Bei der Antwort auf die Frage, welcher Übungsleiter ihn während seiner aktiven Spielerzeit am stärksten für sein heutiges Trainerleben prägte, muss Klopp nicht lange überlegen: »Wolfgang Frank! Frank hat uns einen völlig anderen Blick auf das Spiel gegeben«, schwärmt sein ehemaliger Schüler noch heute: »Es war ein außergewöhnlicher Moment, als er in unser Fußballerleben getreten ist. Es ging nicht mehr darum, wie gut du als Einzelspieler bist, sondern wie gut wir als Mannschaft werden können. Daher war das die einschneidendste Zeit meines Spielerlebens.«
»Der Jürgen kann wohl viel schneller abhaken«
Auch Frank äußerte sich 2011 sehr lobend über seinen einstigen »Musterschüler«30. Darauf angesprochen, dass er seinen Spielern in Mainz vermittelt hatte, für den Sieg nicht über die besten Spieler, sondern über den besseren Plan verfügen zu müssen, sagte Frank: »Genau das hat Jürgen in Perfektion umgesetzt. Viele Spieler in der Bundesliga haben ein ähnliches Niveau, da entscheiden am Ende Selbstbewusstsein, Glauben und Motivation über den Erfolg.«
Der nach außen meist ruhig auftretende Frank zeigte sich zugleich selbstkritisch und zog einen Vergleich zu Klopp: »Mein größtes Problem war über viele Jahre das Verarbeiten von Niederlagen. Ich bin fast gestorben, wenn meine Mannschaften verloren und habe mich allein schuldig gefühlt. Die Angst vor der Niederlage hat mich lange in meinen Entfaltungsmöglichkeiten gebremst. Der Jürgen kann wohl viel schneller abhaken. Vielleicht hilft ihm, dass er durch seine Emotionalität am Spielfeldrand Enttäuschungen schon frühzeitig abreagieren kann.«
Doch es war nicht nur die Einführung der Viererkette, eine Pionierarbeit, die den Spieler Klopp am Trainer Frank so beeindruckte. Es war das Teambuilding: »Da war er herausragend gut.«
»Eine bessere Mannschaft muss
nicht zwingend gewinnen«
Gemäß Wolfgang Franks Schule liegt für Klopp ein erster Ansatzpunkt der Trainingsarbeit im Defensivverhalten. Oder wie es Klopp in seiner ihm eigenen saloppen Art formuliert: »Was machen wir eigentlich, wenn die anderen die Kugel haben? Darum haben wir uns in Deutschland früher nicht gekümmert.« Viel mehr seien offensive Maßnahmen wie das klassische Stürmerkreuzen oder das Hinterlaufen der Abwehr einstudiert worden. Doch gerade einem stabilen Defensivkonzept misst Klopp große Bedeutung bei.
Denn es liegt ein wesentlicher Vorteil darin, zunächst die volle Konzentration auf das Abwehrverhalten zu legen: Verglichen mit dem Angriffsspiel, ist es deutlich weniger abhängig von dem technischen Vermögen der Spieler. »Wenn wir unseren Teamgeist auf den Platz getragen bekommen, wenn sich alle an die Vorgaben halten, dann können wir dem Gegner richtig Probleme bereiten«, begeistert sich Klopp. »Und hierin liegt der Sinn und Zweck der Veranstaltung: Nicht zu zeigen, wie taktisch herausragend wir sind, sondern zunächst mal den Gegner zu schwächen.«
Sicherlich vergrößert es die Wahrscheinlichkeit, Spiele für sich zu entscheiden, wenn ein Team mit vielen Spielern von hoher individueller Klasse gespickt ist. »Der große Unterschied ist aber, dass eine bessere Mannschaft nicht zwingend gewinnen muss. Du musst nicht kicken können, um dich defensiv auf einen Gegner einzustellen« – getreu einem erweiterten Fußball-Motto: Form und System schlagen Klasse. Mit einem konsequenten Abwehrverhalten lasse sich jedem Gegner »maximale Probleme bereiten«, so Klopp. »Das ist ein Teilziel im Fußball.« Und steht zeitlich vor der Entwicklung des eigenen Spiels. Auch als Trainernovize legte Klopp also sofort großen Wert auf taktische Inhalte, beschränkte sich beileibe nicht auf die Motivation seiner Spieler.
Dieser Maxime folgend, arbeitete Klopp bei Amtsübernahme in Mainz 2001 erstmal nur an der Defensivstärkung des stark abstiegsgefährdeten Teams, das am 21. Spieltag kümmerliche zwölf Zähler auf dem Habenkonto vorzuweisen hatte: »Ich habe zunächst nur gegen den Ball arbeiten lassen. Was das Selbstvertrauen angeht, waren sie froh, dass sie den Weg zum Stadion gefunden haben. Wenn ich mit denen über Passgenauigkeit und solche Dinge gesprochen hätte, die hätten mir schön was erzählt …«
Traumeinstand: Sechs Siege in sieben Spielen
Schließlich war Klopp Tage zuvor noch selbst Teil der Mannschaft gewesen und konnte nur allzu gut die angeschlagene Gefühlslage seiner Spieler nachvollziehen. »Mein letztes Spiel als Aktiver hatten wir bei Greuther Fürth mit 1:3 verloren. In der zweiten Halbzeit wurde ich ausgewechselt, nicht weil ich müde war, sondern einfach schlecht – und so war auch das Gefühl in der Mannschaft.« Ohne Überzeugung. Wichtig war die schnelle Wiedergewinnung von Sicherheit, sollte es noch eine vage Chance auf den Klassenerhalt geben.
Unter dem neuen Trainer stellten sich Sicherheit und Erfolg schnell ein, rasend schnell. »Gegen den Ball waren wir innerhalb von einer Woche siebzig Prozent besser«, schaut Klopp selbstbewusst zurück. Die folgenden Ergebnisse bestätigten seine Einschätzung: Von den ersten sieben Spielen gewannen die 05er deren sechs, der Ligaverbleib war keine Utopie mehr. Dass die Art und Weise, wie Mainz seine Spiele gewann, alles andere als filigran ausfiel – wen kümmerte es. Klopp jedenfalls nicht:
»Ich kann mich an unsere ersten drei Tore erinnern, die wurden, was heute ja nicht mehr so gerne gesehen wird, mit langen Bällen nach vorne eingeleitet. Sie wurden dann per Kopfball von Christoph Babatz verlängert, ehe aus der zweiten Reihe gefeuert wurde. Ich bin sehr glücklich, dass wir es nicht mit Vertikalspiel versucht haben, denn das hätte nicht funktioniert, sondern zu Überforderung geführt. Gegen den Ball waren wir stark, mit Ball haben wir auch ein bisschen Hilfe von oben gebraucht.« Allein die Punkte zählten, da ist Klopp mehr Pragmatiker denn Ästhetiker: »Es geht immer nur darum, die richtigen Maßnahmen im richtigen Moment zu treffen – und das war eben genau das.«
Doch volle Konzentration auf die Defensive mit wenigen lichten Momenten im Angriff – das macht auf Dauer auch nicht glücklich. So richtig in seinem Element ist Klopp, wenn er eine Mannschaft sukzessive entwickeln kann, sie ausgehend von einer stabilen Grundordnung kontinuierlich auf die nächsthöhere Stufe hieven kann. Bis sie auch offensiv seiner Spielauffassung entspricht. Klopp beschreibt diesen Prozess für seine ersten drei Dortmunder Jahre bis zur Meisterschaft 2011.
Zunächst die Schotten dicht
»Wenn ich als neuer Trainer irgendwo hinkomme, ist vorher etwas nicht rund gelaufen, denn sonst würde der Trainer nicht gewechselt. Besserung lässt sich dadurch herbeiführen, dass man als Gruppe defensiv funktioniert. Das macht jede Mannschaft direkt gleich um ein Vielfaches stärker«, betont er noch mal das geeignete »Erste-Hilfe-Mittel« für kriselnde und verunsicherte Mannschaften. Sich zunächst auf den gegnerischen Ballbesitz einzulassen, macht für Klopp auch deshalb Sinn, »weil das etwas ist, was man absolut trainieren kann und wenig mit dem Talent der Mannschaft zu tun hat – hingegen sehr viel mit dem Charakter sowie der Lern- und Laufbereitschaft.«
Wie sehr die Dortmunder Abwehr 2008 nach Stabilisierung verlangte, verdeutlicht ein Blick in die Statistik: Unter Klopps Vorgänger Thomas Doll hatte der BVB in der Bundesliga-Saison 2007/08 62 Gegentore kassiert. In Klopps Dortmunder Premierensaison waren es dann nur noch 37 Gegentore, 2009/10 deren 42 und im Meisterjahr nur noch ganze 22. Binnen drei Jahren also eine Reduzierung um beinahe zwei Drittel! Weniger Treffer in einer Saison kassierte in der Bundesliga-Historie lediglich der FC Bayern in der Spielzeit 2007/08: Mit 21 nur eines weniger.
Um die Löcher in der BVB-Abwehr zu stopfen, setzte Klopp auf ein 4-4-2-System mit »flacher Vier«, also mit zwei zentral-defensiven Mittelfeldspielern statt einer Raute31. Dass sich Klopp mit seinem Trainerteam für diese Variante entschied, hatte gute Gründe: »Wir haben ein flaches 4-4-2 eingeführt, weil wir sicher sind, dass es das perfekte System ist, um das Spiel gegen den Ball zu trainieren. Es lässt sich am leichtesten durchführen, weil es über die klarsten Abläufe verfügt.« Fast immer, wenn Klopp wesentliche taktische Entscheidungen erklärt, spricht er von »wir«. Denn er versteht sich als Teamplayer, als ein Part des dreiköpfigen Trainerstabs, zu dem noch Zeljko Buvac und Peter Krawietz gehören. Sie werden an späterer Stelle dieses Buches näher vorgestellt.
