ein gepanzertes Fahrzeug in die Provinz bringen, die Testanlage öffnen und die fünfundzwanzig Bomben requirieren. Für Material, Besatzung, Fahrzeug und Sturmtrupp müsste ich drei Transall-Maschinen runterschicken, diese müssten wir in der Luft betanken. So könnten wir die Waffen in zwei Wochen hier haben.«

Gärtner überlegte.

»Was das Fahrzeug angeht, da haben wir ja etwas Brauchbares. Der Hulk kann die gesamte Ladung mit einer Tour vom Testgelände zum nächsten Flugplatz bringen. General Deng, arbeiten Sie bitte einen detaillierten Plan für diese Operation aus, ich rufe Leutnant Falkner und sein Team zurück. Die einzige Frage, die sich mir stellt, ist die, wo wir den Test durchführen.«

Er blickte auf die Karte auf dem großen Bildschirm und ließ den Blick hin und her schweifen. Pjotrew kam ihm zuvor.

»London. Ist groß und weit genug weg, aber auch nicht zu weit. Ergebnisse lassen sich gut überprüfen.«

Gärtner blickte fragend in die Runde. Alle Entscheidungsträger nickten.

»Also gut. Der Versuch in London soll Anfang November stattfinden. Bis dahin haben wir noch einiges zu tun, meine Herren. Sonst noch etwas?«

Da keine weiteren Wortmeldungen kamen, löste Gärtner die Runde auf. Er ging rüber in sein Büro, das ein paar Gänge weiter lag. Jetzt brauchte er erst einmal einen Whisky. Und eine Zigarre.

Jahr Eins. 23. September, Morgen

Mit großer Genugtuung hatte Alv Bulvey registriert, dass seit dem massiven Einsatz der Landstreitkräfte die Zombieangriffe am Refugium merklich zurückgegangen waren. Seit vier Tagen hatten sie in unmittelbarer Nähe keine umherziehenden Zeds mehr registriert und das Dorf lag still und ruhig da. Fast konnte man so etwas wie eine romantische Stimmung empfinden, wäre da nicht das völlige Fehlen der üblichen Sommergeräusche. Kein Vogel zwitscherte, kein Hund bellte, kein Muhen der Rindviecher aus der näheren Umgebung. Die einzigen Tiere, die vermehrt auf sich aufmerksam machten und zu nervtötend großer Präsenz anwuchsen, waren Fliegen. Auch die Mücken, die hier zum Glück nicht zu oft vorkamen, konnten ein Problem sein, zumindest theoretisch. Der Schutz gegen Mücken hatte im Refugium oberste Priorität. Man wusste zwar nicht genau, ob sie Zeds stachen und das Virus übertragen konnten, doch besser, man ließ es gar nicht erst darauf ankommen. Alle Betten waren mit Moskitonetzen abgehängt, überall in den Häusern standen Zitronengeranien und die Kerzen wurden mit Melissenöl versetzt, weil dieser Duft die Mücken verscheuchte. Alle Bewohner rieben sich täglich mit Anti-Mücken-Salbe ein, die sie selbst herstellten.

Dieser Tag war einer der angenehmeren Sorte. Die Sonne schien, es gab ein paar Schäfchenwolken am Himmel, die Temperaturen waren ausgesprochen mild und obwohl Tagundnachtgleiche war, konnte man den nahenden Herbst noch nicht erahnen. Es roch auch noch nach Sommer, zumindest, wenn man den Bahngleisen oben am Dorfeingang nicht zu nahe kam. Dort roch es nach Tod und Verwesung. Ein Wall von über vier Metern Höhe und fast fünfhundert Metern Länge, errichtet aus tausenden von Zombiekadavern, rottete dort oben im Schotterbett vor sich hin, zerfressen von Fliegenlarven, ein gigantischer stinkender Haufen aus totem Fleisch und wimmelnden Maden. Überall ragten abgenagte Knochen und von der Sonne gebleichte Skelettteile aus diesem Monument des Schreckens heraus, und bisweilen gaben einige Stellen nach, sodass Teile des Walls abrutschten, was Myriaden von Fliegen aufscheuchte. Wie ein kalbender Gletscher schmolz der Berg aus Fleisch und Knochen mittlerweile zusammen, da der Nachschub langsam versiegte. Den Bewohnern blieb letztlich auch nichts weiter übrig, als die eliminierten Zeds hier zu lagern, denn eine Vernichtung all dieser Leiber hätte viel zu viel Treibstoff gekostet. So ließ man sie hier einfach verwesen, zumal dies anscheinend auch die Zombies in gewissem Rahmen davon abhielt, sich weiter ins Dorf vorzuarbeiten. Wenn der Wind von Ost auf West drehte, wurde der Pesthauch dieser Obszönität ins Dorf getrieben, was zum Glück nur selten passierte. Meist trieb der Westwind den Brechreiz erregenden Gestank glücklicherweise vom Refugium fort.

Das Frühstück war vorüber und im Refugium gingen die Bewohner der täglichen Routine nach. Die Pflege der Gartenanlagen stand zurzeit im Vordergrund, auch das Einmachen von Lebensmitteln und die Versaftung der Früchte aus Garten und Umgebung hatten Priorität. Die Drei-Mann-Teams, die in der weiteren Umgebung jeden Tag nach Vorräten und Hilfsmitteln suchten, kamen dank des T93-Schutzes inzwischen mit leichter Bewaffnung aus, nur mussten sie mittlerweile immer weiter raus fahren, um erfolgreich zu sein. Glücklicherweise mussten sie nicht primär nach Lebensmitteln suchen, denn die Gemeinschaft erzeugte fast alles, was sie verzehrte, auch selbst. Auf Fleisch verzichtete man halt weitgehend, nur hin und wieder brachten die Teams aus entlegeneren Gegenden Konserven mit, die in den Eintopf wanderten. Wichtig waren zur Zeit so banale Dinge wie Einweckgläser, Schnapsflaschen mit Metalldeckeln, Konservengläser und ähnliches Geschirr, das sich zum Einkochen eignete. In vielen Supermärkten fanden die Einholer, wie die Teams im Refugium genannt wurden, größere Mengen an Gewürzen und Essig, dies waren wichtige Bestandteile zur Fischkonservierung und die Plünderer der ersten Invasionstage hatten daran wenig Interesse gefunden.

Der Fisch hatte sich in der Gemeinschaft zur Eiweißquelle Nummer eins gemausert. Er war nicht infiziert, und seit keine Schiffe mehr im Nord-Ostsee-Kanal fuhren und das Gewässer nicht mehr von Sportanglern genutzt wurde, gediehen hier die Fische wie nirgendwo sonst. Die Angehörigen der Gesellschaft des Willens im Refugium wussten den Fischreichtum ihrer Umgebung sehr zu schätzen, und selbst wer vor der Apokalypse keinen Fisch mochte, der konnte sich ihn nun nicht mehr vom Teller wegdenken. Auf der Speisekarte ging es dabei durchaus abwechslungsreich zu. Es gab Aal, Zander, Hering, Rotaugen und Aland, aber auch Karpfen und Forellen sowie Hechte kamen häufig vor. Während man Hering roh oder gebraten in Gewürzessig einlegte, wurden Aale und Zander häufig geräuchert. Dafür gab es auf dem Hof einen großen Edelstahlschrank, der, wenn er in Betrieb war, das Gelände in würzigen Qualm einhüllte, der einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Die anderen Fische wurden meist sofort verarbeitet und gebraten oder gekocht verzehrt. Im Kanal selbst hatten die Bewohner große Reusen gesetzt, die im Uferbereich der Kanalweiche bei Fischerhütte standen und meist einmal täglich geleert wurden.

Mit Angelruten wurde in den Seitengewässern, Zuläufen und in den vielen Sportangelteichen der Umgebung gefischt, wenn der Druck durch die Zombies nicht zu groß war.

Zwar wurde der Pionierzug, der im Refugium residierte, von seiner Einheit mit Dauerkonserven versorgt, aber die Soldaten hatten inzwischen den frischen Fisch durchaus zu schätzen gelernt. Alv hatte sie das Angeln gelehrt, und so konnten die Wachposten auf der Kanalbrücke einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen, wenn nicht gerade Alarm war. Dort oben auf der Brücke kam es immer mal wieder zu sinnlosen Durchbruchsversuchen der Zombies, und auch die Kanalufer waren immer wieder voller Zombies, die gierig sabbernd nach dem nördlichen Ufer schielten, wo die Menschen Patrouille gingen. Die Sniper der Armee saßen oft am Nachmittag dort drüben und erledigten reihenweise Zombies vom anderen Ufer aus. Allerdings hatte die Heeresleitung auf Bestreben von Hauptmann Ginsberg den Bereich von Kanalkilometer dreißig bis vierzig ausdrücklich mit einem Abschussverbot belegt. Nicht nur die Bewohner des Refugiums, auch der Hauptmann wollten nur ungern an einem Kanalufer fischen gehen, an dem überall Zombiekadaver verwesten. Zwar ging von ihnen keine direkte Gefahr aus, mit dem Z1V31-Virus infiziert zu werden, aber wer holte schon gern sein Essen vom Friedhof. Da die Zombies auch nicht lange an einem Ort blieben, zogen sie meist am Ufer des Kanals entlang und wurden dann in Oldenbüttel oder Bornholt Opfer der Scharfschützen. Manchmal trieben die Soldaten der Eroberungstruppen es auch ziemlich bunt, dann nahmen sie die Schalldämpfer von ihren Sturmgewehre ab, um die Zeds zu reizen. Wenn dann eine Horde angerannt kam, mähten sie diese um oder zerfetzten sie mit ihren Vierzig-Millimeter-Gewehrgranaten.

Zed-Party nannten sie das dann.

Dieses Verhalten wurde von Vorgesetzten im Allgemeinen nicht gern gesehen, aber geduldet. Wenn es schon keine Nutten für die Kämpfer gab, sollten sie sich wenigstens so abreagieren können.

An diesem Tag war es erstaunlich ruhig an den Ufern der einst meistbefahrenen, künstlichen Wasserstraße der Welt. Die Morgenpatrouille hatte keine Zeds gemeldet, am Wasser unten liefen nur vereinzelt einige Untote herum, die sich für die Patrouille nicht interessiert hatten. Ein guter Tag zum Fischen.

Alv schnappte sich ein Fahrrad mit Anhänger, schulterte eine Armbrust und legte seine HK417, die er vom verstorbenen Oberst Berger übernommen hatte, in den Anhänger. Schalldämpfer und Ersatzmagazine trug er in einer MilTec-Weste am Mann. Am Gürtel trug er ein schweres Anaconda-Kampfmesser, das Birte ihm gegeben hatte. Auch das Messer hatte Berger gehört, und mit dem Einverständnis von Bergers Leuten hatte Birte es erhalten. Für sie war das Messer jedoch viel zu schwer, deshalb hatte sie es Alv geschenkt, der sich darüber sehr gefreut hatte. Er trug es, wie einst Oberst Berger, immer am Mann und nutzte es dauernd. Birte fand, das war eine gute Würdigung ihres verstorbenen Geliebten. Eckhardt und Birte kamen zum Tor, ebenfalls mit Fahrrädern ausgerüstet, die drei hatten vereinbart, gemeinsam nach den Reusen zu sehen. Auch Eckhardt hatte einen Anhänger mit Deckel am Fahrrad, hierin transportieren sie ihren Fang. Natürlich hätten sie auch ein Auto benutzen können, doch die beiden alten Herren nutzten jede Gelegenheit, um mit dem Rad unterwegs zu sein und etwas Bewegung zu bekommen. Besonders Eckhardt war ein passionierter Radfahrer, und als sie die Räder besorgt hatten, war er es gewesen, der insgesamt zehn hochwertige Mountainbikes mit viel Zubehör und einer riesigen Kiste voller Ersatzteile ausgesucht hatte.

