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„Sin­ge, o Göt­tin, den Zorn des Achill …“ So be­ginnt die Ili­as des Ho­mer, so be­ginnt die Ge­schich­te je­ner Er­eig­nis­se, die be­reits 4300 Jah­re zu­rück­lie­gen. Es ist die Ge­schich­te über den Zorn des Achil­les – dies aber ist die Ge­schich­te mei­nes Zorns und mei­ner Wut, mei­ner zor­ni­gen Ver­zweif­lung ge­gen­über den bei­den Wel­ten, die sich die Freund­li­chen Wel­ten oder Quä­ker­wel­ten nen­nen, ge­gen die ein­ge­schwo­re­nen, fa­na­ti­schen Sol­da­ten von Har­mo­nie und Ein­tracht in ih­ren pech­schwar­zen Uni­for­men; denn ich bin, wie Achil­les, ein Er­den­mensch.

Be­ein­druckt dich das nicht? Auch nicht heut­zu­ta­ge, wo die Söh­ne der jün­ge­ren Wel­ten grö­ßer, kräf­ti­ger, ge­schick­ter und ge­schei­ter sind als wir, die von Al­t­er­de stam­men? Wie we­nig kennst du dann die Er­de und die Söh­ne die­ser Er­de. Ver­laß dei­ne Neu­en Wel­ten und keh­re zum Mut­ter­pla­ne­ten zu­rück, komm nur ein­mal zu­rück und be­rüh­re sie. Sie ist im­mer noch die­sel­be. Ih­re Son­ne scheint über den Was­sern des Ro­ten Mee­res, die sich einst vor den Kin­dern Got­tes ge­teilt ha­ben. Im­mer noch weht der Wind über den Paß von Ther­mo­py­le, wo einst Leo­ni­das mit sei­nen drei­hun­dert Spar­ta­nern den Per­ser­kö­nig Xer­xes auf­ge­hal­ten und da­durch den Lauf der Ge­schich­te ge­än­dert hat. Hier ha­ben Men­schen ge­kämpft, sind Men­schen ge­stor­ben, hier wur­den Men­schen ge­bo­ren und be­gra­ben, hier ha­ben sie ge­wirkt und ge­baut mehr als 500 Jah­re vor der Zeit, wo sich der Mensch eu­re Neu­en Wel­ten nicht im Traum vor­stel­len konn­te. Glaubst du, daß je­ne fünf Jahr­hun­der­te, wo Ge­ne­ra­ti­on für Ge­ne­ra­ti­on un­ter dem­sel­ben Him­mel, auf dem­sel­ben Bo­den leb­te, kei­ne Spur in un­se­rem Blut, in Leib und See­le hin­ter­las­sen ha­ben?

Die Män­ner von Dor­sai mö­gen Krie­ger sein, die je­de Vor­stel­lung über­tref­fen. Die Exo­ten von Ma­ra und Kul­tis mö­gen ein­ge­schwo­re­ne Ma­gier sein, die einen Men­schen um­stül­pen und Din­ge wis­sen kön­nen, die jen­seits al­len Den­kens lie­gen. Die For­scher und ex­ak­ten Wis­sen­schaft­ler von New­ton und Ve­nus mö­gen uns ge­wöhn­li­che Sterb­li­che so weit über­flü­gelt ha­ben und so über­heb­lich ge­wor­den sein, daß sie kaum mehr mit uns re­den.

Doch wir – wir be­schränk­ten, klei­ne­ren, ein­fa­che­ren Men­schen von Al­t­er­de be­sit­zen im­mer noch et­was, was die an­de­ren nicht ha­ben. Denn wir stel­len nach wie vor das gan­ze Sein des Men­schen, den Grund­stoff, de­ren ver­fei­ner­te Aus­ga­ben die an­de­ren sind – glän­zen­de, ge­schlif­fe­ne, fun­keln­de Tei­le, aber eben nur Tei­le und nicht mehr.

Wenn du aber im­mer noch zu den an­de­ren ge­hörst, wie mein On­kel Ma­thi­as Olyn, der glaubt, al­le Weis­heit die­ser Welt ge­pach­tet zu ha­ben, dann darf ich viel­leicht auf die von den Exo­ten un­ter­hal­te­ne En­kla­ve in St. Louis hin­wei­sen, wo vor 43 Jah­ren ein Er­den­mensch na­mens Mark Tor­re, ein Mann mit Ge­fühl und ei­nem Blick für die Zu­kunft, je­nes Werk zu er­rich­ten be­gann, das in hun­dert Jah­ren als Letz­te En­zy­klo­pä­die gel­ten wird. In 60 Jah­ren schon wird sie viel zu mas­siv, viel zu kom­pli­ziert und viel zu hei­kel sein, als daß die Er­de sie noch tra­gen könn­te. Ir­gend­wann wird sie sich auf ei­ner Um­lauf­bahn um den Mut­ter­pla­ne­ten be­fin­den, und in hun­dert Jah­ren wird sie dann – aber nie­mand weiß ge­nau, was dann sein wird. Mark Tor­res Theo­rie lau­tet, daß sie uns dann tiefs­te Ein­sich­ten ver­mit­teln wird – in ir­gend­ei­nen ver­bor­ge­nen Teil in den Tie­fen der ir­di­schen Men­schen­see­le und des ir­di­schen Seins, die die Be­woh­ner der jün­ge­ren Wel­ten nicht mehr be­sit­zen oder um­stän­de­hal­ber ein­fach nicht ken­nen kön­nen.