Zur Stärkung der Abwehr setzt Klopp zwar auf Ordnung und Konsequenz, nicht jedoch auf eine rustikale Gangart. Angesprochen auf zwei frühere BVB-Verteidiger, argumentierte Klopp im Bundesliga-Sonderheft 2011/12 des Kicker Sportmagazins: »Jürgen Kohler oder Christian Wörns waren fantastische Verteidiger. Aufgrund der systematischen Schwächen ihrer Mannschaften standen sie oft in 1:1-Situationen. Sie mussten als letzte Instanz einspringen. Bei uns gilt: Wer den Zweikampf führt, weiß, dass er ihn sauber führen kann, weil ein anderer ihn absichert. Diesen letztinstanzlichen Zweikampf wie früher sollte es so bei uns gar nicht geben.«
Die Systemfrage
Hinter Klopps Systemargumentation steckt, dass bei der flachen Vier die Abstände leichter zu bestimmen sind, als bei einem 4-4-2 mit Mittelfeldraute. Hinzu kommt: Wird sowohl in der Abwehr als auch im Mittelfeld auf einer Linie gespielt (also mit flacher Vier), liegen zwei Viererketten mit gleichem Verhalten vor – und sind somit in ihrer Abstimmung einfacher zu trainieren. Agiert eine Mannschaft hingegen mit einer Raute, haben die Mittelfeldspieler im ersten Augenblick des Ballverlustes ein anderes Verhalten als die Viererkette hinten, da sie auf dem Spielfeld anders angeordnet sind. Unabhängig von der systemischen Grundordnung müssen die Spieler das gleichzeitige Verschieben der Mannschaftsteile Richtung Ball beherrschen, um als Team eine kompakte Einheit herzustellen.
Schrittweise Entwicklung des BVB-Spiels
Mit der taktischen Weiterentwicklung »seiner« Borussia rückte Klopp dann von der flachen Vier ab: »Mit der Zeit haben wir das System Richtung Raute weiterentwickelt, weil es unseren Spielern näher kam.« Damit änderte sich auch der Blickwinkel des Trainerteams: »Zu Beginn hatten wir nicht darauf geachtet, was für die Spieler besser ist, sondern nur darauf, wie unser System am besten zu erlernen ist.« Diese Einschätzung ist insofern interessant, als dass die sonst herrschende Meinung propagiert, das Spielsystem nach den vorhandenen Spielern auszurichten und nicht umgekehrt. Für Klopp hingegen ist das Spiel gegen den Ball derart entscheidend für den Erfolg, das er zunächst das System in den Vordergrund stellt. Erst wenn dieses verinnerlicht ist, erfolgen Anpassungen, die sich an den individuellen Stärken der Mannschaft orientieren.
In einem weiteren Entwicklungsschritt wurde das Offensivspiel des BVB forciert, das bereits bei den Abwehrspielern beginnt. Sie sind nach Ballgewinn erste Spieleröffner, leiten idealerweise mit schnellen Pässen nach vorne den direkten Gegenangriff ein. Ballgeschiebe von rechts nach links, ehe der Ball die Mittelfeldspieler erreicht, ist passé. Ein hierfür wichtiger Baustein war im Februar 2009 die Verpflichtung von Abwehrspieler Mats Hummels, der zuvor vom FC Bayern ausgeliehen war. Er verkörpert den Prototyp des modernen Innenverteidigers: konsequent in der Zweikampfführung, kopfballstark, mit gutem Stellungsspiel – aber eben auch mit hervorragenden technischen Fähigkeiten, die er mit präzisen Pässen für ein schnelles offensives Umschaltspiel verwertet. Mit Neven Subotic verfügt Hummels im Abwehrzentrum über einen kongenialen Partner, der über ähnliche Stärken verfügt.
Gefühl für den richtigen Zeitpunkt
In der Saison 2010/11 nahm schließlich der eigene Ballbesitz einen immer größeren Stellenwert in der Trainingsarbeit ein – wie auch stärker »steil« nach vorne zu spielen, neudeutsch »Vertikalspiel« genannt. Klopp: »Das Vertikalspiel ist bei uns dramatisch in den Mittelpunkt gerückt – wenn auch nicht ganz so dogmatisch, wie es ab und zu vorgegeben wird.«
Rückblickend ist der Trainer davon überzeugt, dass diese schrittweise »Weiterbildung«, das organische Wachstum, der wesentliche Baustein zum Erfolg der Borussia war. Ein Modell des richtigen Timings, nach dem entschieden wurde, »welche Entwicklungsstufe zücken wir wann, welchen Schritt können wir mit der Mannschaft wann nehmen.«
Doch ganz so einfach, wie es in der Theorie klingt, war der Titelgewinn, dazu noch mit begeisterndem Fußball, nicht zu erreichen. Denn selbst der beste Trainer ist abhängig von den Spielräumen, die ihm seine Mannschaft bietet. Dazu gehören gerade im Offensivspiel die technischen Fertigkeiten, die ein schnelles, direktes und zielsicheres Passspiel erst ermöglichen. Hier konnte der BVB 2010/11 aus einem reichhaltigen Reservoir schöpfen: Ob Nuri Sahin, Shinji Kagawa, Mario Götze, Mats Hummels oder Lucas Barrios – Dortmund besaß in dieser Saison nicht nur eines der einsatzfreudigsten, sondern auch eines der spielstärksten Teams. Ganz egal, ob die Akteure aus der eigenen Jugend kamen wie Götze, Sahin (über den Umweg der Ausleihe an Feyenoord Rotterdam 2007/08) oder verpflichtet wurden wie Kagawa oder Barrios.
»Ich habe eine Mannschaft mit fantastischen technischen Voraussetzungen. Mit ihr kannst du dich unter dem extremen Tempo, das in der Bundesliga gespielt wird, wirklich um eigenen Ballbesitz kümmern«, bringt Klopp seinem Kader größte Wertschätzung entgegen. Der umgekehrte Fall ist ihm ein Graus – dann, wenn der Mannschaft eine Spielweise verordnet wird, die ihre Möglichkeiten übersteigt: »Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn du Dinge vorgibst und diese werden am Wochenende einfach umgestoßen. In diesem Moment waren alle Vorgaben für die Katz.«
»Entscheidend ist nicht die Trainingsform, sondern das Coachen.«
Klopp nennt beispielhaft die Auswärtspartie beim FC Bayern, die der BVB im Februar 2011 überzeugend mit 3:1 gewann – ein »Big point« auf dem Weg zur Meisterschaft. Die Gäste fielen dabei nicht durch allzu hohe Ballbesitzzeiten auf, sondern waren ungemein zielstrebig und konsequent in ihren Aktionen nach vorne. »Wichtig ist, wann du was machen kannst. Nehmen wir an, ich hätte vor dem Spiel gegen die Bayern gesagt: ›Wenn wir den Ball haben, dann lassen wir die mal richtig laufen.‹« Wären es dann jedoch die Bayern gewesen, die mit Ballbesitz dominieren, wäre seine Maßgabe ins Leer gelaufen, so Klopp: »Dann denken sich die Spieler: ›Was hat denn der Trainer erzählt?‹ Also ist wichtig: Wie coache ich und wann coache ich was in welcher Spielvorbereitung? Entscheidend ist nicht die Trainingsform, sondern das Coachen.«
Diese Einschätzung zum vorentscheidenden Spiel in München hatte Klopp bereits zuvor mit anderen Worten betont:32 »Wenn wir (…) bei unserem Sieg in München Robben und Ribéry nicht gedoppelt und getrippelt hätten, weiß ich nicht, was passiert wäre. Die Bayern sind mit uns an dem Tag nicht klargekommen, wir haben sie aber doch keineswegs dominiert, sondern sind durch Kontertore zum Sieg gekommen. Wenn man sich solche Dinge vor Augen führt, dann weiß man schon mal: Es darf bei uns nicht uncool werden, dass wir uns total verausgaben.«
Doch warum kopieren nicht andere Bundesligisten das Dortmunder System? Insbesondere solche, die sich die hierfür notwendigen Spielertypen wirtschaftlich leisten können? Mats Hummels hatte darauf bereits während der Hinrunde der Meistersaison eine Antwort parat: »(…) Klar ist, dass wir taktisch sehr diszipliniert sind, aus einer gewissen Ordnung heraus schnell nach vorn spielen. Aber das versuchen ja die meisten Mannschaften. Bei uns kommt derzeit eine unbändige Leidenschaft hinzu. Wir haben richtig Bock.«33
Also war der Dortmunder Wille in der Saison 2010/11 größer als bei der Konkurrenz? Es spräche nicht zuletzt auch für den Trainer, dem Erfolgsteam diese unbändige Motivation, diese Gier auf Erfolg, eingeimpft zu haben.