Sie hatten vor, über einen Weg, der durch eine Siedlung namens »Klein Amerika« führte, runter zur Kanalweiche zu fahren, denn dort lag an einer der großen Holzdalben mitten im Kanal ihr Ruderboot, mit dem sie die Reusenstandorte jeweils abfuhren. Das Trio radelte in moderatem Tempo durch die von Knicks und Hecken gesäumten Wirtschaftswege, die teilweise zugeweht waren mit dem Laub des letzten Jahres. Seit hier keine Fahrzeuge mehr fuhren und der Seitenstreifen von den Landwirten nicht mehr gemäht wurde, hatte die Natur im Eiltempo damit begonnen, ihr Territorium zurück zu erobern. Die Ränder der Fahrbahn waren schon längst nicht mehr gerade, wucherndes Gras ließ die Konturen langsam verschwimmen. Als sie einen der Bauernhöfe am Wegesrand passierten, konnte man auch hier die Kraft der Natur erkennen. Der große Offenstall, in dem einst über zweihundert Milchkühe gestanden hatten, war in etwas verwandelt worden, das man am besten mit dem englischen Begriff Boneyard beschrieb. Die Kühe waren alle infiziert worden und mit der Zeit jämmerlich in der stählernen Gefangenschaft verreckt. Überall lagen Knochen verstreut, die entweder von Zombies oder Fliegen abgenagt worden waren, oder von den infizierten und Amok laufenden Kühen selbst.

Aus den Dachrinnen der Gebäude wucherte Gras, das Haupthaus, dessen Fenster geborsten waren, war mehr und mehr dem Wetter ausgesetzt, ein Elektrobrand hatte das Obergeschoss verwüstet und die Mauern schwarz gefärbt.

Alv erinnerte sich, dass er von diesem Anwesen mit dem Einholer-Trupp Werkzeug, Treibstoff und Konserven geholt hatte, aber auch Reinigungsmittel, Textilien und Möbelstücke sowie Verstärkung für den Wall aus Strohballen, der das Refugium umgab.

Das gesamte Anwesen sah aus, als sei es bereits Jahrzehnte verlassen. Überall auf dem verlassenen Hof war Papier und Plastik verweht, es roch stark nach Buttersäure, verursacht durch einen großen Haufen Maissilage, der mittlerweile verdarb.

Türen, von denen die Farbe blätterte, hingen schief in den Angeln, auf der Wäscheleine im Hinterhof hingen Reste zerfetzter Wäsche. Das Schicksal der Familie des Besitzers war ihm nicht bekannt, aber er konnte es sich gut vorstellen.

Vielleicht lagen diese Leute sogar inzwischen auf dem großen Haufen auf den Gleisen am Dorfeingang. Auf den Höfen, die sie im weiteren Verlauf der Fahrt passierten, sah es ähnlich aus. Tod, Zerstörung, Verwüstung wohin man schaute. Eine halb fertiggebaute Remise mit unbenutzten Solarelementen auf dem Dach, eingestaubte und verdreckte Landmaschinen auf den Hofplätzen, Reste toter Tiere überall in den Ausläufen.

Matschige und stinkende Silagehaufen, aus denen braune Suppe sickerte, Teile wirkungsloser Barrikaden vor und hinter zertrümmerten Türen und Fenstern. Verwehtes Laub, das auf den Hofplätzen runde Ecken schaffte, Wildkrautwuchs statt Blumenrabatten, der Zerfall bahnte sich unaufhaltsam seinen Weg.

Während er seinen Weg fortsetzte, sinnierte Alv darüber, wie gravierend die Veränderungen sein mochten, die das Zombievirus mit sich gebracht hatte.

Offensichtlich hatte es ja nicht nur die Menschen getötet, sondern auch einen Großteil der höheren Wirbeltiere. Ob jetzt tote Blauwale durch den Ozean pflügten auf der Jagd nach Haien?

Gut, das mochte utopisch sein, dachte Alv, aber es gab Dinge, die ganz spezifisch seine persönliche Situation betrafen. Während sie nebeneinander her radelten, meinte er zu Eckhardt:

»Schon seltsam, oder? Ein Sommer ohne Vögel.«

»Ja. Man wird nicht morgens um Viere vom Geschrei dieser Viecher geweckt.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ja, schon. Ich denke auch, dass diese Situation noch ernste Veränderungen bringen wird. Es fehlen ja nicht nur die Vögel. Auch Mäuse, Ratten, Katzen, Marder, Füchse, ja sogar Schweine, Kühe und Rehe und so weiter. Ich glaube, unser Ökosystem wird sich erheblich verändern. Die nächsten Herrscher des Planeten werden wohl die Insekten sein.«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Was ist, wenn wir einfach nicht genug sind, um damit fertig zu werden? Haste den Film Phase IV mal gesehen? Ich meine, wenn der Mensch als Leitspezies nahezu wegfällt und ebenso viele höhere Wirbeltiere, wird dann die Natur nicht danach streben, eine neue Spezies an die Spitze zu stellen? So ganz wohl ist mir bei dem Gedanken nicht, nach den Zombies irgendwann gegen Ameisen zu kämpfen.«

Birte, die rechts außen in der Dreierreihe fuhr, meinte:

»Aber das wäre ja furchtbar. Dann wäre doch unser ganzer Kampf umsonst. Ich glaube, dass die Menschheit sich von dieser Katastrophe erholen wird. Wir werden uns hier in Europa eine neue Welt bauen müssen, und darum werden die Menschen lernen, zu kooperieren. Vielleicht können wir in einigen Generationen eine friedliche Konsens-Gesellschaft aufbauen. Eine Gesellschaft, wie wir sie im Refugium haben. Mitfühlende, willensstarke Individuen, die konstruktiv zusammenarbeiten. Aber das mit der Verschiebung in der Nahrungskette ist tatsächlich etwas, worüber man ernsthaft nachdenken muss …«

Alv lachte. Auch Eckhardt grinste

»Waaas?« Birte schüttelte den Kopf.

»Konstruktiv zusammenarbeiten«, äffte Alv die junge Frau nach.

Eckhardt setzt nach.

»Du bist jung und voller Elan, Birte. Und nebenbei ein sehr hübsches …«

»ECKHARDT!« Das kam von Alv. Er schüttelte den Kopf, zog die Brauen hoch und grinste.

»Ähhm, also, ja. Voller Elan, wie die Juuchent nunmal ist. Alv und ich hatten früher auch solche Ideen. Sicher, an einem Punkt wie diesem könnte die Menschheit umdenken. Einige Individuen tun das sogar. Aber warte mal ab, was davon übrig bleibt, wenn erst der Fernseher wieder läuft. Ich hab da wenig Hoffnungen.«

Alv pflichtete ihm bei.

»Es wird sich nichts wesentlich ändern. Die Menschheit hat einen Schlag ins Kontor bekommen, das ist nicht das erste Mal und wird wohl auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Aber ein radikales Umdenken gab es nie wirklich. Im Gegenteil, mit jedem Mal wurde es im Grunde schlimmer. Und wenn die Militärs die Siedlungsgebiete befriedet haben, dann wird es eine vollüberwachte Gesellschaft geben, in der die Militärs Computer haben, das Volk jedoch nicht.

Vielleicht führen sie dann sogar die Stasi wieder ein, wer weiß? Aber darauf werden wir vorbereitet sein, damit kann man strategisch und auch taktisch umgehen.

Mehr Sorgen bereitet mir diese Insektengeschichte. Das könnte wirklich ein ernst zu nehmendes Problem werden.«

»Das macht mir Angst.«

Inzwischen waren sie am Kanal angekommen und stiegen von den Rädern. Links und rechts von ihnen lungerten in einiger Entfernung einige lahme Zeds herum, aber dank des T93-Gens zeigten sie keinerlei Interesse an den Menschen. Während Eckhardt der Gruppe Deckung gab, zog Alv über ein im Schilf verstecktes Seil das Boot langsam heran und sie stiegen ein. Obwohl die Zombies noch immer nicht schwimmen gelernt hatten und die drei somit auf dem Wasser sicher waren, trug jeder von ihnen geladene Waffen mit Schalldämpfern bei sich. Sollte eine Bedrohung entstehen, konnten sie gezielt einzelne Zeds ausschalten, ohne gleich eine Stampede auszulösen. Gemächlich ruderte Alv das Boot zwischen den Dalben und dem Uferstreifen auf die Styropor-Bojen zu, die das Aufnahmeseil der Reusen markierten. Eine Reuse nach der anderen steuerten sie so an, bis nach etwa einer Stunde der gesamte Fang im Netz lag, das außen am Boot befestigt war. Sie hatten ein gutes Dutzend Aale gefangen, von denen die Hälfte deutlich über ein Pfund wog, dazu einige Rotaugen und sogar einen recht kapitalen Karpfen. In eine der Reusen in Ufernähe hatten sich sogar drei Zander verirrt, gar nicht mal so klein, was Alv befriedigt zur Kenntnis nahm.

Als er zum Ufer blickte, sah er, dass sich inzwischen eine stattliche Anzahl an Zeds am Ufer versammelt hatte und dort ziellos umher zottelte. Auch ein gutes Dutzend Jäger-Zeds trieb sich in der Nähe der Fahrräder herum, möglicherweise hatte der Fischgeruch der Anhänger sie angelockt. Alv sah Eckhardt an.

»Kill or Chill?«

Der grinste und antwortete: »Chill.«

Sie legten ihre Waffen weg und bereiteten die Angelruten, die immer im Boot lagen, vor. Birte wollte etwas sagen, doch Alv legte den Finger auf die Lippen und verdrehte die Augen Richtung Ufer, wo die Jäger-Zeds aufgeregt und ziellos umher schnüffelten. Dann bestückte er die erste Angel mit einem Kunstköder und warf sie aus. Er drückte Birte die präparierte Rute in die Hand. Dann deutete er mit zwei Fingern auf seine Augen und sodann auf die Pose, die im Wasser dümpelte. Birte verstand und grinste. Nun warfen die beiden Männer ihre Angeln aus, das Platschen der Köder verwirrte die Jäger-Zeds und ließ ihre Köpfe herum rucken. Sie mussten verdammt hungrig sein, wenn sie so nervös waren. Und in der Tat, das waren sie.

Einer der lahmen Zombies stieß in seinem unkoordinierten Vorwärtsdrang gegen eine Getränkedose, die auf dem Zementplattenweg lag und nun scheppernd davonrollte. Das war sein Verhängnis. Ohne Verzögerung stürzten sich ein halbes Dutzend Jäger-Zeds auf das Stück Fleisch und rissen es förmlich auseinander. Sie knurrten und schmatzen laut, das Opfer gab keinen Laut von sich. Stück für Stück rissen sie den Zombie auseinander, fraßen sich an seinem Fleisch und seinen Eingeweiden satt. Einer griff in die Augenhöhlen, die Augäpfel platzten wie reife Mirabellen. Dann riss er den Kopf einfach nach oben und unten entzwei und stürzte sich auf den Inhalt des Schädels. Schlürfend und mit furchtbaren Sauggeräuschen inhalierte er förmlich die Gehirnmasse des anderen Zombies, und als der Schädel nichts mehr hergab, keckerte er geifernd und triumphierend, wobei ihm ein Teil seiner Beute aus seiner aufgerissenen Kehle wieder entglitt. Sofort war ein anderer Jäger-Zed da, um die Brocken und den Schleim aufzufressen, dabei verbiss dieser sich in den Fleischfetzen am Hals des anderen und begann nun seinerseits, den Artgenossen anzufressen. Das registrierten auch die übrigen Jäger-Zeds und stürzten sich nun gierig auf das nächste Opfer, das ebenso zerrissen wurde, wie das davor. Der gefressene erste Zombie wurde nun quasi noch einmal gefressen. Die Situation war grotesk und doch von einer gewissen morbiden, unfreiwilligen Komik. Die beiden Männer im Boot sahen sich grinsend das Drama an. Alv meinte:

»Was meinst du? Wer bleibt über? Attila da links, oder Greta Garbo da hinten?«

»Nö, ich glaub, Winston Churchill da rechts bleibt übrig. Der frisst alle und platzt dann oder so. Aber mal im Ernst, ich hab mal nachgedacht. Hast du je einen Zombie kacken sehen?«

»Nö.«

Irgendwie gelangweilt wandten sich die Männer wieder ihren Angeln zu, während am Ufer eine Horde Zombies dabei war, sich gegenseitig aufzufressen. Da es außer dem Schmatzen und Kollern kaum Geräusche gab, glich das Ganze einer Horror-Pantomime, wie sie vielleicht in einem Stummfilm des vor-vorigen Jahrhunderts hätte dargestellt sein können.

Birte wusste im Moment überhaupt nicht, was sie davon noch halten sollte. Sie schüttelte den Kopf und sah auf ihre Pose, die, völlig unbeeindruckt von dem Massaker an Land, im Wasser des Kanals dümpelte.

Im Wasser spiegelte sich die Mittagssonne und zauberte hübsche Lichtreflexe darauf.

