24
Nach seiner Landung auf Dorsai rief Cletus bei Major Arvid Johnson, jetzt diensthabender Feldkommandeur, an und bat ihn zu sich in das Grahame-Haus. Dann bestieg er ein Flugzeug nach Foralie und zum Grahame-Haus, immer noch in seiner Felduniform, gefolgt von Bill Athyer, der sich ihm wie ein krummnasiger Schatten an seine Fersen heftete.
Melissa, Arvid und Eachan kamen ihm an der Haustür entgegen. Athyer, schüchtern trotz seines Ranges, den er jetzt bekleidete, stand bescheiden im entferntesten Winkel der Eingangshalle, während Cletus Melissa und Eachan kurz begrüßte und dann sofort auf sein Arbeitszimmer zusteuerte, während er Eachan und Arvid bedeutete, ihm zu folgen.
„Sie auch, Bill“, sagte er zu Athyer.
Dann schloß er die Tür des Büros hinter sich. „Wie lauten die neuesten Nachrichten?“ fragte Cletus seinen Schwiegervater, während er um den Schreibtisch herumging, sich hinter einem Stapel von Meldungen aufbaute und den Blick auf den Papierberg heftete.
„Es sieht so aus, als sei deCastries als Oberkommandeur der vereinigten Allianz-Koalitions-Truppen auf der neuen Welt bereits vor mehreren Monaten eingesetzt worden“, erwiderte Eachan. „Die Koalition und die Allianz haben die Sache geheimgehalten, während die beiden Kommandozentralen eine Pressekampagne starteten, um die Bevölkerung der Erde auf beiden Seiten mit der Idee vertraut zu machen. Auch Arthus Walco ist eingetroffen und möchte dich sprechen. Es sieht ganz so aus, als würde ihm deCastries mit den Stibnitminen auf Newton Schwierigkeiten machen.“
„Ja, überall auf den neuen Welten werden jetzt Kleinkriege ausbrechen.. Ich werde Walco morgen früh sehen“, sagte Cletus. Dann wandte er sich an Arvid.
„Nun gut, Arv“, sagte er. „Wenn die Dorsai Auszeichnungen zu vergeben hätten, so würde ich Ihnen sofort eine Handvoll Orden geben. Ich hoffe, daß Sie mir eines Tages verzeihen werden, auch wenn es so aussah, als hätte ich Sie im Feld benachteiligt.“
„Also war es keine böse Absicht, Sir?“ fragte Arvid gelassen.
„Nein“, meinte Cletus. „Ich beabsichtigte, eine gewisse Entwicklung bei Ihnen herbeizuführen. Und jetzt habe ich mein Ziel erreicht.“
In der Tat, dieser Arvid Johnson, der jetzt vor ihnen stand, war ein ganz anderer Mensch. Vor allem sah er mindestens fünf Jahre älter aus. Sein einst weißblondes Haar war mit den Jahren dunkler geworden, seine Haut von der Sonne gebräunt. Er sah aus, als hätte er abgenommen, trotzdem schien er irgendwie breiter zu sein als früher, ein Mann mit festen Knochen und schwellenden Muskeln.
Gleichzeitig aber hatte er etwas Positives verloren, nämlich seine Jugendlichkeit und eine freundliche Sanftheit, die zu den Grundzügen seines Charakters gehörte. Diese Eigenschaften waren von ihm gewichen, hatten einem Ingrimm und einer gewissen Reserviertheit Platz gemacht, als sei er sich jener Kraft und jener Fähigkeiten bewußt geworden, die ihn von den anderen Menschen trennten, als sei ein Teil der schieren, physischen, fast tödlichen Gelassenheit in ihn übergegangen, die Swahili sein eigen nannte.
Jetzt stand er bewegungslos da. Als er sich zuvor bewegt hatte, war dies fast lautlos und mit einer Sorgfalt aus jenem Bewußtsein heraus geschehen, daß alle anderen kleiner und schwächer waren als er und er aufpassen mußte, um ihnen auch unbeabsichtigt kein Leid anzutun. Er stand neben Cletus’ Schreibtisch wie ein Riese aus der Zukunft, eine Art unbesiegbarer Gigant, der allen anderen überlegen war, wie Aladins Geist aus der Flasche.