So lange sie den Spielstil anno 2010/11 beibehält, trägt die BVB-Elf in nahezu idealerweise Klopps Handschrift: »Die Mannschaft wie sie ist, entspricht meinem Naturell, das ist durchaus lebendig. Es würde mir wirklich schwer fallen, mit einer Mannschaft zu arbeiten, der ich sagen müsste (spricht betont langsam): ›Also passt auf, wir wechseln jetzt von links nach rechts und dann von rechts nach links. Und wenn irgendwo eine Lücke aufgeht, dann spielt ihr den Ball dort bitte rein.‹«
Auf den Punkt gebracht: Die Spielphilosophie von Jürgen Klopp
- Unterteilung in eigenen und gegnerischen Ballbesitz: erst wird Sicherheit gegen den Ball entwickelt, dann das eigene Offensivspiel forciert
- kämpferisch-leidenschaftlicher Einsatz: in jedes Spiel »hineinbeißen«
- hohe Laufintensität, die ständiges Freilaufen und Anbieten im Offensivspiel ermöglicht
- Gruppen- statt Individualtaktik: die Mannschaft verteidigt diszipliniert und gemeinschaftlich, dabei hoch aufgerückt, um früh Druck auf den Gegner aufzubauen
- eigene spielerische Dominanz mit viel Ballbesitz statt Kontertaktik
- schnelles Umschaltspiel in beide Richtungen: Balance zwischen Offensive und Defensive
- Vertikalspiel in die Spitze: kein abwartendes Quergeschiebe, sondern offensiv-zielgerichtetes Spiel zum gegnerischen Tor
- schnelles, möglichst direktes Kombinationsspiel (»one-touch«), ohne längeres Halten des Balles: so lassen sich Abwehrreihen aus ihrer Ordnung lösen und Fehler provozieren
- kontrolliertes Verschieben kompletter Mannschaftsteile in Ballrichtung, um die relevanten Spielzonen zu besetzen und so dem Gegner die Entfaltung zu erschweren
- schnelle Balleroberung durch Pressing und Gegenpressing (Pressing direkt nach Ballverlust, um den Ball sofort zurück zu erobern)
- derzeit bevorzugtes Spielsystem beim BVB: 4-5-1 mit zwei zentral-defensiven Mittelfeldspielern und spielstarkem Stoßstürmer
- fallen einzelne Spieler gesperrt
oder verletzt aus, versucht Klopp positionsgetreu zu wechseln und
nicht das System zu verändern oder Spieler auf für sie ungewohnten
Positionen einzusetzen
Aus diesen Vorgaben folgen konkrete Anforderungen an Klopps Spieler:
- schnelle Denk- und Handlungsgeschwindigkeit, denn langsamere Spieler schalten eher den Rückwärtsgang ein, weil sie 1:1-Situationen scheuen
- enorme Ausdauer, körperlich wie geistig: konzentrierte Umsetzung über neunzig Minuten
- technische Beschlagenheit: Bälle müssen bei hohem Tempo verarbeitet und sicher gepasst werden
- taktische Disziplin bei gleichzeitig flexibel aufgezogenem Offensivspiel: die Spieler sind nicht verpflichtet, ihre Positionen starr zu halten, sofern der Nebenmann die entstehende Lücke abdeckt (geht nur über gegenseitiges Vertrauen)
- Generell kommt den Außenverteidigern im modernen Fußball eine bedeutende Rolle zu, da sie defensiv wie offensiv gleichermaßen gefordert werden. Da sie ihre gesamte Linie beackern und intensive Sprintintervalle absolvieren, müssen sie läuferisch extrem stark sein. Anders als den Innenverteidigern stehen ihnen weniger Spielpausen zur Verfügung.
Letztlich allerdings können die Vorgaben des Trainers im Vorfeld noch so gut durchdacht sein – während des Spiels bleibt sein Einfluss begrenzt: »Ich kann da draußen entwerfen, was ich will. Die Umsetzung machen die Spieler«, bekannte Klopp im März 2011 illusionsfrei.34
Borussia Dortmund wurde 2011 stolze 102 Jahre jung – und war wohl selten zuvor lebendiger als in dieser Zeit. Das leidenschaftliche Naturell ihres Trainers, es hat abgefärbt.
Der Autodidakt und die moderne
Trainingslehre:
Inspirieren lassen ja, kopieren
nein
Auch wenn Klopp die größte Inspiration für seine spätere Laufbahn von Wolfgang Frank erhielt, so nahm er doch auch von anderen Trainern etwas mit. In Mainz waren es in elf Jahren weitere neun: Robert Jung, Josip Kuze, Hermann Hummels (Vater von Klopps heutigem Spieler Mats Hummels), Horst Franz, Reinhard Saftig, Didi Constantini (Jahre später Nationaltrainer seines Heimatlandes Österreich), Dirk Karkuth, René Vandereycken und Eckhard Krautzun.
Schon als Spieler besaß Klopp feine Antennen und einen natürlichen Filter, »um mir die richtigen Dinge herauszuholen. Denn jeder Trainer hat etwas eingebracht. Mir ging es weniger um die Übungen, die durchgeführt wurden, sondern wie der Trainer als Persönlichkeit war: Was ist seine Philosophie und wie bringt er sie rüber? Was macht er auf dem Platz? Greift er zwischendurch ein? Das waren die Dinge, auf die ich immer geachtet habe.« Trainingspläne aus früheren Spielerzeiten besitzt Klopp allerdings nicht, da er sich bewusst keine Notizen machte: »Ich habe mir schon immer gedacht, dass ich mir das Wichtige merken kann. Den Rest vergesse ich.«
Auch wenn der 44-Jährige mit seiner Spielauffassung und seinem Blick über den Fußball-Tellerrand35 hinaus, als moderner Fußballlehrer gilt – er macht nicht jede neue Entwicklung mit, sondern weiß zu selektieren:
Der Profifußball hat in den letzten Jahren einen immer stärkeren wissenschaftlichen Einfluss bekommen. Trainer machen von neuen, vielfach computergestützten, Methoden Gebrauch. Insbesondere die Datenerfassung, ob im Trainingsbetrieb oder während eines Spiels, hat mit den gestiegenen technischen Möglichkeiten einen exponentiellen Anstieg erfahren: Welcher Spieler ist wie viele Kilometer gelaufen? Wie viele Zweikämpfe wurden gewonnen? Wer hatte wie viele Ballkontakte? Dazu gibt es zahlreiche Spezialisten für verschiedene Fachgebiete: den Konditionstrainer, den Torwarttrainer, den Videoanalyst, den Scout und, und, und. Doch Klopp ist bei der Verwendung dieser wissenschaftlicher Erkenntnisse zurückhaltend, vor allem hinsichtlich statistischer Erhebungen:
Ein anerkannter Statistikexperte ist der promovierte Sportwissenschaftler Roland Loy, der sich im Fußballwesen bereits einen Namen gemacht hat: Unter anderem als Verfasser der Bücher »Taktik und Analyse im Fußball« und »Das Lexikon der Fußballirrtümer« sowie als Datenbankentwickler der Fußballsendung ran beim TV-Sender Sat1. Beratend steht er zudem der Sportredaktion des ZDF zur Seite. Zu Studienzwecken analysierte er über 3000 Fußballspiele binnen zwanzig Jahren und widerlegte dabei so manch alte These: Zum Beispiel die, dass meist die zweikampfstärkere Mannschaft gewinnt (war nur zu 40 Prozent der Spiele richtig) oder dass das Flügelspiel für ein Tor erfolgversprechender sei als das durch die Mitte. Tatsächlich hielt sich in Loys Erhebung beides die Waage.
»Ein großer Verfechter davon, sich
einen
eigenen Eindruck zu
verschaffen.«
Klopp hat seine ganz eigene Meinung zur Statistik im Fußball: »Ich kenne Roland, wir haben bei der WM 2006 im Team von (TV-Moderator) Johannes B. Kerner zusammen gearbeitet. Ich halte Nullkommanull von seinen Statistiken und er weiß das auch. Ich habe es ihm schon gesagt und daher kann ich es auch laut sagen.«
Allerdings fällt Klopps Ablehnung nicht ganz so grundsätzlich aus, wie sie sich zunächst anhört: »Ein Riesenfreund hingegen bin ich von Statistiken, die das letzte Spiel oder vielleicht die gesamte Saison bewerten.« Denn ob das Spiel seiner Mannschaft eher rechts- oder linkslastig ausfällt, ob zuviel oder zu wenig durch das Zentrum gespielt wird – in diesen Erkenntnissen sieht Klopp durchaus einen Mehrwert, der ihm eine unmittelbare Korrekturmöglichkeit bietet. Letztlich sieht er sich trotz aller verfügbaren Hilfsmittel jedoch selbst in der Pflicht: »Ich bin ein großer Verfechter davon, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Meistens weiß ich, dass wir zu langsam aufbauen, bevor ich eine Statistik in der Hand halte. Ich habe ja nichts anderes zu tun, als eine Mannschaft zu trainieren und mich mit dem Spiel zu beschäftigen. Dazu brauche ich keine harten Zahlen. Ich bin dafür ausgebildet, das selbst zu erkennen.«
Ein Gebiet, auf dem Klopp sogar sehr auf wissenschaftliche Methoden setzt, ist der Ausdauerbereich. Durch die Wissenschaft ist es möglich, das Training auf den Leistungsstand jedes Profis individuell anzupassen. Ein Spieler, der »voll im Saft steht«, kann anders belastet werden, als ein Rekonvaleszent, der nach langer Aufbauphase gerade wieder ins Teamtraining zurückgekehrt ist. Klopps Maxime lautet daher: Eine Trainingseinheit darf keinen Spieler über- oder unterfordern.
Zu diesem Zweck setzt der Coach auch auf den Laktattest. Laktat ist ein Milchsäuresalz, das mittels Blutentnahme aus dem Ohrläppchen bestimmt wird. Als Stoffwechselprodukt bildet es sich bei körperlicher Belastung, sobald allein der eingeatmete Sauerstoff die Muskeln nicht mehr mit ausreichend Energie versorgen kann. Über die Konzentration des Laktats lassen sich Rückschlüsse auf das konditionelle Leistungsvermögen ziehen. Der Laktattest kommt daher vor allem zur Saisonvorbereitung zum Einsatz, wenn die konditionellen Grundlagen gelegt werden.
Zwar habe Felix Magath, Wolfsburgs Meistertrainer von 2009, Recht damit, wenn er sagt: »Ich brauche keinen Laktattest zu machen, um zu wissen, ob ein Spieler fit ist«, stimmt Klopp zunächst zu. Doch dank seiner Werte erkenne er, »wo wir einen Spieler abholen müssen, um mit ihm angemessen zu trainieren. Denn es wäre blöd, eine Trainingseinheit durchzuziehen, die nur für drei Leute genau richtig war, für die anderen aber zuviel oder zuwenig.«
»Wahnsinn, in welchen Tempi wir laufen mussten.«
Die Individualisierung des Trainings wird auch dadurch erleichtert, dass Trainern im Profifußball immer mehr Arbeitsmaterial zur Verfügung steht. Klopp nennt ein kleines Beispiel: »Früher hast du eine Pulsuhr für 20 Spieler gehabt, heute hast du 40 Pulsuhren für zehn. Damit ist heute viel mehr möglich und damit arbeitet man natürlich gerne.« Zusammen mit neuen wissenschaftlichen Methoden steht also ein viel breiteres Informationsfeld zur Verfügung, als es bei früheren Trainergenerationen der Fall war. Dieser Kenntnisgewinn kommt letztlich auch den Spielern zugute, die ihrem Leistungsstand entsprechend gefördert werden.