Jahr Eins. 02. Oktober, Mittagssonne

Inzwischen hatte sich die gesamte amerikanische Flotte in den Gewässern um die Insel Helgoland eingefunden, ebenso versprengte Flottenteile anderer Nationen. Alle Schiffe, die sich der New World anschließen wollten, mussten vor der ostfriesischen Küste vor Anker gehen. Dort kamen Clearing-Teams an Bord und prüften penibel den Gesundheitszustand aller Menschen an Bord. Tiere wurden grundsätzlich getötet und die Schiffe wurden von bewaffneten Einheiten vor der Weiterreise von unten bis oben akkurat durchsucht. Nicht ein einziger Infizierter durfte durch diese Kontrollen schlüpfen. Schiffe, die sich ohne mindestens einwöchige Quarantäne-Reede der Insel näherten, wurden automatisch versenkt – ohne Ausnahme.

Inzwischen lagen über dreitausend Schiffe vor Helgoland, an der Buhne lagen die Militärschiffe, die nicht im Einsatz waren, und südlich der Insel lagen Frachter, Bulker, Tanker, Kreuzfahrtschiffe, Autofähren, Spezialschiffe jeder Art und sogar Bargen und Arbeitsplattformen. Selbst eine Bohrplattform war inzwischen auf dem Weg von Norwegen hierher, sie sollte in eine Fischfarm nördlich der Langen Anna umgewandelt werden. Die Fläche der Insel hatte sich inzwischen vervierfacht, für Landgänge benötigten die Menschen von den Schiffen Sondergenehmigungen. General Gärtner frotzelte gern, dass es ihm ohne weiteres möglich sei, trockenen Fußes zum Festland zu kommen, wenn man die Schiffe aneinanderreihen würde, und zwar nebeneinander, nicht hintereinander. In nicht einmal einem Jahr war diese riesige Stadt auf dem Meer angewachsen, und Gärtner war sehr stolz darauf, dass seine Kompetenzteams diese Angelegenheit hervorragend organisierten. Natürlich gab es immer mal wieder Schwierigkeiten und Engpässe, aber grundsätzlich war die Stimmung hier gut, fand er.

Die Schiffe waren in drei Ringen um die Südspitze der Insel angeordnet.

Das innere Segment A bestand aus Passagierschiffen aller Art und bildete einen einhundertzwanzig Grad Bogen. Hier lagen insgesamt fast dreihundertfünfzig Schiffe jeder Größe und Bauart mit Passagierkabinen vor Anker, wobei zwei Schiffe der Oasis-Klasse mit Bruttoraumzahlen von über zweihundertfünfundzwanzigtausend die fettesten Brocken waren. Durch Umbauten und Neustrukturierungen konnten auf jedem dieser Schiffe fast zehntausend Menschen leben. Sehr viel kleiner als die dreihundertsechzig-Meter-Riesen waren die anderen Cruiser auch nicht, im Segment A lebten mittlerweile insgesamt über eine halbe Million Menschen. Diese Raumnutzung, die mit der früheren Besiedelungsdichte Shanghais durchaus mithalten konnte, stellte die Organisatoren täglich vor neue, bis dato unbekannte Herausforderungen.

In dieser Kommune wurde die Funktionalität durch strenge Regeln sichergestellt.

Es herrschte allgemeine Arbeitspflicht, Verweigerung konnte mit Verbannung bestraft werden. Wehrfähige Männer und Frauen, die nicht mit Gemeinschaftsaufgaben betraut waren, wurden zur Armee eingezogen und zu Infanteristen ausgebildet. Kabinen auf den Schiffen wurden per Los vergeben, die Suiten wurden größeren Familienverbänden zugeteilt. Alle Schiffe hatten die Hauptmaschinen deaktiviert, es liefen nur die Hilfsaggregate zur Stromerzeugung. In den Kabinen war Unterhaltungselektronik mit Verbrauchskontingenten von 25 Watt pro Person und Stunde gestattet. Die Theater, Kasinos und Sportanlagen der luxuriösen Schiffe wurden weitgehend in Betrieb gehalten, Restaurants wurden in Kantinen umgewandelt und einige Kneipen und Bars blieben ebenfalls geöffnet. Die Organisatoren hatten relativ schnell ein brauchbares Punktesystem entwickelt, das über codierte Chipkarten die Rationalisierung von Nahrungsmitteln und Vergünstigungen ermöglichte.

Die Menschen in der schwimmenden Stadt hatten sehr schnell verstanden, dass nur Kooperation ein Überleben ermöglichte, und alle waren von der Hoffnung getragen, im nächsten Sommer Norddeutschland und Dänemark besiedeln zu können.

Inzwischen wurde es an Deck der großen Cruiser sogar grün, denn viele Bewohner nutzten die kleinen Balkone der Kabinen, um in Hydrokulturen Kräuter und ein wenig Gemüse zu züchten. Dieses Unterfangen wurde von den Orga-Leitern großflächig unterstützt, die Bewohner bekamen alles dafür Nötige gestellt. Zum Glück war Trinkwasser kein Problem, denn sämtliche großen Cruiser verfügten über Meerwasserentsalzungsanlagen und jeder Tropfen Regenwasser oder Nebel wurde akribisch aufgefangen und sinnvoll genutzt. Die Abwasserentsorgung ließ sich in diesen Mengen, obwohl durch Brauchwasserrecycling in den schiffsinternen Kläranlagen minimiert, nur durch Verklappung regeln, sodass stets Chemietanker zwischen den Wohnschiffen hin und her pendelten, um die Abwassertanks der Ozeanriesen zu leeren. Wenn die Tanker vollgeladen waren, fuhren sie auf die offene See und entluden ihre Tanks in den norwegischen Strom an der dänischen Küste, der die Brauchwasser nach Norden abführte.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, immerhin mehr als eine halbe Milliarde Kilokalorien war nötig, wurde von Zubringerschiffen sichergestellt, eines der Hauptnahrungsmittel war natürlich Fisch, aber auch mit bestimmten Algensorten hatte man gute Erfahrungen gemacht. Eine besonders ausgerüstete Fangflotte machte vor Norwegens Küste Jagd auf Königskrabben, die gesamte norddeutsche Krabbenfangflotte war vor der deutschen Küste unterwegs und eine nicht gerade kleine Flotte von Fischereifahrzeugen aller Art war ständig unterwegs, um Dorsch und andere Seefische zu fangen. Außerdem waren die Schiffe der Segmente B und C für die Versorgung der schwimmenden Stadt, die Gärtner gern in Anlehnung an einen Kinofilm Waterworld nannte, zuständig.

Im Segment B, das vor der Westküste der Hauptinsel eine flache Sichel bildete, waren hauptsächlich produzierende Versorgungseinheiten zusammengeführt. In Küstennähe hatten die Entscheidungsträger des Organisationsteams zwei Dutzend riesige Bulk-Carrier von je über dreihundert Metern Länge nach deren Entladung auf Grund gesetzt. Die gewaltigen Laderäume hatte man geflutet und darin Fischbassins eingerichtet. Die Schiffe der Fangflotte waren mit Bargen ausgerüstet, mit denen sie möglichst viel Fisch lebend zur Insel transportierten. So wurde die Menge an Nahrungsressourcen durchweg vergrößert. Der Totfang wurde sofort verwertet, während der Lebendfang in den über einhundert turnhallengroßen Bassins frischgehalten wurde.

Die fischverarbeitenden Einheiten waren auf den Decks dieser Bulker eingerichtet worden beziehungsweise auf Schiffen, die längsseits lagen. Alle bei der Verarbeitung anfallenden Reste wurden als Futter für die Bassins eingesetzt, außerdem brachten kleinere Bulker immer wieder vom Festland geschrotetes Viehfutter, das sich ebenfalls exzellent als Fischfutter eignete. Im äußeren Gürtel des B-Segments lagen des Weiteren noch über vierhundert Schiffe, die als Lager und Verarbeitungsräume dienten, darunter dutzende Kühlschiffe und eine sehr große Anzahl größerer Containerschiffe, auf denen bis zu fünfzehntausend Container standen. Diese Schiffe waren von der Marine auf hoher See aufgebracht worden. Da sie nur Besatzungen von bis zu maximal dreißig Personen an Bord hatten, konnte man diese Schiffe schnell säubern und sie durch Prisenkommandos nach Helgoland überführen lassen. Bei Schiffen, deren Treibstoff verbraucht war, wurden Tankschiffe und Schlepper gerufen, die das wertvolle Beutegut sicherten. Durch diese Container-Riesen wurden Unmengen an Material zur Insel verbracht, deren Sichtung und Sortierung aufgrund der Ladepapiere relativ zügig vonstattenging. Neben unsinnigen Konsumgütern wie Luxusautos und Handtaschenimitaten wurden aber reichlich brauchbare Dinge requiriert, das ging von der Ladung Antibiotika bis zur montagefertigen Windkraft- oder Entsalzungsanlage. Die Ladungen der Schiffe wurden von den Organisatoren mit sehr viel Phantasie genutzt, und manchmal völlig neuen Verwendungszwecken zugeführt. Kleinere Containerschiffe, die sogenannten Feeder, die sehr mobil waren und wegen des geringeren Tiefgangs alle Häfen anlaufen konnten, wurden im B-Segment auf die großen Containerschiffe entladen, dann setzte die Marine sie wieder ein, um in Rotterdam oder Hamburg neue Container zu besorgen. Die geleerten Container wurden an der Westflanke der Insel gestapelt und als Lagerraum genutzt. Man hatte aus der Ladung der riesigen Bulk-Carrier, meist Eisenerz, Basalt und Granit, zwischen den Schiffen und der Insel eine große Plattform aufgeschüttet, auf der nun die Container gestapelt und miteinander verschraubt wurden. Gegen hohe Wellen war dieser Stellplatz durch die zum Teil mehr als zwanzig Meter hoch aus dem Wasser aufragenden Stahlwände der gefluteten Bulker geschützt. Da stets die untere Lage Container leer blieb bzw. als Rohmetalllager genutzt wurde, konnte selbst eine Sturmflut den Vorräten nichts anhaben. An dieser Stelle wuchs die Insel mit jedem Tag. Auch die großen Tankschiffe, die von Rotterdam hochgebracht wurden, lagen im Segment B, viele dutzend kleinerer Bunkerschiffe fuhren die Tanker täglich an, um Treibstoff auf die stationären Schiffskörper zu verteilen. Alle beweglichen Schiffe, zum Beispiel die des Segments C, fuhren hierher, um Treibstoff zu bunkern.

Sogar ein FPSO Raffinerieschiff, die Pazflor, lag hier im Verbund und war zu einer stationären Ölverarbeitungsanlage umfunktioniert worden. Zwei mobile Großtanker waren stets unterwegs, um vom Ölfördergebiet Viking in der Nordsee Rohöl nachzuliefern, damit genug Treibstoff für die gesamte Flotte bereitstand. Zwischen den Segmenten A und B pendelten täglich tausende von Booten und Kleinschiffen, um die Arbeiter zu den Produktionsstätten zu bringen und sie nach Schichtende zurück zu ihren Wohnschiffen zu transportieren. Im Segment C, östlich der Buhne, lagen alle beweglichen Einheiten. Große, verankerte Pontons aus verschweißten Seecontainern bildeten ein fischgrätenförmiges Muster, das bis zur Landmasse der Buhne reichte und seeseits in zwei langen, schwimmenden Kais endete, die meisten Schiffe lagen jedoch auf Reede in Warteposition im freien Wasser. Die Pontons der Kaianlage waren extrem tragfähig, sodass hier ein reger LKW-Verkehr möglich war. Ständig wurden hier Schiffe entladen; die Waren und Güter, welche an Land von den Prisenkommandos zusammengetragen wurden, kamen hier auf die Insel und wurden im Zwischenlager am Flugplatz gesichtet. Nahrungsmittel und Gebrauchsgüter wurden hier umpalettiert und zu Ladungen in Bulk-Packs zusammengefasst. Die auf der Insel stationierte Hubschrauberstaffel der Marineflieger war tagsüber dann damit befasst, diese Transportpakete an den Haken zu nehmen und sie nach einem ausgeklügelten Verteilungsplan zu den Schiffen zu bringen.