Doch sieh doch selbst nach, über­zeu­ge dich selbst. Geh in die En­kla­ve von St. Louis und schlie­ße dich ei­ner der Grup­pen an, die durch die Räu­me und For­schungs­stät­ten des En­zy­klo­pä­die-Pro­jek­tes und schließ­lich in den ge­wal­ti­gen In­dex­raum im Mit­tel­punkt, ge­führt wer­den, wo man die Wän­de die­ser ku­gel­för­mi­gen Hal­le be­reits mit all je­nem Stoff be­schickt, der das Wis­sen der Jahr­hun­der­te er­schließt. Wenn dann in hun­dert Jah­ren die Hal­le rand­voll ge­füllt sein wird, wer­den die ver­schie­de­nen Wis­sens­ge­bie­te mit­ein­an­der in Be­zie­hung ge­bracht, die bis­lang noch nie in ir­gend­wel­che Be­zie­hung zu­ein­an­der ge­bracht wor­den sind, Ver­knüp­fun­gen, die bis­her noch kei­nes Men­schen Geist fer­tig­ge­bracht hat. Und was wer­den wir dann er­bli­cken, was er­ken­nen?

Ge­heim­nis­se un­be­kann­ter Wel­ten in uns?

Doch wie ge­sagt, mach dir dar­über vor­erst kei­ne Ge­dan­ken. Geh ein­fach hin und be­su­che das In­dex­zim­mer – das ist al­les, was ich von dir ver­lan­ge. Geh hin und schau es dir an, zu­sam­men mit den an­de­ren Be­su­chern. Stell dich mit­ten hin­ein und tu, was dir der Frem­den­füh­rer sagt.

Hor­che.

Hor­che. Steh ein­fach da und sper­re die Oh­ren auf. Lau­sche – aber du wirst nichts hö­ren. Ir­gend­wann wird dann der Frem­den­füh­rer das schier un­er­träg­li­che Schwei­gen bre­chen und dir sa­gen, warum du un­be­dingt hor­chen soll­test.

Nur ei­ner un­ter Mil­lio­nen wird je et­was zu hö­ren be­kom­men – ei­ner un­ter Mil­lio­nen Erd­ge­bo­re­nen.

Doch kei­ner – nicht ein ein­zi­ger – un­ter de­nen, die auf den Neu­en Wel­ten ge­bo­ren wur­den und hier­her­ge­kom­men sind, um zu lau­schen, ha­ben je auch nur einen ein­zi­gen Ton ver­nom­men.

Meinst du viel­leicht, daß dies noch gar nichts be­weist? Dann, mein Freund, bist du auf dem Holz­weg. Denn ich bin ei­ner von de­nen, die et­was ge­hört ha­ben – was im­mer da auch zu hö­ren war –, und es hat mein Le­ben ver­än­dert, was mei­ne Ta­ten be­wei­sen, ge­rüs­tet durch Selbs­t­er­kennt­nis im Be­wußt­sein mei­ner Macht, die sich spä­ter in Zorn ver­wan­del­te, so daß ich die Ver­nich­tung der Be­woh­ner der bei­den Quä­ker­wel­ten plan­te.

Lach mich al­so nicht aus, wenn ich mei­nen Zorn mit dem Zorn des Achil­les ver­glei­che, der ver­bit­tert und zer­ris­sen bei den Boo­ten un­ter den Mau­ern von Tro­ja stand. Tam Olyn ist mein Na­me, und mei­ne Vor­fah­ren wa­ren über­wie­gend iri­scher Ab­stam­mung. Doch ich bin auf dem Pe­lo­pon­nes in Grie­chen­land auf­ge­wach­sen, wie Achil­les, um schließ­lich das zu wer­den, was ich heu­te bin.

Im Schat­ten der Rui­nen des Par­the­non, die sich in wei­ßer Pracht über der Stadt Athen er­he­ben, wur­den un­se­re See­len durch mei­nen On­kel ver­düs­tert, See­len, die er ei­gent­lich hät­te frei­le­gen müs­sen, da­mit sie un­ter der Son­ne ge­dei­hen. Mei­ne See­le – und die mei­ner jün­ge­ren Schwes­ter Ei­leen.