»Ich glaube, dass viele meiner Spielergeneration durchaus ein bisschen müde trainiert wurden. Wir haben unglaubliche Umfänge trainiert. Das war Wahnsinn, wie lange wir auf dem Platz waren, wie viel wir laufen mussten und in welchen Tempi wir laufen mussten. Um zu beurteilen, ob das Training hart genug war, war es durchaus ein wichtiger Indikator, ob wenigstens einer aus der Truppe auf den Platz gebrochen hat«, denkt Kopp mit Grausen an die Trainingsgepflogenheiten von früher zurück. Demgegenüber bietet die heutige Trainingslehre ein viel ausgeprägteres Bewusstsein für Belastung und Pause, für Anspannung und Entspannung.
Dass sich Klopp gerade mit dem Ausdauertraining intensiv beschäftigt, verwundert nicht. Schließlich liegt hierin die Basis für das laufintensive Spiel gegen den Ball, das ihm so wichtig ist. Für die Bedeutung der Laufleistung gab es für Klopp ein Schlüsselerlebnis gleich zu Beginn seiner Tätigkeit beim BVB: im Juli 2008 beim »T-Home-Supercup« gegen den FC Bayern, den die Borussia mit 2:1 gewann.
Gerannt für den Urlaub
Klopp erinnert sich an die Partie: »Wir sind dabei als Mannschaft insgesamt 121 Kilometer gelaufen. Das hat mir damals nicht so wahnsinnig viel gesagt, denn vorher hatte ich mit diesen Werten nicht gearbeitet.« Doch im Laufe der Saison 2008/09, als der BVB von den ersten sieben Rückrundenspielen keines gewinnen konnte, griff der Trainer diesen Wert wieder auf. »Ich stellte fest, dass wir in diesen Spielen nicht einmal über 113 Kilometer gekommen waren. Dann sind wir kurz ins Trainingslager gefahren, wo ich mit der Mannschaft einen kleinen Deal gemacht habe: Wenn sie es schafft, von zehn Spielen neunmal über 118 Kilometer zu laufen, sollte sie drei Tage länger Urlaub bekommen. Die Jungs haben es tatsächlich hinbekommen.«
Derart motiviert platzte am 25. Spieltag gegen Werder Bremen der Knoten: Das Elfmetertor von Alexander Frei bescherte den Borussen den ersten »Dreier« der Rückrunde. Den sieben sieglosen Spielen folgten sieben Siege in Serie.
Zunächst ging es Klopp darum, »mehr« zu machen als die Konkurrenten, sie förmlich nieder zu rennen. Doch mit der Zeit wurde das »wie« immer wichtiger: »Mittlerweile laufen wir deutlich klüger: Wir haben mehr eigenen Ballbesitz und müssen bei gegnerischem Ballbesitz nicht mehr ganz so weite Wege zurücklegen.« Die Wahrscheinlichkeit, ein Spiel zu gewinnen, lässt sich nicht allein anhand der bewältigten Kilometer festmachen. Inzwischen hat der BVB hervorragende Spiele mit geringerer Laufleistung absolviert, ebenso schwächere mit enormer Laufleistung. Doch insbesondere in schlechteren Phasen dient sie Klopp als zusätzliches »Beweismittel«.
Torjubel mitgerechnet?
Mirko Slomka, seit Januar 2010 Cheftrainer bei Hannover 96, fand eine humorige Erklärung für die hohen Laufleistungen des BVB. Beim Internationalen Trainerkongress 2011 in Bochum frotzelte er, dass bei den Dortmundern das Laufen beim kollektiven Torjubel mitgerechnet würde – und dazu gab es in der Meistersaison 2010/11 schließlich satte 67 Mal Gelegenheit, während Hannover als Vierter »nur« 49 Treffer erzielte …
Klopp war wie gewohnt um keine schlagfertige Antwort verlegen: »Stimmt, allein gegen Hannover haben wir zweimal vier Tore geschossen, das sind schon 400 km extra …« Der BVB hatte die Partien mit 4:0 (auswärts) und 4:1 für sich entschieden.
Fakten, nichts als Fakten
Wie laufintensiv das Dortmunder Spiel unter Jürgen Klopp ist, verdeutlicht auch ein Blick auf die Datenanalyse. Im ersten Saisonspiel 2011/12, zuhause gegen den Hamburger SV, offenbarte das Erfassungssystem der Bundesliga-Datenbank IMPIRE36 interessante Daten: Bei 58 Prozent Ballbesitz waren die Borussen insgesamt 124,67 Kilometer gelaufen – und damit gut zehn Kilometer mehr als der HSV (113,7). Alleine Sven Bender erwies sich mit 12,9 Kilometern einmal mehr als unermüdliche Arbeitsbiene.
In punkto Sprints war der BVB seinem Kontrahenten ebenfalls überlegen: 193 gegenüber 150. Auch die Fehlpassquote bestätigte den überwiegend einseitigen Spielverlauf: Während bei den Hanseaten beinahe jeder vierte Ball (23,6 Prozent) sein Ziel verfehlte, waren dies bei den Hausherren nur 13,6 Prozent.
An der Transparenz dieser Daten, die neben Vereinen auch interessierten Medien und somit der Öffentlichkeit zugänglich sind, wurde zu Saisonbeginn vereinzelt Kritik laut. Befürchtet wurde die Entstehung eines »gläsernen Profis«, der nur noch über die Laufleistung definiert wird – und dabei Profis mit geringer Laufleistung »gebrandmarkt« werden, obwohl dies positionsbedingt begründbar sein kann. Seither ist zumindest gefühlt ein sensibilisierter Umgang mit den Daten wahrzunehmen.
Stetige Entwicklung nicht nur des
Spiels,
sondern auch der Spieler
Dank seiner vielschichtigen Arbeitsweise gelingt Klopp tatsächlich das, was Jürgen Klinsmann zu seinem Amtsantritt beim FC Bayern 2008 als Anspruch ausgegeben hatte: »Jeden Spieler jeden Tag ein bisschen besser zu machen.« Als Beleg dienen einige Spieler aus dem Borussen-Kader der Saison 2011/12.
Kevin Großkreutz kehrte 2009 vom damaligen Zweitligisten Rot-Weiß Ahlen nach Dortmund zurück und galt als Mann zur Kaderverbreiterung – sprich: ein Spieler für die Ersatzbank. Doch Großkreutz, der als Jugendlicher selbst auf der Dortmunder Südtribüne stand, beackerte wie kein Zweiter die linke Seite und kämpfte sich mit unbändigem Einsatzwillen in die erste Mannschaft. Verdienter Lohn: In der Meistersaison 2010/11 kam Großkreutz in jedem Liga-Spiel zum Einsatz. Da Klopp den gebürtigen Dortmunder auch noch taktisch wie technisch verbesserte, feierte er im Mai 2010 beim 3:0 Deutschlands gegen Malta sein Nationalmannschaftsdebüt.
Ein weiteres Beispiel ist Sven Bender: Zwar war der damals 20-Jährige, als er 2009 von Zweitligist 1860 München zum BVB kam, kein unbeschriebenes Blatt mehr. Die bronzene Fritz-Walter-Medaille des DFB, die Bender 2006 als einer der herausragenden Nachwuchsspieler erhielt, dokumentierte schon damals sein besonderes Talent. Doch wie viele Talente stagnierten in ihrer Entwicklung, weil ihre Trainer nicht den Mut besaßen, sie regelmäßig einzusetzen und ihnen Spielpraxis zu geben? Klopp hat diesen Mut. Sicherlich auch bedingt durch die langfristige Verletzung von Kapitän Sebastian Kehl, spielte sich Bender neben Nuri Sahin im zentral-defensiven Mittelfeld fest. Bender, dessen Zwillingsbruder Lars bei Bayer Leverkusen spielt, gehörte im Meisterjahr zum Stamm. Der zweikampfstarke Abräumer ist inzwischen ebenfalls deutscher Nationalspieler.
Schmelzer zeigte die größte Entwicklung
Auch Mats Hummels und Neven Subotic formte Klopp zu Nationalspielern. Letzterer durfte sich während der Gruppenphase der WM 2010 in Südafrika mit Serbien über einen 1:0-Erfolg über Deutschland freuen. Klopp sprach den beiden damals nicht mal 20-Jährigen gleich zu Beginn seiner Dortmunder Zeit das Vertrauen aus und installierte sie 2008 als neue Innenverteidigung. Die zunächst geringere Erfahrung machten beide mit starkem Zweikampfverhalten, guter Technik, taktischem Verständnis und gelungener Spieleröffnung wett. Dortmunds brasilianischer Verteidiger Felipe Santana wäre vermutlich bei fast jedem anderen Bundesligist Stammspieler – doch an Hummels und Subotic gibt es für ihn kein Vorbeikommen. Förmlich begeistert ist Klopp, wenn er über Außenverteidiger Marcel Schmelzer spricht, den er aus der Dortmunder Jugend zu den Profis hochzog: »Er hat die größte Entwicklung genommen, die ich bisher je erlebt habe.« Selbstredend hat auch der gebürtige Magdeburger inzwischen sein Debüt in der DFB-Elf gefeiert. Weshalb Schmelzer überhaupt Bestandteil des Profikaders wurde, dazu gibt es eine Anekdote, die im Kapitel über Klopps Trainerteam (»Gehirn« und »Auge« als Klopps rechte Hand) erzählt wird.
Dass Jürgen Klopp talentierte Nachwuchsspieler intensiv fordert und fördert, macht ihn für das Dortmunder Modell der jüngeren Vergangenheit besonders wertvoll: »Dieser Trainer ist der am meisten prädestinierte Deutschlands, um unser Konzept mit jungen Spielern zu realisieren«, lobte Klubchef Hans-Jochim Watzke 2011.37
»La Masia« in Dortmund
Ein Konzept, dass auch in der 2009 eröffneten BVB-Akademie zum Ausdruck kommt, für die die Infrastruktur des Trainingsgeländes erweitert wurde. Das ganzheitliche Modell hat sich laut Vereinshomepage zum Ziel gesetzt, »die fußballerische und persönliche Ausbildung der Spieler und Trainer des BVB zu optimieren«. Neben der sportlichen steht auch die persönliche Entwicklung im Vordergrund. So gehört die Schulung im Umgang mit Medien ebenso zum Programm wie Mentaltraining, Ernährungsfragen oder die taktische Spielanalyse. Unterstützt wird die Akademie von Psychologen der Ruhr-Universität Bochum, die den Unterricht neben BVB-eigenen Trainern durchführen. Die Kurse werden ergänzend zum normalen Trainingsprogramm durchgeführt.