Inzwischen hatte jedes Wohnschiff eine schwimmende Ladeplattform längsseits auf Höhe der seitlichen Ladeluken, sodass die Helikopter ihr Paket hier bequem absetzen, ein Leerpack aufnehmen und es auf der Buhne gegen das nächste Bulk-Pack tauschen konnten. Wenn das Wetter gut und es nicht zu windig war, konnten hunderte Tonnen Gebrauchsgüter, vom Frostgemüse bis zum Toilettenpapier, täglich bewegt werden. Zusätzlich waren kleine Leichterschiffe mit Ladegeschirren zwischen den Schiffen unterwegs. Wenn man aus dem Helikopter auf diese Ansammlung von Schiffen herunterschaute, konnte man glauben, es mit einem Ameisenhaufen zu tun zu haben, denn überall herrschte reger Betrieb, es wuselte hier und da, in jeder Lücke zwischen den großen Schiffen war Bewegung.

Eine Besonderheit war der sogenannte Weiße Riese, ein fester Verbund aus sieben großen Kreuzfahrtschiffen, die alle mehr als dreihundert Meter lang und jeweils mehr als fünfzig Meter breit waren und bis zu sechzig Meter aus dem Wasser ragten. Dieses Konstrukt lag in der – nach der Landaufschüttung entstandenen – künstlichen Bucht zwischen Buhne und Hauptinsel und war umgeben von einem Ponton-Kai, der auch zwischen den Schiffen montiert war. Diese Stadt in Weiß wurde nicht von Helikoptern, sondern ausschließlich von LKW versorgt. Tag und Nacht fuhren die Trucks zu den Ladeluken der Schiffe, um die fast einhundertausend Bewohner dieser Siedlung mit dem Nötigsten zu versorgen.

Den gigantischen Verwaltungsaufwand für diese logistische Sisyphusarbeit bewältigte ein Computerprogramm, das eine Gruppe genialer, junger Leute geschaffen hatte. Als Grundlage hatten sie das Planning and Rolling Info System (PARIS) aus den Computern der Hamburger Hafenverwaltung gehackt und auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft angepasst. Das System arbeitete mit Barcodes, Transpondern und GPS-Daten und dirigierte den kompletten Warenfluss auf den Inseln und auf den Schiffen. Davon ausgenommen waren allerdings alle Transport- und Frachtarbeiten militärischer Natur, die Soldaten ließen sich nur ungern in ihre Karten schauen – eine Charaktereigenschaft, die militärische Anführer wohl niemals ablegen würden.

Eines Tages dann, wenn der erste Frontabschnitt im Rahmen der Operation Payback gesichert und weitestgehend zombiefrei sein würde, sollten diese riesigen Schiffe ihre Maschinen anwerfen, die Leinen los machen und in Kopenhagen, Hamburg, Kiel, Eckernförde, und Flensburg anlegen, um die Siedler der New World in ihr neues Heim zu bringen. Doch zur Zeit tobte hier noch ein gnadenloser Häuserkampf gegen die Zeds, die von Süden und Norden in die Zange genommen wurden. Der Sieg war alles andere als zum Greifen nah.

Jahr Eins. 07. Oktober, Abend

Aus Südosten schwebten die Hummeln, wie das MFG 63 seine C160 Transall liebevoll nannte, ein und setzten im Abstand von zehn Minuten auf der relativ kurzen Landebahn zwischen den Inseln Helgoland und Buhne auf. Sie wurden sofort in die unterirdischen Hangars gefahren und die große Rampe schloss sich hinter den Maschinen. Ein schwer bewaffneter Sicherungstrupp baute sich um die Parkpositionen der Maschinen auf und die Propeller kamen zum Stillstand. Synchron hoben sich die Ladeluken und die Laderampen senkten sich ab. In Maschine eins stand der Hulk gut verzurrt, der Truck füllte die Ladefläche vollständig aus. In der zweiten Maschine waren Paletten mit Aluminiumboxen, diverse technische Geräte und haufenweise kleinere Kisten und Kartons, sowie ein Mannschaftstransporter. In der dritten Maschine befanden sich die Soldaten und fünfundzwanzig identische Metallboxen, jede in etwa von der Größe einer Gefriertruhe, auf allen prangte ein Nuklearsymbol. Unter scharfer Bewachung wurden die Kisten entladen und auf elektrische Karren verfrachtet, die damit sofort in den großen Frachtaufzug fuhren. Der Aufzug brachte die kostbare Fracht in das unterste Stockwerk, etwa dreißig Meter unter dem Meeresspiegel. Hier wurden die Kisten in einen Tresorraum der Priorität eins verbracht. Die Bomben mit dem Namen Cold Fire waren angekommen.

Leutnant Falkner wurde unverzüglich in Gärtners Büro zum Rapport einbestellt. Als er dort ankam, waren die kommandierenden Befehlshaber bereits versammelt. Er betrat das Büro und schloss die Tür hinter sich, dann nahm er Haltung an und grüßte.

»Leutnant Falkner meldet sich zurück vom Auslandseinsatz. Das Missionsziel wurde erfüllt, Cold Fire wurde befehlsgemäß sichergestellt und zur Basis verbracht. Keine Verluste, keine Verwundeten.«

General Deng fragte:

»Herr Leutnant, in welchem Zustand fanden Sie die Anlage in Quinghai vor?«

Falkner drehte sich zum chinesischen General um und stand stramm.

»Melde gehorsamst …«

»Stehen Sie bequem.«

»Jawohl. Die Basis wurde versiegelt vorgefunden. Die Zugangscodes wurden akzeptiert. In der Anlage selbst befand sich niemand, alle Rechner liefen im automatischen Wartungsmodus.«

»Hatten Sie Feindkontakte?«

»Am Flugplatz gab es vereinzelte Feindkontakte, das Aufkommen blieb jedoch insgesamt gering. Auf dem Gelände der Anlage keine Feindkontakte.«

»Ja, die Gegend ist sehr, sehr dünn besiedelt. In der Tat. Möglicherweise sind die Truppen von der Anlage desertiert. Haben Sie alle beschriebenen Systeme und Bauteile bergen können, Herr Leutnant?«

»Jawohl, Herr General. Die Beschreibungen und Pläne waren präzise und alle angeforderten Komponenten waren vor Ort verfügbar. Wir konnten die Systeme ohne Zwischenfälle bergen.«

»Sehr schön. Wir danken Ihnen, Herr Leutnant. Sie können mit Ihren Leuten eine Woche Sonderurlaub nehmen und erhalten jeder 200 Punkte Extrazuteilungen. Besuchen Sie das Kino und die Bars auf der Oasis

»Verbindlichsten Dank, Herr General.«

»Wegtreten.«

Falkner grüßte noch einmal, machte auf dem Absatz kehrt und verließ zackig das Büro. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, nickte Deng ein Weilchen nachdenklich. Dann meinte er:

»Nun haben wir also ein Mittel, das uns hier im europäischen Großraum die Arbeit erleichtern wird. Wir werden demnächst den Prototyp testen müssen, ich wüsste gern, ob es wirklich funktioniert, was wir vorhaben. Ich schätze, in etwa zwei Wochen ist Cold Fire eins einsatzbereit.«

Gärtner nickte ebenfalls.

»Okay, setzen Sie Ihre Leute dran, damit wir möglichst bald den Test anberaumen können. Wir brauchen einen Abwurfmechanismus, was schlagen Sie vor, General?«

»Nun, im Grunde können Sie die Bomben, wenn sie scharf sind, aus einer C160 abwerfen, die Maschine hat genug Zeit, sich aus dem Explosionsradius zu entfernen, da die Waffe an einem Fallschirm abgesetzt wird. Über unsere geostationären Satelliten haben wir Zugriff auf viele Kameras in der Londoner Innenstadt, die mit Notstromversorgung laufen. Ich würde aber vorschlagen, direkt nach der Explosion Drohnen in das Testgebiet zu entsenden, um ausfallsichere Bilder zu erhalten.«

Alle nickten. Gärtner bot rundum Cohibas an, die gern genommen wurden. Als die Offiziere ihre Zigarren entzündet hatten, meinte er:

»Was gibt es noch?«

Admiral Hershew meldete sich zu Wort.

»Unsere sieben SSBN sind noch nicht in Position, aber spätestens Ende November stehen alle U-Boote in besten Abschusspositionen. Dann können wir den Hammer fallen lassen.«

Deng ergänzte: »Auch die nukleare Bomberflotte steht zu diesem Zeitpunkt bereit. Die Aerosolbomben werden zur Zeit per Schiff nach Archangelsk und mit Antonow-Maschinen nach Nischni Nowgorod transportiert. Auch hier kann es Ende November losgehen.«

»Wie sieht es bei Ihnen aus, General Pjotrew?«

Der Russe blies eine Rauchwolke von einer Dichte aus, dass man meinen konnte, er habe einen Vulkan im Bauch.

»Die Heereseinheiten werden länger brauchen. Wir sind jetzt erst dabei, die Armeen aufzustellen. Die Männer und Frauen, die sich hier melden und eingezogen werden, müssen zumindest rudimentär ausgebildet werden. Die ersten Truppentransporter sind auch schon nach Archangelsk unterwegs, aber vor Januar können wir hier nicht nachhaltig vorrücken, beim besten Willen nicht. Es ist schon schwierig, das zu verantworten, und die Logistik muss einfach stimmen bei einem Feldzug dieser Dimension. Das hatten wir seit Afghanistan nicht mehr. Ich habe mit einigen Leuten aus dem Strategischen Rat konferiert und wir kamen zu der Überzeugung, dass es notwendig werden könnte, im Grenzverlauf von Süden nach Norden einen Grenzzaun zu errichten, ähnlich, wie die USA das an ihrer Südgrenze hatten oder der ehemalige deutsche Bruderstaat der UdSSR im Westen. Das würde zwar erhebliche Mengen an Material erfordern, aber wir könnten für den Dauerbetrieb mindestens zwei Drittel der Truppenstärke einsparen, langfristig gesehen. Und unsere Techniker haben sich auch noch etwas ausgedacht, das ich für sehr effektiv halte: Mikrowolnowka.«

Gärtner wirkte überrascht.

»Mikrowelle? Erläutern Sie das bitte.«

»Nun ja, es gibt ja diese – wie sagte man in Amerika – ADS?«

Pjotrew blickte fragend zu Hershew, der nickte.

»Active Denial System – die Mikrowellenkanone. Eine Massenschutzwaffe für die Aufruhrbekämpfung. Haben wir auch auf einigen Schiffen, meist wurden sie aber auf Humvees montiert für die Bekämpfung von Aufständen. Aber diese Waffen sind vergleichsweise harmlos.

Sie erzeugen zwar starken akuten Schmerz, aber ich glaube nicht, dass unsere Gegner sich davon beeindrucken lassen.«

»Da stimme ich Ihnen zu, Admiral«, brummte der schnauzbärtige Russe und grinste.

»Allerdings hatten wir in Russland leicht abgewandelte Versionen des Silent Sheriff. Unsere Techniker haben die Frequenz auf einhundertsiebzehn Gigahertz erhöht, das tut nicht nur weh, es lässt das Fleisch kochen. Zed-Haschee quasi. Wir beabsichtigen, etwa fünfhundert Meter entfernt vom Grenzzaun im Zed-Land Masten zu errichten, die wir mit Mikrowellenstrahlern im Hochfrequenzbereich bestücken, die Generatoren stehen dabei sicher hinter dem Zaun. Außerdem montieren wir Lautsprecher, die intervallweise menschliche Geräuschkulissen imitieren. Ein chipgesteuerter Sensor erfasst die Dichte der auflaufenden Zeds, und wenn der Pulk um den Mast groß genug ist, wird für fünf Minuten automatisch die Strahlung freigesetzt und zerstört das Zellgewebe der Zeds. Es zischt und dampft etwas und wir haben einen Haufen matschiger Zeds, der nur noch weggeräumt werden muss.«

General Deng war höchst erfreut.

»Oh, ihr hinterlistigen Russen. Das ist genial! Eine Zombie-Falle! Das System können wir auch in den Städten anwenden. Diese Fallen können wir überall bauen. Wir errichten um die Masten No-Go-Areas, zu festen Zeiten aktivieren wir die Geräte, und die Zeds sterben. Wir müssen sie dann nur noch beseitigen. Wie viele dieser Waffen gibt es, Pjotrew?«

»Ich weiß es nicht genau. Es dürften einige hundert sein, sie sind in einer geheimen Anlage bei Moskau konstruiert und gelagert worden. Diese Apparate sind auch nicht schwer herzustellen. Was denken Sie, Gärtner?«

Der General war noch immer nachdenklich. Er paffte an seiner Cohiba, um die Glut etwas in Gang zu bringen.

