2. Kapitel
Abigail Merriweather feierte ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag. Eine große Party war geplant. Hundert Leute würden kommen, versprach Abigail, nach einem letzten Blick auf ihre Gästeliste. Es war Juli. Nur ein paar Wölkchen waren am Himmel zu sehen.
Abigail Merriweather wohnte in einer großzügigen Villa auf Staten Island. Die Villa gehörte ihren Eltern, die mehrere Autohäuser in und um New York herum besaßen. Und Abigail Merriweather war die beste Freundin von Lily Lamont.
Lily und Abigail hatten sich auf der Uni kennen gelernt. Abigail studierte Jura und würde einmal zu den Top-Anwältinnen in New York gehören. Daran hatte Lily überhaupt keinen Zweifel, da Abigail fleißig und forsch war. Zudem konnte man sie nicht gerade als hässlich bezeichnen, mit ihren langen Beinen, dem markant-kantigen Gesicht und den grün-grauen Augen.
Lily setzte mit der Fähre von Manhattan nach Staten Island über. Für alle ankommenden Gäste standen Limousinen zur Verfügung, die die Gäste zur Villa der Merriweathers brachten. Die Fahrt dorthin dauerte einige Minuten, dann kam man vor einem weißen Doppeltor zum Stehen. Der Fahrer gab einen Code in die Sicherheitsanlage ein, die neben dem Tor angebracht war, anschließend bekam man das große Grundstück der Merriweathers zu sehen. Neben dem geteerten Weg zur Villa konnte man den perfekt grünen Rasen und einzelne schöne Bäume bewundern. Dann kam man vor dem großen Steingebäude mit weit über zwanzig Fenstern auf der Frontseite zum Stehen. Nach Lilys Limousine folgte schon die nächste und spie weitere Gäste aus.
»Da bist du ja endlich, Lily«, sagte Abigail, die in einem grün-schwarzen, knielangen Kleid irgendeines angesagten Designers steckte.
Lily hatte sich für ein braunes Kleid entschieden, das kurz über den Knien abschloss und ihren Rücken zur Hälfte zur Schau stellte. Solche Art Kleider mochte Lily gerne, denn sie fand, dass sie einen schönen Rücken hatte. Den konnte sie auch zeigen.
»Es tut mir leid, Abigail. Ich arbeite ja noch nicht so lange bei der Firma. Du weißt ja, wie das ist. Die Neuen müssen immer mehr machen und besser sein. Heue war wieder so ein Tag.«
Abigail machte ein verständnisvolles Gesicht. Sie konnte Lily verstehen, aber heute war doch ihr Geburtstag. Heute war Abigail-Tag!
»Jetzt aber los, Lily, ab in den Garten mit dir. Es sind schon fast alle Gäste da. Und meine beste Freundin kommt als Letzte, du weißt ja, wie das aussieht«, sagte Abigail.
»Ja, ich weiß, Abigail, deine Freunde sehen darin ein großes Verbrechen. Was habe ich wohl Wichtigeres zu tun gehabt, als vor allen anderen da zu sein«, seufzte Lily.
Abigail schmunzelte. »Vergiss die. Und jetzt geh.«
Lily ging durch die offene Haustür, den großen Empfangsraum entlang und betrat durch die breite Balkontür den Garten. Hier wuselten schon viele Frauen und auch Männer herum. Ein Partyservice sorgte dafür, dass kein Gast verdursten oder verhungern musste. Allerdings waren die Freunde von Abigail fast alle schlank, daher würde wohl nicht viel gegessen werden.
Es hatten sich schon mehrere kleine Grüppchen gebildet, die sich bereits kannten oder gerade am kennen lernen waren. Lily war froh, nicht die High Heels angezogen zu haben, sondern flache Schuhe, die zum Kleid passten. In dem Gras wäre sie gegangen wie ein Storch. Sie betrachtete die Beine einiger anderer Frauen. Die hatten keine Standprobleme in ihren High Heels.
Lily ging zu der Gruppe von Abigails Freunden, aus der sie einige Gesichter kannte.
»Hallo Lily«, sagten mehrere von Abigails Freunden gleichzeitig.
»Hallo.«
»Ziemlich spät«, sagte Olivia West, die wie Abigail Jura studiert hatte und mit ihren schulterlangen dunklen Haaren nicht weniger hübsch aussah als die anderen Freunde von Abigail.
»Die Arbeit hat mich voll im Griff«, seufzte Lily.
Olivia West drehte sich zu drei Männern um, die sie daraufhin gleich anlächelten. »Darf ich vorstellen, Jungs, das ist Lily Lamont, Abigails beste Freundin.«
Die drei begrüßten Lily freundlich.
»Das sind Jacob, George und James«, sagte Olivia.
Die drei waren sehr unterschiedlich. Jacob war ein schlaksiger Typ, George hat einen leichten Bauchansatz und James war der Typ Footballspieler.
»Jacob studiert, wie du Lily, Wirtschaft und Journalismus, George und James arbeiten als Broker«, sagte Olivia.
Lily tat so, als interessierte sie das, was Olivia sagte, aber in Wirklichkeit wollte sie eigentlich nur ein paar Minuten durchschnaufen und nichts reden.
Jacob wandte sich wieder George zu und erzählte ihm etwas über wirtschaftliche Zusammenhänge. James wandte sich Lily zu.
»Du bist also Abigails beste Freundin. Ich habe schon viel von dir gehört«, sagte James.