Innerhalb dieses schulähnlichen Modells sind die Altersklassen unterteilt in die U(nter) 9 bis U 15, U 17, U 19 sowie die U 23 und Jungprofis. Ziel ist es, möglichst viele Nachwuchskicker an den Profikader von Borussia Dortmund heranzuführen bzw. die Jungprofis noch besser für die Anforderungen ihres Berufsbildes zu sensibilisieren. Dieser Ansatz der Talentförderung erinnert an »La Masia«, die berühmte Jugendakademie des FC Barcelona. Doch nicht nur hier gilt Barça, nach eigenem Leitbild »mehr als ein Klub«, als Vorbild.
Barcelona als Nonplusultra
Großes Vorbild für Klopp ist die Spielweise des FC Barcelona. Weniger aufgrund der berauschenden Offensivdarbietungen, sondern wegen seines schnellen Umschaltens bei Ballverlusten: »Wie hoch diese Mannschaft bei der Balleroberung steht, ist außergewöhnlich. Und das hängt damit zusammen, dass jeder Spieler Druck ausübt. Ich glaube, Lionel Messi (Anm.: Barcelonas Weltfußballer von 2009 und 2010) ist der Spieler, der seine eigenen Ballverluste am häufigsten wieder ausbügelt. Wenn er den Ball verliert, ist er beim nächsten Kontakt sofort wieder da, um den Ball zurückzuholen. Die Spieler arbeiten gegen den Ball, als gäbe es kein Morgen, als wäre es das Geilste überhaupt, wenn die anderen die Kugel haben. Was sie hierbei veranstalten, das ist für mich das Allergrößte. Das größte Vorbild, das ich jemals hatte im Fußball.«
Unter Trainer Josep »Pep« Guardiola gewann Barça von 2009 bis 2011 insgesamt zwölf (!) nationale und internationale Titel, darunter zweimal die Champions League – jeweils gegen Manchester United. Im Finale von 2011 agierte der katalanische Renommierklub beim 3:1-Sieg derart dominant, dass Uniteds Trainerlegende Sir Alex Ferguson anerkennend feststellte: »Ihr Mittelfeld und Lionel Messi haben uns hypnotisiert. Es ist das beste Team, gegen das wir jemals gespielt haben. So hat uns noch nie jemand verprügelt.« Und Fergusons Bewertung hat Gewicht, schließlich coacht der Schotte die »Red Devils« bereits seit 1986.
Faszinierend ist, dass der Siegeshunger Barcelonas trotz aller Triumphe nicht zu versiegen scheint. Die Spieler prägen eine fast beispiellose Ära, in der jeder Titel eine Verpflichtung für weitere darstellt. »Über jedes Tor jubeln sie so, als hätten sie noch nie eins geschossen. Du hast nicht das Gefühl, als würden sie satt«, staunt auch Klopp. In diesem Moment wird auch klar, dass nicht zu erwarten ist, dass sich Klopp nach gewonnener Meisterschaft als Typ verändern wird. Auch sein Erfolgshunger bleibt.
Zurück zu Barcelona, das auf dem Spielfeld stets einen konkreten Plan verfolgt, der den Spielern nicht nur vorgegeben, sondern ihnen mit seinen Hintergründen erklärt wird, wie sie in Interviews selbst betonen. Auf diese Weise handelt die Mannschaft nicht nur nach der Philosophie ihres Trainers, sondern verinnerlicht sie auch. Ein Verdienst von Pep Guardiola. Klopp hebt zudem die Uneigensinnigkeit der Katalanen hervor, obwohl fast jeder von ihnen auch ein herausragender Einzelkönner ist: »Ein Xavi oder Andrés Iniesta berauschen sich null am eigenen Ballbesitz, der interessiert die gar nicht, die geben den Ball weg. Xavi hat in einem Interview mal sinngemäß gesagt: ›Ich spiele den Ball ab, kurz bevor der Gegenspieler kommt – das ist für mich der schönste Moment.‹ Das ist sein Ding. Und das ist derzeit das Vorbild schlechthin, das es im Weltfußball gibt.«
Konzentration wie bei Albert Einstein
Im Ergebnis beherrscht der FC Barcelona derzeit den europäischen Fußball wie kein Team mehr seit dem AC Mailand vor gut zwanzig Jahren, damals unter Taktikgenie Arrigo Sacchi und den niederländischen Weltstars Ruud Gullit, Frank Rijkaard und Marco van Basten.
Hoffnung, das Niveau Barcelonas eines Tages erreichen zu können, macht sich Klopp nicht: »Wir werden alle nicht dahin kommen, denn selbst wenn wir den gleichen Plan hätten, würden uns doch die Spieler dazu fehlen.« Doch lässt sich diese Mannschaft, wenn schon ihr Niveau nicht dauerhaft erreicht werden kann, dann zumindest gelegentlich besiegen? Barcelona müsse auf die Mannschaft warten, die sich neunzig Minuten lang zutraue, »hoch zu verteidigen« und bereit sei, die »kleinen Zweikämpfe« zu verlieren, so Klopp. Denn bei intelligenter Zweikampfführung, bei der Barça seinen Gegner nicht vorführen und sich nicht in einen Rausch spielen könne, bestehe dann auch die Möglichkeit, die Übermannschaft zu besiegen, ist Klopp überzeugt – schränkt zugleich aber ein: »Das über neunzig Minuten durchzuhalten, ist vermutlich eine Konzentrationsleistung, die zuletzt bei Albert Einstein geleistet wurde.«
Erfahrung sammeln in Sevilla
Alles andere als begeistert war Klopp hingegen von jenem Fußball, den Barcelonas Ligarivale FC Sevilla im Dezember 2010 gegen die Borussia vollführte: Im letzten Vorrundenspiel der Europa League stand es in Andalusien zwischen beiden Teams 2:2; ein einziges Tor fehlte den Westfalen zum Weiterkommen. Doch die Gastgeber retteten das Remis unter Verwendung aller taktischen Mittel über die Zeit. Noch ein halbes Jahr später ereiferte sich Klopp: »Wir haben in der vergangenen Saison eine Europa-League-Gruppe mit Sevilla und Paris Saint Germain gespielt (…) Wir haben da viele wertvolle Erfahrungen gesammelt. Zum Beispiel, wie sich Sevilla gegen uns zu Hause 60 Minuten lang eingeigelt hat und dermaßen auf Zeit gespielt hat, dass meine Spieler hinterher fassungslos waren über diese Feigheit.«38 »Schmutzige« Erfolge, Klopp mag sie einfach nicht. Nicht immer heiligt für ihn der Zweck alle Mittel.
Obwohl nach dem Ausgleichstreffer von Neven Subotic in der 49. Minute noch reichlich Zeit für den Siegtreffer war, hatten die Dortmunder in Sevilla ihre Linie verloren. Anstelle der sonst flüssigen Kombinationen wurden die Bälle hektisch nach vorne gedroschen – die junge Dortmunder Elf hatte sich durch Sevillas Spielweise aus der Ruhe bringen lassen. Die Geduld und den eigenen Spielstil zu bewahren, es wäre vermutlich das bessere Rezept gewesen. Insofern könnte der Abend von Sevilla nachträglich wichtiger Anschauungsunterricht für zukünftige Auftritte auf der europäischen Bühne gewesen sein.
So wenig wie er die reine Defensivtaktik des »Ballhaltens« schätzt, so wenig akzeptiert Klopp das gravierende Fehlverhalten eines Spielers. Angesprochen auf den italienischer Stürmer Mario Balotelli von Manchester City, der laut Medienberichten im Frühjahr 2011 mit Dartpfeilen auf Juniorenspieler geworfen haben soll, äußerte sich der Trainer konsequent: Sollte einer seiner Spieler auf eine solche Idee kommen, »wird er nie wieder das Trikot dieses Vereins tragen. Der hat keine Chance auf einen zweiten Fehler: ›Pass’ auf, du kannst kicken, aber ich möchte dich nicht mehr sehen.‹ Denn wir haben so viele gute Jungs, mit denen es sich lohnt, zu arbeiten«, stellt Klopp klar.
Und mit diesen Jungs arbeitet Klopp auch auf Ebenen, die noch vor wenigen Jahren kaum jemand dem Fußball zugeordnet hätte:
»Wahnsinn« Life Kinetik
Jürgen Klopp ist neugierig im besten Sinne, immer offen für neue Impulse, für Anregungen, die ihn und seine Mannschaft weiterbringen. So entdeckte er, wenn auch zufällig durch einen Fernsehbericht, die Life Kinetik von Diplom-Sportlehrer Horst Lutz und integrierte sie einmal wöchentlich in den Trainingsplan. »Die Life Kinetik ist so unglaublich spannend, das ist wirklich Wahnsinn. Da musst du dir als Trainer Zeit für nehmen«, ist Klopp begeistert.
Worum geht es? Um eine gesteigerte Gehirnleistung durch die Bewältigung komplexer Aufgaben. »Mit Life Kinetik werden dem Körper nicht alltägliche, visuelle und koordinative Aufgaben gestellt. Das Gehirn stellt durch diese Herausforderungen neue Verbindungen (Synapsen) her. Je mehr Vernetzungen im Gehirn angelegt sind, desto höher ist die Leistungsfähigkeit des Gehirns (…) Das Ziel dieses Trainingsprogramms ist es, möglichst viele Vernetzungen im Gehirn anzulegen, die durch neue Übungen entstehen«, heißt es dazu auf der Homepage lifekinetik.de.