»Das klingt zumindest interessant. Wenn es sich in der Praxis bewährt, hätten wir damit ein gutes taktisches Mittel, um mit geringem Personalaufwand eine möglichst hohe Vernichtungsrate zu erreichen. Wir sollten diese Waffen, wie von General Pjotrew vorgeschlagen, an der Grenze testen, dann können wir darüber nachdenken, ob wir sie auch im Inneren anwenden können. Genügend Versuchskaninchen rennen da draußen ja rum. Tja, dann würde ich vorschlagen, wir beraumen den ersten Test von Cold Fire an, sobald die Waffe einsatzbereit ist, und die Operation Hellbound starten wir zum Jahresanfang. Vier Wochen vorher können wir Cold Fire initiieren. Zustimmung?«

Alle nickten. Als sie aufstanden, um in ihre Büros zurückzugehen, meinte Gärtner lapidar: »Na, Deng, dann basteln Sie unseren Zed-Freunden mal einen hübschen Adventskalender!«

Der Chinese zog eine Augenbraue hoch und lächelte höflich. Er hatte keine Ahnung, wovon der General da sprach.

Jahr Eins. 13. Oktober, Mittag

 

Der Einsatzgruppenversorger A1413 Bonn legte, aus Kiel kommend, im Rendsburger Kreishafen an. Inzwischen war der Marine-Pendelverkehr auf dem Nord-Ostsee-Kanal etabliert, und die Infanterieeinheiten rückten überall nach Norden vor. Die Stadt Rendsburg war noch nicht Zed-frei, deshalb landete der Versorger hier frische Truppenteile an und brachte eine große Waffenlieferung. Die Korvetten Erfurt und Oldenburg hatten in den letzten zwei Monaten diverse Brücken gesprengt und die Hilfsschiffe hatten begonnen, Schiffswracks und Trümmer aus dem Weg zu räumen. Fregattenkapitän Laue stand auf der Steuerbordnock und dachte an die Einsätze der vergangenen Wochen zurück. Besonders im Gedächtnis geblieben war ihm die Stürmung der MS Europa in der Schülper Kanalweiche Mitte August, gleich beim ersten Einsatz im Kanal. Die Bilder ließen ihn einfach nicht los. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, war er wieder mitten im Geschehen, und die Berichte des Außenteams hatten den Rest dazu beigetragen, dass der Kapitän unauslöschliche Bilder in sich herumtrug.

Es war der siebzehnte August gewesen. Der Steuermann meldete »Schiff voraus!«, als die Bonn kurz vor Breiholz auf ihrem Ostkurs um eine Kanalbiegung fuhr.

»Maschinen Kleine Voraus!«, befahl der Kapitän. Das Schiff nahm Fahrt weg und verringerte seinen Abstand zu dem quer zum Fahrwasser liegenden Hindernis langsamer. Das einstmals stolze weiße Schiff war von Flugrost überzogen, der in langen Nasen an der Bordwand herablief, es hatte leichte Schlagseite, der Bug zeigte nach Norden.

Das markante Schrägheck ließ trotz des rostüberzogenen Schriftzuges am Bug keinen Zweifel aufkommen, dort hinten lag das Luxus-Kreuzfahrtschiff Europa und dümpelte vor sich hin. Der erste Offizier hatte die Lage von der Nock aus mit einem der Hochleistungsferngläser analysiert und empfahl, das Schiff nicht zu versenken, es trieb noch immer, war also möglicherweise noch gebrauchsfähig, und die Versenkung hätte das Fahrwasser auf Tage an dieser Stelle blockiert. So entschloss Kapitän Laue sich, die Europa zu stabilisieren und nach Norden längsseits der Dalbenreihe festzumachen.

Die Weiche, eine starke Verbreiterung des Kanals zur Schiffsbegegnung, war an dieser Stelle anderthalb Kilometer lang, das ließ genug Raum zum Manövrieren.

Laue ließ die Bonn etwa fünfzig Meter von der Europa entfernt aufstoppen und der erste Offizier stellte ein Enterkommando zusammen. Das Minenjagdboot Siegburg ging längsseits und nahm etwa fünfzig Mann auf, zusätzlich ließ Laue die vorderen MK27 besetzen, falls es wieder zu Szenen wie vorher in Brunsbüttel kommen würde. Das Minenjagdboot brachte die Soldaten zum Heck des Luxusliners, wo sie flink und gekonnt aufenterten zum Europa-Deck 4. Im Atrium sollten sie dann zwei Decks nach oben marschieren zum Atlantik-Deck 6, das zum Schiffsbug führte. Da diese Decks jedoch nicht umlaufend offen waren, mussten die Männer das Innere des Schiffes durchqueren, um bis zur Bugspitze zu kommen, wo sie die Schleppleine übernehmen konnten. Der Zugführer entschied sich, das Schiff im zentralen Korridor über die Promenade zu durchqueren, seine Männer folgten in Zweiergruppen, die wechselweise nach vorn und achtern sicherten. Alle Soldaten waren mit T93 geimpft, sodass ein größerer Ansturm der Zeds vermieden werden konnte. Auch waren sämtliche Waffen mit Schalldämpfern ausgerüstet.

Im Europa-Restaurant im Heck des Schiffes traf der Zug erstaunlicherweise keine Zeds an, aber man konnte sehen, dass hier furchtbare Kämpfe stattgefunden hatten. Überall waren Möbel umgestürzt, Blutflecken bedeckten fast den gesamten Boden, abgenagte Leichenteile lagen verstreut herum. Zügig drangen die Soldaten in das Innere des Totenschiffes vor und durchquerten die Promenade, auf der kleine, aber exquisite Geschäfte und Bars vor einiger Zeit das erlauchte Publikum unterhalten hatten. Inzwischen hatte allerdings niemand an Bord mehr Verwendung für Cartier und Chanel, auch die Raucherlounge namens Havanna Bar wurde nicht mehr zweckgemäß verwendet.

Im Bereich des verglasten Fahrstuhles, am Beginn des vorderen Drittel des Schiffes, lag das Atrium, hier stieß das Team auf die ersten Zeds. Der Zugführer wies seine Leute per Handzeichen an, sich langsam und vor allem leise zu bewegen. Die roten Ledersitzmöbel, die den großen, lichten Raum einst verziert hatten, lagen wild durcheinander herum, umgestürzt, zum Teil zerstört. Der große Flügel, der wohl einst in der Mitte des Raumes gestanden hatte, lag mit abgebrochenen Beinen an der Backbordwand. Nach Steuerbord lag der Tresen der Pianobar, linker Hand lag die Rezeption. Der Raum war relativ dicht angefüllt mit Zeds, die herumstanden wie versiffte Schaufensterpuppen. Das Team musste diesen Raum durchqueren, um zwischen den beiden Fahrstuhlschächten hindurch in das Treppenhaus zu gelangen. Hier konnten sie zum Pazifik-Deck 5 und schließlich zum Atlantik-Deck 6 gelangen. Langsam und vorsichtig bewegte sich die Gruppe durch die Zeds, die zu schnüffeln begannen, aber es wirkte irgendwie ziellos, wie sie ihre zum Teil zerfressenen Nasen hochreckten, den Kopf hin und her warfen und sich nicht sicher waren, was für Eindrücke es waren, die sie da aufnahmen. Anscheinend gab es in diesem Raum keine Jäger-Zeds, sodass die Durchquerung relativ harmlos verlief.

Der Trupp hatte schon fast die Treppen erreicht, als einer der Soldaten beim Umdrehen mit dem Lauf seiner Waffe gegen eine der Schutzscheiben am Fahrstuhlschacht kam. Ein lautes, waberndes Geräusch ertönte zunächst. Dann ging die Scheibe, die schon beschädigt war, mit einem lauten Klirren zu Bruch. Die Scherben fielen in den Fahrstuhlschacht und verursachten dabei einen Höllenlärm. Nun wurde es unruhig in dem Raum. Die Soldaten zogen sich in das Treppenhaus zurück, das sich relativ gut verteidigen ließ.

Die Zeds, außer Rand und Band vor Hunger, begannen umherzulaufen. Da sie keine konkrete Witterung hatten, fielen sie einander an, einige stolperten und fielen in den Fahrstuhlschacht.

Der Lärmpegel stieg, denn die Zeds begannen jetzt zu fauchen und zu schreien, was sie noch mehr in Rage versetzte und nun auch die Jäger-Zeds auf den Plan rief. Aus der Clipper-Lounge im Promenadenbereich stürmte eine Gruppe von Jäger-Zeds in das Atrium.

Sie unterschieden sich deutlich von den lahmarschigen Zeds, die hier sonst herumgelungert hatten, ihre Fratzen waren verzerrt, fast konnte man meinen, einen Ausdruck von Hass darin zu entdecken.

Ihre Bewegungen waren viel schneller als die der Zeds mit der leicht ergrauten, fahlen Haut, sie bissen um sich, überrannten die anderen Zeds, als seien es Möbelstücke und sie schrien abartig laut.

Der Zugführer gab Befehl zum Feuern und die Sturmgewehre der Soldaten ploppten. Ein Zed nach dem anderen fiel, Kopfschüsse beendeten ihre zweifelhaften Existenzen.

Während die Nachhut dem Trupp den Rücken frei hielt, arbeitete sich der Zug langsam im Treppenhaus nach oben. Der Andrang von unten ließ langsam nach.

Als sie auf dem Atlantik-Deck 6 ankamen, hatten sie bereits drei Viertel des Weges zurückgelegt, nun mussten die Männer noch die vordere Kabinensektion passieren, eine enge und unübersichtliche Umgebung. Im Inneren des Flures herrschte eine düstere Atmosphäre. Teilweise waren Wand- und Deckenverkleidungen herausgerissen, Kabel hingen lose und zerfetzt von der Decke. Überall stank es erbärmlich nach Schimmel, leichter Verwesungsgeruch zog ebenfalls durch die Gänge. Einige Türen der ehemals luxuriösen Kabinen, die sie passierten, standen offen und in den meisten Räumen bot sich ein Bild der Verwüstung den Betrachtern dar. Umgestürzte Möbel, zerfetzte Textilien, dunkle Reste riesiger Blutflecken und Schmierspuren, wo die Zeds ihre kreischenden Opfer weggezerrt hatten. In den Kabinen fanden sich zahlreiche Skelette, die Knochen waren abgenagt und wiesen entsprechende Biss-Spuren auf. Hier hatten Zeds einander gegenseitig gefressen, was in Ermangelung neuer Opfer nicht selten vorkam. Nach dem Trouble von eben kehrte auf einmal eine gespenstische Ruhe ein. Per Handzeichen trieb der Zugführer seine Leute an, diese Sektion schnell zu durchqueren.

Als die Soldaten durch eine Tür das Vorschiff betraten, um zu den Augen am Bug zu laufen, durch welche die Leinen gelegt wurden, brach die Hölle los. Von überall her stürzten auf einmal Jäger-Zeds auf die Truppe ein. Sie kamen von allen höher gelegenen Decks und stürzten sich in waghalsigen Sprüngen über die schräge Frontpartie des Schiffes hinunter zum Vorschiff. Von den Balkonen der Penthouse-Suiten strömten sie herab, vom Brückendeck und dem darunter liegenden Club Belvedere hechteten die Jäger-Zeds heran, kaum dass der Zug unter dem Überhang am Vorschiff herausgetreten war, um die Leinen aufzunehmen. Das Team wurde völlig überrascht und verlor binnen Sekunden elf Mann an die Zeds, die in ihrer frenetischen Gier die schreienden Menschen förmlich in der Luft zerrissen. Nun gab es kein Halten mehr. Der Trupp Soldaten verschanzte sich hinter den großen Seilwinden auf dem Vorschiff und feuerte, was das Zeug hielt.