„Es freut mich, das zu hören“, sagte er leise zu Cletus. „Was wünschen Sie? Was soll ich für Sie tun?“
„Schlagen Sie eine Schlacht – wenn es notwendig ist“, sagte Cletus. „Ich gebe Ihnen eine Welt zum Verteidigen. Und ich werde sie um zwei Dienstgrade zum Vizemarschall befördern. Sie werden mit einem weiteren Offizier zusammenarbeiten, der ebenfalls einen ganz neuen Rang bekleiden wird – nämlich den Rang eines Kampfoperateurs.“
Er wandte sich um und schaute Bill Athyer an. „Das wird Bill sein“, sagte er. „Als Kampf-Op wird Bill Ihnen direkt unterstellt sein, aber ansonsten über allen anderen Offizieren im Feld, mich ausgenommen, stehen.“
Arvid und Bill schauten sich an.
„Kampfoperateur?“ sagte Eachan. „Richtig“, erwiderte Cletus. „Schau nicht so überrascht drein, Eachan. Dieses Ziel hatten wir von Anfang an angesteuert – seit der Reorganisation und Umschulung der Mannschaft.“
Sein Blick wanderte zu Arvid und Bill zurück. „Der Marschall oder der Vizemarschall und der Kampfoperateur werden ein Generalkommando-Team bilden. Der Kampf-Op ist der theoretische Stratege und der Vizemarschall der Feldtaktiker. Die Zusammenarbeit wird etwa die gleiche sein wie die eines Architekten und eines Generallieferanten beim Bau eines Hauses. Der Kampf-Op prüft die strategische Lage und das Problem und arbeitet einen Schlachtplan aus, wobei er jede Vollmacht besitzt und absolut freie Hand hat.“
Während er sprach, hatte Cletus besonders Bill beobachtet. Jetzt legte er eine Pause ein. „Haben Sie verstanden, Bill?“ fragte er.
„Jawohl, Sir“, erwiderte Athyer.
„Dann allerdings …“ – Cletus’ Blick wanderte zu Arvid hinüber – „… übergibt der Kampf-Op seinen strategischen Plan dem Vizemarschall, und von diesem Augenblick an ist er es, bei dem die Vollmachten liegen. Er überprüft den vorgelegten Plan, nimmt solche Änderungen vor, die ihm angesichts der Praxis notwendig erscheinen und führt ihn dann durch, sobald er die Überzeugung gewonnen hat, daß der Plan einwandfrei ist. Haben Sie verstanden, Arv?“
„Jawohl, Sir“, sagte Arvid sanft.
„Gut“, meinte Cletus. „Dann sind Sie und Bill ab sofort von Ihren jetzigen Pflichten entbunden und werden Ihr neues Amt unverzüglich antreten. Die erste Welt, die ich Ihnen übergebe, ist die Dorsai-Welt, und die erste Armee, mit der Sie zu arbeiten haben, wird aus Frauen und Kindern, aus Kranken und Behinderten und aus dem Mann auf der Straße bestehen.“
Er schenkte den beiden ein kleines Lächeln. „Also dann ans Werk, ihr beiden“, sagte er. „Heutzutage haben wir alle miteinander keine Zeit zu verlieren.“
Als sich die Bürotür hinter den beiden geschlossen hatte, überfiel ihn plötzlich eine Müdigkeit, die er seit Tagen und Stunden zu bekämpfen versucht hatte. Er schwankte im Stehen und spürte, wie ihn Eachan am Ellbogen faßte.
„Nein – es ist alles in Ordnung“, sagte er. Sein Blick wurde wieder klar, und er schaute in Eachans besorgtes Gesicht. „Ich bin nur müde, das ist alles. Ich mache jetzt ein Nickerchen, und nach dem Abendessen sehen wir weiter.“
Er verließ das Büro in Eachans Begleitung, wobei es ihm vorkam, als würde er auf Daunen gehen, und ging in sein Schlafzimmer hinauf. Dann stand er vor seinem Bett und ließ sich einfach in die Kissen fallen, ohne auch nur seine Stiefel auszuziehen … Das war alles, woran er sich später erinnerte.