Stabilität kommt vor Flexibilität
Mit Trainingsinhalten wie der Life Kinetik erhöht Jürgen Klopp die (gedankliche) Flexibilität seiner Profis. Grundsätzlich besitzt Flexibilität für Klopp eine wichtige Bedeutung, ist aber »erst der dritte, vierte, fünfte Schritt, höchstens.« Denn: »Bevor Flexibilität kommt, brauchst du Stabilität. Ich hatte als ganz junger Trainer mal das Glück, gegen Peter Neururer zu spielen, damals Trainer bei Rot-Weiß-Ahlen. Wir haben 4-3-3 (abweichend vom sonst bevorzugten 4-4-2) gespielt, da hat er einen dritten Innenverteidiger eingewechselt und Manndeckung gemacht. Und da haben wir, jung und lustig wie wir waren, gedacht: ›komm’, stellen wir das System um‹ und so hatten wir dann nur noch zwei Stürmer auf dem Platz, um der Manndeckung zu entfliehen. Das ist alles Quatsch. Es geht immer darum, dass du dein eigenes Ding durchziehst.«
Klopps Quintessenz aus dieser Erfahrung: »Das entscheidende ist, Stabilität zu finden, weit vor Flexibilität. Mit Stabilität punktest du und gewinnst Spiele.« Flexibilität erweitert die Handlungsspielräume, ist daher eine Art »Bonus«. Auch weil Fußball ein Mannschaftssport ist, betont Klopp die Bedeutung der Stabilität: »Entscheidend ist die Bereitschaft der Spieler, sich in das Teamgefüge einzubringen. Das ist der Grund, weshalb wir mit dem Kicken angefangen haben – und eben nicht mit einer Einzelsportart wie Tennis. Wir wollten in einer Gruppe sein, und das müssen wir als absolute Regel bis zum Ende unseres Lebens annehmen: Ich bin nur so stark, wie mich meine Mitspieler sein lassen. Dann funktioniert es wunderbar. Über Stabilität.« Auf das Spielergebnis hatte die Systemumstellung gegen Ahlen im Mai 2001 übrigens keinen Einfluss mehr: Vorher und nachher stand das Ergebnis von 2:2.
Eine praktische Übung kann so aussehen, dass dem Spieler ein Ball zugeworfen und zugleich eine bestimmte Farbe genannt wird. Dabei steht jede Farbe für eine bestimmte Anweisung, die auszuführen ist: mit rechts oder links fangen, den Ball zurückköpfen oder mit der Brust stoppen – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Auch anspruchsvolle Jonglier-Übungen oder Ballfangen mit gekreuzten Armen gehören zum Programm. Dass die Umsetzung der Aufgaben zunächst Schwierigkeiten bereitet, ist so gewollt. Denn durch diesen Lernprozess entstehen die neuen Synapsen.
Der Mehrwert (nicht nur) für den Fußballer liegt in der schnelleren Auffassungsgabe, der größeren Handlungsschnelligkeit. Eigenschaften, die im modernen Tempofußball unerlässlich sind. Ein erster Effekt soll sich bei wöchentlich einer Stunde Übung nach zwei bis acht Wochen einstellen. Zusätzlich attraktiv macht die Life Kinetik, dass sie den Körper nicht belastet, also ergänzend zum sonstigen Training durchgeführt werden kann.
Die Einbeziehung dieser noch jungen Methodik verdeutlicht Klopps Maxime, sich ständig weiterzubilden: »Es geht einfach darum, Informationen zu sammeln. Das ist mein Job als Trainer. Man bekommt so viele Informationen, von denen man ganz viele sofort wieder vergessen kann. Aber wenn 20 Prozent dabei sind, mit denen man richtig arbeiten kann, dann ist die Mühe absolut lohnenswert.«
Die Männer neben Klopp: »Gehirn« und »Auge« unterstützen den Chefcoach
Die Zeiten, in denen Co-Trainer noch vorwiegend als Ballaufsammler und Hütchenaufsteller fungierten, sind längst passé. Als Jürgen Klopp 2011 vom Fußballmagazin 11Freunde zum Trainer des Jahres gekürt wurde, vergaß der Geehrte nicht, die Unterstützung seiner Assistenten zu erwähnen. Auch zu anderen öffentlichen Anlässen betont Klopp immer wieder, wie wichtig ihm Zeljko Buvac und Peter Krawietz sind: »Wir zu dritt sind zusammen ein richtig guter Bundesliga-Trainer. Was anderes ist nicht wichtig. Es ist nicht wichtig, dass ich allwissend bin oder mein Co-Trainer oder mein zweiter Co-Trainer. Unsere Zusammenarbeit muss idealerweise das perfekte Ergebnis ausspucken. Denn ich habe diese Sicherheit nicht, um immer zu sagen: Was ich sage, ist für mich Gesetz.« Klopp trifft zwar die Entscheidung, die er als Cheftrainer letztlich auch zu verantworten hat – nicht jedoch, ohne zuvor die Meinung seiner Assistenten eingeholt zu haben.
Wie sehr sich das Trio Klopp, Buvac und Krawietz als eine Einheit versteht, lässt sich schnell erkennen: »Zeljko Buvac und Peter Krawietz wissen genau, welche Bedeutung sie für mich haben – eine unglaublich wichtige. Keiner von uns würde ohne die anderen irgendwo allein hingehen«, betont Klopp. Insbesondere über Buvac, den er seit gemeinsamen Spielerzeit in Mainz kennt, gerät er ins Schwärmen: »Ich habe viele gute Entscheidungen in meinem Trainerleben getroffen, doch die beste war, Buvac als Fußballlehrer dazuzunehmen – der beste Trainer, den ich kenne. Von dem ich wirklich am meisten gelernt habe in den letzten Jahren. Wir sind wie ein altes Ehepaar, das ist sensationell.«
Eine Wellenlänge von Beginn an
Zu Beginn seiner Trainertätigkeit in Mainz 2001 besaß Klopp lediglich den Trainer-A-Schein, dessen Einsatzbereich sich nicht auf den Lizenzfußball erstreckt. So musste Buvac aushelfen – ein Umstand, der sich als Glücksfall erweisen sollte. Doch wer eigentlich ist dieser Zeljko Buvac, der in der Öffentlichkeit absolut zurückhaltend auftritt? Von dem kein Interview zu lesen ist, weil ihm die Medienarbeit so gar nicht behagt. Und der daher als Gegenpol zu Jürgen Klopp wahrgenommen wird. Dabei sind sie eine ideale Ergänzung.
Buvac, Jahrgang 1961, fand über seine erste Station in Deutschland, Rot-Weiß Erfurt, 1992 den Weg zum FSV Mainz. Drei Jahre lang verstärkte der Mittelfeldspieler die 05er mit seinen strategischen Fähigkeiten und entwickelte in dieser Zeit eine enge Freundschaft zu Jürgen Klopp. Auch wenn Buvac anfangs erst die sprachliche Hürde überwinden musste: Diese beiden verstanden sich auf Anhieb auch ohne viele Worte.
Den Mann aus Bosnien-Herzegowina zog es schließlich 1995 zum damaligen Regionalligisten SC Neukirchen aus Hessen, bei dem er bis 1998 zunächst seine Spielerkarriere ausklingen ließ, ehe er beim selben Klub eine neue als Trainer startete – erst als Assistenz-, später als Chefcoach. Den Fußballlehrerschein hatte er 2000 erworben.
Der Kontakt zu Klopp blieb weiterhin bestehen, sodass beide 2001 wieder zusammenfanden: Als Klopp in Mainz vom Spieler zum Trainer befördert wurde, kehrte Buvac zurück – und war sich nicht zu schade, den Assistenzposten hinter dem Trainernovizen Klopp zu übernehmen. Beide hatten sich versprochen, den anderen mitzunehmen, sollte es einer von ihnen schaffen, einen Trainerjob im Profifußball zu ergattern. Klopp hielt Wort, wie es auch Buvac getan hätte.
»Fleisch gewordener Fußballsachverstand«
Zusammen prägten sie bis 2008 in Mainz eine denkwürdige Ära, mit der Krönung des erstmaligen Bundesliga-Aufstiegs 2004. Gemeinsam nahmen sie dann 2008 die neue Herausforderung Borussia Dortmund an. Warum Buvac, der »Chucky« gerufen wird, den weiteren Spitznamen »das Gehirn« trägt, verdeutlicht ein Zitat von Klopp auf der BVB-Homepage: »Zeljko ist Fleisch gewordener Fußballsachverstand und Meister aller Trainingsformen.« Wie einst als Spieler, ist Buvac auch als Coach ein Stratege. So wie er früher im Mittelfeld die Fäden zog, hält er auch heute die taktischen Strippen in der Hand. »Wir haben den identischen Blick auf den Fußball. Wir haben 200, 300 spezielle Übungen, Trainingsformen, 200 sind von ihm und 100 von mir«, berichtete Klopp im April 2011.39 Darüber hinaus zeichnet Buvac eine schnelle Auffassungsgabe aus. Er erkennt Fehlentwicklungen im Spiel rasch und bespricht dann sofort mit Klopp Gegenmaßnahmen.
In seiner Rolle als »Co« fühlt sich Buvac recht wohl, denn die für einen Bundesliga-Trainer obligatorische Medienarbeit, sie behagt ihm so gar nicht. Seine Maxime: »Ich rede nur, wenn ich auch etwas zu sagen habe.« Es ist ein weiterer Beleg für die ideale Ergänzung, dass sich Klopp als leidenschaftlicher freier Redner auch in diesem Metier pudelwohl fühlt. Erst seit 2005 darf sich Klopp »Fußballlehrer« nennen, als er die entsprechende Ausbildung erfolgreich abschloss. Zuvor war auf dem Mainzer Spielberichtsbogen unter der Position »Trainer« immer Buvac aufgeführt gewesen.
Video-Analyse in der Halbzeit
»Aber wenn er etwas sagt, dann hat das Hand und Fuß. Es stimmt und ist Gesetz«, äußert sich Peter Krawietz anerkennend über Buvac.40 Krawietz selbst komplettiert das Trainer-Triumvirat. Sein Spitzname »das Auge« leitet sich aus einem seiner inhaltlichen Schwerpunkte ab: der Video-Analyse. Dank seiner Arbeit werden den BVB-Profis bereits während der Halbzeitpause einige Szenen aus der ersten Hälfte vorgeführt. So sind schnelle Korrekturen auf anschauliche Art noch während des Spiels möglich. Zudem fungiert Borussias zweiter Co-Trainer als Bindeglied zwischen der Profimannschaft auf der einen sowie Amateur- und Jugendteam auf der anderen Seite – und sorgt so für eine einheitliche Leitlinie.