Unterstützung kam nun von der Bonn, dort bellten die Siebenundzwanzig-Millimeter-Geschütze auf und die Geschosse hackten in die Stahlblech-Bordwand und die Frontbewehrung. Viele der Zeds wurden von den Geschossgarben zerrissen, aber immer noch kamen neue nach. Kapitän Laue ließ einhundert Mann mit MG und Sturmgewehren auf dem Vorschiff der Bonn antreten und ebenfalls auf die Zombiemeute feuern, die noch weitere sieben Männer des Enterteams gerissen hatte. Das verblichene, etwas rostige Weiß des Schiffskörpers färbte sich binnen Sekunden rot. Durch die Gewalt, mit der die Jäger-Zeds vorgingen, wurden die Körper der Opfer förmlich auseinandergerissen und ihre Innereien flogen durch die Luft, klatschten auf die Bewehrung des Vorschiffes und rutschten, blutige Spuren hinterlassend, daran herunter. Auch die Körperteile der Zeds wurden durch das Sperrfeuer über das gesamte Vorschiff verteilt; der einstmals stolze Cruiser, Flaggschiff der Hapag-Reederei, sah aus, als sei er gerade von einer Kreuzfahrt durch die Hölle zurückgekehrt. Kapitän Laue, der die Aktion beobachtete, schüttelte den Kopf. Erst das Massaker in Brunsbüttel, nun auch noch Zombies in ehemals eleganter Garderobe, die seine Leute förmlich schlachteten und ausweideten, das war zu viel für ihn. Er musste sich erst einmal setzen.

Inzwischen hatte das Team an Bord der Europa die Schleppleinen übernommen und an Deck fest gemacht. Das halbe Team war bereits aufgerieben worden, und langsam wurde die Munition knapp. Der Zugführer befahl, das Schiff zu verlassen. Die Soldaten gehorchten und sprangen über Bord, ihre Waffen warfen sie erst im allerletzten Moment fort. Die Siegburg war sofort zur Stelle, um die Männer aufzunehmen.

An Deck der Europa tobte der Zed-Mob. Sie stürzten sich auf die Reste der Leichen, die überall verstreut waren, und es schien sie nicht zu kümmern, dass die Maschinenkanonen der Bonn sie förmlich durch den Fleischwolf drehten. Kein einziger der Männer des Enterkommandos würde als Zombie zurückkehren, denn die Jäger-Zeds hatten alle aufgefressen, derer sie habhaft werden konnten. Während die Bonn weiterfeuerte, ließ der erste Offizier das Schiff Kleine Achteraus fahren, die Schleppleinen strafften sich und beide Schiffe kamen in Fahrt, wenn auch sehr langsam.

Die Europa drehte den Bug in das Fahrwasser und das Heck pendelte sich aus. Nach und nach näherte sich das Wrack des Kreuzfahrtschiffes der Dalbenreihe. Mittlerweile hatten offenbar einige noch aktive Jäger-Zeds bemerkt, dass die beiden Schiffe miteinander verbunden waren und dass dort drüben, an der Quelle der Geräusche, Futter wartete. Einige versuchten, wie Hafenratten über die gespannten Schleppseile zu klettern, sie waren dabei erstaunlich behände, doch im Kugelhagel wurden sie ins Wasser geschleudert, wo sie einfach verschwanden.

Nach einer guten halben Stunde lag die Europa an den Dalben längsseits. Laue beschloss, das Schiff wegen dieser Geschichte nicht weiter zu nutzen und befahl der Korvette Erfurt, das Schiff an Ort und Stelle zu versenken. Mit dem Bordgeschütz versetzte Korvettenkapitän Schulz der Europa vier Treffer unter der Wasserlinie, das Schiff lief binnen Minuten voll und ging auf Grund. Noch immer gab es ab Bord mindestens zweihundert aktive Zeds, doch die konnten das Schiff nicht verlassen. Vier RBS-Raketen der Erfurt setzten das Schiff auf Laues Befehl hin komplett in Brand.

All diese furchtbaren Bilder hatte der Fregattenkapitän noch immer im Kopf, als sein Schiff im Rendsburger Hafen festmachte. Die Europa lag inzwischen als völlig ausgebranntes Schiffswrack in der Weiche einige Kilometer weiter westwärts, und bei jeder Passage dippten die Schiffe ihre Flaggen, um den gefallenen Kameraden Respekt zu zollen. Laue fragte sich, wie lange das noch so weitergehen sollte. Welle um Welle griffen die Zeds an, sobald es lauter wurde, was mit Fahrzeugen unvermeidlich war. Zwar schützte dieses T93, aber eben nur, wenn man leise und behutsam vorging. Überall, wo Fahrzeuge eingesetzt wurden, musste noch immer gegen die wilde Front der Jäger-Zeds gekämpft werden. Der Hafenbereich hier in Rendsburg war zwischenzeitlich durch hohe Zaunelemente abgesichert, auch die Eisenbahnhochbrücke hatte man gesichert, indem man sie einfach zugeschweißt hatte. Die Bonn lag relativ sicher am Kai mit den Getreidesilos und sollte nun entladen werden. Kapitän Laue gönnte sich erst einmal eine Freiwache und genoss einen guten, heißen Kaffee in der Offiziersmesse.

Der Stellungskrieg hier in Norddeutschland hatte inzwischen zum Teil eigenartige Züge angenommen. In der Gegend um Kiel hoben sie vier bis fünf Meter tiefe Gruben aus, auf deren Grund meterhohe Stahldornen standen. Darüber wurden einfache Falltüren montiert, sodass die Zeds abstürzten und aufgespießt wurden. Dort unten ließ man sie einfach herum zappeln, bis sie irgendwann verreckten würden.

In einigen Industriegebieten kämpften sie mit Chemikalien, mit aggressiven Säuren und so weiter gegen die Plage. In der Nähe von funktionierenden Windparks an der Westküste gab es Hochspannungszäune, die auch hervorragend wirkten.

Die Truppen nutzten alle nur erdenklichen Möglichkeiten, um die Zeds zu erledigen. Die langsameren, verstümmelten und halbverwesten, angefressenen unter den Zeds wurden zum Teil einfach mit schweren Baumaschinen zermatscht, man begrub sie mit Planierraupen gewissermaßen lebendig, soweit man diesen Begriff hier überhaupt verwenden konnte, und in der Nähe von Treibstofflagern verbrannte man die angreifenden Untoten einfach mit Flammenwerfern. Auf offenem Feld hatte sich der Einsatz von Clusterbomben bewährt, aber in den Städten kam es zu Straßenschlachten und im Häuserkampf mussten die Straßenzüge Block für Block gesäubert werden. Überall gab es Sammelplätze, an denen die endgültig toten Körper verbrannt wurden oder wo man sie einfach in Massengräbern verscharrte.

Jahr Eins. 31. Oktober, Nachmittag

Am Morgen war die C160 Transall von der Insel gestartet, im Schlepptau hatte sie vier Euro Hawk UAV-RQ4E-Drohnen, die mit hochauflösender Kameratechnik ausgestattet waren. Die Maschinen flogen auf etwa dreitausend Metern direkten Südwestkurs, ihr Ziel war die Innenstadt von London. An Bord der Transall lag, fest verzurrt auf einem Gleitschlitten, der Prototyp der Cold Fire-Bombe. Als die Transall über der Stadt einschwebte, brachten die Piloten der Drohnen ihre Arbeitsgeräte auf zwanzigtausend Meter und flogen eine weite Schleife, um nicht in den Detonationsradius zu gelangen, denn niemand wusste, wie die CCD-Kameras auf die Strahlung reagieren würden. In der Einsatzzentrale standen vier Pilotenarbeitsplätze, Gestelle mit einem Pilotensitz und je sechs Monitoren sowie Fluginstrumenten. Die Piloten steuerten die Maschinen über einen Joystick, der sich von dem eines Jetpiloten in nichts unterschied. Nur, dass sie eben keine Maschine physisch steuerten, sondern die Drohnen virtuell über die verfügbaren chinesischen Satelliten lenkten. In dem Bereich, in dem die Offiziere saßen, gab es vier große Bildwände, die jeweils vier Blickwinkel der Kameras an Bord der Drohnen lieferten. Die Auflösung war derart hochwertig, dass man bei klarer Luft aus über eintausend Metern Höhe das Bild auf dem Screen eines Smartphones pixelidentisch abbilden konnte. Aber auch bei Sichtbehinderung durch Wolken oder Nebel, gaben die Radarsysteme noch ein klares Bild. Vor den Monitoren saßen Operatoren, die auf Zuruf der Offiziere die Kameras steuerten.

Alle Bilder wurden in Vollauflösung auf Petabyte-SSD-Datenträger aufgezeichnet. Das Cockpit der Transall war direkt mit der Einsatzzentrale auf Helgoland verbunden, die kommandierenden Offiziere waren anwesend, als der Pilot den Abwurfbefehl erfragte.

»Rungholt Basis, hier Cold Dragon. Haben Abwurfposition erreicht. Bereit für Einsatz der Waffe.«

General Deng als Oberkommandierender der Luftwaffe nickte dem Com-Operator zu, der Leutnant gab den Befehl.

»Cold Dragon, hier Rungholt Basis. Sie haben Befehl, die Waffe einzusetzen. Abwurf jetzt.«

Die schweren Luken am Heck der Maschine öffneten sich mit lauten hydraulischen Geräuschen. Der Lademeister schob den Schlitten mit der Bombe über die Rollschienen nach hinten, bis sie am Rand stand. Die Bombe selbst war in einem fassförmigen Behältnis untergebracht, am oberen Ende gab es eine Art Rucksack, in dem der Fallschirm steckte, der die gut vier Zentner bremsen sollte, um der Transall die Möglichkeit zu geben, sich rechtzeitig aus dem Gefahrenbereich zu entfernen.

An den Seiten der Konstruktion gab es einige elektronische Bauteile, darunter ein Höhenmesser, der die Zündung der Waffe bei eintausend Metern einleitete.

Der Overall des Lademeisters flatterte im Wind, als er die Verzurrung des Schlittens löste. Er war durch eine Leine gesichert, um nicht aus dem Flugzeugrumpf hinaus gesaugt zu werden. Der Mann hatte einen grandiosen Blick auf das, was einst der Stolz an der Themse gewesen war, nun stiegen aus Trümmern und zerstörten Anlagen Rauchsäulen auf. Die Propellergeräusche der Maschine, dieses typische dumpfe Brummen, hatte die Zeds in der Britischen Hauptstadt aufgeschreckt, von überall stürmten kreischende Jäger-Zeds herbei. Gut für den Test, schlecht für die Untoten. In einigen Minuten würde ihre Existenz beendet sein.

»Cold Dragon bestätigt. Abwurf der Waffe jetzt.«

Im Laderaum wechselte die Deckenlampe von rot auf grün, der Lademeister löste die Bremsen und gab dem Paket einen Stoß. Fast widerstandslos rollte der Schlitten auf den Schienen über die Kante und verschwand aus dem Sichtfeld. Der Schlitten löste sich und trudelte zur Seite weg, er würde irgendwo im Stadtgebiet aufschlagen. Das Paket fiel, bis ein kleiner Fallschirm den Hauptschirm aus der Halterung riss und ihn öffnete, was die Fallgeschwindigkeit der Bombe enorm verringerte.

»Waffe wurde abgeworfen, Fallschirm öffnet sich. Cold Dragon dreht bei.«

Der Pilot wendete um 180 Grad und zog die Gashebel nach hinten, gleichzeitig zog er die Nase der Maschine hoch. Die Ladeluken schlossen sich und die Besatzung der Transall sah zu, dass sie ihren Achtersteven aus der Gefahrenzone brachte. Mit über fünfhundert Stundenkilometern preschte die Maschine Richtung Nordsee davon. Gerade, als sie die Themsemündung überflog, entzündete hinter ihr ein grellweißer Blitz den Himmel.

»Rungholt Basis, hier Cold Dragon. Zündung erfolgt, wiederhole, die Waffe wurde gezündet!«

Der Leutnant im Einsatzzentrum quittierte die Nachricht umgehend.

»Cold Dragon, hier Rungholt Basis. Bestätigen Einsatz von Cold Fire. Kehren Sie umgehend zurück zur Basis. Gute Arbeit.«

Die Drohnen waren nun in Position, leicht seitlich versetzt zum Explosionsherd, und kreisten um den Ort des Geschehens wie Geier um einen toten Büffel. Auf den Monitoren war zunächst außer einer hellen Lichterscheinung nichts zu sehen. Kein Atompilz, keine Staubwolke, kein Feuer, nichts. Nur ein Lichtblitz, der ungefähr fünf Sekunden lang den Himmel erhellte, dann war alles vorbei, zumindest die sichtbare Erscheinung.

Anders sah es im Wirkungsbereich der Strahlung aus. Die gesamte Londoner Innenstadt, die vor Zombies nur so wimmelte, wurde jetzt mit DOR-formatierter Neutronenstrahlung geflutet, und die Intensität der Strahlung nahm, nachdem sie das Sollmaß erreicht hatte, nicht ab, sie blieb vielmehr konstant. Diese lebensfeindliche Strahlung durchdrang jede Materie, nirgendwo waren die Zeds vor ihr sicher. Nicht im tiefsten Keller, nicht einmal in der Kanalisation und in den unteren Lagen der U-Bahn-Tunnel konnten sie der Wirkung entkommen.