Er erwachte kurz vor Sonnenuntergang, nahm eine leichte Mahlzeit zu sich und ließ sich dann eine halbe Stunde Zeit, um mit seinem Sohn Wiedersehen zu feiern. Dann schloß er sich mit Eachan in seinem Büro ein und machte sich daran, den Papierkram zu erledigen. Sie sortierten die Korrespondenz in zwei Haufen, einen, den Cletus selbst zu beantworten hatte, und einen zweiten, den Eachan nach seinen kurzen Anweisungen übernehmen konnte. Die beiden Männer diktierten fast bis zum Morgengrauen, bis der Tisch leer war und die erforderlichen Befehle an die Dorsai in anderen Welten hinausgegangen waren.
Das Gespräch, das am nächsten Tag mit dem VFG-Ratsvorsitzenden von Newton im Büro stattfand, war kurz und bitter. Diese Bitternis hätte fast zu einem Streit geführt, und die Besprechung hätte sich ungebührlich in die Länge gezogen, hätte Cletus Walcos kaum verhüllten Vorwürfen nicht kurzerhand Einhalt geboten.
„Der Vertrag, den ich mit Ihnen unterzeichnet habe“, sagte Cletus, „lautete, Wasserhütte und die Stibnitminen zu erobern und die Stadt und die Minen Ihren Truppen zu übergeben. Wir haben jedoch nicht garantiert, daß Sie die Kontrolle über die Minen behalten. Es war Ihre Sache, die Minen zu halten und mit den Broza zu einer Einigung zu gelangen.“
„Wir hatten uns geeinigt!“ sagte Walco. „Aber jetzt, da Dank der Freundlichkeit des Herrn deCastries plötzlich Verstärkungen in Form von fünfzehntausend Allianz- und Koalitionssoldaten aufgetaucht sind, wollen sich die Broza nicht mehr an die Vereinbarung halten. Sie sagen, sie hätten unter Druck gehandelt!“
„Stimmt das etwa nicht?“ wollte Cletus wissen.
„Darum geht es gar nicht! Wir brauchen Sie und genügend Truppen von den Dorsai, und zwar sofort, um jenen fünfzehntausend Soldaten von der Erde zu begegnen, die wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen hängen!“
Cletus schüttelte den Kopf. „Tut mir leid“, sagte er. „Meine Söldner, die mir zur Verfügung stehen, werden für andere dringende Einsätze gebraucht. Und ich selbst bin ebenfalls nicht frei, um nach Newton zu kommen.“
Walcos Züge verkrampften sich und wurden hart. „Sie haben uns geholfen, unser Ziel zu erreichen“, sagte er. „Aber jetzt, wo es Schwierigkeiten gibt, lassen Sie uns einfach hängen. Halten Sie das für gerecht?“
„War denn je von Gerechtigkeit die Rede, als Sie uns den ursprünglichen Vertrag unterzeichnen ließen?“ erwiderte Cletus grimmig. „Ich kann mich nicht entsinnen. Wäre das der Fall gewesen, hätte ich Ihnen entgegenhalten müssen, daß Sie zwar mit Hilfe Ihrer finanziellen Mittel und Ihrer Experten die Stibnitmine ausgebaut haben, aber nur, weil Sie in der Lage waren, aus der Armut der Brozan Ihre Vorteile zu ziehen, ein Umstand, der jene davon abgehalten hat, die Minen selbst auszubauen. Vielleicht haben Sie ein finanzielles Interesse an diesen Minen, aber die Brozan haben ein moralisches Recht darauf – weil es sich um natürliche Ressourcen handelt. Wenn Sie dies bedacht hätten, wäre es kaum nötig gewesen …“ Cletus brach plötzlich ab.