Krawietz, am Silvestertag 1971 geboren, und Klopp kennen sich ebenfalls bereits seit Mainzer Tagen. Sein Kontakt zu Mainz 05 entstand Mitte der 1990er Jahre über ein universitäres Projekt des damaligen Sportstudenten. Das Thema: sein Steckenpferd, die Video-Analyse. Krawietz’ Arbeit überzeugte so sehr, dass ihn der FSV mit der Zeit fest an sich band und ihm die Scouting-Abteilung anvertraute. Bis 2008 der BVB lockte. Vertraut im wortwörtlichen Sinne hat Klopp seinem Co-Trainer auch auf privater Ebene: Schließlich ist niemand anders als Krawietz sein Trauzeuge …
Klopp, Buvac und Krawietz – zwischen diesen dreien herrscht eine Beziehung auf Augenhöhe. Und das nicht nur wegen ihrer fast gleichen Körperlängen.
Teddys Rampe
Auch Torwarttrainer Wolfgang »Teddy« de Beer, Mitglied der Pokalsieger-Mannschaft von 1989, gehört zum Trainerteam. Von seinen innovativen Methoden profitieren Roman Weidenfeller und Kollegen: Da kommt es schon mal vor, dass Teddy den Ball mit voller Wucht auf selbstgebastelte Rampen schießt und die so abgefälschte Kugel kaum vorherzusehende Flugkurven beschreibt. Wird das Reaktionsvermögen derart geschult, müssen Weidenfellers starke Reflexe nicht verwundern!
»Wir haben Schmelzer?«
Als Trainer, der direkt im Profibereich eingestiegen ist, ist es Klopp gewohnt, mit der Unterstützung eines Trainerteams zu arbeiten. Wie sehr Klopp dabei auf die Expertise seines Mitarbeiterstabs setzt, verdeutlicht eine Geschichte von Klopp zur Entdeckung von Abwehrspieler Marcel Schmelzer: »Unser ehemaliger Jugendtrainer in Mainz, Willi Löhr, ist durch die Gegend gefahren und hat sich junge Talente angeschaut. Irgendwann hat uns Willi angerufen und gesagt: ›Hier in Dortmund ist Marcel Schmelzer.‹« Als Klopp & Co. dann 2008 selbst nach Dortmund wechselten, ergab sich dort nach eigener Darstellung folgendes Gespräch:
Klopp: »Wer ist der zweite Linksverteidiger hinter Dede?«
»Brauchen wir nicht, der ist nie verletzt«, hieß es von Vereinsseite.
»Oh! Was machen wir denn, wenn wir ein Trainingsspiel zehn gegen zehn machen – wer ist dann der Zweite?«
»Florian Kringe kann das«, hörte Klopp den Hinweis auf den vielseitigen Mittelfeldspieler, um dann selbst zu ergänzen: »Wir haben Schmelzer.«
»Wir haben Schmelzer?«
»Ja, bei den Amateuren ist der, hat mir Willi gesagt …«
Schon kurios, dass sich Dede gleich in Klopps erstem Bundesliga-Spiel mit dem BVB, einem 3:2 bei Bayer Leverkusen, einen Kreuzbandriss zuzog und monatelang ausfiel. So kam Schmelzer schon in seinem ersten Profijahr zu zwölf Bundesliga-Einsätzen. Seine Vorstellungen waren so überzeugend, dass Schmelzer auch dann im Team blieb, als »BVB-Inventar« Dede wieder fit war: 28 Einsätze in der Saison 2009/10 wurden im folgenden Meisterjahr noch getoppt, als Schmelzer in jedem Bundesliga-Spiel mitwirkte.
Klopps Fazit aus dieser Geschichte: Es ist sehr wichtig, kompetente Mitarbeiter im Trainerstab zu haben und diesen auch zu vertrauen. Ihm ist bewusst, dass er neben seiner Trainingstätigkeit nicht auch alle anderen Gebiete abdecken kann und weiß daher zu delegieren, Beispiel Scouting: »Ich laufe jetzt nicht in Deutschland umher und finde Granaten, weil ich auf allen Sportplätzen unterwegs bin. Das wäre Quatsch. Wenn du die Scouting-Jungs zu Spielen schickst und ihnen nicht sagen kannst: ›Guck da mal hin‹, sondern selber noch viermal hinfährst, dann ist das rausgeschmissenes Geld. Du musst dann wirklich sagen: ›Den und den suchen wir und wenn ihr die findet, dann ruft ihr an‹«.
So war es auch bei Shinji Kagawa, der 2010 für eine Ausbildungsentschädigung von 350.000 Euro vom japanischen Klub Cerezo Osaka nach Dortmund kam. Klopp reiste nicht persönlich nach Asien, sondern verließ sich auf seine Mitarbeiter aus der Spielersichtung, »die Bock haben ohne Ende. Die Spaß daran haben, wenn dann am Wochenende einer dieser Jungs, die sie gesehen haben, Bundesliga spielt und über den möglicherweise auch positiv gesprochen wird.«
Über Kagawa sollte schon bald sehr positiv gesprochen werden: Der offensive Mittelfeldspieler begeisterte die Liga mit feiner Technik, tollen Dribblings und großer Antritts- wie Handlungsgeschwindigkeit. Stark auch sein Torabschluss mit acht Treffern in der Hinrunde. Erst der während der Winterpause 2010/11 erlittene Mittelfußbruch, zugezogen bei der Asienmeisterschaft, stoppte seinen Lauf und ließ Kagawa fast die gesamt Rückrunde verpassen.
Von Transfererfolgen wie im Falle Shinji Kagawa profitiert nicht unwesentlich auch BVB-Sportdirektor Michael Zorc. Obwohl auch nach der Krise des Klubs noch wirtschaftlich darbend, war in der Öffentlichkeit das sportliche Anspruchsdenken an den BVB geblieben – selbst wenn vom BVB stets ein sportlich breites Zielspektrum ausgegeben wurde, um keine übertriebene Erwartungshaltung zu schüren. 2008 für seine Transferpolitik dennoch öffentlich in der Kritik, wird Zorc heute als einer der umsichtigsten Sportdirektoren der Liga gefeiert. Auch ein Verdienst von Jürgen Klopp, der die Vorgaben von Zorc und den »Scouting-Jungs« veredelt(e).
Ein weiterer Nachmittag in
Brackel:
Trainingstag im Herbst 2011
Brackel. Mal wieder Stimmung schnuppern beim Trainingszentrum des BVB. Die Sonne scheint kräftig, endlich mal wieder. Nach einem Sommer, der keiner war, zeigt sich zumindest die zweite Septemberhälfte von ihrer schönsten Seite. Mit dem sonnigen Wetter kann auch die Stimmung auf dem BVB-Trainingsgelände in Dortmund-Brackel mithalten. Der Auftakt in der Champions League unter der Woche ist gelungen. Das 1:1 zuhause gegen den FC Arsenal erinnerte spielerisch an die grandiose Vorsaison, die Vielzahl vergebener Großchancen allerdings auch. Dennoch: Der späte Ausgleich durch einen sagenhaften Distanzschuss von Ivan Perišic, den er wohl von 25 Versuchen nur einmal genau so trifft, sorgt für eine positive Grundstimmung – auch unter den vielen Kiebitzen, die das Treiben der Spieler mit Argusaugen verfolgen.
»Mensch Kuba, den musse doch machen«, argwöhnt einer von ihnen, als Jakub Blaszcykowski die Kugel aus kurzer Distanz über das Gehäuse semmelt. Kurz darauf lässt Kuba die Kritiker verstummen, der nächste Versuch sitzt. Ersatzkeeper Mitchell Langerak ist ohne jede Abwehrchance, das Tornetz beult sich mächtig aus. Klopp schmunzelt. »Glaubt mir, Hannover hauen wir am Wochenende mit 4:0 weg! Ich sag’s euch, 4:0!«, prophezeit einer der Zaungäste im besten Rentneralter. So schnell ändert sich die Stimmung. Seine Begleiter schmunzeln. So wie sie reden, sind sie öfter hier: »So langsam wird das wieder was.«
Zurück zu Perišic: Der Neuzugang vom FC Brügge musste sich während des Trainingslagers im Sommer mächtig strecken. Die ungewohnte Intensität hatte ihm zugesetzt, die Gewöhnung an Dortmunds »Kilometerfresser«-Fußball fiel schwer. Doch nun ist der Kroate voll dabei, die erste Eingewöhnung bald abgeschlossen.
Klopp und seine Co-Trainer stehen mittig auf dem Trainingsplatz, die Spieler bilden einen Kreis um sie herum. Der Chef erklärt die Übung, hält sich dann erstmal im Hintergrund auf. Hinter dem Tor stehend beobacht er den Ablauf. Und überlässt Zeljko Buvac das Feld. Der in der Öffentlichkeit so scheue Co-Trainer ist hier ganz in seinem Element, ruft mit kräftiger Stimme über den Platz: »Los, Kevin, schneller! Kuba, hier, komm’, komm’, komm’!« Mit seinen langen dunklen Haaren ist er auch aus Entfernung gut zu erkennen. Ein markanter Typ, der wirkt.
Konzentration –
aber ein bisschen Spaß muss
sein
Buvac macht die Übungen auch mal selbst vor, lässt dabei sein technisches Können aufblitzen, das nicht verloren gegangen ist, auch wenn die Spielerkarriere über ein Jahrzehnt beendet ist. Und er wird unruhig, wenn die Spieler seinen eigentlich doch selbsterklärenden Anweisungen nicht Folge leisten können. Hier ist ein Perfektionist am Werk. Klopp hingegen macht beim Training nicht mehr selbst mit. Damit hat er aufgehört. Nicht auszudenken, wenn er sich wieder so aufregte wie einst als Spieler. Wenn ihm damals etwas nicht gelang und er nicht verstand, warum die Bewegungsabläufe nicht umsetzten, was der Kopf vorgegeben hatte. Das käme vermutlich nicht gut an vor seinen Spielern.