Die Drohnen drehten nun bei und flogen ins Epizentrum, das ziemlich genau über dem Buckingham Palace lag. Die Bilder unterschieden sich kaum von denen davor, es gab nur geringfügige Veränderungen. So gab es jetzt kein einziges Blatt mehr an irgendeinem Baum oder Strauch, auch nicht an immergrünen Pflanzen. Sämtliches Laubwerk lag am Boden. Dann, mit einem Mal, konnte man eine grundsätzliche Veränderung bemerken.

»Da! Sehen Sie, meine Herren!« Deng deutete auf einen der Monitore, und auf sein Nicken hin zoomte der zuständige Operator weiter heran.

»Schauen Sie dort!«

Abertausende von Zeds, die durch den Schlag der Explosion angelockt worden waren, wurden mit einem Mal langsamer in ihren Bewegungen. Selbst die Jäger-Zeds, sonst flink und behände, agierten wie in Zeitlupe, sie schienen mitten in der Bewegung zu erstarren. Ihre Bewegungen wurden unkontrolliert, abgehackt, ziellos. Dann fielen sie hin, stürzten mitten im Vorwärtsdrang, und am Boden liegend zuckten sie epileptisch. General Deng ließ die Operatoren maximal an eine Gruppe gestürzter Jäger-Zeds heran zoomen. Schaum bedeckte ihre Fratzen, sie wanden sich in etwas Schleimigem, das aus all ihren Poren zu sickern schien, eine gräulich-braune ölige Flüssigkeit bildete unter ihren Körpern große Pfützen, es wirkte, als wenn jemand, der auf der Straße angeschossen worden war, verblutete. Dann wurden ihre Bewegungen langsamer. Die Augen fielen ein, und mit einem Male schien es, als hätten die Verletzungen, die vorher ihre Existenz nicht beeinträchtigt hatten, plötzlich Bedeutung, denn sie taten etwas, das jeder Mensch tun würde, der so übel zugerichtet war, wie die meisten dieser Untoten. Sie starben. Ihre seltsamen und abstrusen Lebensfunktionen kamen zum Erliegen. Wo sie gingen und standen, fielen sie tot um; das Fleisch wollte nicht einmal mehr auf ihren Knochen haften, es rutschte ihnen förmlich im Fallen von den Gliedern, weil der zelluläre Zusammenhalt von einem auf den anderen Moment weggefallen war. Einige erbärmlich wirkende Skelette, deren letzte Muskelfasern gerade den Dienst versagten, brachen mitten auf dem Platz am Victoria Memorial zusammen, eine glitschige Spur aus verwestem, schmierigem Fleisch hinter sich lassend. Binnen Minuten erloschen die durch das Virus gesteuerten biologischen Merkmale hundertausender Zeds, aber wie es aussah, traf es nicht nur die Zeds, sondern sämtliche Lebensformen.

Ein unglaublich skurriles Bild zeigten die auf das Wasser der Themse gerichteten Kameras. Hier tauchten tausende und abertausende Fische gleichzeitig auf, tot, so als ob Gott mit Dynamit gefischt hätte. Die gesamte Wasseroberfläche war binnen kürzester Zeit ein silbrig glänzender Schuppenteppich, der sich langsam, wie in Zeitlupe, die Themse hinunter wälzte. Die Kameras, die mit höchster Auflösung den Boden absuchten, konnten nicht ein lebendes Wesen im untersuchten Bereich ausmachen. General Gärtner fragte diesbezüglich nach.

»General Deng, diese DOR-Strahlung. Tötet sie nur Menschen, also Zeds, oder auch andere Wesen?«

»DOR vernichtet alles Leben. Der bestrahlte Bereich wird in Kürze ohne jedes Leben sein, er ist sterilisiert. Sie würden dort nicht einmal eine Bakterie finden.«

»Mein Gott. Sowas hatten Sie in Ihren Waffenarsenalen? Das geht wohl mit der Genfer Konvention in keinster Weise konform, möchte ich annehmen. Dagegen sind Atombomben ja geradezu human.«

»Verehrter General und Kamerad«, meinte der Chinese lächelnd wie immer, »die Volksrepublik China hat diese Waffe entwickelt, nachdem uns bewusst wurde, wie weit die amerikanischen Militärs mit den Tesla-Maschinen gekommen waren, und damit meine ich nicht nur HAARP. Wir fühlten uns einer globalen Bedrohung ausgesetzt, und wir haben darauf reagiert. Als uns die Seuche heimsuchte, hatten Wettrüsten und Abschreckung längst völlig neue Dimensionen erreicht. Unsere Militärs hätten nach Fertigstellung der amerikanischen Tesla-Satelliten einen deutlich wahrnehmbaren Test dieser Waffe initialisiert, sie hätten ohnehin also bald von ihrer Existenz erfahren. Mittlerweile scheint es, als sei diese Waffe zumindest in der gegenwärtigen Situation mit weniger Schrecken behaftet, denn sie wird uns helfen, die großen Städte unseres Siedlungsgebietes binnen kürzester Zeit zu räumen. Wie ich bereits erwähnte, dauert die Strahlung so lange an, bis wir mit speziell gefertigten Orgon-Akkumulatoren gegensteuern. Bis dahin ist es einfach, viele Zeds zu zerstören. Wie feuern einfach ab und an ein paar Granaten ab oder besorgen andere Lärmquellen, und die Zeds werden aus der Umgebung herbeiströmen, um Beute zu suchen. Sie bemerken die Strahlung nicht, sondern vergehen einfach, wenn sie in den Wirkungsbereich des DOR-Feldes kommen. Ich halte das für eine den Umständen entsprechend saubere Lösung.«

»Dieser Krieg verwandelt sich zusehends in einen Holocaust, wenn auch in einen erforderlichen.«

General Gärtner war noch immer sichtlich geschockt von dem, was er da hörte und sah. Er war dazu verdammt, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Den lebenden Toten wurde das Un-Leben nun mit der Energie des Todes ausgetrieben. Unglaublich, sowas. Wer ihm das vor anderthalb Jahren erzählt hätte, den hätte er höchstselbst für verrückt erklärt. Es war doch immer wieder erstaunlich, wie sehr und wie schnell sich die Paradigmen ändern konnten. Das letzte Mal hatte er so etwas Ähnliches zum Anfang der Neunziger Jahre erlebt, als auf einmal der Feind abhanden gekommen war, weil der Ostblock zusammenbrach. Und nun standen sie einem Feind gegenüber, dem sie mit allem beikommen mussten, was die Arsenale hergaben, und sei die Waffe noch so schrecklich.

Verbittert wandte Gärtner sich an einen Leutnant zu seiner Rechten, der die Ereignisse in diesem Raum protokollierte.

»Petersen, notieren Sie: Datum 31. Oktober, Uhrzeit Siebzehn-Hundert: Test Cold Fire One war ein Erfolg.«

Ohne sich weiter um das Geschehen zu kümmern, verließ Gärtner den Raum. Er brauchte jetzt etwas frische Luft. Als er draußen auf einem der Balkone stand und auf die Water World hinüber sah, kam Pjotrew nach einer Weile zu ihm; er bot ihm eine starke russische Zigarette an.

Gärtner nahm eine und der Russe gab ihm Feuer aus einem Zippo-Imitat, auf das ein großer roter Stern geprägt war. Rauchend standen die Männer auf dem Balkon und sahen der langsam über das Wasser näher kommenden Abendbewölkung entgegen. Pjotrew sagte zuerst etwas.

»Towarisch, ich habe Sie hier kennengelernt als einen besonnenen, weisen Anführer. Und ich bin froh, dass ein Mann wie Sie das Oberkommando innehat. Sie treffen Entscheidungen, die noch nie ein Mensch treffen musste. Nicht einmal unsere militärischen Führer in der UdSSR mussten sich mit so schweren Entscheidungen herumplagen, nicht einmal, als der verrückte Cowboy damals in der Kuba-Sache so durchgedreht ist. Und damals war der Atomkrieg wirklich, wirklich nahe.

Viel näher, als manch einer glaubt. Aber Sie, mein Lieber, Sie haben das Zeug dazu, uns anzuführen. Aus diesem Grunde habe ich etwas mitgebracht, von dem ich glaube, dass Sie es verdienen.«

Er zog aus seiner Jackentasche eine dunkelrote Box hervor, doppelt so groß wie seine Zigarettenschachtel. Dann klappte er den Deckel hoch und drehte die Box zu Gärtner um. In der mit Samt ausgeschlagenen Box lag ein fünfstrahliger Stern aus Gold, darin eingefasst ein mit Brillantsplittern gefüllter weiterer Stern, umringt von fünf runden Brillantfassungen in den Achsen des Sterns. Der Orden war mit einem tiefroten Band versehen. Pjotrew nahm ihn aus der Schachtel und hielt ihn am Band.

»Dies ist der Goldene Stern des Marschalls der Sowjetunion. Sie, Herr General, sind seiner würdig. Als Oberkommandierender der ehemaligen russischen Streitkräfte verleihe ich Ihnen diesen Orden in Anerkennung Ihrer besonderen Verdienste an der Spitze der New World Army. Sie sollen ab heute den Titel Marschall bis zu Ihrem Tode tragen.«

Ohne eine Reaktion Gärtners abzuwarten, hängte der Russe ihm den Orden um den Hals. Er drückte ihn und küsste den völlig verdutzen Deutschen auf beide Wangen. Dann zog er ein paar Schulterstücke aus der Tasche, besetzt mit goldenem Stern und einer ährenumringten Weltkugel mit Hammer und Sichel.

»Die gehören dazu, Marschall Gärtner.«

Er grinste breit.

Gärtner fand zu seiner Sprache zurück:

»Welche Ehre. Ich weiß das sehr zu schätzen. Aber ich bin nicht sicher, ob die anderen das auch so toll finden.«

»Ach was, Papperlapapp. Dem Chinesen und dem Yankee habe ich das eben mitgeteilt. Die waren nicht dagegen. Und sonst ist da niemand, der etwas dazu zu meinen hätte. Ein anständiger Anführer braucht einen anständigen Titel. So gehört sich das nun einmal.«

Damit hatte er seinen Vortrag beendet, grüßte militärisch und verschwand wieder in dem Gebäudekomplex. Gärtner besah sich den Orden genau und zuckte mit den Schultern. Dann wechselte er seine Generalsabzeichen gegen die des Marschalls aus. Es war sehr lange her, dass ein deutscher Soldat den Titel Marschall getragen hatte. Aber für ihn war es in Ordnung. Ein weiterer Schritt des Zusammenwachsens zu etwas Neuem, das mehr sein würde, als die Summe seiner Teile. Als er sich anschickte, in das Gebäude zurückzukehren, konnte er in der Ferne das sonore Brummen der heimkehrenden Transportmaschine leise hören.

Jahr Eins. 15. November, Mittag

Der Vormarsch in Norddeutschland kam gut voran. In den ländlichen Gebieten ging es für gewöhnlich schneller, die Zeds auszuschalten, denn zum einen war die Besiedelungsdichte hier geringer, zum anderen hatte es die Jäger-Zeds meist in die Stadt gezogen. So vegetierten auf dem Land nur noch lahme, dem Verhungern nahe Zeds dahin, die durch die T93-Manipulation von den Re-Invasoren keine Witterung aufnehmen konnten. Im Grunde war es für die New World-Truppen auf dem Lande eher ein großangelegtes Übungsschießen.

In den Städten verhielt es sich anders. Hier wurde die Rückeroberung von sehr gut ausgebildeten Vier-Mann-Teams vorangetrieben. In vielen Verstecken trafen sie auf Widerstand durch Jäger-Zeds, deren Gehör ausgezeichnet zu sein schien. Wenn durch Geräusche irgendwelcher Art die Zeds aufgescheucht und wildgemacht wurden, dann rannten sie normalerweise planlos umher und bissen alles, was sich bewegte. Meist waren die langsameren Zeds die Opfer, aber eben auch Soldaten, die sich bewegten. Und die Art, wie sich die Jäger-Zeds bewegten, ließ immer öfter die Frage aufkommen, ob sie wirklich nicht denken konnten.