„Entschuldigen Sie“, sagte er trocken. „Ich bin etwas überarbeitet. Ich habe es schon lange aufgegeben, für andere Leute zu denken. Wie gesagt, ich kann Ihnen weder meine eigene Person noch eine Expeditionsarmee in dem Umfang zur Verfügung stellen, wie Sie es fordern.“
„Was wollen Sie dann für uns tun?“ stammelte Walco.
„Ich kann Ihnen ein paar Leute schicken, die als Offiziere Ihre eigenen Streitkräfte beraten und befehligen, vorausgesetzt daß Sie mir vertraglich versichern, daß diese Leute ihre militärischen Entscheidungen selbst treffen können.“
„Was?“ rief Walco aus. „Das ist ja schlimmer als gar nichts!“
„Mir soll’s recht sein, wenn Sie es nicht akzeptieren wollen“, sagte Cletus. „Wenn dies der Fall ist, dann lassen Sie es mich gleich wissen. Meine Zeit ist im Augenblick mehr als knapp.“
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Walcos Gesichtszüge entspannten sich allmählich und ließen fast einen Anflug von Verzweiflung erkennen.
„Wir werden Ihre Offiziere nehmen“, sagte er, dabei tief ausatmend.
„Gut. Oberst Khan wird den Vertrag in zwei Tagen ausfertigen und bereitstellen. Dann können Sie die Bedingungen mit ihm besprechen“, sagte Cletus. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen …“
Walco ging, und Cletus bat David Ap Morgan herein, einen von Eachans alten Offizieren, der jetzt den Rang eines Oberkommandeurs im Feld bekleidete. Er trug ihm auf, die Offiziere auszuwählen, die nach Newton geschickt werden sollten, um das Kommando über die Truppen der VFG zu übernehmen.
„Sie können natürlich den Auftrag ablehnen“, meinte Cletus.
„Sie wissen genau, daß ich das nicht tun werde“, gab David Ap Morgan zurück. „Was kann ich für Sie tun?“
„Danke“, sagte Cletus. „In Ordnung. Ich werde Ihnen etwa zwölfhundertfünfzig Mann mitgeben, wobei jeder um mindestens eine Stufe befördert wird. Ihre Leute werden alle lokalen Offiziere ablösen – buchstäblich alle. Der Vertrag wird so aufgesetzt, daß Sie in militärischen Dingen allein das Sagen haben. Sehen Sie zu, daß Sie dieses Kommando festigen. Vor allem aber befolgen Sie unter keinen Umständen irgendwelche Anweisungen von Walco oder seiner Regierung. Sagen Sie den Leuten, wenn man Sie nicht gewähren läßt, dann würden Sie abziehen und zu uns zurückkehren.“
David nickte. „Jawohl, Sir“, sagte er. „Haben Sie irgendwelche Pläne für die Operationen?“
„Lassen Sie sich auf keine Kämpfe ein“, meinte Cletus. „Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß sich Ihre VFG-Truppen sich auch kaum für so etwas eignen. Aber selbst wenn dies anders wäre, möchte ich nicht, daß Sie kämpfen. Versetzen Sie diesen Allianz-Koalitions-Streitkräften Nadelstiche, animieren Sie sie zu einer Verfolgungsjagd – und spielen Sie Fuchsjagd mit ihnen. Führen Sie sie kreuz und quer über die Landkarte. Versetzten Sie ihnen immer wieder einen Hieb, damit sie Ihnen auf den Fersen bleiben, und lösen Sie sich in Guerillatruppen auf, wenn sie Ihnen zu nahe kommen. Tun Sie alles, was notwendig ist, um sie in Trab zu halten, und lassen Sie sich wie gesagt nach Möglichkeit nicht in Kämpfe verwickeln.“
David nickte wieder.