Die Trainingsübungen folgen klaren Vorgaben: Die Pässe sollen nicht zu »luschig« kommen, mehr Druck muss hinter den Ball. Wichtig sind auch die Abstände zwischen Abwehr, Mittelfeld und Angriff – sie müssen eng sein, dürfen dem Gegner nicht zuviel Raum bieten. Geübt wird jetzt schnelles, direktes Spiel. Pass nach außen, Flanke in die Mitte, Torabschluss. Langerak ist glänzend aufgelegt, pariert einen Schuss nach dem anderen. Auf der anderen Seite drischt Mats Hummels die Kugel wunderbar in den Winkel. Ein Raunen geht durch die Kiebitzreihen. Auch Florian Kringe, angesichts des hochkarätig besetzten Mittelfelds derzeit ohne Chance auf die erste Elf, zeigt sich treffsicher. Marcel Schmelzer und Mohamed Zidan verziehen die Kugel aus kurzer Distanz neben das Tor. Buvac ruft: »Weiter geht’s, los!«
Kurze Zeit später unterbricht Klopp die Übung, nachdem er sie lange schweigend verfolgt hatte. Mahnt mehr Konzentration an. Zu viele Torabschlüsse verfehlen ihr Ziel. Bei aller Ernsthaftigkeit bleibt auch Zeit für ein Späßchen. Stürmer Zidan lockt den Trainer, ob dieser es schafft, ihn aus gut zehn Metern Entfernung durch die Beine zu »tunneln«. Klopp lässt sich nicht zweimal bitten. Beim ersten Versuch trifft er noch Zidans linkes Bein, der zweite Schuss »sitzt«. Der frühere Profi hat den Umgang mit der Kugel noch nicht verlernt.
Kicken auf drei Tore
Der Ball ist bei fast allen Trainingsformen dabei, die Trainingsintensität ist hoch. So auch bei der nächsten Übung. Für die Trainingskiebitze wird es unübersichtlich. Drei Tore werden im Dreieck aufgestellt, so, dass jeder Torhüter die anderen beiden sehen kann. Drei Teams werden gebildet, eins mit roten Leibchen, eins mit weißen und eins in gelber Trainingskluft. Jede Mannschaft hat ein Tor zu verteidigen und muss versuchen, bei einem der beiden anderen Tore selbst zu treffen. Die drei Teams à fünf oder sechs Mann spielen zeitgleich auf engem Raum gegeneinander: Die gesamte Spielfläche ist kleiner als ein halbes Fußballfeld. Fehlt es einem Pass an Präzision, profitiert schnell ein Gegenspieler eines der beiden anderen Teams und nutzt die unfreiwillige Vorlage zum eigenen Vorteil.
Klopp behält den Überblick: »12 zu 9 zu 3« teilt er den Zwischenstand mit. Was das Ganze soll? Durch viele und rasche Wechsel der Spielsituation wird die direkte Ballverarbeitung geschult, Schnelligkeit in Aktion und Reaktion, Passgenauigkeit und Übersicht – also räumliche Orientierung binnen kürzester Zeit. Flinke Bewegungen und schnelles Umschalten, das die Mannschaft gleichermaßen auszeichnet, hier wird beides gefördert. Auch die Torhüter müssen aufgrund des Gedränges auf engem Feld ständig mit abgefälschten Bällen rechnen, sich mit unkalkulierbaren Spielsituationen auseinandersetzen.
Wenige Tage später spielt der BVB in Hannover. Und geht dort mit 1:0 in Führung, ehe er in den Schlussminuten die Konzentration schleifen lässt und noch mit 1:2 verliert. 4:0? Das war letzte Saison. Inzwischen ist die Leichtigkeit des Spiels verloren gegangen, der Alltag hat den Meister eingeholt.
Klopp im Blick des BVB-Fans:
Tacheles statt Larifari
Zu den eher gelegentlichen Trainingsbesuchern gehört Mittdreißiger Thorsten Birgel, seit Kindheit Fan des BVB. Ganz früh auch mal Anhänger der anderen Borussia aus Mönchengladbach – warum, »das weiß ich nicht mehr so genau.« Für ihn ist Klopp ein Glücksfall für den BVB. Oder wie es im Ruhrgebiet heißt: »Dat passt wie Arsch auf Eimer.«
»Klopp ist der Fan unter den Trainern. Er ist mit vollem Herzblut dabei und lebt die Emotionen genauso aus wie ein Anhänger auf der Tribüne«, sagt Birgel. Rein fachlich ist er von ihm voll und ganz überzeugt: »Er lebt eine absolut professionelle Einstellung vor. Klopp ist beim Training sehr akribisch und korrigiert viel. Wenn drei Ecken nicht so rein geschlagen wurden wie gewünscht, staucht er die Spieler schon mal zusammen und lässt es sie noch mal und noch mal üben, bis es hinhaut. Die Abläufe müssen bei ihm einfach sitzen.« Dabei spricht Klopp kein hohles Trainer-Pathos, das schnell wieder verpufft. Seine Worte wirken nach, er setzt auf Inhalte.
Birgel bestätigt die Aufgabenteilung im Trainerteam: »Der Co-Trainer leitet die Übungen und Klopp greift dann bei Bedarf ganz gezielt ein. Er hält dann beim Training bewusst etwas Abstand vom Geschehen, um den Überblick zu bekommen, um das Ganze zu sehen. Doch er delegiert nicht nur, er spricht dann schon richtig Tacheles und kein Larifari. Er pickt sich die Leute raus, wenn etwas nicht richtig läuft.« Auch dass Klopp es schafft, seine Spieler immer wieder aufs Neue gut einzustellen, findet Birgel bemerkenswert: »Denn bei allein 34 Bundesliga-Spielen im Jahr, in denen man sich immer wieder eine neue Ansprache einfallen lassen muss, besteht schon die Gefahr, sich abzunutzen.«
Wenn es denn etwas zu kritisieren gibt, dann wünschte sich Birgel manchmal ein wenig mehr Contenance: »Nach dem Spiel in Leverkusen (0:0 am vierten Spieltag der Saison 2011/12) hat mir etwas die kritische Reflexion gefehlt, so wie Klopp noch auf 180 war. Als Vorgesetzter muss er sich da etwas souveräner verhalten. Aus meiner Sicht macht er sich mit solchen Aktionen angreifbar, gerade wenn der Erfolg ausbleibt.« Klopp hatte sich im TV-Interview bei Sky mächtig über einen Kommentar von Reporter Ecki Heuser aufgeregt, der beim Platzverweis gegen Mario Götze von »Nachtreten« gesprochen hatte: »Hören Sie mir doch zu, verdammte Scheiße!«, war ihm diese Einschätzung einen Kraftausdruck Wert.
Doch auch »Mister FC Bayern«, der langjährige Manager und jetzige Präsident Uli Hoeneß, stellte sich selbst jahrelang in den öffentlichen Mittelpunkt, um von der Mannschaft abzulenken, wenn es bei ihr nicht rund lief. Und fand hingegen kritische Worte, um sie im Erfolg auf dem Boden zu halten. Ähnlich wie Hoeneß, handelt auch Klopp antizyklisch – und fährt bisher gut damit.
»Für mich kommt Klopp direkt hinter Hitzfeld.«
Während seiner mehr als zwei Jahrzehnte währenden Leidenschaft für den BVB hat Birgel viele Trainer kommen und gehen sehen. Klopp gehört für ihn zu den besten und liegt in seiner Gunst nur knapp hinter einer Ikone, die mit Dortmund 1997 die Champions League gewann: »Wenn ich alle BVB-Trainer durchgehe, seitdem ich Borusse bin, kommt für mich Jürgen Klopp direkt hinter Ottmar Hitzfeld. Aufgrund seiner Ausstrahlung ist für mich Hitzfeld allen anderen noch ein wenig voraus. Aber auch Klopp weiß, was er tut, während ich bei vielen Trainern vor ihm den Eindruck hatte, dass sie viel experimentieren, ohne eine klare Linie zu haben.
Und warum kommt der Titelverteidiger zum Saisonstart noch nicht richtig in Fahrt? Wie ist die Meinung des BVB-Fans dazu? »Es ist einfach menschlich, dass nach einem Höhepunkt wie der Meisterschaft erstmal die Spannung abfällt und die volle Konzentration erst wieder aufgebaut werden muss. Der BVB wirkt derzeit einfach nicht so entschlossen wie letztes Jahr, mit nicht soviel Zug. Die spielerische Leichtigkeit ist noch nicht wieder da«, stellt der gebürtige Dortmunder fest. »Aber das kommt schon wieder.«
__________
30Interview mit Wolfgang Frank in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 01. Mai 2011
31Ein 4-4-2-System mit Raute sieht sowohl einen zentral defensiven, als auch einen zentral offensiven Mittelfeldspieler vor, dazu je einen Außenspieler auf der rechten und linken Flanke. Verbindet man auf der Taktiktafel die Positionen miteinander, ergibt sich die Form einer Raute.
32Gespräch mit dem freien Journalisten Freddie Röckenhaus in der Süddeutschen Zeitung, online veröffentlicht am 20. Mai 2011
33Zitat aus Interview mit Mats Hummels bei Welt online, veröffentlicht am 11. November 2010
34Zitat von Jürgen Klopp aus dem »Audi Star Talk« des TV-Senders Sport1, ausgestrahlt am 22. März 2011
35Als Beleg für Klopps Blick über den Tellerrand hinaus vgl. noch folgenden Abschnitt über Life Kinetik ab Seite 149
36Folgende Daten wurden auf der Homepage von Borussia Dortmund am 06. August 2011 veröffentlicht
37Zitat von Watzke aus Interview im Sonderheft des Kicker-Sportmagazins zur Champions League 2011/12
38Zitat aus Interview in der Süddeutschen Zeitung mit dem freien Journalisten Freddie Röckenhaus, online veröffentlicht am 20. Mai 2011
39Zitat aus Interview mit Jürgen Klopp in der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. April 2011
40Zitat von Peter Krawietz im Januar 2011 gegenüber der WAZ Mediengruppe