In Rendsburg begannen sie, auf die über einhundert Jahre alte Eisenbahnhochbrücke zu klettern, wenn auf dem Kanal ein Schiff in Hörweite kam. Und wenn das Schiff dann die Brücke passierte, ließen sie sich von der Brücke auf das Schiff fallen. Viele Zeds überstanden diese Stürze nicht, aber einige rappelten sich an Deck auf und versuchten anzugreifen, was mitunter für skurrile Szenen sorgte, wenn sie mit zerschmetterten Gliedern über die Decks krabbelten, schleimige Spuren hinter sich her ziehend. Bisher war der Schiffsverkehr ja ausnahmslos militärisch, aber die Soldaten auf den Schiffen und oben auf der Kanalbrücke hatten alle Hände voll zu tun, dieses grotesk aussehende Ungeziefer mit ihren Maschinengewehren aus den Metallstreben zu pflücken.

Immer öfter konnte man beobachten, dass die Jäger-Zeds begannen, ihre Aktionen zu koordinieren. Und dazu kam, dass der Verfallsprozess bei einer bestimmten Sorte von ihnen nicht in dem rapiden Tempo vonstattenging, wie es allgemein der Durchschnitt war. Scheinbar gab es eben auch eine gewisse höhere Art von Zeds, die jetzt erst richtig auffielen, weil die Zahl der völlig hirnlosen Fressmaschinen langsam sank. Diese Art von Zeds, die bisher überlebt hatte, war aggressiv, rücksichtslos, schnell und vor allem intelligent. Sie würden zwar keine Opern schreiben oder Nano-Bots erfinden, aber sie waren doch klug genug zu merken, dass es ihnen hier an den Kragen ging.

Die beweglichen Wesen, die ihren Weg kreuzten und ihnen nachstellten, mochten zwar nicht nach Beute riechen, aber als bedrohlich empfanden diese Zeds die Menschen schon. Bei dieser Wahrnehmung handelte es sich nicht um eine Erkenntnis, es war wohl eher ein Gefühl, das die Jäger-Zeds dazu brachte, diesen Menschen aus dem Weg zu gehen beziehungsweise sie lieber aus dem Hinterhalt zu attackieren.

Diese Entwicklung bereitete auch den Kommandeuren Sorge, denn der Schutz durch das T93-Gen erstreckte sich ausschließlich auf den Geruchssinn. Doch die Jäger-Zeds schienen sich dem anzupassen, indem sie ihre Ortung mehr und mehr auf das Gehör verlegten. Für die Teams war es jedoch schwierig, sich in urbanem Gelände mit Militärkluft, Waffen und Gepäck völlig lautlos zu bewegen, sodass die Konfrontationen immer häufiger und heftiger wurden.

Man ging vermehrt dazu über, den Untoten Fallen zu stellen, statt ihnen hinterher zu jagen.

Das Oberkommando hatte hierfür eine neue Technologie angekündigt, die an der Front ab März einsatzbereit sein sollte. Bis dahin hieß es für die Sturmtruppen: improvisieren.

Es wurden Stahlnetze herangeschafft, mit denen man Zeds fing und sie direkt zu Verbrennungsgruben transportierte, wo sie mit Benzin übergossen und verbrannt wurden. Auch der Einsatz von Säure hatte sich als nützlich erwiesen, bei dieser Technik wurden die Zeds durch gezielte Geräuschführung zu Säurebecken gelenkt, wo sie vergingen. Auch Versuche, die gierigen Kreaturen ins Wasser zu locken, wo sie einfach untergingen und nicht wieder auftauchten, waren hier und da erfolgreich.

Ein Großteil der Zed-Jagd war jedoch nach wie vor sozusagen Handarbeit. Je fünf bis zehn Teams pro Straßenzug durchkämmten die Städte; Straße für Straße, Haus für Haus, Wohnung für Wohnung und Raum für Raum. Ausgerüstet mit modernsten Waffen, Nachtsichtgeräten und Schalldämpfern, hetzten die Soldaten von Tür zu Tür, und immer wieder ging es plopp-plopp-plopp, wenn sie auf die Zeds trafen und sie erledigten. Glücklicherweise hatten die Aktionen, die seit dem frühen Herbst liefen, bereits über eine Million Zeds erledigt, das war fast die Hälfte der Bevölkerung von Norddeutschland. In Dänemark gab es damals gut fünf Millionen Einwohner, so dass rechnerisch zum gegenwärtigen Zeitpunkt insgesamt noch vielleicht drei Millionen Zeds ihr Unwesen trieben, diese Zahl sank aber rapide mit jedem Tag. Die Amerikaner und Briten rollten das dänische Festland und die Inseln von Norden her auf, wobei die kleineren Inseln von der Luftwaffe mit Cluster- und Aerosolbomben aus der Luft dekontaminiert wurden. Dort ging es zurzeit gut voran.

Die Kommandanten der im Nord-Ostsee-Kanal patrouillierenden Schiffe konnten am Nordufer immer seltener Zeds entdecken, deshalb beschloss man, die am Südufer lungernden Untoten mit MGs zu eliminieren.

Auf den Wirtschaftswegen der Wasserstraßenverwaltung, die direkt am Wasser entlang führten, rotteten sich immer wieder große Kontingente von Jäger-Zeds zusammen und versuchten, die gesicherten Brücken zu überrennen. Die Brückensicherungszüge waren stets dankbar, wenn die Marineeinheiten ihnen mit ihren Bordgeschützen etwas Arbeit abnahmen.

Am Mittag trafen sich die Bataillonskommandeure im Rendsburger Arsenal, einem alten preußischen Militärgebäude mit großem Innenhof und moderner Infrastruktur. Hier waren die Standortkommandos untergebracht und die Kommunikationszentren und Knotenpunkte befanden sich hier, ziemlich genau in der Mitte des ersten Eroberungsabschnittes. Der Vormarsch lief nach einhelliger Meinung so gut, dass Mitte März die ersten Zivilisten zurückkehren konnten, man musste nur strikt darauf achten, keinen neuen Ausbruch des Virus zu riskieren. In zwei Wochen sollte eine Operation anlaufen, die größere Ballungszentren dekontaminieren würde, und dann war die große Offensive geplant, die alles bislang Dagewesene in den Schatten stellen sollte. Zur Vorbereitung dieser taktischen Maßnahmen wurden bereits jetzt die Truppenstärken reduziert, Marschkolonnen organisiert und entsprechende Transportmittel vorbereitet. Aufgabe dieser Tagung war es, die Truppen so umzugestalten, dass der erste Rückeroberungsabschnitt wie geplant befreit und gehalten werden konnte, dazu hatte das Oberkommando entsprechende technische Mittel in Aussicht gestellt. Zweite Vorgabe war, dass sämtliche metallverarbeitenden Betriebe nach Baumaterial für Zäune durchsucht werden mussten, ebenso Landhandelsbetriebe und Baumärkte.

Die Heeresleitung brauchte jede Unze Drahtzaun, jeden Zentimeter Zaunpfahl und jede Rolle Draht, die man bekommen konnte. Eine riesige Flotte von LKW wurde instandgesetzt, um die Eisenwaren nach Hirtshals im Norden Dänemarks zu schaffen, hier wurden sie auf Schiffe verladen, die das Material nach Archangelsk im Norden Russlands verschifften. Ebenso sollte es dann auf jedem Meter eroberten Bodens geschehen, denn im Osten sollte eine befestigte Frontlinie errichtet werden, die über zweitausend Kilometer messen würde.

Es wurde debattiert, geplant, entschieden, verworfen und neu geplant, bis schließlich der Rahmenplan für den Abschnitt eins fest stand.

Die Heeresleitung stimmte zu, und binnen kürzester Zeit wurden die Umkontingentierungen vorgenommen. Lange war es her, dass von deutschem Gebiet aus Soldaten an eine Ostfront geschickt worden waren, für manch einen Offizier in den vereinten Streitkräften war das ein Umstand, der einiger Gewöhnung bedurfte. Aber alles in allem funktionierte die Neuorganisation und Zusammenlegung der Truppenteile ganz gut.

Zwar war Englisch als Amtssprache gewählt worden, aber dennoch gab es hin und wieder Kauderwelsch und Sprachverwirrung. Besonders die kyrillische Beschriftung an manchen Fahrzeugen und technischen Einrichtungen war für amerikanische und europäische Soldaten oftmals verwirrend. Erstaunlicherweise war es andersherum nicht so. Insgesamt musste man feststellen, dass die russischen und auch die chinesischen Soldaten auf die Zusammenlegung der Waffengattungen besser vorbereitet waren. General Pjotrew hatte das einmal scherzhaft damit begründet, dass seinen Soldaten von Anfang an beigebracht wurde, dass man das, was man erobern wolle, auch verstehen müsse.

In der Feste Rungholt liefen die Vorbereitungen für die Operation Cold Fire auf Hochtouren. Die militärische Führung hatte sich dermaßen über Marschall Gärtners Bemerkung dazu amüsiert, dass die deutschsprachigen Offiziere in der Einsatzzentrale hinter vorgehaltener Hand nur noch vom Adventskalender sprachen. Über Kurzwelle, UKW und alle anderen verfügbaren Frequenzen wurde mittlerweile in sieben verschiedenen Sprachen eine Nachricht des Oberkommandos verbreitet.

»An alle Menschen, die mich hören können. Hier spricht Marschall Thilo Gärtner, Oberkommandierender der New World Army. Die vereinten internationalen Streitkräfte werden ab dem ersten Dezember Luftschläge gegen die Zeds über europäischem Gebiet führen. Wir werden verschiedene Städte bombardieren, dort wird dann kein Leben mehr möglich sein. Wenn Sie im Großraum der Städte, die ich gleich nenne, leben, verlassen Sie dieses Gebiet bitte sofort! Versuchen Sie nicht, Schutz zu suchen, sondern halten Sie mindestens einhundert Kilometer Abstand zu den Städten. Kehren Sie nicht in die Städte zurück, dort herrscht extrem hohe Strahlung, die in jedem Fall tödlich ist. Noch einmal: In den Städten werden Sie unter keinen Umständen überleben können. Folgende Städte werden im Abstand von vierundzwanzig Stunden, beginnend am ersten Dezember, bombardiert werden: Madrid, Barcelona, Rom, Belgrad, Paris, Wien, Minsk, Rotterdam, Amsterdam, Stuttgart, München, Prag, Kiew, Hamburg, Helsinki, Oslo, Kopenhagen, Stockholm, Berlin, Warschau, Riga, Vilnius, Sankt Petersburg, Moskau. Verlassen Sie diese Städte umgehend, meiden sie sie künftig. Diese Durchsage wird alle zwei Stunden in verschiedenen Sprachen wiederholt. Möge Gott uns allen beistehen. Ende der Durchsage.«

Jahr Eins. 01. Dezember, Früher Morgen

In der Feste Rungholt waren die letzten Arbeiten abgeschlossen. Insgesamt vier funktionsfähige Transall-Maschinen standen bereit, um die Cold Fire-Bomben zu den vorgesehenen Zielen zu tragen. Geflogen werden sollte immer in der Formation, ein Tankflugzeug stand jederzeit bereit bzw. kreiste in der Nähe der Maschinen nach einem ausgetüftelten Flugplan.

In einer der C160 war die Bombe untergebracht, die jeweils an einem Tag abgeworfen werden sollte, zusätzlich noch dreißig Mann schwer bewaffneter Eskorte und technisches Equipment, falls die Maschine aus irgendeinem Grund heruntergehen musste.

Eine zweite Maschine trug die anderen Bomben und war ebenfalls gut bewacht. Die anderen beiden Maschinen waren mit Proviant, Werkzeug, Ersatzteilen und weiteren achtzig Soldaten beladen, denn die Staffel würde in den nächsten vierundzwanzig Tagen nicht nach Helgoland zurückkehren. Es war geplant, quasi einen europäischen Rundflug zu starten, einmal täglich nach Abwurf der Bombe würde die Staffel einen Flugplatz ansteuern, den das Kommando mit den Drohnen und Satelliten ausgekundschaftet hatte.

Die Soldaten waren exzellent ausgebildet und gut bewaffnet, sie konnten die Staffel auch gegen größere Zed-Attacken verteidigen. Die Sonne hatte noch nicht den Horizont erreicht, als die vier Maschinen Richtung Süden starteten, um die Operation Cold Fire in Madrid zu beginnen.

Um Sechzehn-Hundert fiel über der spanischen Millionenstadt die erste Bombe.

 

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T93 ‒ Band 3

Erobere!

(Juni 2014)