„Ich glaube …“ – Cletus schaute ihn ernst an – „… Sie werden in den ersten vier bis sechs Wochen etwa siebzig bis achtzig Prozent Ihrer VFG-Truppen durch Desertion verlieren. Diejenigen, die bei Ihnen bleiben, werden allmählich Vertrauen zu Ihnen fassen. Sie werden in der Lage sein, sie auszubilden, so daß sie allmählich zu guten Soldaten werden.“
„Ich werde Ihren Rat befolgen“, sagte David. „Sonst noch was?“
„Nein. Aber verkaufen Sie Ihre Haut so teuer wie möglich“, erwiderte Cletus. „Lassen Sie sie ungeschoren, wo immer es möglich ist. Machen Sie es ihnen nicht allzu schwer, aber plündern Sie ihr Material. Je mehr aktive Soldaten sie haben, um so härter wird sie jeder Verlust an Lebensmitteln, Geräten oder sonstigem Nachschub treffen. Vernichten Sie alles, was Ihnen unter die Finger kommt, nehmen Sie jede sich bietende Gelegenheit wahr.“
„Verstanden“, sagte David. Dann ging er pfeifend aus dem Zimmer und begab sich in das nahe gelegene Fal Morgan, um seine Sachen zu packen. Wie alle Mitglieder seiner Familie besaß auch er eine angenehme Stimme und verstand es, sanft und fast künstlerisch zu pfeifen. Während er pfeifend durch die Eingangshalle ging und der Pfeifton immer schwächer wurde, bis er schließlich die Haustür des Grahame-Hauses hinter sich schloß, fiel Cletus plötzlich ein Lied ein, das ihm Melissa einst vorgespielt und vorgesungen hatte. Es war eine kleine, einfache, hübsche Melodie, die ein junges Mitglied der Familie Ap Morgan komponiert hatte, ein junger Mann, der in irgendeinem Feldzug gefallen war, als Melissa noch sehr jung war, lange bevor Cletus zu den Dorsai stieß.
Er konnte sich nicht mehr genau an den Text erinnern, aber es ging wohl um die Erinnerungen eines jungen Soldaten an das Haus, in dem er aufgewachsen war, während er auf einen Marschbefehl wartete, das ihn in andere Welten entführte.
… Fal Morgan, Fal Morgan, der Morgen graut, deine Mauern, dein Dach sind mir nah und vertraut …
Cletus schüttelte sich und streifte die sentimentale Stimmung ab, die ihn zu überkommen drohte. Dann machte er sich daran, die Leute auszusuchen, die er befördern und David mitgeben wollte.
Während der kommenden Wochen hielt die Nachfrage nach den Berufssoldaten der Dorsai weiter an. Überall, wo Cletus eine Auseinandersetzung gewonnen hatte, war die kombinierte Streitmacht der Allianz und der Koalition in Aktion und versuchte, die Lage zu ihren Gunsten zu verändern.
Die Bemühungen der irdischen Streitkräfte waren gewichtig und gaben zu mancher Besorgnis Anlaß. Die Allianz und die Koalition hatten über eine halbe Million Soldaten über die neuen Welten verteilt. Wären all diese Truppen bei all den kriegerischen Unternehmungen, die Dow deCastries plante, voll einsatzbereit gewesen, so hätten weder die Dorsai noch die angegriffenen Kolonien mehr als ein paar Tage Widerstand leisten können.
Was nun diese 500 000 Mann betraf, so war mindestens die Hälfte mit anderen Aufgaben als denen eines Kampfsoldaten oder Feldoffiziers betraut. Und von den etwa 250 000 Mann, die für den Einsatz im Feld übrigblieben, waren mehr als 150 000 stets durch verschiedene Umstände am Einsatz gehindert – sei es durch anderweitige Tätigkeit oder weil sie es einfach verstanden, sich durch irgendwelche Ausreden dem Einsatz im Feld zu entziehen.
Aber selbst unter diesen Leuten herrschte Mißtrauen und Rivalität, insbesondere unter den ehemaligen Offizieren der Allianz und ihren neuen Koalitionspartnern. Außerdem herrschten auch Unbekümmertheit und Mißgunst unter all den verschiedenen Rangstufen und verschiedenen politischen Ansichten, wie es in einer großen, schnell zusammengewürfelten Partnerschaft militärischer Einheiten in einem solchen Fall üblich ist.