James hatte kurze dunkle Haare mit wenigen grauen Ansätzen, die allerdings hervorstachen, und blaugraue Augen. Er sieht jetzt nicht ganz verkehrt aus, dachte Lily.
»So, so. Was erzählt man denn von mir?«
»Dass du eine sehr schöne Frau bist, die einen starken Charakter hat und Durchsetzungsvermögen und die Abigail immer zur Seite steht, wenn sie ihre beste Freundin braucht.«
Lily war baff. Sie konnte es gerade noch vermeiden, dass ihr die Kinnlade nach unten sackte. Die Beschreibung schmeichelte ihr, auch wenn sie ohne Einbildung sagen konnte, dass das alles auf sie zutraf. Aber woher wusste dieser James so viel von ihr?
»Du scheinst ja schon viel von mir gehört zu haben«, sagte Lily.
»Ich kann gut zuhören. Da schnappt man dies und das auf«, sagte James mit einem Lächeln.
Das Lächeln gefiel Lily.
Und dieses Lächeln sollte ihr auch zum Verhängnis werden.
Zwei Monate nach Abigails Geburtstagsfeier waren Lily Lamont und James Richards ein Paar. Es hatte sich langsam aufgebaut und war dann in einer Nacht zum überschäumenden Feuerwerk gekommen. James hatte gute Manieren, er hörte ihr zu, er versuchte ihre Interessen zu teilen, und nach einigen Wochen war er dann auch ein nicht aufdringlicher, pragmatisch agierender Liebhaber. Das Feuerwerk war gezündet. Lily ließ sich auf eine Beziehung mit James ein.
Ein knappes halbes Jahr später, es war ein eiskalter Januarabend, rief James wieder von seinem Büro aus an, um ihr zu sagen, dass er das Abendessen für heute leider absagen müsse, es stünde noch ein wichtiges Meeting an, da morgen irgendwelche Anleihen aus den Emerging Markets zum Verkauf standen und er sich mit seinen Kollegen darauf vorbereiten müsse.
Das weiß er erst jetzt, dachte Lily. Wenn es das erste Mal gewesen wäre, hätte sich Lily nichts weiter dabei gedacht. Aber seit Dezember war das nun bereits der zehnte gemeinsam geplante Abend, den James absagte. Immer wegen der Arbeit.
Lily wusste schon nach dem fünften Mal, dass hier etwas nicht stimmte. Aber sie wollte einfach nicht glauben, dass James sie anlog und mit seinen Kumpeln stattdessen um die Häuser zog, oder was noch schlimmer war, eine Affäre hatte.
Lily reichte es jetzt. Sie wollte Tatsachen. Und daher zog sie ihre warmen Stiefel an, schlüpfte in ihren Mantel, legte sich den Schal um und verließ ihr gemeinsames Apartment in Greenwich Village. Sie fuhr mit dem Taxi ins Zentrum von Manhattan. Unweit der Wallstreet befanden sich die Büroräume der Brokerfirma, für die James arbeitete.
Sie betrat das Gebäude und fragte den Sicherheitsmann in der Halle, der hinter einer großen Empfangstheke saß, ob in den Büroräumen, in denen James Richards arbeitete, noch jemand wäre. »Ja, noch hat er sich nicht abgemeldet«, sagte der Sicherheitsmann.
Lily bedankte sich, verließ das Gebäude und wartete auf der anderen Straßenseite. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann kam James aus dem Gebäude und winkte sich ein Taxi heran. Er bekam sofort eines. Lily tat das gleiche, hatte aber nicht so viel Glück. Aber dann hielt doch ein Taxi und sie bat den Fahrer, diesem Taxi zu folgen. Sie zeigte darauf. Es bog gerade ab.
Unglaublich, aber James fuhr nach Greenwich Village. Nur einige Blocks von ihrem gemeinsamen Apartment entfernt hielt das Taxi. James stieg aus und ging zu einem schön restaurierten Altbau. Er klingelte und ihm wurde kurz darauf geöffnet.
Lily sah, dass im zweiten Stock plötzlich Betriebsamkeit aufkam. Eine schlanke Gestalt huschte schnell durch die Wohnung, verschwand in einem Zimmer, in dem kein Licht brannte, kehrte wieder zurück und war dann verschwunden. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, dann konnte sie James erkennen. Die Frau ließ ihn kaum den Mantel ausziehen, da hing sie schon an seinen Lippen. Sie sprang ihn förmlich an. Lily war angeekelt von diesem Anblick.
»Das war’s Mr. Richards«, flüsterte sie vor sich hin.
Sie sah dem Treiben noch einige Sekunden zu. Nachdem die Frau sich an James Hosen zu schaffen machte und er in das Zimmer verschwand, in dem kein Licht brannte, wusste Lily, was jetzt passieren würde.
Lily atmete ein paar Mal tief durch. ließ die kalte Winterluft durch ihre Lungen strömen und ging dann mit schnell pochendem Herzen nach Hause.
Sie würde das Zusammenleben mit James in diesem Apartment so schnell wie möglich beenden. Da das Apartment ihr gehörte und James zu ihr gezogen war, hatte sie nun zumindest ein Problem weniger. Er musste ausziehen.
Sie würde in ein Hotel ziehen, er hätte derweil Zeit, die Wohnung zu räumen. Hierzu würde sie ihm eine Woche Zeit geben.
Genau das schrieb sie auf ein weißes Blatt Papier. Sie zitterte dabei.
Dann packte sie einen Koffer und verließ die Wohnung.
Sie wollte die Beziehung mit James wohlgeordnet beenden.
Doch James Richards hatte etwas dagegen.