Wenn man all dies berücksichtigte, blieben allerdings immer noch etwa 80 000 Mann übrig. Diesen gut ausgebildeten und vorzüglich ausgerüsteten Truppen von der Erde standen etwa 200 000 schier unbrauchbare und praktisch nicht ausgerüstete Kolonialsoldaten plus eine Handvoll Dorsai gegenüber. Cletus war kaum in der Lage, 20 000 Dorsai auf die Beine zu stellen, selbst wenn er alle männlichen Wesen dieser kleinen Welt einschließlich der Krüppel und Behinderten zwischen zwölf und achtzig zu seinen Fahnen gerufen hätte.
Die eine Lösung bestand darin, kleine Dorsai-Kontingente zu entsenden, um den Kolonialtruppen dort beizustehen, wo die Kolonialtruppen ein Minimum an Ausbildung und Schlagkraft aufzuweisen hatten. Wo dies nicht der Fall war – etwa auf Cassida – oder wo es einfach keine einheimischen Kolonialtruppen gab – wie auf St. Marie – wären echte Dorsai-Kontingente vonnöten gewesen.
„Warum können wir das nicht einfach lassen?“ wollte Melissa wissen, nachdem sie eine Nachbarsfamilie besucht hatte, die wieder einmal den Verlust eines männlichen Mitgliedes zu beklagen hatte. „Warum müssen wir unbedingt Leute hinausschicken?“
„Aus dem gleichen Grund, der die Allianz und die Koalition bewogen hat, sich zusammenzuschließen und ihre Leute hinauszuschicken, um alles zu zerstören, was wir bisher aufgebaut haben“, erwiderte Cletus. „Wenn sie uns an irgendeinem beliebigen Punkt schlagen, mindern sie unseren Wert und unser Ansehen als Söldner in den Augen der anderen Kolonien. Das ist es, was Dow letzten Endes bezweckt. Dann werden sie nach Dorsai kommen und uns alle vernichten.“
„Du kannst es nicht wissen – ob sie wirklich darauf aus sind, uns zu vernichten.“
„Ich kann zu keinem anderen Schluß kommen, und niemandem sonst, der sich die Sache reiflich überlegt hat, wird es anders ergehen“, sagte Cletus. „Wir würden jeden Feldzug gewinnen und unsere Überlegenheit ihren Truppen gegenüber beweisen. Mit etwas Glück wären die Truppen der Allianz und der Koalition überall in den neuen Welten überflüssig. Wird aber eine militärische Unterstützung von der Erde überflüssig, so schwindet auch der Einfluß der Erde in den Kolonien. Wenn sie gewinnen, können sie sich in den neuen Welten halten. Wenn hingegen wir gewinnen …“
„Gewinnen!“ schnaubte Eachan, der sich zu dieser Zeit im Zimmer aufhielt.
„Wenn wir gewinnen“, wiederholte Cletus, während er seinen Schwiegervater fest im Auge behielt, „wird sich alles zum Besseren wenden. Es ist eine Überlebensfrage – und sobald alles vorbei ist, wird einer von uns beiden das Feld räumen müssen – entweder die Erde oder Dorsai.“
Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, und für eine Weile herrschte Stille. „Ich kann es einfach nicht glauben!“ sagte sie schließlich und wandte sich an ihren Vater. „Vati …“
„Oh ja, es stimmt schon“, sagte Eachan vom anderen Ende des Zimmers her. „Wir sind etwas zu erfolgreich gewesen – denk nur an Cletus’ Feldzüge auf Newton und ähnlichen Welten. Wir haben sowohl die Allianz als auch die Koalition vor den Kopf gestoßen. Nun sind sie ausgezogen, um ihre eigene Position zu sichern. Sie sind sehr groß, und wir sind sehr klein … und wir haben unsere letzten Reserven hinausgesandt, die wir noch hatten.“
„Wir haben in der Tat keine Reserven mehr“, meinte Cletus.
Eachan schwieg, und Melissa wandte sich wieder an Cletus.
„Nein“, sagte Cletus, obwohl Melissa nichts geäußert hatte. „Ich denke nicht daran zu verlieren.“
Eachan sagte immer noch nichts. In der eingetretenen Stille war von fern die Hausglocke zu hören. Gleich darauf öffnete ein Bediensteter die Tür.
„Rebon, der Gesandte der Exoten bei den Dorsai, Sir“, meldete er.
„Führen Sie ihn herein“, sagte Cletus. Der Diener trat beiseite, und ein kleiner Mann in blauer Robe trat ins Zimmer.
Sein Gesicht war gleichmütig und gefaßt, wie es bei den Exoten Sitte war, aber dennoch irgendwie sehr ernst. Er trat auf Cletus zu, während dieser und Eachan sich erhoben.
„Ich fürchte, ich bringe schlechte Nachrichten, Cletus“, sagte er. „Eine militärische Einheit der Allianz-Koalition-Friedensarmee hat das maranische Kraftwerk nebst allen Einrichtungen und Technikern in ihre Gewalt gebracht.“
„Aus welchem Grund?“ schnappte Eachan.
„Die Koalition hat Ansprüche gegenüber der VFG auf Newton angemeldet“, sagte Rebon, indem er das Gesicht leicht Eachan zuwandte. „Sie haben das Kraftwerk als Pfand für Ihre Forderungen an die VFG besetzt. Mondar …“ – er wandte sich wieder an Cletus – „… bittet um Ihre Hilfe.“
„Wann ist das passiert?“ fragte Cletus.
„Vor acht Stunden“, sagte Rebon.
„Acht Stunden!“ explodierte Eachan. Das schnellste Raumschiff – und es gab keine andere Möglichkeit, Nachrichten durch den interstellaren Raum zu übermitteln – brauchte mindestens drei Tage, um die Entfernung von mehreren Lichtjahren zwischen Mara und Dorsai zurückzulegen. Rebons Augen verschleierten sich.
„Ich versichere Ihnen, daß es wahr ist“, murmelte er.
„Und wo sind die Truppen hergekommen?“ wollte Eachan wissen und riskierte einen Blick auf Cletus. „Wir haben angenommen, sie hätten keine weiteren Truppen zur Verfügung!“
„Zweifellos von den Freundlichen“, erwiderte Cletus.
Rebon hob langsam den Blick zu Cletus. „Das stimmt“, sagte er mit einem Anflug von Überraschung. „Haben Sie das erwartet?“
„Ich habe erwartet, daß sich deCastries von Harmonie und Vereinigung Hilfe holt“, sagte Cletus brüsk. „Ich breche sofort auf.“
„Zum maranischen Kraftwerk?“ In Rebons Stimme schwang Erleichterung mit. „Können Sie denn Leute auftreiben, um uns zu helfen?“
„Nein. Allein. Nach Kultis“, sagte Cletus, schon im Begriff, den Raum zu verlassen, „um mit Mondar zu sprechen.“
Als er an Bord des Raumschiffes gehen wollte, das ihn nach Kultis bringen sollte, stieß er an der Treppe auf Vizemarschall Arvid Johnson und Kampfoperateur William Athyer, die er hierherbeordert hatte. Cletus blieb für einen Augenblick stehen, um mit ihnen zu sprechen.
„Nun“, sagte Cletus, „sind Sie immer noch der Meinung, ich hätte Sie aufs Abstellgleis geschoben, als ich Ihnen das Kommando zur Verteidigung von Dorsai übergab?“
„Nein, Sir“, erwiderte Arvid und schaute ihn gelassen an.
„Gut. Dann ist es also Ihr Bier“, meinte Cletus. „Sie kennen unsere Grundsätze, die sie bei Ihren Aktionen zu berücksichtigen haben. Viel Glück.“
„Vielen Dank, Sir“, sagte Bill. „Dasselbe für Sie.“
„Ich habe nicht das Vergnügen, die Dame Fortuna zu kennen“, gab Cletus zurück. „Ich kann es mir auch nicht leisten, mit ihr zu rechnen.“
Dann stieg er die Treppe hinauf, und die Tür des Raumschiffes schloß sich hinter ihm.
Fünf Minuten später hob das Raumschiff donnernd vom Boden ab, stieg himmelwärts und verlor sich im Weltraum.